Du sollst den Wähler für dumm verkaufen - Ulf C. Goettges - E-Book

Du sollst den Wähler für dumm verkaufen E-Book

Ulf C. Goettges

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Beschreibung

Mobbing, Bestechlichkeit, Beschlüsse nach Parteiräson und immer wieder Polemik statt Sachverstand: Das Ansehen der Politik ist miserabel. Eine junge Abgeordnete sagt: "Wenn die Menschen wüssten, was wirklich in der Politik gespielt wird, gäbe es eine Revolution." Viele Insider haben ähnlich ernüchternde Erfahrungen gemacht, sie packen hier aus. Die Politikexperten Ulf C. Goettges und Martin Häusler machen die ungeschriebenen Regeln des Politikbetriebs in 10 empörenden Geboten öffentlich und reden Klartext über unsere Volksvertreter. Doch sie machen auch Vorschläge zur Erneuerung - ein unverzichtbares Buch für jeden Politik-Interessierten.

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Über die Autoren

Ulf C. Goettges verfügt als ehemaliges Mitglied der Chefredaktionen von Welt am Sonntag, BILD und der Berliner Zeitung über 20 Jahre Erfahrung im politischen und investigativen Journalismus. Heute ist er Inhaber einer Kommunika­tionsagentur in Hamburg.

Martin Häusler arbeitete viele Jahre für Gruner+Jahr sowie Axel Springer als Redakteur, Reporter, Kolumnist und Ressortleiter. Er ist Autor mehrerer Bücher zu gesellschaftspolitischen Themen und lebt heute als freier Journalist in Hamburg.

Ulf C. Goettges | Martin Häusler

DU SOLLSTDEN WÄHLERFÜR DUMM VERKAUFEN

Die 10 ungeschriebenenGebote der Politik

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2013/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelbild: © missbehavior.de

Umschlaggestaltung: © Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung, Berlin

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-4659-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für M.C., C.H., A.W. und John Henry

Inhalt

Vorwort

1. Du sollst deine Macht verteidigen – der Parteifreund ist dein bester Feind

2. Du sollst dir einen Clan suchen – ohne Seilschaft stürzt du ab!

3. Du sollst nichts können – Minister kann jeder

4. Du sollst hilfsbereit sein – wer sagt schon gern »korrupt«?

5. Du sollst Schauspieler sein – allein als Politiker packst du es nicht

6. Du sollst Journalisten zensieren – Pressefreiheit ist gefährlich

7. Du sollst nicht denken – die Partei regelt dein Leben schon

8. Du sollst die Steuern verschwenden – es ist ja nicht dein Geld

9. Du sollst dich dumm stellen – der U-Ausschuss ist nur Theater

10. Du sollst die Verfassung nicht so ernst nehmen – benutze sie, wie du sie brauchst

Nachwort – Plädoyer für eine politische Kultur

So durchschauen Sie den Politik-Zirkus

Quellen

»In der Politik geschieht nichts zufällig. Wenn etwas geschieht, kann man sicher sein, dass es auf diese Weise geplant war.«

FRANKLIN D. ROOSEVELT

»In der Politik ist es wie im täglichen Leben: Man kann eine Krankheit nicht dadurch heilen, indem man das Fieberthermometer versteckt.«

YVES MONTAND

Vorwort

Was muss man können, um Politiker zu sein? Nichts Besonderes, sagen 40 Prozent der Bundesbürger. Und, wer versteht mehr von Politik als die Abgeordneten in Berlin? Wir, sagen 50 Prozent der Bundesbürger. Mit anderen Worten: Politiker kann jeder.

Verwundert dieses Ergebnis einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung?1 Nein. Denn die Politiker selbst tun alles, um diesen Eindruck nach Kräften zu verstärken. Bei ihren Reden und Interviews riecht es längst nicht mehr nach Schwefel, sondern nach Schwafel. Sie beschimpfen sich unflätig (»Eierkrauler«) und würdigen sich damit selbst herab. Sie werden offenkundig von Lobbys, Beratern oder Verbänden vor den Karren gespannt – und nennen es »Sachpolitik«. Während das Volk über vereiste Straßen schliddert, lassen sie, wie in Hamburg geschehen, den Bürgersteig vor ihrem Häuschen auf Steuerkosten enteisen.2 Derweil die Bürger sparen und sich um ihre Geldanlagen sorgen, investieren sie, zum Beispiel in einer Baden-Württembergischen Großstadt, Steuergelder in Zinswetten (»Swaps«) – den Schaden, in diesem Fall laut Anklage der Staatsanwaltschaft 14,2 Millionen Euro, zahlen dann wie immer nicht sie, sondern die Bürger.3

Weil dies und anderes erstens so häufig und zweitens immer wieder passiert, drängt sich eine unangenehme Schlussfolgerung auf: Die Wähler werden aus Prinzip für blöd verkauft.

Werden wir mal polemisch: Wenn er die Macht dazu bekommt, kann wirklich jeder Politiker werden. Ist es geschafft, beginnen die Drogen Macht, Privilegien und Selbstüberschätzung langsam den Blick auf das wahre Leben und damit auf die Sorgen und Bedürfnisse der Menschen zu verschleiern. Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, an dem sie keine Hemmungen mehr haben, dem Wähler gegenüber jeden Respekt zu verlieren.

Wie viel Wahrheit steckt in dieser Feststellung? Oder ist es nur eine böswillige Unterstellung? Egal wie die Antwort lautet – was muss geschehen, damit dieser Eindruck weicht, über den es keine zwei Meinungen geben kann? Unser Buch soll analysieren, empören und letztlich Antworten auf diese Fragen geben.

Bei der bereits zitierten Studie kam auch heraus: 65 Prozent der Befragten halten Politik für »undurchsichtig«. Auch das ist nicht verwunderlich, denn die Politik und ihre Macher folgen oft komplexen und unlogisch konstruierten eigenen Gesetzen, die mit den Regeln des wahren Lebens und den Werten eines anständigen Steuerzahlers nichts gemein haben. Diese unausgesprochenen Gebote wollen wir erklären, ihre Mechanismen und ihre Entstehung transparent machen.

Der große Soziologe Max Weber destillierte schon vor fast hundert Jahren die wichtigsten Qualitäten eines Politikers heraus und goss sie in seinen viel beachteten Klassiker Politik als Beruf. Die drei Haupteigenschaften seien: sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, distanziertes Augenmaß.4 Vor allem die Punkte zwei und drei scheinen unseren Politikern völlig entglitten zu sein – sofern sie jemals von Max Webers Dreiklang gehört haben.

Auch wenn uns das vielleicht nicht passt: Demokratie braucht Berufspolitiker, die sie gestalten, bewahren und fortentwickeln. Doch sie braucht zweifelsohne einen neuen Typus Politiker. Was soll er können? Welche Werte soll er leben, was darf er und was darf er nicht? Wir haben mit Insidern, Aussteigern, Beobachtern und Akteuren darüber gesprochen. Und darüber, ob der etablierte Politikbetrieb mit seinen zahlreichen Abgründen überhaupt reformfähig ist.

Wir begnügen uns also nicht mit der bloßen Beschreibung der politischen Erosion, sondern verknüpfen die zehn ungeschriebenen Gebote der Politik, die im Berliner Regierungsviertel, in den Landeshauptstädten und in den Rathäusern täglich gelebt werden, mit Vorschlägen zur Erneuerung.

Die ist längst überfällig. Denn die Wähler spüren, dass die Kluft zwischen der Realität ihres Lebens und der des politischen Lebens immer größer wird. Der Ärger darüber wächst und die Verdrossenheit auch – die erwähnte Allensbach-Studie und die überraschenden Erfolge der Piratenpartei in den Jahren 2011 und 2012 sind dafür die besten Beweise. Die Piraten wurden nicht trotz mangelnder Konzepte und utopischer Ziele gewählt, sondern eben genau deshalb, weil sie keine wohlgefälligen Antworten oder hochtrabenden Projekte präsentierten. Dass sie ihre Stimmen nur bei Internet-Freaks oder idealistischen Jungwählern gesammelt haben, ist eine Legende der etablierten Parteien. In Wahrheit hatten viele ihrer bürgerlichen Stammwähler die Nase so voll und jede Illusion auf Besserung verloren, dass sie die Option Chaos im Gegensatz zum »Laberalismus« durchaus sexy fanden.

Die Indizien mehren sich: Wähler lassen sich nicht mehr für blöd verkaufen. Immer häufiger erkennen sie, was sich hinter der Fassade der Tagesschau-Politik und Talkshow-Zirkel wirklich abspielt, womit sie gelockt und gefoppt werden.

Die Kulisse bröckelt. Es ist höchste Zeit für grundlegende Veränderungen.

Darum schreiben wir dieses Buch.

1

Du sollst deine Macht verteidigen – der Parteifreund ist dein bester Feind

Wir waren gewarnt worden – wohlwollend. Ob wir im Ernst glaubten, dass uns jemand aus dem Politikbetrieb, zumal wenn er dort einen Namen hat, Einblicke in die Ränkespiele seiner Partei oder Fraktion geben würde? Nie im Leben, die sind doch nicht politisch lebensmüde!

Das kann man von Herbert Rusche absolut nicht behaupten. Nein, vielmehr ist er mutig und hat das in seiner politischen Karriere mehrfach eindrucksvoll bewiesen. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Grünen und saß ab 1985 für zwei Jahre als Abgeordneter der Partei im Deutschen Bundestag. Als erster Parlamentarier überhaupt bekannte er sich öffentlich zu seiner Homosexualität, thematisierte als Erster das Thema »Aids« im Bundestag und weckte mit einer Anfrage zur Menschenrechtssituation in Tibet (Rusche ist Buddhist) zum ersten Mal das Interesse an der chinesischen Suppressionspolitik in dieser Region.1 Rusche genoss zu seiner Zeit eine ähnlich hohe Popularität wie sein Parteifreund Joschka Fischer und war demnach ähnlich exponiert. Kaum hatte er seinen Platz im Bundestag eingenommen, geriet Rusche bereits in den innerparteilichen Intrigenstrudel und traf dabei auf einen einflussreichen Gegner – eben jenen Joschka Fischer.

Wir verabreden uns mit Herbert Rusche vor dem Osteingang des Berliner Reichstagsgebäudes. Als ehemaliger Abgeordneter hat der Frankfurter immer noch Anspruch auf einen Hausausweis, obwohl zu seiner Zeit das Parlament im Bonner Wasserwerk tagte. Er nimmt uns mit in eine relativ kleine Kantine im ersten Stock, wo die Bundestagsangestellten zum Mittagessen einkehren. Es riecht nach Brühwurst. Über der Theke laufen stumm Nachrichten auf zwei Flachbildschirmen entlang. Rusche erinnert sich gut, er spricht heiser, und er nimmt kein Blatt vor den Mund:

»Die größten Probleme hatte ich immer innerhalb der eigenen Reihen. Im großen Politikbetrieb ist man mal angefeindet worden von ein paar Leuten, von denen man es erwartet hat. Der Kampf und die Ausgrenzung in der eigenen Partei indes waren zwar subtiler, aber spürbarer. Im Innern herrscht Sozialdarwinismus – ein Wort, von dem ich erst in der Politik erfahren habe. Einerseits waren es die Linken, die große Ansprüche hatten. Man träumte von Basisdemokratie und war gegen Ausgrenzung. Andererseits: Wenn es zur Sache ging, fanden sich immer genug Leute, die genau das praktizierten.«

Dann wird Rusche konkreter:

»Ich musste schnell feststellen, dass in der Bundestagsfraktion der Grünen ganz viele Leute saßen, die zwar gut waren, die man aber aus den Landes- und Kreisverbänden weggelobt hatte, damit sie sich woanders bekämpfen konnten. Das waren genau diese machtbewussten Sozialdarwinisten, die nicht auf Gespräche oder Austausch aus waren, sondern nur ihre Meinung durchsetzen wollten. Auf diese festgelegten Leute bin ich massiv getroffen.

Joschka Fischer war damals Parlamentarischer Geschäftsführer. Als sich die Fraktion nach einem halben Jahr zurechtgefunden hatte, fragte er mich, ob ich nicht im Auftrag der Fraktion nach Amerika gehen wollte, um mit der dortigen Schwulenbewegung Kontakt aufzunehmen. Ich war ja als Vertreter der deutschen Schwulenbewegung auf die Bundestagsliste gekommen. Amerika, Gay Power, das hat mich natürlich fasziniert. Ich war einen Monat dort, habe wunderbare Kontakte aufgebaut, habe Interviews gegeben, habe in San Francisco vor 10 000 Schwulen gesprochen. Dann kam ich zurück und merkte nach ein paar Wochen, was der wahre Sinn meiner Reise gewesen war. Fischer hatte mich als unbequeme Stimme, die ihm bei der Konstituierung der Fraktion hätte im Weg sein können, außer Wirkweite gebracht. Diese wichtige Zeit, in der Leute eingestellt wurden, in der Arbeitskreise gebildet wurden, in der das zukünftige Führungspersonal der Grünen in Stellung ging, bekam ich nicht mit.«

Wir wollen von Rusche wissen, in welcher Hinsicht er Joschka Fischer denn gestört habe. »Ich war nicht kontrollierbar, ich war unbequem. Ich war noch nicht mal ein politischer Gegner, ich passte einfach nicht in sein Raster. Fischer hat entweder irgendwelche Getreuen gehabt, die nach seiner Vorstellung funktionierten, dann gab es die Leute, die er auf seiner Ebene sah, mit denen er sich streiten konnte und wollte, und da waren diejenigen, die störten und die man besser kaltzustellen hatte. Zu den Störern gehörte ich. Die Ansprüche von Basisdemokratie hielt man so lange aufrecht, wie es irgendwelche Idealisten brauchte, die ehrenamtlich arbeiteten. Und als es um die Sache ging, um Macht und Geld, hat man es lieber selber gemacht.«

Rusche war damals ein sogenannter Nachrücker, hatte also noch kein Mandat, aber doch schon Stimmrecht in der Fraktion. Die Vorrücker Fischer, Petra Kelly, Gert Bastian, Otto Schily kümmerten sich aber kaum um jene innerparteiliche Gleichberechtigung, die durch das im Zwei-Jahres-Rhythmus greifende Rotationsprinzip gewährleistet werden sollte. »Für Joschka Fischer war ›Nachrücker‹ immer ein Schimpfwort. Er sagte nicht: ›Du Arschloch!‹ Er sagte: ›Du Nachrücker!‹«, erinnert sich Rusche. »Ich war der direkte Nachrücker von Joschka Fischer. Er hatte Platz drei, ich hatte Platz sechs. Das hat ihm anscheinend nicht geschmeckt. Und deshalb verhinderte er, dass ich mich auf eine künftige parlamentarische Arbeit vorbereiten konnte. Ich war zwar innerhalb der Fraktion stimmberechtigt, war aber im Bundestag nicht mal einem Abgeordneten gleichgestellt und kam so viel schlechter an Informationen.« Die ersten zwei Jahre als Nachrücker lief das so. Gleichberechtigung durch Rotation? Alibi! Rusches Basis in Offenbach war entsetzt.

Viele Grüne schätzten den herablassenden Herrenreiterton des Joschka Fischer, sofern er damit seinen politischen Gegner traf. Innerhalb der Fraktion, das musste Herbert Rusche spüren, war Fischers Art alles andere als spaßig. Eine Konfrontation mit dem streitbaren Parteikollegen blieb ihm in besonderer Erinnerung: »Ich beschwerte mich bei ihm, dass ich keinen Zugang zu Informationen haben und nicht in die Fraktionsarbeit einbezogen würde. Er saß da in seinem Büro, Füße auf dem Schreibtisch, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel, und hörte sich an, was ich vorzutragen hatte. Grinsend sagte er: ›Herbert, politisch habe ich ja nichts gegen dich. Aber die weinerliche Art, in der du dich beschwerst, ist unerträglich.‹ Mit anderen Worten: ›Alte Schwuchtel, halt die Klappe!‹ Man kann einen Schwulen natürlich am besten treffen, wenn man ihm zwischen den Zeilen mitteilt, dass er kein richtiger Mann ist. Nun hatte ich die Wahl, ihm entweder eine reinzuhauen, wozu ich große Lust gehabt hätte, oder eben rauszugehen und zu denken: ›Okay, das wird nix.‹«

Rusche ging raus. Seitdem mied er Fischer. Ihm wurde bewusst, dass er in ihm niemals einen Freund haben würde. »Im günstigsten Fall wäre ich für ihn bedeutungslos gewesen«, sagt Rusche, der eigentlich aus demselben politischen Umfeld kam wie Fischer, dem der Spontis. Nur war Rusche schwul und Fischer ein Macho. Nur war Rusche Offenbacher und Fischer Frankfurter. »Und man darf nicht vergessen«, ergänzt der Ex-Grüne Rusche, »dass Fischer, der ja erst 1982 zu den Grünen stieß, alle suspekt waren, die vorher schon bei den Grünen waren. Als die Liste für den Bundestag feststand, habe ich Verbindung zu ihm aufgenommen, weil wir Spontis wahrscheinlich ähnliche Vorstellungen hatten. Doch er hat mich von vornherein abgeblockt, ohne mir je einen Grund zu nennen.«

Böse sei er ihm heute nicht mehr. Aber er habe viel durch die Episoden mit dem späteren Außenminister gelernt. Nämlich? »Dass nicht alles so ist, wie es scheint. Dass viel unter Camouflage gearbeitet wird. Dass hehre Ideale vor sich hergeschoben werden, die nur dazu da sind, die Leute zu blenden – sowohl Wahlvolk als auch Parteibasis.«

Aus Verbitterung über die von den Grünen mitgetragene Kosovo-Politik kappte Rusche 2001 seine Wurzeln und wechselte in die Piratenpartei. Inzwischen stellt er alarmiert fest: »Machtbewusster Sozialdarwinismus – diese Tendenzen findet man heute leider auch schon bei den Piraten.«

***

Wir sind beeindruckt von der Offenheit, mit der Rusche seine Erlebnisse schildert. Zwar hat er keine Ambitionen mehr bei den Grünen – aber auch im Politikbetrieb trifft man sich mindestens zwei Mal. Dass er trotzdem spricht, hat seinen Grund fühlbar in der Betroffenheit, die das Erlebte bis heute bei ihm auslöst. Ein anderes Motiv ist Empörung. Wie bei unserem nächsten Gesprächspartner, Werner Marnette.

***

In Hamburg-Harburg steht im Hafen ein ehemaliges Silo, das zu einem schicken Bürogebäude für Firmen, Kanzleien oder Firmenberater umgebaut wurde. Als solcher, im Wirtschaftsdeutsch »Consultant« genannt, firmiert Marnette heute. Ganz ungewohnt ohne Stab oder Sekretariat, denn so kannten wir ihn früher. 13 Jahre lang war er Vorstandsvorsitzender des Hamburger Kupferkonzerns Norddeutsche Affinierie (heute Aurubis). Im Streit mit einem Großaktionär unterlag Marnette im Jahr 2007 und schied aus dem Unternehmen aus.2

In der Zeit danach seien ihm alle möglichen Angebote gemacht worden, erinnert er sich. Eines kam überraschend von Peter Harry Carstensen, dem damaligen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins. CDU-Mitglied Marnette – »ich war immer ein politischer Mensch« – nahm an und wurde am 9. Juni 2008 Wirtschaftsminister in Carstensens Kabinett.

Marnette war bekannt, beliebt und zugleich gefürchtet als selbstbewusster, unbequemer, verbissener Kämpfer für jede Sache, die er für richtig hielt. Das Schicksal der HSH-Nordbank war solch eine Sache. Das in Hamburg beheimatete Finanzinstitut entstand 2003 aus einer Fusion der Landesbanken Hamburg und Schleswig-Holstein und geriet im Verlauf der weltweiten Finanzkrise in eine bedrohliche Schieflage. Als Mitglied des Beirates der HSH-Nordbank reklamierte Marnette einen umfassenden Einblick in die Bilanzabgründe der Bank für sich und behielt sich vor, auch als Minister ein scharfes Auge auf die Entwicklung zu haben.

Sehr zum Unwillen von Marnettes Kabinettskollegen Rainer Wiegard, der sich als Finanzminister allein für den Fall zuständig sah. Marnettes permanente Warnungen wertete er als unangemessene Einmischung in sein Ressort, hinter vorgehaltener Hand wurden Marnettes Aktivitäten als »Profilneurose« und »Egotrip« abgekanzelt. Doch der ließ nicht locker und warf Wiegard vor, die seit Jahren schlaffe Kontrolle des permanent wechselnden Vorstandes vertuschen zu wollen. Dieser Konflikt führte zu einem politischen Ränkespiel, bei dem mit allen Mitteln getäuscht, getrickst und taktiert wurde. Jeder der Beteiligten wird dem anderen die Schuld geben – doch die Schuldfrage interessiert uns nicht, sondern der direkte Blick hinter die Kulissen. Marnette schildert einen Vorfall, den er für exemplarisch hält:

»Wir waren bei einer Veranstaltung der Marineschule, als mich ein Anrufer aus der Staatskanzlei zu einem überraschenden Treffen mit dem Ministerpräsidenten abkommandierte. Es sollte eine Sitzung mit den führenden Repräsentanten der Sparkassen geben, denn die bangten um ihre Anteile an der schwankenden HSH-Nordbank. Würde das angeschlagene Geldinstitut kippen, befürchteten sie einen Verlust von 600 Millionen Euro. Das hätte die Sparkassen mit in den Abgrund gerissen …«

Wenn er heute über die Vorgänge von damals spricht, ist ihm die Rage immer noch anzumerken: »Ich erreichte den Tagungsort, das Schloss Bargteheide, zu früh. Das gab mir Zeit für eine kurze Schlossführung. Dabei kamen wir in einen Raum, das Jagdzimmer, in dem für acht Leute gedeckt war, auch ein Buffet stand bereits dort. ›Hier werden Sie nachher essen‹, sagte der Schlossverwalter. Ich ging nach nebenan und arbeitete. Das Treffen war für 15 Uhr anberaumt, um 15:30 Uhr trafen dann Peter Harry Carstensen und Rainer Wiegard ein. Ich fragte: ›Warum ist denn noch keiner von den Sparkassen hier?‹ Wiegard bekam einen hochroten Kopf, und auch Peter Harry wechselte die Farbe. ›Wer hat denn was von Sparkassen gesagt, das hier soll ein Treffen unter sechs Augen sein, um die Lage zu sondieren‹, polterte er. Wer denn diesen Unsinn verbreitet habe. ›Ihre Staatskanzlei‹, antwortete ich. Das sei alles völliger Quatsch, beharrte Peter Harry. Da platzte mir beinahe der Kragen. ›Nebenan ist für acht Personen gedeckt, wollen Sie mich für dumm verkaufen?‹«

Im Nachhinein, so Marnette, stellte sich heraus, dass der Finanzminister seinen Ministerpräsidenten und Parteifreund offenbar massiv unter Druck gesetzt hatte, um zu verhindern, dass sein Intimfeind beim Bankentreffen mit von der Partie war. Marnette: »Mir ist dann später kolportiert worden, dass Peter Harry Carstensen Rainer Wiegart anrief. Der muss ihn angebrüllt haben, als er hörte, dass ich dabei bin: ›Peter Harry, wenn du das machst, dann ist hier Krieg!‹.«

Um Marnette nicht zu verärgern, versuchte der Ministerpräsident nach Marnettes Schilderung ein Possenspiel, das aufflog, weil der Wirtschaftsminister das Schloss besichtigt hatte. »Kindergarten!«, sagt Marnette heute. Aber sein Blick verrät, was er empfindet: Verachtung. Später wird er noch einmal zu Wort kommen, nämlich bei der Suche nach Antworten auf die Frage, warum sich Politiker so verhalten.

***

Darüber, wie viele Menschen im Politikbetrieb Mobbing, Demütigungen und Drangsal erdulden, weil sie sonst ihren Status oder sogar ihre Existenz verlieren, kann nur spekuliert werden. Marnette, materiell unabhängig, gehörte nicht dazu. Er trat am 29. März 2009 wutentbrannt zurück. Das war ein Sonntag. Die Rücktrittserklärung ließ er ganz bewusst am Nachmittag verbreiten, denn er wusste, dass Peter Harry Carstensen zu diesem Zeitpunkt seinen Mittagsschlaf hielt und dementsprechend nicht sofort reagieren konnte. Marnette gibt es selber offen zu: Es war seine Retourkutsche.

***

Auch der Berliner Unternehmer Harald Christ konnte es sich leisten, unabhängig zu entscheiden, ob er sich den Politikbetrieb antun will oder nicht. Nach dem, was er als Kandidat für das Amt des Wirtschaftsministers im Schattenkabinett von Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Wahlkampf 2009 erlebt hatte,3 lautete seine Antwort: »Nein, will ich nicht!« Christ war kein klassischer Seiteneinsteiger, denn als SPD-Mitglied tummelt er sich seit 25 Jahren aktiv in der Politik, er kennt das Geschäft ganz genau. Christ ist Finanzunternehmer, Investmentspezialist. Als solcher sollte seine Kandidatur der Wirtschaft das Signal senden, die Sozialdemokraten hätten kein gestörtes Verhältnis zur großen Finanzwelt. Und nicht nur das. Mit Christ sollte einer im Team sein, der beim Mittelstand, der aufgrund einer Kreditklemme bei den krisengeschüttelten Banken in Bredouille geraten war, mit am Tisch sitzt. Das schienen aber einige der eigenen Genossen ganz anders zu sehen, das wurde Christ schnell klargemacht:

»Man erlebt oft, dass Kontrahenten aus seiner eigenen Partei alte Rechnungen begleichen wollen und dafür Details an die Medien durchstechen. Mir ist das ja auch passiert im Bundestagswahlkampf, als plötzlich ein Wochenmagazin versucht hat, Dinge über mich zu konstruieren, die an den Haaren herbeigezogen waren, nur weil jemand dachte, dass es nun die richtige Zeit sei, mit dem Christ mal richtig abzurechnen. Das waren Dinge, die mit meinem Ferienhaus in Südafrika zusammenhingen. Das Häuschen habe ich seit ein paar Jahren, mein Freund machte dort einige Male im Jahr Koch-Veranstaltungen, u. a. um Geld für Aids-Waisen zu sammeln. Da ist natürlich Service dabei. Und wo Service ist, sind auch Bedienstete. Daraus wurde die Story gemacht, dass der Schattenminister Christ, der aus einer Arbeiterfamilie kommt und hier die Sozialkeule schwingt, in Südafrika in Saus und Braus lebt und dort Schwarze mit weißen Handschuhen hat, die ihn bedienen.

Das stand im Spiegel und im Focus. Eine völlige Verkehrung der Sachlage. Heute weiß ich, dass die Sache mit Südafrika aus meiner eigenen Partei kam, ich weiß auch, von wem, einem SPD-Mann aus Hamburg. Als Sozialdemokrat hat man ja in Bastsandalen auf Föhr rumzulaufen. Da hat mir jemand aus der eigenen Partei die Aufgabe nicht gegönnt, und der politische Gegner hat auf jede Vorlage gewartet. Das scheint zum Geschäft zu gehören. Wer in die Öffentlichkeit geht, muss sich der öffentlichen Diskussion stellen. Das war mir auch schon im Vorfeld klar.«

Christ zog sich 2012 aus der Politik zurück. Warum? »Eine ganz nüchterne Entscheidung war das. Die Konzentration der Medien auf das Private hat sicher auch dazu beigetragen. Ich stellte mir die Frage: Will ich das? Ich habe für mich geantwortet: Nein, ich will das zurzeit nicht. Außerdem kann ich für die Wirtschaft viel mehr entscheiden, wenn ich auch in der Wirtschaft bin. Ich kann Dinge bewegen und sehe Ergebnisse. Das war mir am wichtigsten. Das Gefühl, nur zu moderieren und Dinge zu kommunizieren, obwohl ich vielleicht anderer Meinung bin, nur um Mehrheiten zu schmieden, das widerspricht meinem Charakter. Wenn ich etwas sagen muss, nur um etwas zu werden, dann werde ich lieber nichts. Wobei Politik für mich immer ein Thema sein wird.«

***

Rusche, Marnette, Christ – drei eindrucksvolle Augenzeugenberichte, die alle eines gemeinsam haben: die Botschaft, dass eigene Parteifreunde die besten Feinde sind. Sie mobben wesentlich brutaler und hemmungsloser als die politischen Gegner. Dabei werden traditionelle Beißhemmungen offenbar außer Kraft gesetzt.

Gesprächstermin bei Katja Suding. Sie ist Fraktionsvorsitzende der Freien Demokraten in der Hamburger Bürgerschaft. Bei den Bürgerschaftswahlen 2011 holte sie als Spitzenkandidatin der Liberalen mit 6,7 Prozent das beste Ergebnis seit 37 Jahren für die Freien Demokraten in der Hansestadt und schaffte es als einzige FDP-Kandidatin, ein Direktmandat zu erobern.4 Eine zierliche, eher zurückhaltende Frau, die von sich selber sagt, sie stehe noch am Beginn der politischen Laufbahn. Harte Bandagen traut man ihr kaum zu. Ob die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern nicht manchmal auch unsachliche Attacken erfordere, lautet unsere Frage. Sie zögert, dann sagt sie: »Nicht der politische Gegner ist schlimm – viel schlimmer ist die eigene Partei. Da habe ich Dinge erlebt, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Das ist nichts für schwache Nerven.« Ihre freundlich-frauliche Art scheint also kein Schutz gegen Attacken gewesen zu sein, sondern vielleicht geradezu eine Einladung, die vermeintlich leichte Beute wegzubeißen. Eine Fehleinschätzung, wie sich zeigte. In ihrer jetzigen Funktion, sagt sie, sei sie weitgehend vor Querelen geschützt. Die Erleichterung darüber ist ihr anzumerken.

Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki, Fraktionsvorsitzender der FDP im Kieler Landtag und Mitglied des FDP-Präsidiums, beschreibt das innerparteiliche Klima so: »In der Politik ist jeder Parteifreund immer auch ein Konkurrent.«5 Also eine potenzielle Bedrohung der eigenen Stellung, der eigenen Macht. Nach unseren Gesprächen wird uns klar: Kubickis Feststellung gilt quer durch das gesamte Parteienspektrum.

***

Anders als im Fußball, wo der Ehrenkodex »Was in der Kabine passiert, bleibt in der Kabine« gilt, darf in der Politik niemand auf Vertraulichkeit zählen. Jeder, der meint, er könne einen Nutzen daraus ziehen, sticht Interna aus Sitzungen oder Gesprächen an die Medien durch. So wurde die Attacke auf einen prominenten Christdemokraten bekannt, der sein Büro im Berliner Paul-Löbe-Haus hat.

***

Schwarze Dienstlimousinen reihen sich auf der breiten Vorfahrt. Geschäftig eilen Menschen mit Aktentaschen hin und her. Drinnen Wachpersonal hinter Panzerglas, Sicherheitsschleusen. Immer das gleiche Ritual: Personalausweis bitte, Besucherausweis sichtbar tragen, Taschen und Kleidung wie am Flughafen durchleuchten lassen. Bitte nehmen Sie Platz, Sie werden abgeholt. Warten.

Das graue lang gestrecke Gebäude links neben dem Reichstag wurde nach Paul Löbe (SPD), dem Alterspräsidenten des ersten Deutschen Bundestages, benannt. Ein politischer Mikrokosmos, dessen inneres Erscheinungsbild sogar erfahrene Politiktouristen beeindruckt. Acht Stockwerke, 1700 Räume, 61 000 Quadratmeter Nutzfläche. Riesige Glasfronten. Auf den Gängen wimmelt es von Besuchern, Abgeordneten, Kamerateams. Vor allem, weil hier die Ausschüsse des Deutschen Bundestages sitzen. Wolfgang Bosbach (CDU) ist Vorsitzender des Innenausschusses. Wir hören seine Stimme geschäftig durch den Gang hallen, während wir in seinem Büro Platz nehmen. Bosbach, so unsere Hypothese, dürfte dem Thema Mobbing und Machterhalt gegenüber besonders aufgeschlossen sein, denn immerhin war er Opfer einer inzwischen legendären innerparteilichen Attacke. Weil der Vorfall so unglaublich war, rekapitulieren wir ihn noch einmal.

Berlin-Tiergarten, Hiroshimastraße, Nordrhein-Westfälische Landesvertretung, ein gläserner Prachtbau, der Transparenz suggerieren soll. Es ist der 26. September 2011, kurz nach 21 Uhr. Die Tür des Sitzungssaales fliegt auf. Drinnen hatten die CDU-Abgeordneten aus NRW hitzig über den EU-Rettungsschirm debattiert. Drei Tage später soll im Parlament abgestimmt werden. Wolfgang Bosbach, seit 1994 für die CDU im Bundestag, macht aus seinen Bedenken keinen Hehl, öffentlich hatte er bereits mehrfach auf die enormen finanziellen Risiken hingewiesen. Konsequenterweise verweigerte er in der Probeabstimmung seine Zustimmung und verkündete, er werde auch im Bundestag aus Überzeugung dagegen votieren. Eine Todsünde. Wenn die Partei-Elite bei einem Thema Einigkeit verordnet, sind individuelle Standpunkte unerwünscht.

»Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen. Du redest ja doch nur Scheiße«, faucht ihn Kanzleramtsminister Ronald Pofalla beim Verlassen des Saales an. Draußen auf dem Gang legt er nach: »Du machst mit deiner Scheiße alle Leute verrückt.« Bosbach: »Ronald, Moment mal, jetzt warte …« Doch der wartet nicht, macht eine Geste, die ohne Worte seine ganze Verachtung und seine Wut ausdrückt, eilt davon. Bosbach holt ihn ein: »Ronald, guck bitte mal ins Grundgesetz, das ist für mich eine Gewissensfrage.« Pofalla: »Lass mich mit so einer Scheiße in Ruhe!«6

Politikwissenschaftler Arnulf Baring kommentiert diesen Vorgang uns gegenüber so: »Wenn ich Bosbach gewesen wäre, hätte ich Pofalla rechts und links geohrfeigt. Das war unerhört und völlig indiskutabel.« Für den erfahrenen Parlamentarier Bosbach selbst war solch eine Konfrontation bis zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar: »Man denkt: Eigentlich hast du alle Höhen und Tiefen mitgemacht«, erinnert er sich. »Aber jetzt habe ich Dinge erlebt, die ich nie erleben wollte.«

Die wüsten Beschimpfungen in Richtung des verdienten Parteifreundes waren offenkundig kalkuliert, Pofalla wusste, dass es Zuhörer gab. Seine klare Botschaft lautete: »Komm mir ja nicht in die Quere. Ich habe den Auftrag der Kanzlerin, euch auf Linie zu bringen. Wenn du dich weigerst, stellst du dich gegen mich, du stellst meine Macht infrage und gefährdest meinen Erfolg. Also demütige ich dich öffentlich als Warnung für jeden, der auf die Idee kommen könnte, es dir gleich zu tun.«

Angesprochen auf die Pofalla-Attacke erläutert uns Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linken, die Machtmechanik: »In allen Gremien, in denen Sie tätig sind, geht es immer auch ums Funktionieren. Nichts ist frustrierender als Gremien, die nicht funktionieren. Und je höher deine Verantwortung ist, je näher du dem französischen Präsidenten, dem Präsidenten der EU-Kommission und anderen bist, umso mehr fangen dich eigene abweichende Abgeordnete an zu nerven, weil sie deine ganze Arbeit durcheinanderbringen.«

Nach Pofallas Attacke sei Bosbach »schwer getroffen und persönlich beleidigt« gewesen, versichert Gregor Gysi. Frage: »Woher wissen Sie das?« Gysi: »Das verrate ich Ihnen nicht.« Frage: »Haben Sie mit ihm gesprochen?« Gysi lächelnd: »Welche Schlüsse Sie daraus auch immer ziehen möchten. Er war viel getroffener, als man das leider sein darf in der Politik«. Frage: »Darf man in der Politik nicht getroffen sein?« Gysi, ernst: »Nein. Denn wenn der politische Gegner mitkriegt, wo er dich treffen kann, nutzt er das gnadenlos aus. In den eigenen Reihen darf man das noch eher, doch überlegen die sich dann womöglich auch, ob man für die eine oder andere Position noch geeignet ist, weil man ja nicht so ein richtiges Durchstehvermögen habe.«

Weder ohrfeigte Bosbach den ausgerasteten Parteikollegen, noch zog er vor Gericht. Stattdessen zog er durch Talkshows, gab Interviews vom Kölner Domradio bis zum Stern. Ob geplant oder instinktiv – Bosbach, der alte Fuchs, nutzte eine raffinierte Kommunikationstaktik, um es Pofalla heimzuzahlen: Er inszenierte sich als Opfer und zugleich als integren Parteifunktionär. Ja, er, der aufrechte Kämpfer für eine vernünftige Sache, wurde brutal zum Schweigen gebracht. Aber dennoch wolle er »nicht der Problembär der Fraktion sein«, sondern ein »guter Kollege«. Perfekt! So stand der Kanzleramtsminister als ungehobelter, unfairer und primitiver Pöbler da. Eine Antwort mit dem Florett statt mit der Streitaxt.

Doch im Gegensatz zu unserer Annahme treffen wir keinen von der Härte des politischen Alltags zermürbten Politiker Bosbach. Unmittelbar nach der Attacke hatte er noch über seinen Abschied orakelt. Daran denkt er nicht mehr, auch nicht angesichts einer kürzlich diagnostizierten Krebserkrankung. Zu unserer Überraschung relativiert Bosbach im Gespräch sogar die rauen Sitten und Unverschämtheiten auf der politischen Bühne. Auf unsere Frage, ob der Ton in den vergangenen Jahrzehnten, die er im Bundestag erlebt hat, rauer geworden sei, antwortet er ohne zu zögern:

»Es ist im Bundestag nicht anders als an anderen Arbeitsplätzen. Da fällt auch mal ein böses Wort. Aber dass es hier rauer zuginge als außerhalb des Parlamentes, an Baustellen oder Werkbänken, nein, das glaube ich nicht. Hier wird nur alles direkt öffentlich. Es gibt nichts, was noch geheim bleibt. Wenn man wirklich etwas geheim halten will, muss man ›Pressemitteilung‹ drüber schreiben. Da ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass der Inhalt nirgendwo registriert wird. Ansonsten gilt: Wird der Satz gesprochen, wird er unterm Tisch schon per SMS weitergegeben. Man mag es noch so sehr bedauern: Das ist der Lauf der Dinge. Das drehen wir nicht mehr zurück. Ich kann nicht feststellen, dass es heute wilder zugeht als in den 60er- oder 70er-Jahren. Man achtet heute allerdings mehr darauf, dass eine Beleidigung nicht personenbezogen ist.«

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Was würde passieren, wenn sich die bis hierher geschilderten Vorfälle in Ihrer Nachbarschaft oder an Ihrem Arbeitsplatz ereigneten? Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die Reaktion auszumalen: Empörung, Abscheu, Wut, vielleicht eine Klage wegen Beleidigung oder übler Nachrede. Auf jeden Fall ist klar: Im bürgerlichen Verhaltenskodex gilt derlei Vorgehen als charakterlos, bösartig und abstoßend.

In der Politik hingegen gehört all das zum Alltag, wie unsere Beispiele belegen. Unter Druck setzen, erpressen, beschimpfen, einlullen, umarmen und gleichzeitig hintergehen, öffentlich bloßstellen – jedes Mittel ist recht, um unliebsame Parteifreunde oder politische Gegner auszuschalten. Denn egal wie laut, wie oft und wie leidenschaftlich das Lied vom Wohl der Wählerinnen und Wähler gesungen wird – in Wahrheit geht es nur um eins: Macht. Nur wer im politischen Apparat über Macht verfügt, kann seine Ideen durchsetzen. Diese Ideen mögen gut und sinnvoll sein, tatsächlich dem Wohl der Wählerinnen und Wähler dienen – aber ohne Macht läuft nichts. Macht bekommt man nicht geschenkt, man muss sie sich erkämpfen. Wenn es sein muss, ohne Rücksicht auf menschliche Befindlichkeiten. Jeder in der Politik weiß das, denn sie oder er haben es am eigenen Leib, der eigenen Seele erfahren oder selbst kräftig ausgeteilt.

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Selten kommt es vor den Augen der Öffentlichkeit, also vor laufenden Kameras, zu Entgleisungen. Zumeist sind es dann kalkulierte Attacken mit klaren strategischen Zielen, vor allem die eigene Profilierung in der Öffentlichkeit. Christoph Steegmans, Sprecher des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zuvor knapp zwei Jahre lang stellvertretender Regierungssprecher, nennt uns einen der Gründe für gern genutzte Anlässe zum öffentlichen Streit: »Politiker leben oft mehr von ihrem Image als von ihrem Tun. Und das Image wird am meisten von der Projektionsfläche bestimmt – also dem optischen oder inhaltlichen Hintergrund. Projektionsflächen können sein: Machtsymbole wie Ämter und Titel, Kulissen wie Staatsempfänge oder Regierungsflugzeuge, vor allem aber Gegnerschaft und Auseinandersetzungen, innerparteilich genauso wie mit Politikern anderer Parteien. Je größer und bedeutender die Umgebung oder der Gegner, desto wichtiger erscheint ein Politiker im öffentlichen Ansehen.«

Legendär ist Joschka Fischers Ausraster in der Debatte um die Flick-Spenden-Affäre am 18. Oktober 1985. Der damalige Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen (CSU) hatte just den Grünen Jürgen Reents rausgeworfen, weil der behauptet hatte, der amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl sei von Flick »gekauft« worden. Fischer, damals rank und schlank im schlotternden Jackett, stürmte nach vorne und brüllte: »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!«7 Prompt flog auch er aus dem Saal. Aber dieser Auftritt prägte sein Image als Widersacher des politischen Establishments. Der Rausschmiss hatte sich also gelohnt.

Den ersten Ordnungsruf in der Geschichte des Deutschen Bundestages fing sich übrigens Heinz Renner, Fraktionschef der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), ein. Er nannte den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer am 30. September 1949 einen »Hetzer«, daraufhin wurde ihm das Wort entzogen.8 Dem legendären SPD-Chef Kurt Schumacher reichte schon der Zwischenruf Richtung Adenauer »Sie sind der Bundeskanzler der Alliierten!«9 für eine 20-tägige Sitzungssperre. Wie sich noch zeigen wird, ist das Niveau seitdem kräftig gesunken …

Spektakulär war auch das Aufeinandertreffen von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt am 12. Mai 1985 abends nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Johannes Rau und die SPD hatten in Deutschlands einwohnerstärkstem Bundesland mit 52,1 Prozent die absolute Mehrheit geholt. In der ZDF-Runde sollte das Ergebnis debattiert werden, doch Kohl und Brandt gerieten über andere Themen, unter anderem das deutsch-amerikanische Verhältnis, lautstark aneinander. »Sie schaden dem Deutschen Volk mit diesen Lügen!«, rief Brandt und haute auf den Tisch. »Ich lass’ das nicht durchgehen!« Kohl, dicht neben ihm sitzend, blieb cool: »Sie können in Ihrem Parteibüro brüllen mit Ihren Mitarbeitern, aber hier nicht mit uns vor dem deutschen Publikum.« Dann kam die Sprache auf den damaligen Minister und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. »Ein Hetzer ist er! Seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land!«, tobte Brandt. Der SPD-Vorsitzende war unter anderem deshalb wütend, weil Geißler die SPD als »fünfte Kolonne Moskaus« bezeichnet hatte.10 Kohl: »Lassen Sie bitte den Vergleich zwischen Goebbels und Geißler weg, Sie sollten sich schämen, eine solche Aufführung zu machen!«

Ein kurzer Mitschnitt dieses als »Kanzlerduell« in die Geschichte eingegangenen Disputs ist immer noch auf YouTube zu sehen.11 Interessant sind die darunter stehenden User-Kommentare dazu: »Damals hatte Politik noch Niveau«, oder: »Brandt, Wehner, Strauß, Schmidt, Erhard … Ob man sie mochte oder nicht, ob man sie wählte oder nicht. Eine leider ausgestorbene Spezies, die man heutzutage schwer vermisst.«

Streit mit Niveau, geschliffener Disput, intellektuelle Auseinandersetzung – offenbar wünschen sich das viele, sehr viele Wähler in der aktuellen Politik. Stattdessen bietet ihnen die Berliner Bühne Bauernpossen wie diese:

Der Plenarsaal des Deutschen Bundestags unter der Glaskuppel ist beinahe leer, als um 15:59 Uhr Jan van Aken, Abgeordneter der Links-Fraktion, das Rednerpult betritt. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) leitet diese 181. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. Mai 2012. Debattiert wird über Rüstungsexporte. Zuerst teilt van Aken in Richtung CDU aus, dann plötzlich nimmt er den FDP-Abgeordneten und Fraktions-Vize Martin Lindner aufs Korn: »Zu Herrn Lindner muss ich sagen, dass ich das unerträglich finde: Jedes Mal, wenn hier eine Frau redet, dann macht dieser Macho arrogante Zwischenrufe und krault sich seine Eier. Das ist wenig zu ertragen. Das geht überhaupt nicht.« Noch in das Gelächter und den Beifall hinein entschuldigt sich van Aken. Göring-Eckardt hakt nach: »Für den Macho oder für was jetzt?« Van Aken: »Für die Eier.« Heiterkeit im Saal.12

183. Sitzung des Deutschen Bundestages, 13. Juni 2012. Debattiert wird die Frage, warum Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) einen aus Afghanistan mitgebrachten Teppich nicht verzollt hat. Die Abgeordnete Barbara Hendricks (SPD) ergreift das Wort und wird aus den Reihen der CDU und FDP sofort mit Zwischenrufen attackiert. FDP