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Der Ex-Kriminalpolizist Samael Förster findet beim morgendlichen Laufen die Leiche einer Frau. Seinen Beruf als Polizist hat er aufgegeben, um keine Opfer von Gewalttaten mehr sehen zu müssen. Nun holt ihn seine Vergangenheit ein. Wird er es schaffen sich dieser Situation zu stellen?
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Ein ganz besonderer Dank
geht an meine Kinder Laura und
Philine, die mich tatkräftig in der Korrektur unterstützt haben.
Ein besonderer Dank geht an
Jeanette Hesse und Sylvia Arnoldi, auch sie haben mir mit einer Korrektur und wichtigen
Hinweisen geholfen, den Krimi in diese endgültige Form zu bringen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Samael lief wie jeden Morgen, wenn er Spätschicht hatte, seine Stammrunde. Der Morgen war seine Lieblingszeit, um joggen zu gehen. Es war die friedlichste Zeit des ganzen Tages. Langsam erwachte die Welt und Samael genoss dies. Er konnte nicht verstehen, dass es Menschen gab, die diese Schönheit nicht sehen wollten. Gerade in den Sommermonaten war es wunderschön, in den Sonnenaufgang zu laufen. Natürlich war es im Sommer schöner als im Winter, aber auch die anderen Jahreszeiten haben etwas für sich. Wenn sich im Frühling und im Herbst der Dunst über die Wälder erhob, war der Geruch im Wald herrlich. Da er nicht mehr viel zum Genießen hatte, nutzte er diese Augenblicke.
Seine Frau und seine Kinder lebten nicht mehr mit ihm zusammen. Seine Familie, und vor allem seine Frau, litten unter seinen psychischen Problemen. Sie merkte, dass er mit etwas, das seinen Beruf betraf, nicht zu Recht kam. Samael sprach nie mit ihr darüber. Aus seiner Sicht wollte er sie nicht mit seinem Problem belasten, er hatte selbst genug damit zu kämpfen. Auf sie wirkte dies, als könne er ihr nicht genug vertrauen. Diese Spannung entlud sich mehrfach in lautstarken Streitereien zwischen ihm und seiner Frau. Irgendwann verlangte sie von ihm, sich professionell helfen zu lassen. Dies lehnte er ab, kündigte seinen Job und arbeitete nun bei einer großen örtlichen Firma im Wach- und Sicherheitsdienst. Dies und die ständigen Streitereien mit seiner Frau ließen Samael von zu Hause ausziehen. Zurzeit bewohnte er eine kleine Wohnung in der Innenstadt.
Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er schuld daran war, dass seine Frau nicht mehr mit ihm zurechtgekommen war. Vor einem Jahr sah er die ganze Sache noch etwas anders. Als er kündigte, war Jeanette nicht mehr wieder zu erkennen. Ständig nörgelte sie an ihm herum, immer wieder musste er ihr gegenüber seine Entscheidung erklären und rechtfertigen.
Damals glaubte er, Jeanette habe sich von ihm getrennt, weil es ihr peinlich sei, mit einem Mann zusammenzuleben, der seinen gut bezahlten Job als Polizist kündigte, um Autoreifen zu bewachen. Mittlerweile, und nach einigen Sitzungen beim Psychologen, war ihm klar geworden, dass es sein Verhalten war. Seine Frau glaubte nicht daran, dass es ihm besser gehen würde, wenn er nicht mehr bei der Polizei wäre. Ihr war klar, dass ihr Mann vor etwas flüchtete. Was es war, konnte Samael ihr nicht erklären. Daher versuchte sie ihn immer wieder daran zu erinnern, dass dieser Beruf seine eigentliche Berufung war.
Die meisten seiner Fälle waren harmlos, aber immer wieder kam es vor, dass er und seine Kollegen zu ungeklärten Todesfällen gerufen wurden. Diese und die Ermittlungen darüber machten ihm am meisten zu schaffen. Jetzt begriff er auch, dass dies der Grund für seine Kündigung bei der Polizei war, und nicht wie er immer dachte, die zu vielen Stunden, die er mit seiner Arbeit verbrachte. Er wollte mehr Zeit mit der Familie verbringen, und seine Frau zog es vor, an ihm herum zu mäkeln. Für ihn war damals eine Welt zusammengebrochen.
Mit Hilfe seines Psychologen hatte er die Dinge wiederholt analysiert, dabei waren sie darauf gekommen, dass es nicht die Zeit für die Familie war, die Samael dazu bewogen hatte, den Beruf zu wechseln, sondern der Stress mit jeder neuen Leiche, die gefunden wurde und mit den Geschichten dahinter.
Mit Jeanette hatte er darüber nie wirklich gesprochen, und da sie nur noch wenig Kontakt hatten, war es ihm auch nicht in den Sinn gekommen, mit ihr diesbezüglich ein Gespräch zu beginnen. Die Kinder kamen wie sie lustig waren. Immerhin waren sie schon Teenager und hatten wenig Lust, bei ihrem alten Vater abzuhängen. Auch das machte ihm zu schaffen, immerhin war er erst Ende dreißig und er fühlte sich gar nicht alt. Seine Einsamkeit und der Stress, den die Bewältigung seiner beruflichen Vergangenheit mit sich brachte, hatten ihn dazu gebracht, immer mehr Sport zu treiben.
Bevor er heute los gelaufen war, hatte er sich im Spiegel angeschaut und das, was er gesehen hatte, gefiel ihm. Jedoch gab es auch einiges, das ihm zeigte, dass er den Stress noch nicht verarbeitet hatte. Sein Körper war durchtrainiert, seine Haare waren kurz und der Dreitagebart ließ ihn verwegen aussehen. Er glaubte, dass er mit seinem durchtrainierten Körper mehr Chancen auf dem Singelmarkt habe und mit Sicherheit viel Spaß haben würde. Aber genau das war für ihn immer noch nicht möglich. Wenn er sich im Spiegel anschaute, sah er noch mehr! Dinge, die den wenigsten Menschen in seiner Umgebung auffielen. Da er nur sehr wenige Freunde hatte und diese nur selten sah, machten ihm die meisten keine Vorhaltungen. Aber seine Augenringe, die grauen Haare und das abgemagerte Gesicht konnte er nur vor Fremden verbergen. Sein Psychologe sagte ihm häufig, dass er mehr zur Ruhe kommen müsse und nicht so viel Sport treiben solle. Doch für Samael war der Sport mehr als nur Bewegung, denn während des Sporttreibens konnte er abschalten und vergaß für eine kurze Zeit sein Leben.
Mittlerweile hatte er sich einige Runden angeeignet, die er immer wieder lief, je nachdem, ob er Früh-, Spät- oder Nachtschicht hatte. Heute lief er wieder quer durch das kleine Städtchen, in dem er wohnte, dann ein Stückchen am Fluss entlang und schließlich hinter der alten Römischen Villa in den Mundwald hinein. Er folgte einer Kurve und bereitete sich auf einen längeren Anstieg vor, als ihm plötzlich der Atem stockte und er beinahe über seine Beine gestolpert wäre. Noch war die Sonne nicht ganz aufgegangen und im Wald war es sogar noch etwas dunkler, aber der weiße Arm, der unter einem Gebüsch heraus ragte, leuchtet als würde er von einem Scheinwerfer angestrahlt werden.
Samael, der abrupt stehen geblieben war, fühlte sich wie gelähmt. Da waren sie wieder, die Gefühle, die er jahrelang versucht hatte zu verdrängen. Langsam und unsicher ging er zu dem Gebüsch, seine düsteren Gedanken bestätigten sich. Unter dem Gebüsch lag die Leiche einer jungen Frau, blass und nackt. Keuchend stolperte er zurück. Er wusste, dass er nicht so einfach abhauen konnte, auch wenn er es am liebsten getan hätte. Aber seine Fußabdrücke auf dem Boden würden ihn verraten und wie sollte er erklären, dass er als ehemaliger Polizist so gehandelt hatte. Seine psychischen Probleme waren nur ganz wenigen auf der Dienststelle bekannt. Sie würden ihn als Hauptverdächtigen behandeln müssen, das konnte er nur umgehen, indem er selbst den Fund meldete. Aber auch dann würde er zumindest zunächst dem Verdächtigen Kreis angehören. Es würde ihm den Tag zerstören und viele Nerven kosten.
Mit zitternden Händen griff er nach seinem Handy, das er immer zum Laufen mitnahm. Er wählte die 110 und hoffte, dass er nicht in Panik geraten würde. Sein Anruf wurde umgehend angenommen.
„Notruf der Polizei, was können wir für Sie tun?“
Die Frau in der Notrufzentrale wirkte genervt.
„Hier spricht Samael Förster, ich glaube, ich habe hier gerade die Leiche einer Frau gefunden. Ich befinde mich im Mundwald oberhalb der römischen Villa in Wittlich. Was soll ich machen?“
„Sind Sie sicher, dass es sich um die Leiche einer Frau handelt?“
„Ja, eindeutig, der Leichnam liegt unter einem Gebüsch und der Arm schaut darunter hervor.“
„Wir schicken umgehend einen Einsatzwagen zu Ihnen, bleiben Sie bitte am Apparat, falls wir noch Fragen haben sollten. Und fassen Sie bitte nichts an!“
Er wusste, dass er nichts anfassen durfte und ihm war klar, dass die Streife schon unterwegs war. Immerhin hatte er ja lang genug für den Verein gearbeitet. Damit ihn die Polizisten leichter fanden, ging er um die Kurve und blieb unter der Autobahnbrücke stehen. Wie er schon geahnt hatte, waren die Polizisten bereits auf dem Weg. Von weitem war das Blaulicht zu erkennen. Sobald sie ihn sehen konnten, winkte er ihnen.
„Die Polizisten sind angekommen, kann ich jetzt auflegen?“
Einen kleinen Moment blieb es noch ruhig am anderen Ende. Ihm war klar, dass die Polizistin am Telefon bei der Streife nachfragte, ob seine Angaben stimmten.
„Natürlich, alles Weitere besprechen die Polizisten mit Ihnen vor Ort.“
Samael legte auf und steckte das Handy weg. Die beiden Polizisten stiegen aus und Samael war froh, dass es sich um junge Kollegen handelte, sie würden ihn nicht kennen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste Beamte kommen würde, der ihn kannte.
„Guten Tag, wir wurden darüber informiert, dass Sie glauben, eine Leiche entdeckt zu haben!“
Der junge Polizist trat näher, während seine Kollegin an der Tür des Streifenwagens stehen blieb. Samael wusste ganz genau, warum sie da blieb. Auch wenn er in seinem Sport Outfit nicht gefährlich aussah, war Vorsicht besser, als erschossen zu werden.
Er nickte dem Polizisten zu.
„Hier um die Ecke liegt die Leiche einer jungen Frau, bitte kommen Sie und schauen selbst.“
Samael drehte sich um und lief voraus, so gab er den Polizisten die Möglichkeit, ihm zu folgen, ohne damit rechnen zu müssen, dass er ein Verrückter war, der sie angreifen wollte.
Er spürte, dass die Polizisten einen gewissen Abstand zu ihm hielten. Erst als der Arm der Leiche in Sicht kam, ging die Aufmerksamkeit der Polizisten von ihm auf den Leichnam über. Samael fiel sofort auf, dass der junge Polizist noch nicht lange im Streifendienst sein konnte. Man konnte richtig dabei zusehen, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Die Hand des jungen Polizisten glitt an seine Dienstwaffe.
Ab jetzt achtete Samael darauf, dass er keine unnötigen Bewegungen machte.
„Ines, hier liegt tatsächlich eine Leiche, ruf sofort Verstärkung! Ich bewache solange den Zeugen und das Opfer!“
Samael wurde das Gefühl nicht los, dass ihn der junge Polizist verdächtigte.
Nach seiner Auffassung verging die Zeit wie in Zeitlupe, Langsam begann er auch, etwas zu frieren. Die Laufkleidung war schon leicht verschwitzt gewesen, als er auf die Leiche traf. Nun kam noch ein leichter Wind auf, sodass es richtig unangenehm wurde. Auch das Aufgehen der Sonne half ihm nicht. Es würde noch einige Zeit dauern, bis die warmen Strahlen seinen Standpunkt erreichen würden.
Schier endlos schien es zu dauern bis noch weitere Polizisten eintrafen. Aber erst als Samael seine beiden Ex-Kollegen Eric und Sven sah, wurde ihm bewusst, wie peinlich die Situation für ihn werden könnte. Er hatte schon überlegt, die Gunst der Stunde zu nutzen und weiterzulaufen. Denn sein Bewacher passte gerade nicht auf. Ihm war jedoch klar, dass es keinen Sinn hatte. Immerhin hatte er den Notruf gewählt. Die Polizei hatte seine Handynummer und er hatte seinen Namen genannt. Noch bevor er seinen Gedanken beenden konnte, hörte er schon die tiefe Stimme von Sven über den Weg schallen.
„Wenn das nicht Samael ist! Na du alter Haudegen!“
Samael drehte sich der Magen um. Der junge Polizist, der seine Ablenkung gerade begriffen hatte, nahm wieder Haltung an. Die Waffe hatte er zwar nicht gezogen, aber schon gelockert und die Hand am Griff.
„Ist schon in Ordnung, den Typen da kennen wir ziemlich gut. Der dürfte keine Bedrohung für uns sein.“
Der junge Polizist runzelte die Stirn, entspannte sich und machte sich auf den Weg zurück zum Streifenwagen. Während Samael dem Polizisten nachsah und das ganze Treiben beobachtete, dachte er über Svens Spruch nach.
Er hatte recht, wenn man die beiden sah, überlegte man es sich zweimal, ob man gegen sie die Hand erheben sollte oder nicht. Sven war etwas größer als Samael, hatte kurzes blondes Haar und eine recht bullige Figur, breites Kreuz, schmale Hüfte und kräftige Arme. Eric sorgte jedoch sofort für ein Zurückweichen seines Gegenübers. Er war noch etwas größer als Sven und hatte die Figur eines Bodybuilders, dazu eine Glatze und ein grimmiges Gesicht. Wenn man die beiden das erste Mal zu Gesicht bekam, konnte man die Spannung in der Luft förmlich spüren. Samael hatte mit den beiden eine lange Zeit zusammengearbeitet und er wusste, dass der äußere Eindruck täuschte. Tatsächlich waren die beiden die nettesten Menschen, die er bei der Polizei kennengelernt hatte.
„Na Samael, was treibst du denn hier?“
Das Dröhnen von Svens rauchiger Stimme vibrierte in Samaels Kopf.
„Wonach sieht es denn aus? Ich war joggen, um den ganzen Mist zu vergessen, den ich mit euch in den letzten Jahren erlebt habe!“
Eric schüttelte den Kopf.
„Du glaubst doch nicht, dass du vor dir selbst weglaufen kannst? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass du dich immer mitnimmst, egal wohin du gehst und was du machst!“
Da war er wieder, Erics unerschütterlicher Glaube. Sein ehemaliger Kollege war davon überzeugt, dass alles und jeder im Universum seinen Platz und seine Aufgaben habe. Etwas genervt verdrehte Samael die Augen.
„Mag ja sein, aber ich habe den Job als Polizist aufgegeben, um nicht mehr über Leichen zu stolpern und jetzt das hier. Dann scheint mich auch noch der junge Polizist da vorne zu verdächtigen. Also macht voran, ich möchte nach Hause unter die Dusche.“
Sven mischte sich ein.
„Samael, du weißt doch ganz genau, wie das hier jetzt abläuft. Als erstes nehmen wir dich mit aufs Revier und werden dich befragen. Dann warten wir die ersten Ergebnisse der Spurensicherung ab und erst, wenn alles in Ordnung ist und du nicht mehr in den näheren Kreis der Verdächtigen gehörst, kannst du wieder gehen.“
Genervt verdrehte Samael die Augen.
„Na gut, dann lasst uns aufs Revier fahren.“
Eric begleitete Samael zum Dienstfahrzeug.
„Glaubst du wirklich, dass dich das alles hier nicht mehr verfolgt, nur weil du den Job gewechselt hast? Du warst einer der besten Ermittler, denen ich je begegnet bin. Allein deine Fähigkeit....“
Samael schnitt Eric das Wort mit einer Geste ab.
„Genau das ist es Eric. Ich kann meine Fähigkeit nicht mehr einsetzen, es ist einfach nicht mehr erträglich, den ganzen Schmerz zu spüren. Auch wenn ich dadurch einige Fälle aufgeklärt habe.“
Eric lächelte. Dieses Gespräch hatten sie schon hundertfach geführt, bevor Samael die Polizei verlassen hatte. Eric mochte jedoch nicht aufgeben, seinem Freund zu helfen.
„Du kannst dich an mein Angebot erinnern. Ich kenne jemanden, der dir da helfen kann. Sie kennt sich mit Problemen deiner Art aus. Dein Psychologe, der kann dir da wahrscheinlich weniger helfen. Hast du ihm eigentlich schon erzählt, was dein Hauptproblem ist?“
Samael schüttelte den Kopf.
„Nein und du weißt auch genau warum. Jeder, der das hört, würde mich für verrückt halten und in die Psychiatrie einweisen lassen. Das möchte ich bestimmt nicht!“
Erics wissendes Lächeln nervte Samael, doch er hatte seinem Psychologen schon davon erzählt. Dieser hielt ihn wirklich für verrückt und wollte nicht glauben, was Samael ihm erzählt hatte. Er ließ sich aber davon überzeugen, dass Samael das glaubte und dadurch konnten sie weiter arbeiten. Mittlerweile mochte er seinen Psychologen Michael tatsächlich, auch wenn die Gespräche meistens nichts brachten, tat es gut, über alles zu reden, was Samael erlebt hatte. Gerade weil Michael kein Polizist war und wenig mit dieser Arbeit zu tun hatte, betrachtete er die Situationen von außen und viel nüchterner.
„Haben wir dich für verrückt erklärt?“
„Nein, habt ihr nicht!“
Samael wurde wütend. Er wusste, dass Eric ihm von Anfang an geglaubt hat. Aber Eric war nun mal auch ein besonderer Mensch. Die meisten, die er kannte, hielten nicht viel von Spiritualität oder Esoterik. Auch Sven hielt ihn anfangs für durchgeknallt, solange, bis die ersten Fälle mit seiner Hilfe aufgeklärt werden konnten. Natürlich hatten sich die Zeiten geändert, heutzutage konnte man öffentlich über Spiritualität und Esoterik sprechen, ohne für übergeschnappt gehalten zu werden. Seine Gabe war etwas Besonderes aber er mochte sie nicht. Das, was er in den letzten Jahren damit erlebt hatte, war zu zermürbend.
Samael wusste schon seitdem er ein kleiner Junge war, dass er eine besondere Gabe hatte. Das erste Mal aufgefallen war es ihm, als er knapp 10 Jahre alt und seine Oma gestorben war. Seine Eltern hielten nicht viel davon, dass Kinder vor solchen unangenehmen Sachen permanent geschützt werden. So kam es, dass er, nachdem seine Oma zu Hause gestorben war, mit all seinen Verwandten neben dem Bett stand. Jeder verabschiedete sich von ihr. Als Samael an der Reihe war, wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Er berührte die Hand seiner Oma, die sich noch immer warm anfühlte. In diesem Moment durchflossen ihn eine Menge Bilder und Emotionen, die zu seiner Oma gehörten. Mit dabei war das Gefühl, in Ruhe und Gelassenheit, im engen Kreise der Familie gestorben zu sein.
Niemandem, noch nicht einmal seinen Eltern, erzählte er davon. Es sollte auch noch einige Jahre dauern, bis er erneut eine solche Erfahrung machte. Als sein Opa starb, war Samael 17 Jahre alt. Auch er verstarb zufrieden im Kreise der Familie und als Samael ihn berührte, spürte er sogar, wie glücklich sein Opa gewesen war. Seine letzten Erinnerungen teilte sein Großvater mit ihm. Darin sah Samael, wie seine Oma ihn abholte, um in eine andere Welt zu gehen.
Das waren die einzigen schönen Erinnerungen, die er an seine Gabe hatte. Wenige Jahre nach dem Tod seines Opas war er Zeuge eines Überfalls, bei dem eine junge Mutter von einem Maskierten erstochen worden war. Samael versuchte der Frau zu helfen, doch es gelang ihm nicht. Die gerufene Polizei und Rettungsdienste konnten nicht mehr helfen. Der Täter, der unerkannt fliehen konnte, hatte durch Zufall oder mit Absicht, das war nicht zu klären, die Herzschlagader erwischt. Er hatte ihr das Messer zwischen die Rippen gestoßen und die Schlagader angeschnitten.
Es war das erste Mal, dass Samael einen Menschen in den Tod begleitete, der eines gewaltsamen Todes starb. Die Gefühle und Emotionen, die er von der jungen Frau aufnahm, machten ihn fast wahnsinnig. Er spürte den Schmerz und die Sorge um die Kinder und den Ehemann. Auch als der Arzt den Tod bestätigte, spürte er noch immer die verängstigte Seele des Opfers. Die Polizei sprach auf ihn ein, denn er hielt noch immer die Hand der Verstorbenen.
Diese Tat mitzuerleben, und die Tatsache, dass der Täter nie geschnappt worden war, regten ihn dazu an, Polizist zu werden. Während seiner Ausbildung merkte er schon, dass ihm seine Gabe unter bestimmten Umständen helfen konnte. So war es in einem Fall während der praktischen Ausbildung. Er wurde mit seinen anleitenden Polizeikollegen zu einer Beziehungstat gerufen. Am Tatort schien alles auf einen Raub hinzudeuten. In der Zeit, als seine Kollegen die Wohnung des Opfers durchsuchten, berührte er beiläufig die Hand der Frau. Sofort war ihm klar, dass ihr Partner in die gemeinsame Wohnung gestürmt war und mit ihr einen Streit angefangen hatte, der eskaliert war. In der Küche griff er nach einem Messer und erstach seine Freundin. Die letzten Eindrücke waren ein verwirrter Mann, der das Messer mitsamt dem Messerblocks mitnahm und die Wohnung verließ.
Samael stand auf und schaute sich in der Küche um. An der Stelle, an der der Messerblock gestanden hatte, war eine leichte Verfärbung zu sehen. Der Block hatte schon länger dort gestanden, wodurch die Arbeitsplatte rundherum ausgeblichen war. Er zeigte seine Beobachtung der Spurensicherung und war verwundert, als sich seine Vision bestätigte. Der Freund der jungen Frau wurde noch am selben Tag verhaftet. Den Messerblock fand man in seinem Auto. Von da an ging es mit seiner Karriere steil bergauf. Jeder seiner Fälle wurde gelöst. Von seiner Gabe erzählte er niemandem. Auf seiner letzten Dienststelle in Wittlich lernte er Sven und Eric kennen. Die beiden waren ihm von Anfang an sympathisch.
Doch auch diesen beiden erzählte er nichts von seiner Besonderheit. Das war nun schon fast 10 Jahre her. Damals, mit Ende zwanzig, und im neuen Jahrtausend, fingen die Menschen erst an, aufmerksam auf Spiritualität zu werden. Es entwickelte sich eine neue spirituelle Freiheit, Hellsehern und Wunderheilern wurde eine wachsende Bedeutung zugeschrieben.
Eines Tages, sie untersuchten gerade den Mord an einem älteren Mann, da nutzte Samael erneut seine Kräfte. Täter war der Sohn und es war ein Leichtes, ihn zu überführen. Aber an diesem Tag rutschte Samael gegenüber Eric heraus, wo die Tatwaffe zu finden war. Eric war sofort klar, dass sein Kollege einen besonderen Spürsinn hatte. Er ließ nicht locker, bis Samael ihm von seiner Gabe erzählte. Samael war überrascht, denn anstatt in ungläubiges Gelächter zu verfallen, erklärte ihm Eric, dass er sich seit Jahren mit den Besonderheiten der Quantenphysik und der Spiritualität beschäftigte. Für ihn war es nicht verwunderlich, dass es Menschen mit besonderen Gaben gab.
Sven war zwar offen für Übernatürliches, aber so recht glauben konnte er es am Anfang dennoch nicht. Erst als sie selbst die schwierigsten Fälle gelöst bekamen, freundete er sich damit an. Nicht nur im Raum Wittlich, auch viele der angrenzenden Kriminalinspektionen riefen ihn zu Hilfe. Niemand ahnte wie er die Fälle löste und keiner wollte es wirklich wissen. Die Ereignisse fanden dann vor gut drei Jahren ihren Höhepunkt. Damals wurden er und seine Kollegen des Öfteren auch von Europol gerufen, um an diversen Tatorten mit zu ermitteln. In dieser Zeit hatte sich so etwas wie eine tiefe Freundschaft zwischen ihm und seinen Kollegen gebildet. Diese Fälle von internationalen Gewalttaten sorgten aber auch dafür, dass es Samael immer schlechter ging. Er war selten zu Hause und die Bilder der Opfer nahmen ihn immer mehr mit. Als Samael sich entschloss, dem Polizeiberuf den Rücken zu kehren, waren seine Kollegen für ihn da, auch als seine Frau ihn verließ. Das war alles schon ein Jahr her, sie hatten zwar noch Kontakt, aber in der Regel nur selten.
Jetzt wusste er, wie sich die Menschen gefühlt hatten, die er mit zur Befragung genommen hatte. Es war ein mieses Gefühl. Er saß in einem fensterlosen Raum und musste auf seine ehemaligen Kollegen warten. Nach gefühlten Stunden kam endlich Eric in den Raum.
„Nun Samael, du weißt, dass ich dich das fragen muss. Hast du die Frau vorher schon einmal gesehen?“
Samael schüttelte den Kopf.