Du kennst sie nicht - Kristen Lepionka - E-Book

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Kristen Lepionka

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Beschreibung

Privatermittlerin Roxane Weary hat noch mit den Nachwehen ihres letzten Falls zu kämpfen und so kommt es ihr gelegen, als Arthur Ungless sie bittet, seine Verlobte Marin Strasser zu beschatten: ein einfacher Auftrag. Bis die Polizei vor der Tür steht. Marin Strasser ist tot, und Roxanes Klient der Hauptverdächtige. Roxane hält es für ausgeschlossen, dass Arthur ein Mörder ist, und ermittelt auf eigene Faust. Die Spur führt in Marins Vergangenheit. Doch je mehr Roxane über die Tote herausfindet, umso gefährlicher wird dieses Wissen. Für Roxane selbst – und für alle, die ihr nahestehen …

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Buch

Privatermittlerin Roxane Weary hat noch mit den Nachwehen ihres letzten Falls zu kämpfen, und so kommt es ihr sehr gelegen, als Arthur Ungless sie bittet, seine Verlobte Marin Strasser zu beschatten, da er vermutet, dass sie ihm untreu ist. Ein einfacher Auftrag, wie es scheint. Bis die Polizei vor der Tür steht: Marin Strasser ist tot und Roxanes Klient der Hauptverdächtige. Roxane hält es für ausgeschlossen, dass Arthur ein Mörder ist, und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Bald stößt sie auf eine Spur, die in Marins Vergangenheit führt. In das Leben einer Frau mit vielen Geheimnissen und vielen Gesichtern – und je mehr Roxane über die Tote herausfindet, umso gefährlicher wird dieses Wissen. Für Roxane selbst – und für alle, die ihr nahestehen …

Autorin

Wer Kristen Lepionka in ihren Jugendjahren suchte, fand sie wahrscheinlich in der Bibliothek hinter einem großen Stapel Krimis. Als Erwachsene ist sie in Polizeiwagen mitgefahren und hat gelernt, wie man Schlösser knackt – natürlich stets im Dienste der Spannungsliteratur. Sie lebt in Ohio, USA.

Kristen Lepionka

Du kennst sie nicht

Kriminalroman

Deutsch von

Verena Kilchling

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»What You Want to See« bei St. Martin’s Press, New York.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung April 2019

Copyright © 2018 der Originalausgabe by Kristen Lepionka

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: gettyimages/Michael Jones/EyeEm

Redaktion: Alexander Groß

An · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23264-1V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Columbus

EINS

In der Bryden Road lag urbaner Wandel in der Luft. Das baufällige Haus gegenüber meiner Wohnung war enteignet, zur Versteigerung freigegeben und irgendwann von einem streitlustigen Doktoranden-Ehepaar erstanden worden, das den Renovierungsprozess als experimentelle Paartherapie zu betrachten schien. Dann zogen meine Nachbarn aus der Wohnung über mir aus und wurden von einem etwa zwanzigjährigen Hipster-Mädchen ersetzt, dessen Namen ich mir nicht merken konnte und das davon träumte, im schmalen Hinterhof unseres Wohngebäudes ein landwirtschaftliches Kollektiv zu gründen. Das wusste ich, weil meine neue Nachbarin den ganzen Tag ausgiebig und laut am Telefon darüber redete.

Es war Dienstag und die Art von perfektem Junitag, bei der man leicht vergisst, wie unangenehm das Wetter in Ohio ansonsten meist ist. Ich saß auf meiner Veranda und hörte zu, wie Bridie oder Birdy – oder wie auch immer sie hieß – von den Brahma-Hühnern schwärmte, die sie für ihre Hinterhof-Farm zu kaufen gedachte. Sosehr sie mich manchmal nervte, ihre Telefonate hatten auch etwas Fesselndes, als würde eine Etage über mir ein Hipster-Hörspiel ablaufen.

Es versteht sich wohl von selbst, dass ich nicht nur krankhaft neugierig war, sondern außerdem mal wieder ohne Auftrag und daher arbeitslos.

Ich leerte gerade meine zweite Tasse Tee, als ein Auto vor dem Haus hielt – ein hellbrauner Impala ohne Radkappen, aber dafür mit LED-Leisten hinter dem Kühlergrill, problemlos als Zivilfahrzeug der Polizei zu erkennen. Auch wenn man reguläre Streifenwagen hier in Olde Towne East häufiger zu Gesicht bekam, war ein Zivilfahrzeug nichts Ungewöhnliches.

Über mir sagte Birdy ins Telefon: »Auf der Straße sind Cops. Schon wieder. Meinst du, das ist hier trotzdem eine sichere Gegend?«

Ich überlegte, ob ich zu ihr hinaufrufen sollte: »Nicht für Brahma-Hühner!«

Ich entschied mich dagegen, als die Beifahrertür des Zivilfahrzeugs aufging und Tom ausstieg.

Das bedeutete, dass die Cops wegen mir hier waren.

Tom schien darüber nicht glücklich zu sein, genauso wenig wie sein Kollege, der klein und gedrungen war und dessen grau melierter, borstiger Igelhaarschnitt wie ein Staubsaugeraufsatz aussah. Ich kannte ihn nicht, doch sein Gesichtsausdruck verriet, dass ich für ihn keine Unbekannte war.

Ich stellte meinen Becher auf der Verandabrüstung ab und stand auf. »Ich hatte gar keinen Besuch erwartet.«

»Hallo, Roxane«, begrüßte mich Tom. Seine Miene war undurchdringlich. »Das ist Detective Sanko. Hast du ein paar Minuten Zeit?«

»Für was?«

»Ein Gespräch.«

»Worüber?«

Der Mann mit dem Staubsaugeraufsatz musterte mich finster. »Sie reden genauso, wie Ihr Vater immer geredet hat«, sagte er. »Und Sie sehen auch genauso aus wie er.«

Ich seufzte. »Raus damit, Leute, was ist los?«

»Wollen wir uns wirklich hier draußen unterhalten, wo das ganze Viertel mithört?«, fragte Sanko.

Im Stockwerk über mir schwieg Birdy zum ersten Mal seit gefühlt mehreren Tagen. »Na gut, kommt doch mit rein«, sagte ich.

Ich führte meine Besucher in mein Wohnzimmer, das mir auch als Arbeitszimmer diente. Dabei suchte ich Toms Blick, der mir jedoch auswich. »Worum geht es denn?«

Sanko sah sich in meiner Wohnung um und betrachtete abfällig meinen Wohnzimmertisch, auf dem sich neben einer fast leeren Flasche Crown Royal die Wäsche stapelte. »Nett haben Sie’s hier.«

»Jetzt sei kein Arschloch, Ed«, sagte Tom und begegnete endlich meinem Blick. Sein Gesichtsausdruck verriet Anspannung.

»Marin Strasser«, begann Sanko, nachdem er seine Begutachtung meiner Wohnung beendet hatte. »Sagt Ihnen der Name was?«

Ich starrte ihn an.

Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass die beiden wegen ihr hier waren.

Bis vor ein paar Tagen war ich Marin Strasser auf Schritt und Tritt gefolgt. Ihr Verlobter hatte mich engagiert, damit ich herausfand, ob sie ihn betrog. Das tat sie nicht, zumindest nicht, soweit ich es herausfinden konnte, allerdings war nach nicht einmal einer Woche der Scheck, den mir mein Auftraggeber pauschal ausgestellt hatte, geplatzt, und damit war die Sache für mich erledigt gewesen.

Hatte ich zumindest geglaubt. »Ja.«

»Woher kennen Sie sie?«

»Ich habe bis vor Kurzem für ihren Verlobten gearbeitet. Warum?«

Die beiden tauschten Blicke aus. »Weil sie tot ist«, antwortete Sanko.

Eine Woche vor diesem Gespräch hatte ich mich mit Arthur Ungless in der North Side getroffen. Seine Druckerei befand sich in einem Industriegebiet, das eine bunte Mischung an Unternehmen in einstöckigen Gewerbegebäuden mit Stuckfassade beherbergte, und lag eingeklemmt zwischen einem Süßwarengroßhandel und einem Karatestudio. Im ganzen Gebäude roch es nach Tinte und Papier, und jenseits von Arthurs geschlossener Bürotür schien rege Betriebsamkeit zu herrschen. Die Geschäfte liefen offenbar gut, denn ein langsamer, aber gleichmäßiger Kundenstrom rollte mit seinen Autos am Fenster hinter seinem Schreibtisch vorbei. »Norm hat Sie mir als sehr diskret empfohlen«, eröffnete Arthur das Auftragsgespräch. »Er sagte, es wäre leicht, mit Ihnen zu reden, und genau das brauche ich. Schließlich muss ich einer wildfremden Person von meinem Verdacht erzählen, dass die Liebe meines Lebens eine Affäre hat. Das Ganze ist mir sehr unangenehm, wissen Sie. Sehr peinlich.«

»Verständlich«, beruhigte ich ihn. Ich arbeitete in regelmäßigen Abständen für Norm Whitmans auf Körperverletzungsklagen spezialisierte Anwaltskanzlei. Bei seinen Aufträgen handelte es sich meist um Observierungen, die im Spektrum meiner Jobs zu den schmutzigeren zählten, aber Geld war nun mal Geld, und ich schätzte Norms Arbeit genug, um es ernst zu nehmen, wenn er mich weiterempfahl. »Sie müssen sich wirklich nicht schämen. Ich stehe auf Ihrer Seite.«

Arthur lächelte matt. »Sie machen tatsächlich einen sehr professionellen Eindruck«, sagte er. »Das gefällt mir.«

Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin. Was den professionellen Eindruck anging, hatte ich so meine Zweifel. Ich trug ein schwarzes T-Shirt, Jeans und eine alte olivgrüne Militärjacke, die ich seit fünfzehn Jahren besaß und die gerade wieder in Mode war. Immerhin hatte ich mir für dieses Treffen die Haare gekämmt und war zu Arthur Ungless in die Druckerei gekommen, statt das Auftragsgespräch inmitten dreckiger Wäsche in meiner Wohnung zu führen. Verglichen mit meinem früheren Ich war ich inzwischen also tatsächlich halbwegs professionell. »Warum erzählen Sie mir nicht ein bisschen von Ihrer Verlobten?«, forderte ich ihn auf.

Arthur nickte niedergeschlagen. Er war um die sechzig und eher klein, hatte eine breite Brust, rötliche, von silbergrauen Strähnen durchzogene Haare, einen breiten Mund und wässrige Augen mit Schlupflidern. Die Ärmel seines blauen Oxford-Hemds waren mit Tinte bespritzt und bis zu den Ellbogen hochgerollt, wodurch eine verblichene Tätowierung der Marineinfanterie an seinem linken Unterarm sichtbar wurde. Auf mich machte er den Eindruck eines hart arbeitenden, freundlichen Mannes. Im Gegensatz dazu war die Frau auf dem Foto, das zwischen uns auf dem Schreibtisch stand, eine kühl wirkende blonde Schönheit, gut gekleidet und mindestens fünfzehn Jahre jünger als er. »Marin«, sagte er. »Marin Strasser. Sie fragen sich wahrscheinlich, was eine derart attraktive Frau wie sie an mir findet.«

»Nicht doch«, erwiderte ich, auch wenn mir klar war, was er meinte. Marin spielte rein optisch in einer anderen Liga. Ich schrieb ihren Namen in mein Notizbuch und unterstrich ihn zweimal. »Warum glauben Sie, dass sie Sie betrügt?«

Arthur seufzte, lehnte sich auf seinem Chefsessel zurück und spielte träge an seiner Krawatte herum. »Na ja, wir haben uns letztes Jahr im Oktober verlobt. Als ich ihr den Antrag machte, waren wir gerade zum Dinner im M. Waren Sie schon mal dort?«

Ich nickte. »Sehr romantisch.«

»Sie war überglücklich, vollkommen hin und weg. Wir haben wunderbare Zeiten miteinander erlebt, sie und ich. Reisen und so weiter. Dieses Jahr waren wir schon in Palm Beach und in Vegas, und wir überlegen, ob wir über Weihnachten nach Mexiko fliegen. Ich nehme sie gerne mit an tolle Ort und verwöhne sie.« Er hielt inne, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Aber wenn ich ehrlich bin, ist es nicht mehr so, wie es mal war zwischen uns. Sie ist nicht mehr so, wie sie mal war. Das merke ich einfach. Sie ist unaufmerksam und nervös, bekommt rund um die Uhr ominöse Telefonanrufe. Das ist nicht wirklich neu, ihre Kunden sind sehr anspruchsvoll. Doch neuerdings steht sie für die Gespräche manchmal auf und verlässt den Raum.«

Mein Blick wanderte erneut hinunter zu dem Foto, und mir ging kurzzeitig die Frage durch den Kopf, ob Marin womöglich ein Escort-Girl war. »Kunden?«

»Marin ist Innenausstatterin«, erklärte Arthur, und ich fühlte mich wie eine Idiotin. »So haben wir uns auch kennengelernt – sie kam in die Druckerei, um sich neue Visitenkarten drucken zu lassen.« Er schüttelte kurz den Kopf. »Wie auch immer, wenn ich nachhake und wissen will, was los ist, behauptet sie, es läge nur an der stressigen Hochzeitsplanung. Ich weiß auch nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass da mehr dahintersteckt. Ich muss mir einfach sicher sein. Was sie angeht, meine ich. Ich kann mit diesem Gefühl nicht heiraten. Mit diesem Gefühl des Zweifelns an ihr und an mir selbst.«

»Haben Sie denn irgendeinen Verdacht, mit wem sie sich trifft?«

»Nein«, antwortete Arthur.

Ich wartete.

»Marin hat nicht viele Freunde. Wir beide haben nicht viele Freunde. Das ist auch einer der Gründe, warum wir so schnell so eng zusammengewachsen sind.«

Wieder betrachtete ich das Foto von Marin. Ich bezweifelte stark, dass eine Frau mit diesem Aussehen nur wenige Freunde hatte. »Okay«, sagte ich. »Wenn Sie nicht wissen, mit wem sie sich trifft, haben Sie dann vielleicht Vermutungen, was die Zeit oder den Ort angeht?«

Er schüttelte wieder den Kopf. »Wir wohnen zusammen, deshalb bin ich nachts natürlich bei ihr. Aber tagsüber weiß ich nicht genau, was sie macht. Keine Ahnung. Sie hat kein festes Büro oder so was. Ich weiß, dass sie viel Zeit damit verbringt, für Kunden einzukaufen, sie geht also ständig in irgendwelchen Einrichtungshäusern ein und aus.«

Ich tippte kurz mit meinem Stift auf mein Notizbuch und schrieb dann Einrichtungshäuser unter Marins Namen. Bislang machte die Sache nicht gerade den Eindruck, als ob es sich um den Ermittlungsfall des Jahrhunderts handelte. »Sie möchten also, dass ich sie tagsüber im Auge behalte.«

»Ja. Normalerweise breche ich gegen sieben von zu Hause auf und komme gegen acht Uhr abends zurück. An den Wochenenden arbeite ich meistens nur vormittags.«

Ich unterdrückte ein unprofessionelles Seufzen. »Arthur«, sagte ich, »Fälle wie dieser können schnell ins Geld gehen, vor allem, wenn Ihre Verlobte wirklich dreizehn Stunden am Tag observiert werden soll. Und es kann durchaus sein, dass die Observierung einige Tage oder sogar Wochen dauert. Sind Sie sich darüber im Klaren?«

»Glauben Sie mir, Geld ist kein Problem.«

Ich teilte ihm meinen Stundensatz mit, und er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Vielleicht war es das, was Marin an ihm mochte: entweder seine felsenfeste Entschlossenheit oder seine scheinbar unerschöpflichen finanziellen Ressourcen. Meine Vermutung war, dass sie tatsächlich eine Affäre hatte. Am liebsten hätte ich ihm geraten, sich das Geld zu sparen, denn im Grunde verriet allein schon die Tatsache, dass er mich engagierte, wie zerrüttet das Vertrauen in seine Verlobte bereits war und vermutlich immer bleiben würde. Aber wenn er unbedingt jemanden bezahlen wollte, damit er ihm Antworten lieferte, dann konnte dieser Jemand genauso gut ich sein.

Arthur hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, Marin gehe in Einrichtungshäusern ein und aus. Sie kaufte nicht viel, schlenderte meist nur herum und schien wahllos irgendwelche Gegenstände zu berühren. Sie sprach nur mit wenigen Menschen und traf sich mit niemandem. Vier Tage lang folgte ich ihr von einem Ende der Stadt zum anderen. Wir besuchten eine Haushaltsauflösung, ein Lager für altes Baumaterial auf dem Messegelände, einen Antiquitätenladen in Powell, zwei überteuerte Kleiderboutiquen, eine Reihe von Kunstgalerien in Short North und eine Hot-Yoga-Stunde. Das Interessanteste, was in diesen vier Tagen passierte, war, dass ich in einer der Galerien Catherine Walsh über den Weg lief und mich, reif und erwachsen, wie ich bin, hinter einer Skulptur aus Maschendraht und Plastikobst versteckte. Aber das hatte nichts mit Marin Strasser zu tun, sondern mit dem Umstand, dass das Universum einem wieder und wieder die gleichen Lektionen erteilt, bis man sie endlich gelernt hat. Was Catherine anging, gab ich mir wirklich Mühe. Sie hatte sich vor Kurzem ein Handy zugelegt, und ich hatte noch auf keine ihrer Textnachrichten geantwortet. Zwischen uns gab es nichts mehr zu sagen.

Falls sie mich ebenfalls erspäht hatte, war sie so reif und erwachsen, einfach weiterzugehen.

Am Freitagvormittag fuhren Marin und ich schließlich nach Grandview Heights, und während sie in einem Schreibwarenladen ausführlich verschiedene Kugelschreiber betrachtete, revidierte ich meine anfängliche Einschätzung der Situation. Sie machte ganz und gar nicht den Eindruck einer Frau, die mitten in einer Affäre steckte. Genauso wenig schien es allerdings, als sei sie mit ihren angeblich so anspruchsvollen Kunden beschäftigt. Es sah einfach nur aus, als würde sie Zeit totschlagen. Aber da ich meinem professionellen Ruf gerecht werden musste, hatte ich fest vor, Marin weiter zu beschatten, bis Arthur entweder das Interesse verlor oder ihm das Geld ausging.

Letzteres passierte deutlich früher als erwartet. Während ich im Stauf’s an einem Bistrotisch saß, vor mir eine Tasse Minztee und die krümeligen Überreste eines Blaubeermuffins, traf die Benachrichtigung auf meinem Handy ein, dass Arthurs Scheck nicht gedeckt war. Ich starrte auf das Display. Noch nie hatte mir jemand einen ungedeckten Scheck ausgestellt, dabei hatte ich zahlreiche Klienten gehabt, denen ich so etwas viel eher zugetraut hätte als Arthur Ungless. Marin blätterte unterdessen unbekümmert durch ein Designmagazin. Sie trug ein schwarzes ärmelloses Kleid, das aussah, als hätte es mehr gekostet als der gesamte Inhalt meines Kleiderschranks. Schon auf dem Foto, das mir Arthur zur Verfügung gestellt hatte, war zu erkennen gewesen, wie attraktiv sie war, aber in natura war sie geradezu umwerfend mit ihren langen, kunstvoll gesträhnten blonden Haaren, die ihr bis auf den halben Rücken reichten. Ihre nackten Arme waren glatt und gebräunt, und ihre Handgelenke zierte eine Reihe verschiedener Armreifen, die ein dumpfes Klimpern von sich gaben, wenn sie ihre Zeitschrift umblätterte. Sie wirkte unnahbar und wohlhabend, was den geplatzten Scheck noch verwirrender machte. Aber eigentlich wusste ich ja noch gar nicht viel über sie. Eine Observierung war nichts als ein willkürlicher, aus dem Schatten heraus getätigter Einblick in das Leben eines anderen Menschen – im Grunde wie Fernsehen mit ausgestelltem Ton. Ich aß den Rest meiner Muffinkrümel und ging mein E-Mail-Postfach durch, für den Fall, dass Arthur mir irgendeine Art der Erklärung gemailt hatte. Hatte er nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Als Marin ihre Lesebrille wegsteckte und aufstand, um das Café zu verlassen, folgte ich ihr nicht.

Stattdessen fuhr ich zu Arthurs Druckerei. Als ich vor einigen Tagen das erste Mal hier gewesen war, hatte er mich stolz herumgeführt und dabei die bekanntesten Namen seiner Kundenliste und seine hochmodernen Druckverfahren wie Intaglio und Mikrodruck heruntergebetet. Heute ließ er sich kraftlos in seinen Chefsessel sinken und sprach mit seiner Schreibtischunterlage statt mit mir.

»Ich will nicht, dass Sie denken, ich hätte das Geld nicht«, rechtfertigte er sich nervös. »Ich habe das Geld, natürlich habe ich es. Hören Sie, das Ganze tut mir furchtbar leid. Ich war inzwischen bei der Bank und habe Ihnen … wie viel ist es … zwölfhundert Dollar abgehoben. Hier.« Er griff nach einem weißen Bankumschlag, der prallvoll mit Bargeld war. »Ich möchte gerne auch weiterhin auf Ihre Dienste zurückgreifen.«

»Arthur«, sagte ich zum dritten Mal. »Ich denke, wir sollten die Sache für eine Weile auf Eis legen.«

»Nein, nein, ich habe das Geld«, beteuerte Arthur noch einmal. »Das ist kein Problem. Es muss irgendein Buchungsfehler passiert sein, ich prüfe das gleich mal nach. Zugegeben, wir haben ein paar schlechte Jahre hinter uns mit der Druckerei, aber es geht gerade wieder aufwärts. Wie gesagt, ich habe das Geld. Die Sache ist mir wirklich peinlich. Sie müssen mir glauben: Es handelt sich um einen Irrtum, weiter nichts.«

Wir sahen uns eine Weile an.

»Bitte«, flehte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich muss es wissen. Ich muss einfach.«

Ich streckte die Hand aus und berührte sein Handgelenk. »Machen wir einfach ein paar Tage Pause«, schlug ich vor. »Sie können Ihre Unterlagen in Ordnung bringen, oder was auch immer Sie tun müssen, und wenn Sie die Sache danach immer noch weiterverfolgen wollen, rufen Sie mich an. Okay?« Ich glaubte, ich würde ihm einen Gefallen tun. Die zwölfhundert Dollar, die zwischen uns auf dem Schreibtisch lagen, hätten ohnehin kaum die Zeit abgedeckt, die ich bereits auf die Observierung Marin Strassers verwendet hatte. Ich ging das Risiko ein, dass er vielleicht nie wieder anrief und ich vier Arbeitstage umsonst investiert hatte, weil ich Mitleid mit ihm hatte und nicht wollte, dass er mit gebrochenem Herzen und völlig mittellos dasaß. So viel zum Thema Professionalität.

»Okay«, sagte Arthur Ungless schließlich und wischte sich unbeholfen die Augen. »Das ist fair. Ich melde mich bei Ihnen.«

Wir gaben uns die Hand. Während ich sein Büro verließ, fragte ich mich, ob ich es noch bereuen würde, dass ich nicht das Geld genommen und weiter an dem Fall gearbeitet hatte.

Jetzt hatte ich meine Antwort. Ich ließ mich schwer auf den Rand meines Schreibtischs sinken und sah dabei Arthurs große, traurige Augen vor mir. »Was ist passiert?«

»Erzählen Sie mir zuerst, was das für eine Arbeit war, die Sie für Arthur Ungless erledigt haben«, forderte mich Sanko auf.

»Das ist vertraulich.«

»Heitker, du hast gesagt, sie würde kooperieren, wenn du dabei bist«, beschwerte sich Sanko bei Tom.

»Komm schon, Roxane«, bat Tom. »Es ist nicht vertraulich, und das weißt du auch.«

Er hatte natürlich recht, aber ich wollte Arthurs Beweggründe nicht einfach so offenbaren, ohne vorher die Umstände von Marins Tod zu kennen. Eine gewisse Ahnung hatte ich bereits, denn nach einem Autounfall oder Aneurysma kommen keine Beamten des Morddezernats vorbei und stellen derartige Fragen. »Inwiefern kooperiere ich denn nicht?«

Ein Lächeln umspielte Toms Mundwinkel. Er war muskulös und groß, etwa einen Meter fünfundachtzig, und er hatte gut zehn Kilo zu viel auf den Rippen, die ihm jedoch ausgezeichnet standen. Er sah immer aus wie ein Polizist, der seinen Job zu ernst nahm, ob er nun Jeans trug oder wie heute einen Anzug. Und er sah immer gut aus, ein Umstand, den ich neuerdings zu ignorieren versuchte. Ich hatte das Gefühl, dass jeder Außenstehende, der uns miteinander erlebte, sie sofort bemerken musste – diese Vertrautheit, die nur zwischen Menschen entsteht, die miteinander im Bett waren. Das letzte Mal war bereits mehrere Monate her, aber das machte es nicht weniger merkwürdig, in Anwesenheit eines Kollegen mit Tom im gleichen Raum zu sein.

»Können Sie mir nicht einfach verraten, was passiert ist? Frank zuliebe?«

»Frank«, murrte Sanko. Doch dann zuckte er kaum merklich mit den Schultern. »Sie wurde erschossen. Am Freitagabend gegen neun. Im Victorian Village, in der Hunter Avenue. Das ist ein schmales Sträßchen zwischen Dennison und Neil Avenue.«

Das Grauen kroch mir eiskalt den Rücken herauf. Wie unheimlich, dass ich nur wenige Stunden zuvor hinter ihr in einem Café gesessen und sie beim Lesen ihrer Zeitschrift beobachtet hatte. »Was wollte sie denn dort?«

»Sagen Sie es uns. Sie sind diejenige, die sie beschattet hat, oder etwa nicht?«

»Am Freitagabend nicht mehr«, erwiderte ich und erklärte die Sache mit dem ungedeckten Scheck. Tom und Sanko wirkten nicht überrascht, offenbar hatten sie die Geschichte bereits von Arthur gehört. »Allerdings bereue ich es jetzt, dass ich ihr zu dem Zeitpunkt nicht mehr gefolgt bin, denn dann hätte ich vielleicht etwas mitbekommen oder irgendwie eingreifen können …«

»Bloß nicht. Dann hätten wir womöglich zwei Opfer in diesem Mordfall«, unterbrach mich Tom.

Ich sah ihn an und hob eine Augenbraue. »Was war es denn, ein Raubüberfall?« Die Viertel, die an Short North grenzten, blieben von Straßenkriminalität nicht verschont, auch wenn es sich meist nur um aufgebrochene Autos handelte. »Während meiner Beschattung ist sie nie auch nur in der Nähe der Neil Avenue gewesen.«

»Ihre Handtasche war noch bei ihr, genauso wie ihr gesamter Schmuck«, antwortete Sanko. »Es sieht also nicht nach einem Raubüberfall aus, nein. Laut Ihrem Klienten aßen er und seine Verlobte im Guild House zu Abend. Die beiden hatten sich direkt dort getroffen, Mr Ungless hatte länger gearbeitet. Im Restaurant kam es dann zu einem Streit, es ging wohl um die Tatsache, dass Ungless Sie engagiert hatte. Marin war aufgebracht und verließ das Lokal. Wir gehen davon aus, dass sie irgendwo in der Nähe des Tatorts geparkt hatte.«

Ich hatte keine Ahnung, was ich von alldem halten sollte. Wenn es die moderne Technik nicht ermöglicht hätte, dass mich meine Bank sofort über jede Neuigkeit im Zusammenhang mit meinem Konto informierte, hätte ich Marin mit Sicherheit noch zwei oder drei Tage länger observiert, bevor ich von Arthurs ungedecktem Scheck erfahren hätte. Ich fühlte mich, als hätte mir das Schicksal einen Streich gespielt. »Sie fuhr einen schwarzen Jeep mit mattschwarzen Felgen«, sagte ich und rasselte ihr Autokennzeichen herunter.

»Ich weiß«, erwiderte Sanko. »Wir sind dabei, nach ihm zu suchen. Also, zurück zu Ihrer Observierung in Arthur Ungless’ Auftrag: Hatte Marin Strasser eine Affäre?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht, soweit ich es mitbekommen habe.«

»Was hat sie denn den ganzen Tag getan? Und mit wem?«

»Sie hat geshoppt. Allein. Und ist zum Hot-Yoga gegangen.«

»Hot-Yoga?«

»Das ist wie normales Yoga, nur dass es im Raum ungefähr dreißig Grad heiß ist.«

»Warum sollte jemand freiwillig so etwas tun?«

Tom mischte sich ein: »Vergiss Hot-Yoga, Ed. Roxane, was für einen Eindruck hat Arthur auf dich gemacht?«

»Einen peinlich berührten.«

»Und was noch?«

»Das war es eigentlich schon. Ihm war vor allem das mit dem Scheck peinlich. Überrascht hat es ihn auch, glaube ich. Ich hatte das Gefühl, dass er es nicht gewohnt ist, knapp bei Kasse zu sein.«

»Und wie wirkte er im Hinblick auf seine Verlobte? Wütend?«

»Nein. Er wollte nur, dass ich sie im Auge behalte.«

Sankos Miene wurde noch düsterer. »Ich an seiner Stelle wäre stinksauer, wenn meine hübsche, deutlich jüngere Freundin fremdgehen würde.«

Mein anfänglicher Instinkt, Sanko gegenüber lieber nicht zu viel preiszugeben, schien richtig gewesen zu sein. »Er war jedenfalls nicht wütend«, wiederholte ich noch einmal. »Nur traurig und verwirrt.«

»Die Menschen reagieren unterschiedlich. Vielleicht hat er vor Ihnen nur den Traurigen gespielt.«

»Wie jetzt? Erst engagiert er mich, damit ich sie beschatte, und dann stellt er mir einen ungedeckten Scheck aus, damit ich mit der Observierung rechtzeitig wieder aufhöre und er sie ungestört umbringen kann? Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst.« Ich wandte mich an Tom. »Hat jemand in der Nähe des Tatorts irgendetwas gesehen oder gehört?«

»Es ist Eds Fall, er ist der Ansprechpartner. Ich bin nur mitgekommen, um euch miteinander bekannt zu machen.«

Ich versuchte, so kooperativ wie möglich zu wirken. »Können Sie mir etwas dazu sagen?«, bat ich Sanko.

Nach kurzem Zögern zuckte er erneut mit den Schultern. »Eine Nachbarin hat ausgesagt, sie hätte vor dem Schuss laute Stimmen auf der Straße gehört – ein Mann und eine Frau, die sich gestritten hätten. Und dann der Knall. Eine Kugel in die Brust, Kaliber 38. Und jetzt raten Sie mal, wer eine Schusswaffe Kaliber 38 besitzt?«

Ich wartete auf die Pointe.

»Arthur Ungless. Der sie rein zufällig gerade nicht finden kann.«

Ich sah wieder Arthurs Gesicht vor mir, wie er mich in seinem Büro um Hilfe angefleht hatte, und mir kam der Gedanke, dass ich nun einen Strafverteidiger für ihn finden musste. Der Lebenspartner eines Mordopfers ist normalerweise aus gutem Grund die erste Anlaufstelle bei der Suche nach dem Mörder. Trotzdem glaubte ich keine Sekunde, dass mein Klient seine Verlobte umgebracht hatte, Streit hin oder her. »Sie haben erzählt, Marin hätte das Restaurant zuerst verlassen«, sagte ich zu Sanko. »Wurde Arthur zum Zeitpunkt ihrer Ermordung vielleicht noch im Lokal gesehen?«

Diesmal schüttelte Sanko kategorisch den Kopf. »Wir sind hier, um Informationen von Ihnen zu erhalten, nicht umgekehrt.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine Ahnung, was ich Ihnen erzählen soll«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Marin hat sich während meiner Observierung mit niemandem getroffen. Von ein paar Ladenverkäuferinnen abgesehen hat sie auch mit niemandem gesprochen. Sie hat keine ungewöhnlichen Orte aufgesucht oder ungewöhnliche Dinge getan. Und Arthur war definitiv nicht wütend.«

Sanko drückte mir unwirsch seine Visitenkarte in die Hand. »Na klar«, knurrte er. »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen doch was einfällt.«

»Bezüglich Marin oder bezüglich Arthur?«, fragte ich.

»Beide. Und ziehen Sie bloß nicht Ihre Hobby-Detektivin-Nummer ab. Das ist mein Fall.« Er wandte sich ab und marschierte zur Tür.

»Ich komme gleich nach«, rief ihm Tom hinterher und widmete seine ganze Aufmerksamkeit den sterbenden Zimmerpflanzen auf meinem Kaminsims, während er wartete, bis Sanko außer Hörweite war.

Mir war egal, ob Sanko mich hörte. »Meine Hobby-Detektivin-Nummer?«

Tom grinste schief. »Sorry. Ich hätte dich vorher angerufen, aber ich habe selbst erst vor zehn Minuten von dem Fall erfahren. Sanko hat mich auf dem Rückweg vom Gericht abgefangen und gesagt, er bräuchte meine Hilfe. Frank war ein rotes Tuch für ihn, und das überträgt er jetzt offenbar auf dich.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Dann war es also kein Kompliment, als er meinte, ich würde aussehen und mich anhören wie er.«

Darauf antwortete Tom nicht. Musste er auch nicht.

»Ich sollte dann wohl mal hinterher. Wir unterhalten uns später. Und sei bitte vorsichtig, was diesen Ungless angeht.«

»Ungless ist harmlos. Tom, es ist völlig ausgeschlossen, dass er etwas damit zu tun hat.«

Sein Gesicht verriet, dass er diesbezüglich seine Zweifel hatte. »Sei trotzdem vorsichtig.«

ZWEI

Die Sonne schien mir warm auf den Rücken, als ich auf Arthurs Eingangsveranda stand. Er wohnte in einem modernen einstöckigen Haus mit Blick über Rush Run, eine bewaldete Schlucht, die abgeschieden wirkte, obwohl die North High Street nur ein paar Hundert Meter westlich lag. Letzte Woche hatte ich hier bereits einige Zeit verbracht und einen Häuserblock entfernt im Auto darauf gewartet, dass Marin auftauchte. Heute parkte ich hingegen direkt vor der Tür. Ich hatte eigentlich eine lange Reihe abgestellter Fahrzeuge in Arthurs Einfahrt erwartet – meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters im letzten Jahr einen endlosen Besucherstrom empfangen –, aber die Zufahrt war leer bis auf Arthurs eigenen Wagen, einen dunkelgrauen Jeep, sozusagen die männliche Variante von Marins Auto. Nach meinem zweiten Klopfen bewegte sich ein Vorhang, dann machte Arthur die Tür auf und blinzelte mir bleich und benommen vor Kummer entgegen. »Sie sind es«, murmelte er leise.

»Arthur, ich habe das mit Marin gehört. Es tut mir wahnsinnig leid«, sagte ich.

Er starrte mich an und strich sich langsam über seine Hemdbrust. Seine Augen waren rot gerändert.

»Die Polizei war heute Nachmittag bei mir«, fuhr ich fort. »Entschuldigen Sie, dass ich hier einfach so auftauche, aber ich wollte mit Ihnen über …«

»Die Polizei.« Er räusperte sich. »Oh. Ich hätte Sie vielleicht vorwarnen sollen. Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Nein, nein, machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich bin einfach … hören Sie … ach, warum kommen Sie nicht kurz rein? Sie müssen allerdings die Unordnung entschuldigen …«

Die Einrichtung, die ich hinter ihm erspähen konnte, erinnerte in ihrer altmodischen Opulenz an die Neunzigerjahre – dick gepolsterte Möbel, ein geometrisch gemusterter schwarz-grauer Teppich und ein Wohnzimmertisch mit Glasplatte. Ein eigenartiger Stil im Domizil einer Inneneinrichterin. Noch auffallender war allerdings, dass es in Arthurs Wohnzimmer aussah, als hätte ein Orkan gewütet. Ein Sideboard an der gegenüberliegenden Wand war leer geräumt und sein Inhalt über den ganzen Raum verteilt, und aus einem auf die Seite gekippten Bücherregal ergossen sich die Taschenbücher wie ein Wasserfall von den Regalbrettern auf den Boden.

Während ich Arthur hineinfolgte, fragte ich: »Was ist denn hier passiert?«

»Meine verdammte Pistole«, antwortete Arthur. Er schob einen Stapel Zeitschriften vom Sofa und ließ sich darauf nieder. »Ich kann sie nirgendwo finden.« Er drehte den Kopf und sah mich an. »Die Polizei ist auf der völlig falschen Fährte. Ich meine, okay, wir haben uns gestritten. Im Restaurant. Ich bin der Erste, der zugibt, dass es ein ziemlich heftiger Streit war. Aber ich würde ihr niemals etwas antun, auch nicht nachdem … nach allem. Ich muss einfach meine Pistole finden. Wenn ich sie finde, müssen die mir glauben, oder?«

Ich setzte mich vorsichtig auf den Rand des Wohnzimmertisches. Arthur hatte offenbar eine reichlich naive Vorstellung von der Vorgehensweise der Polizei. Wenn mein letzter größerer Fall mich eines gelehrt hatte, dann, dass Ordnungshüter Geschichten gerne so drehten, wie es ihnen passte. »Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?«

»Keine Ahnung, ich habe sie seit Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Wirklich, seit Jahren. Gekauft habe ich sie, als ich noch drüben in Linden wohnte, damals gab es eine Einbruchsserie in unserer Straße. Aber das ist, wie viel … zwanzig Jahre und zwei Häuser her.« Er blickte ein wenig hilflos umher. »Sie muss hier irgendwo sein. Mein Gott, dass man sich in einer solchen Situation auch noch um so etwas Gedanken machen muss!«

Ich betrachtete das Chaos um mich herum. Ich war zwar gut darin, Dinge wiederzufinden – genau deshalb war ich Detektivin geworden –, doch eine Waffe, die seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen worden war, hätte wohl niemand so ohne Weiteres aufgespürt. Zumal nicht gesagt war, dass das Arthur weitergeholfen hätte. Falls seine Waffe wiederauftauchte, konnte sie lediglich den Beweis dafür liefern, dass mit dieser Pistole nicht der tödliche Schuss auf Marin abgefeuert worden war. Da es in Ohio keinerlei Gesetze zur Regulierung von Schusswaffen gab, existierte auch kein Register, in dem nachzulesen gewesen wäre, dass Arthur nicht noch zehn weitere Schusswaffen vom Kaliber 38 besaß.

»Arthur, darf ich fragen, wie die Polizei überhaupt auf Ihre Pistole gekommen ist?«, hakte ich nach.

»Ich wurde gefragt, ob ich eine Schusswaffe besitze, und habe mit Ja geantwortet.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Hätte ich Nein sagen sollen?«

»Haben Sie schon mit einem Anwalt gesprochen?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso, ich habe nichts zu verbergen.«

Ich biss mir auf die Zunge. Die Tatsache, dass er in der ganzen Wohnung nach der Waffe gesucht hatte, verriet, dass er sich eindeutig Sorgen machte, auch wenn er es nicht zugeben wollte. »Haben Sie überhaupt einen Anwalt?«

»Na ja, ich habe Norm.«

»Norm ist Spezialist für Schadensersatzansprüche«, erklärte ich mit mühsam aufrechterhaltener Geduld. »Er wird Ihnen in einem strafrechtlichen Prozess nicht weiterhelfen können …«

»Aber er ist wirklich gut vor Gericht …«

»Ein Strafgericht ist etwas völlig anderes …«

»Norm hat Sie empfohlen, also zeigen Sie ein bisschen Respekt«, sagte er.

Ich hob resigniert die Hände. Ich wollte nicht mit ihm streiten, schon gar nicht über die auf der Hand liegende Tatsache, dass ein Anwalt mit dem Spezialgebiet Körperverletzung für einen Mordfall nicht die optimale Besetzung war. Und auch nicht darüber, dass Norms Empfehlung mir bislang keinen Cent für meine Mühen eingebracht hatte. Arthur war traumatisiert und trauerte um seine Verlobte, daher galten für ihn mildernde Umstände. Zumindest noch ein paar Minuten lang. Die vagen Schuldgefühle, die mich hergeführt hatten, wichen allmählich einem vagen Gefühl der Verärgerung.

»Tut mir leid«, sagte er nach kurzem Schweigen.

»Schon gut.«

»Was soll ich denn tun, verdammt noch mal? Diesen Detective anrufen und zu ihm sagen: Okay, jetzt habe ich einen Anwalt, wollen Sie mich noch mal verhören? Nein, danke.«

»Nein, aber wenn die Polizei noch mal wiederkommt, um ein zweites Mal mit Ihnen zu sprechen, verlangen Sie, dass Ihr Anwalt bei dem Gespräch anwesend ist.«

Er lehnte sich zurück und verbarg die Augen hinter seiner Hand. »Dann denken die doch sofort, dass ich lüge. Dass ich etwas zu verbergen habe.«

Ich stand auf und ging in die Küche, auf der Suche nach einem Zettel, um ihm Name und Telefonnummer einer auf Strafrecht spezialisierten Kanzlei aufzuschreiben. Deren Anwälte konnten Arthur bei einem Polizeiverhör um Längen besser beraten als Norm Whitman, auch wenn ich dessen erfolgreiche Gerichtsbilanz im Kampf gegen unebene Gehwege natürlich nicht schmälern wollte. Ich würde Arthur die Nummer aufschreiben und mich dann wieder auf den Weg machen. Um mich frustriert zu fühlen, ohne dafür bezahlt zu werden, brauchte ich Arthur Ungless ganz sicher nicht. Das schaffte ich auch allein. Als ich die Küchentheke erreichte, entdeckte ich neben der Spüle eine offene Konservendose mit einem Löffel darin – Hühnersuppe mit Nudeln. Ich spähte hinein und hoffte, dass Arthur gerade dabei gewesen war, die Suppe in einen Topf zu füllen, als ich an der Tür geklingelt hatte. Doch die Dose war zu zwei Dritteln leer. Erneut musste ich an die Tage zurückdenken, nachdem mein Vater gestorben war, an die Aufläufe und Pasteten, die wohlmeinende Nachbarn und entfernte Verwandte vorbeigebracht hatten. Ich warf einen Blick zurück ins Wohnzimmer – Arthur saß immer noch auf dem Sofa und hielt sich die Hand vor die Augen – und öffnete dann leise den Kühlschrank. Nicht eine Auflaufform weit und breit. Das musste nicht viel heißen, aber zusammen mit der leeren Einfahrt löste die traurige Suppenmahlzeit das Gefühl in mir aus, dass hier noch etwas anderes im Argen lag.

»Arthur«, sagte ich, als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Haben Sie Angehörige in der Stadt?«

Er ließ die Hand in seinen Schoß sinken. »Nein«, antwortete er. »Meine Tochter lebt in Erie. Sie ist alles, was ich noch an Familie habe, abgesehen von ein paar Cousins und Cousinen.«

»Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«

»Nein«, flüsterte er.

»Haben Sie sonst irgendjemandem erzählt, was passiert ist?«

Dieses Mal dauerte es noch länger, bis er antwortete: »Nein.«

Mir war schleierhaft, was er sich dabei gedacht hatte. »Arthur, warum?«

Mein Klient sah mich an. »Weil ich mich schäme.«

»Wofür?«

Arthur verstummte erneut. Ich dachte an den Satz zurück, den er bei meinem Eintreffen gesagt hatte: Ich würde ihr niemals etwas antun, auch nicht nachdem … nach allem.

»Ich würde Ihnen gern helfen, wenn es mir möglich ist. Kenne ich denn überhaupt schon die ganze Geschichte?«

Er räusperte sich. »Nein.«

Ich ging erneut in die Küche und spürte zwei Whiskeygläser und eine Flasche irischen Whiskey auf. Davon schenkte ich uns je zwei Fingerbreit ein und setzte mich neben Arthur aufs Sofa. Er nahm sein Glas entgegen, und sein Blick wanderte zu seiner Armbanduhr.

»Noch ziemlich früh«, murmelte er, aber dann trank er doch einen kleinen Schluck.

Auch ich blickte auf seine Uhr und sah, dass es schon fast fünf Uhr nachmittags war.

So früh nun auch wieder nicht.

Ich nippte an meinem Whiskey und forderte ihn auf, mir zu erzählen, was genau passiert war.

»Gleich nachdem Sie am Freitag gegangen waren, habe ich mich mit Janet zusammengesetzt. Sie kümmert sich um meine Rechnungen und das ganze Zeug. Ich dachte, es gibt vielleicht nur ein Problem bei der Bank, wodurch der … Sie wissen schon, der geplatzte Scheck zustande kam. Janet ist eigentlich nicht für meine Privatkonten zuständig, daher wusste sie nichts darüber. Wir haben uns dann zusammen die Kontoauszüge angesehen, und … na ja …« Er seufzte. »Da tauchten jede Menge Schecks auf. Üppige Schecks, zahlbar in bar. Mit meiner Unterschrift.«

Was ich da hörte, gefiel mir gar nicht.

»In dem Moment fiel es mir wieder ein: Scheiße, der ganze Hochzeitskram! Ich hatte Marin Blankoschecks gegeben, damit sie falls nötig Anzahlungen leisten konnte, für die Hochzeitslocation, die Blumendeko und all diese Sachen. Ich dachte, das wären ein paar Hundert Dollar hier, ein paar Hundert Dollar da. Aber das Konto war vollkommen leer geräumt. Alles weg. Außerdem: Welche Hochzeitslocation verlangt denn eine Anzahlung in bar? Sie hat mich angelogen.«

»Autsch«, sagte ich. Ich sah Marins etwas hochnäsiges Gesicht vor mir, das teure Kleid, die Schuhe. Unnahbar und wohlhabend. Und offenbar völlig skrupellos. »Von wie viel Geld reden wir insgesamt?«

»Fünfundsiebzig.«

»Hundert?«

Arthur hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. »Tausend.«

Autsch traf es also nicht ganz. »Du lieber Himmel«, murmelte ich. »Sie hat Sie um fünfundsiebzigtausend Dollar erleichtert? Wann hat das angefangen?«

»Im Januar. Da haben wir das Datum für die Hochzeit festgelegt, und sie hat mit der Planung begonnen. Anfangs habe ich noch versucht, sie zu den verschiedenen Terminen zu begleiten, aber das war nur schwer mit meiner Arbeit zu vereinbaren, deshalb dachte ich, es wäre einfacher, ihr Schecks mitzugeben und sie den Betrag selbst eintragen zu lassen. Ich weiß, die ganze Misere ist teilweise meine eigene Schuld, weil ich nicht auf meinen Kontostand geachtet habe. Und weil ich überhaupt so viel Geld auf meinem Girokonto hatte.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht mal ansatzweise Ihre Schuld.«

»Ich habe einfach nicht an so etwas gedacht. Meine privaten Rechnungen laufen normalerweise über Einzugsermächtigungen, deshalb hatte ich keinen Anlass, meine Kontobewegungen zu kontrollieren. Ich hasse es, mich mit diesem ganzen finanziellen Kram auseinandersetzen zu müssen. Kennen Sie das?«

»Klar«, antwortete ich. »Geht mir genauso. Das blockiert einen nur und hält einen von wichtigeren Dingen ab. Und wie ging es dann weiter?«

»Also, das war am Freitag, gegen drei, vier Uhr nachmittags. Ich wusste nicht, was ich tun oder denken sollte. Ich wollte sie nicht vorschnell verurteilen, aber was sollte es sonst für eine Erklärung für das fehlende Geld geben? Das Schlimmste war, dass ich ihr das Geld sofort gegeben hätte, wenn sie mich darum gebeten hätte – ganz egal, wofür sie es gebraucht hätte.« Er schüttelte den Kopf und leerte sein Glas in einem Zug. »Am Abend waren wir zum Abendessen verabredet, im Guild House war ein Tisch für uns reserviert. Ich wollte eigentlich vorher nach Hause fahren und dort mit ihr reden, doch dann gab es ein Problem mit einem Kunden, und ich hing bis nach sieben Uhr in der Druckerei fest. Marin hatte in der Zwischenzeit angerufen und mir eine Nachricht hinterlassen; sie wollte schon zum Restaurant vorfahren, damit wir unseren Tisch nicht verloren. Ich hatte also keine andere Wahl, als sie direkt vor Ort zu treffen.«

Ich an Arthurs Stelle hätte nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen und mit dieser Frau in einem Restaurant zusammensitzen können. Andererseits hatte auch ich mir schon so einiges von ehemaligen Partnern bieten lassen, Frauen wie Männern. Ich trank noch einen Schluck Whiskey. »Erzählen Sie weiter.«

»Ich hätte sie anrufen und ihr sagen sollen, vergiss es, wir canceln das Abendessen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, trotz allem zum Restaurant zu fahren. Ich bin ausgeflippt. Komplett. Ich habe sie damit konfrontiert, dass ich von den Schecks weiß, und ihr sogar erzählt, wie ich es herausgefunden habe – dass ich Sie engagiert habe, weil ich dachte, sie hätte eine Affäre. Daraufhin ist sie genauso wütend geworden wie ich, und wir haben uns gegenseitig angebrüllt. Der schlimmste Abend meines Lebens. Irgendwann ist sie aufgesprungen und aus dem Restaurant gestürmt.«

»Und Sie sind nicht hinterhergegangen.«

»Nein, ich bin sitzen geblieben und habe mir noch einen Drink genehmigt.« Er schüttelte den Kopf. »Danach bin ich nach Hause gefahren. Ich bin hier auf dem Sofa eingeschlafen, und mitten in der Nacht stand dann plötzlich die Polizei vor der Tür. Ich kann es immer noch nicht glauben.«

»Haben Sie der Polizei davon erzählt?«, fragte ich. »Von dem gestohlenen Geld, meine ich?«

Arthur nickte. »Das war vielleicht ein Fehler, denn der dickere von den beiden Polizisten hat so getan, als wäre damit praktisch schon bewiesen, dass ich wütend genug war, sie umzubringen.«

Ich fand es interessant, dass mir Sanko nichts davon gesagt hatte. Aber er war ja, wie er hinreichend betont hatte, zu mir gekommen, um Informationen von mir zu erhalten. »Was hat sie mit dem Geld gemacht?«, fragte ich. »Haben Sie irgendeine Ahnung?«

»Sie wollte es mir nicht sagen, wollte nicht einmal zugeben, dass sie das Geld überhaupt genommen hatte.«

»War sie drogensüchtig?«

»Nein.«

»Spielsüchtig?«

»Auch nicht.«

»Gibt es irgendjemanden in Marins Umfeld, der Probleme hat? Aus ihrem Freundeskreis oder ihrer Familie?«

»Sie hat keine Familie mehr.«

»Niemanden?«

»Niemanden. Ihre Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als sie neun war, und sie war Einzelkind. Sie hat dann eine Weile bei ihrer Tante gelebt, der Schwester ihrer Mutter. Weil sie dort schlecht behandelt wurde, hat sie den Kontakt zu sämtlichen verbleibenden Familienmitgliedern abgebrochen. Sie hat seit über dreißig Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen. Und was Freunde angeht … Ich meine, wir haben natürlich gemeinsame Freunde, aber Marin ist ein bisschen schüchtern, eher der introvertierte Typ.«

Ich hatte seine Behauptung, Marin habe keine Freunde, schon vor einigen Tagen angezweifelt, doch die Story, die ich nun hörte, war noch haarsträubender. »Gemeinsame Freunde«, wiederholte ich. »Sie meinen Ihre Freunde?«

Er sah mich einen Moment an und nickte dann.

»Arthur, ich muss zugeben, dass das alles ziemlich seltsam klingt. Marin hat fünfundsiebzigtausend Dollar einfach verschwinden lassen. Das hat sie doch nicht allein getan, introvertiert hin oder her. Hat die Polizei ihre persönlichen Gegenstände unter die Lupe genommen, haben die Beamten irgendetwas beschlagnahmt?«

»Nein.«

Ich seufzte. Es klang nicht danach, als würde sich Sanko mit seinen Ermittlungen besonders viel Mühe geben. Ich dachte an die Läden und Cafés, die Marin während meiner Observierung aufgesucht hatte. Sie waren irritierend normal gewesen, und keiner von ihnen erklärte, warum sie so viel Geld von ihrem Lebensgefährten gestohlen hatte – es sei denn, sie hatte insgeheim eine krankhafte Neigung zu teuren Kugelschreibern. »Ihr Handy«, murmelte ich. Das Gerät war zum Zeitpunkt ihres Todes vermutlich in ihrer Handtasche gewesen und daher von der Polizei als Beweismittel konfisziert worden. Doch vielleicht brachte eine Handyrechnung mit Einzelverbindungsnachweis Licht ins Dunkel. »Bezahlen Sie Marins Handyrechnungen?«

»Nein«, antwortete Arthur.

So viel dazu.

»Ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir uns einen von diesen Partnertarifen zulegen, Sie wissen schon, aber sie wollte ihre Nummer nicht ändern, wegen ihrer Firma.«

Eine schwachsinnige Ausrede. Sie hätte ihre Nummer problemlos zum neuen Anbieter mitnehmen können. Wo wir schon einmal von ihrer sogenannten Firma sprachen – inzwischen stellte ich mir die Frage, ob die nicht genauso unecht war wie der Rest von Marin. Sie hatte sich während meiner Observierung jedenfalls nicht wie jemand verhalten, der ein Unternehmen führte, welcher Art auch immer. Andererseits: Wenn mich jemand observiert hätte, hätte er wohl auch nicht diesen Eindruck von mir gewonnen. Trotzdem, die antiquierte, wenig geschmackvolle Einrichtung in Arthurs Haus hatte Zweifel in mir geweckt. »Hat sie eine Website für ihr Unternehmen, einen Firmennamen oder so etwas?«

»Eine Website?«, wiederholte Arthur. »Das weiß ich gar nicht so genau.« Dann leuchteten seine Augen auf, sofern man in seinem Trauerzustand von aufleuchten sprechen konnte. »Aber ich habe noch eine der Visitenkarten, die wir damals für sie gedruckt haben.« Er ging in die Küche und öffnete und schloss einige Schubladen. Dann kehrte er zurück und hielt mir eine cremefarbene Visitenkarte hin.

Marin K. Strasser. Stilvolles Dekor für Ihr Heim.

Darunter standen ihre E-Mail-Adresse und ihre Telefonnummer.

Mehr nicht.

Jeder konnte sich Visitenkarten drucken lassen, die ihn als alles Mögliche auswiesen. Das wusste ich aus eigener Erfahrung, hatte ich doch selbst ein ganzes Arsenal verschiedener Karten zu Hause. Je nach Kontext gab ich mich als Detektivin, Fernsehproduktionsleiterin oder Schadensprüferin für eine Versicherung aus. Eine Visitenkarte an sich bewies gar nichts, aber wenn das Metier einer Person darin bestand, Menschen zu manipulieren, verlieh sie der Story dieser Person vermutlich ein wenig mehr Glaubwürdigkeit.

Ich hatte keine Ahnung, bei welchen unlauteren Machenschaften es von Vorteil war, sich als Inneneinrichterin auszugeben.

Wer zum Teufel war diese Frau?

»Vielleicht steckte ihre Firma in Schwierigkeiten«, mutmaßte Arthur kraftlos. »Und sie wollte mir nichts davon sagen. Ich werde es wohl nie erfahren.«

Ich schwenkte den letzten Rest Whiskey in meinem Glas. »Kann schon sein«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

»Hören Sie«, fuhr er unvermittelt fort, »dieses Gespräch mit Ihnen hat mir erst bewusst gemacht, dass ich ziemlich in der Patsche stecke.«

»Ihre Lage könnte besser sein, ja.«

Er lächelte matt. »Ich weiß, ich schulde Ihnen bereits Geld. Kann ich Sie trotzdem erneut engagieren, damit Sie für mich herausfinden, was da verdammt noch mal vorgefallen ist?«

»Arthur …«

»Ich weiß«, unterbrach er mich. »Ich weiß, dass Sie sich schützen müssen und so weiter und dass niemand einen Versager als Klienten will, aber ich habe noch andere Konten. Ehrlich. Bis morgen, oder sagen wir Donnerstag, könnte ich fünftausend, nein, zehntausend Dollar für Sie auftreiben. In bar.«

Ich seufzte. Einerseits faszinierte mich der Fall, andererseits machte ich mir Sorgen um Arthur. Der Streit im Restaurant, die verschwundene Waffe – auf den ersten Blick sprachen die Indizien eindeutig gegen ihn. Allerdings war ich inzwischen überzeugt, dass hinter der Geschichte noch mehr steckte, und es war kein gutes Zeichen, dass Sanko nicht daran gelegen schien herauszufinden, was das war. Mein Vertrauen darauf, dass Arthur bis morgen oder Donnerstag fünf- bis zehntausend Dollar beschaffen konnte, tendierte gegen null, aber mir gefiel dennoch ganz und gar nicht, wie sich die Dinge entwickelt hatten, nachdem ich ihm das letzte Mal gesagt hatte, er solle sein Geld lieber behalten.

»In Ordnung«, sagte ich schließlich. »Unter der Bedingung, dass Sie Kontakt zu einem Anwalt aufnehmen. Der hilft Ihnen garantiert mehr, als ich es je könnte. Einverstanden?«

Ein Ausdruck der Erleichterung trat in seine wässrigen Augen. »Danke, Miss Weary. Roxane.«

Ich trank meinen Whiskey aus. »Danken Sie mir lieber nicht zu früh.«

Auf dem Weg nach Hause fuhr ich beim Angry Baker vorbei. Die Konditorei hatte schon geschlossen, aber Shelby wartete vor der Tür auf mich, mit einer fettigen Tüte in der Hand, in der sich hoffentlich Donuts mit Schokoglasur für mich befanden. Ich wusste, dass sie mit ihrem Teilzeitjob in der Konditorei nicht viel verdiente, doch immerhin bekam sie Gratis-Donuts vom Vortag, und das war ja auch etwas wert. Sie unterhielt sich gerade mit einem hübschen jungen Mädchen mit asymmetrischem Haarschnitt, das ein paar Jahre älter zu sein schien als Shelby selbst, die kürzlich achtzehn geworden war. Ich kurbelte das Fenster herunter und blickte mit neutralem Gesichtsausdruck hinaus, bereit, Shelby nach dem Weg zu fragen oder eine andere Ausflucht zu finden, falls sie unsere Pläne über den Haufen werfen und lieber Zeit mit ihrer neuen Freundin verbringen wollte. Doch als sie mich sah, winkte sie mir zu, beendete rasch ihr Gespräch und stieg zu mir ins Auto.

»Wer war denn das?«, fragte ich, sobald ich das Fenster wieder hochgekurbelt hatte. »Ich habe versucht, dir ein Hintertürchen offen zu lassen, aber du bist nicht darauf eingegangen.«

Shelby lachte und errötete leicht. »Das war Miriam. Sie kommt jeden Nachmittag auf einen Kaffee und ein Croissant vorbei.«

»Und um dich zu sehen.«

»Nein, Quatsch. Heute haben wir uns auch nur unterhalten, weil sie mein T-Shirt cool fand.«

Ich warf einen Blick auf Shelbys ausgeblichenes Tori-Amos-T-Shirt. »Guter Geschmack. Also, wann läuten die Hochzeitsglocken?«

»O Mann, hör auf!« Sie hielt mir grinsend die Papiertüte hin. »Hier. Als Entschädigung dafür, dass du deinen Dienstagabend damit vergeudest, Wohnungen mit deiner Ersatznichte anzuschauen.«

Ich bremste an einem Stoppschild und griff in der Tüte nach einem Donut. »Ersatznichte?«

»Na ja, du bist doch so was wie meine coole Tante, oder?«

Das klang gut. »Doch, klar«, sagte ich. »Ersatznichte. Also, wo ist die Wohnung?«

»Ecke Rich und Eleventh Street. Dad meint, dass sie bestimmt genauso schlimm ist wie die anderen Wohnungen, aber die Fotos waren echt schön.«

»Tja, dann hoffen wir mal das Beste.« Ich schob mir den Donut in den Mund.

Shelby und ihren Vater Joshua kannte ich durch einen Fall, in dem ich im vorigen Herbst ermittelt hatte. Im Laufe der Monate hatte ich für Shelby eine Rolle eingenommen, die ich selbst nicht so recht erklären konnte. Coole Tante traf es ganz gut. Shelby hatte eine Tante – oder zumindest eine gute Freundin – bitter nötig. Und ich genauso. Shelby und Joshua waren für mich der Beweis, dass ich zumindest einmal im Leben etwas richtig gemacht hatte – eine willkommene Erinnerung nach den neuesten Entwicklungen im Fall Marin Strasser.

»Es gibt darin eine Riesenküche, die ist mindestens doppelt so groß wie unsere zu Hause«, fuhr Shelby fort. »Und der Herd ist nagelneu. Na ja, in der Anzeige steht Kocheinheit mit integriertem Ofen. Das ist doch ein Herd, oder?«

Ich nickte kauend. »Gas oder Elektro?«

»Gas. Ich habe noch nie mit einem Gasherd gekocht. Wahrscheinlich wüsste ich nicht mal, wie man ihn ankriegt.«

»Mit Gas zu kochen ist viel einfacher als mit einem Elektroherd«, erklärte ich und stieß sie mit dem Ellbogen an. »Sag bloß, ich weiß tatsächlich etwas zum Thema Kochen, was dir noch nicht bekannt ist!«

»Tja, sieht ganz so aus«, räumte sie ein. »Okay, hör zu: Lass mich dieses Mal mit dem Makler sprechen, auch wenn ich wieder nervös werde, ja? Ich muss das endlich lernen.«

»Okay, verstanden.« Ich bog in die Rich Street ein und spähte auf die Schilder der Querstraßen. Wir waren am hinteren Ende von Olde Towne, fast auf Höhe der Franklin University. Trotz ihrer Schüchternheit schlug sich Shelby wacker: Innerhalb des letzten halben Jahres hatte sie ihrem Vater gestanden, dass sie lesbisch war, ihren Highschool-Abschluss gemacht, sich einen Job gesucht und sich für den Herbst an der Columbus State University eingeschrieben. Und sie arbeitete daran, möglichst schnell aus der Vorstadt Belmont herauszukommen. Joshua reagierte sehr verständnisvoll auf die rasante Entwicklung seiner Tochter – deutlich besser als mein eigener Vater, zumindest was das Coming-out anging –, fand Shelbys Auszug von zu Hause jedoch etwas verfrüht. Ich konnte ihn gut verstehen. Was ich nicht verstand, war, warum er es nicht selbst eilig hatte, Belmont zu verlassen. »Okay, hier ist die Eleventh Street«, verkündete ich.

»Da ist es.« Shelby zeigte auf ein zweistöckiges graues Backsteingebäude mit kleinen Bogen über der Eingangstür. Ein junger Mann im Polohemd mit hochgeklapptem Kragen stand davor auf dem Gehweg und starrte mürrisch auf sein Handy. Als ich parkte, hob er den Blick und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr.

Wie gewünscht überließ ich Shelby das Reden. Während Mister Polohemd sie lustlos durch die Wohnung führte, stellte ich mich ans Fenster und betrachtete eingehend die geparkten Autos auf beiden Straßenseiten, größtenteils gewöhnliche Limousinen, weder sehr neu noch sehr alt. Es war zwar keine besonders wissenschaftliche Methode, aber der Zustand der in einem Viertel abgestellten Fahrzeuge schien mir ein guter Hinweis auf dessen allgemeine Atmosphäre zu sein. Die Wohnung selbst war winzig, eine Ein-Zimmer-Erdgeschosswohnung mit notdürftig ausgebessertem Putz an den Wänden und unebenem Parkettboden. Als Pluspunkte hatte sie viel Tageslicht und eine große Küche zu bieten, deren nagelneue, aber billige Einbauten verdächtig nach steuerbegünstigter Renovierung aussahen. Als erste eigene Wohnung war sie gar nicht so schlecht, auch wenn sie keine Begeisterungsstürme bei mir auslöste. Der junge Mann mit dem hochgeklappten Kragen sah Shelby mit übellaunigem, arrogantem Blick dabei zu, wie sie sich umschaute. Er schien in dieselbe Kategorie zu gehören wie meine neue Nachbarin aus der Wohnung über mir – jemand, der krampfhaft den Gentrifizierungsprozess beschleunigen und aus einem gewöhnlichen Innenstadtviertel eine gehobene Wohngegend machen wollte.

Dieser Umstand wurde noch offensichtlicher, als er begann, die Mietbedingungen herunterzubeten: »Fünfunddreißig Dollar Bearbeitungsgebühr, und zwar pro Mieter, nicht pro Mieteinheit. Die Kaution beträgt zwei Monatsmieten – das wären also achthundert mal zwei.« Er quasselte weiter, und Shelbys Gesicht wurde immer länger.

»In der Anzeige stand doch sechshundertfünfzig«, wandte sie mit kleinlauter Stimme ein.

Der Mann hielt in seiner Aufzählung inne und lächelte herablassend. »Entschuldigen Sie, das war ein Druckfehler. Die Wohnung wird de facto für achthundert vermietet. Also, wo war ich? Okay, wie gesagt, die Kaution beträgt sechzehnhundert Dollar, und es muss eine nicht rückzahlbare Haustier-Kaution von dreihundert Dollar geleistet werden …«

Shelby sah aus, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Während Mister Polohemd in die Küche schlenderte, ging ich über die knarrenden Bodendielen zu ihr hinüber.

»Dürfen die das? Einfach einen Lockbetrag in die Anzeige schreiben, und dann ist die Miete doch plötzlich höher?«, fragte mich Shelby flüsternd. »Das ist echt ätzend!«

»Allerdings«, gab ich ihr recht. »Mach dir nichts draus. Was Besseres als diese Wohnung findest du allemal.«

»Nicht wirklich. Du hast doch die anderen Wohnungen gesehen, die waren noch viel schlimmer. Zum Beispiel die mit dem grauen Teppichboden, der noch vom vorherigen Büro übrig war, oder die mit den Gitterstäben an den Fenstern. Ich dachte, das ist endlich mal eine Wohnung, die infrage kommt. Sechshundertfünfzig hätte ich stemmen können, aber achthundert?«

»Achthundert ist Wucher für dieses Loch. Ich zahle ja nicht mal achthundert, dabei habe ich fünfmal so viel Fläche.«

»Ja, aber das liegt daran, dass du schon ewig dort wohnst«, argumentierte sie.

»Die Miete wäre viel leichter aufzubringen, wenn du sie dir mit jemandem teilen würdest. Such dir doch zusammen mit einem Freund oder einer Freundin eine Wohnung.«

Ihre Wangen röteten sich. »Roxane, ich habe keine Freunde.«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, vorübergehend sprachlos. Mister Polohemd suchte sich genau diesen Moment aus, um zurückzukommen und uns mitzuteilen: »Achthundert Dollar ist ein sehr gutes Angebot für diese Gegend.«

»Äh ja, super«, sagte ich. Jetzt war ich diejenige, die nervös war. »Wir denken darüber nach. Haben Sie einen Bewerbungsbogen oder so etwas zum Mitnehmen?«

»Das läuft heutzutage alles online.«

»Was soll’s, scheiß drauf«, murmelte Shelby und stapfte zur Tür. »Ich warte im Auto.«

Mit diesen Worten flüchtete sie aus der Wohnung und ließ mich mit dem hochgeklappten Polokragen allein. »Achthundert ist purer Wahnsinn«, teilte ich ihm mit, bevor auch ich die Wohnung verließ.

Shelby saß mit angelehnter Tür im Auto und spielte an ihrem Handy herum.

Ich setzte mich hinters Steuer und räusperte mich. »Shelby …«, begann ich.

»Wir müssen nicht darüber reden«, wehrte sie ab. Obwohl sie nicht zu mir aufblickte, war ihr die Anspannung und Verlegenheit deutlich anzumerken.