Du und ich und das für immer - Grace Lowrie - E-Book
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Du und ich und das für immer E-Book

Grace Lowrie

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Beschreibung

Jamie und Kat wachsen zusammen bei einer Pflegefamilie auf. Im tristen Alltag schenken sie sich gegenseitig Liebe und Nähe, vertrauen und beschützen sich. Doch dann trennen sich die Wege der beiden: Jamie wird adoptiert, und Kat bleibt allein zurück ...

30 Jahre später:

James ist ein erfolgreicher Versicherungsmakler in London und mit der attraktiven Schauspielerin Jasmine zusammen. Obwohl er damals von liebevollen Eltern adoptiert wurde, fühlt er eine Leere in sich, die weder seine Karriere noch Jasmine füllen können.

Kat nennt sich jetzt Rina und ist gefangen in einer Ehe mit einem gewalttätigen und kriminellen Ehemann, dem sie aus eigener Kraft nicht entkommen kann. Sie hat sich schon fast aufgegeben. Das Einzige, das sie am Leben hält, ist der Gedanke an Jamie.

Eines Tages treffen sich James und Rina - ohne zu ahnen, dass sich Jamie und Kat gegenüberstehen.

Ein gefühlvoller Roman über zwei gebrochene Seelen, die erst wieder heilen, wenn sie zusammen sind.



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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kapitel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Kapitel Achtundvierzig

Kapitel Neunundvierzig

Kapitel Fünfzig

Kapitel Einundfünfzig

Kapitel Zweiundfünfzig

Kapitel Dreiundfünfzig

Kapitel Vierundfünfzig

Kapitel Fünfundfünfzig

Kapitel Sechsundfünfzig

Kapitel Siebenundfünfzig

Kapitel Achtundfünfzig

Über dieses Buch

Jamie und Kat wachsen zusammen bei einer Pflegefamilie auf. Im tristen Alltag schenken sie sich gegenseitig Liebe und Nähe, vertrauen und beschützen sich. Doch dann trennen sich die Wege der beiden: Jamie wird adoptiert, und Kat bleibt allein zurück …

30 Jahre später:James ist ein erfolgreicher Versicherungsmakler in London und mit der attraktiven Schauspielerin Jasmine zusammen. Obwohl er damals von liebevollen Eltern adoptiert wurde, fühlt er eine Leere in sich, die weder seine Karriere noch Jasmine füllen können.

Kat nennt sich jetzt Rina und ist gefangen in einer Ehe mit einem gewalttätigen und kriminellen Ehemann, dem sie aus eigener Kraft nicht entkommen kann. Sie hat sich schon fast aufgegeben. Das Einzige, das sie am Leben hält, ist der Gedanke an Jamie.

Eines Tages treffen sich James und Rina – ohne zu ahnen, dass sich Jamie und Kat gegenüberstehen.

Über die Autorin

Grace Lowrie hat schon als Bildhauerin, Requisiteurin und Landschaftsarchitektin gearbeitet. Ihr Debüt als Autorin hatte sie 2015 mit dem Buch »Kindred Hearts«.

Sie liebt Rockmusik und den Jugendstil, Blauschimmelkäse und mürrische, rote Kater.

Wenn Grace nicht gerade mit ihren Lieblingsneffen zusammen ist, schreibt sie an weiteren Romanen in ihrem Haus in Hertfordshire, nördlich von London.

GRACE LOWRIE

DU und ICHund das fürIMMER

Aus dem Englischenvon Sonja Fehling

beHEARTBEAT

Deutsche Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Grace Lowrie

Titel der englischen Originalausgabe: »Safe with me«

Published by Arrangement with Accent Press Ltd., Octavo House, West Bute Street, Cardiff Bay, CF10 5LJ, Great Britain

Dieses Werk wurde vermittelt durch Arrowsmith Agency, Poststraße 14-16, 20354 Hamburg

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Freya Gehrke

Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Ficus777 | Alex Cretu | Gizele

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6275-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Niemand kann Blumen gänzlich lieben,wenn er nicht auch die wilden liebt.

Kapitel Eins

Als ich zu mir kam, spürte ich den Schmerz. Mit eiserner Entschlossenheit bohrte er sich in mein Unterbewusstsein und sandte eine Welle der Übelkeit durch meinen Körper. Auch mit geschlossenen Augen wusste ich, dass ich auf dem Boden im Wohnzimmer lag: Die Dielenbretter fühlten sich hart an unter meinem Arm, meiner Hüfte und dem Knie, und an meiner Wange spürte ich die raue Maserung des Holzes. Ein eisiger Luftzug löste eine Gänsehaut an meinen Waden aus, dort, wo mein Nachthemd aufgerissen war. Einige Sekunden lang wartete ich und lauschte dem Schnarchen, das aus dem Schlafzimmer drang; vergewisserte mich, dass mein Mann schlief. Wenn Vic erst mal das Bewusstsein verloren hatte, konnte man ziemlich sicher sein, dass dieser Zustand mindestens bis zum Mittag anhalten würde.

Als ich die Augen öffnete, lag die Wohnung im Dunkeln, und im Café darunter war es still. Draußen auf der Straße herrschte dagegen rege Betriebsamkeit, während die Händler auf dem Markt ihre Fahrzeuge umsetzten, ihre Ware ausluden und ihre Stände einräumten. Laut riefen sie einander Grüße zu, scherzten und lachten; setzten der unchristlichen Uhrzeit, dem rauen Wetter und der monotonen Arbeit fröhliches Gefrotzel entgegen.

Ich begann, mich zu bewegen, aber nur langsam und stufenweise; prüfte, ob meine steifen Glieder und Gelenke schmerzten, bevor ich es wagte, mich aufzusetzen. Als das Blut in meinen Arm zurückkehrte, brachte es ein kribbelndes Stechen mit sich, aber dieses unangenehme Gefühl war nichts im Vergleich zu dem brennenden Pochen an meinem Hinterkopf, genau an der Stelle, wo er auf der Kante des Wohnzimmertischs aufgeschlagen war. Mit den Fingerspitzen tastete ich mich zaghaft zu der Beule vor und erspürte dabei einen kleinen klebrigen Blutfleck in meinem Haar. Nichts Lebensbedrohliches also.

Schwankend erhob ich mich vom Boden und stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es schon spät war und mir keine Zeit mehr für eine Dusche blieb. Nachdem ich mir eine bitter schmeckende Schmerztablette eingeworfen hatte, zog ich mir das Nachthemd aus und wusch mich schnell über dem Waschbecken im Bad, bevor ich mich ins Schlafzimmer schlich. In der erdrückenden Dunkelheit warf ich mir frische Klamotten über, hockte mich vorsichtig auf die Bettkante, während ich mir Socken anzog, und ignorierte dabei geflissentlich den schlummernden Körper, der quer auf dem Bett lag. Unbeholfen streifte ich mir ein Sweatshirt über den Kopf; meine Hände zitterten zwar immer noch, und in meinem Kopf hämmerte es, aber irgendwie schaffte ich es trotzdem. Um die Blutflecken zu verdecken, band ich mir ein rotes Tuch um den Kopf und hielt einen Moment inne, während ich im dämmrigen Licht der Straßenlaterne, das durch die Vorhänge drang, mein Spiegelbild betrachtete. Aus dem gesprungenen Handspiegel blickte mir ein müdes Gesicht entgegen, und mein Teint war wie immer blass; die typische Hautfarbe einer Frau, die fünfunddreißig Jahre ihres Lebens fast ausschließlich im Haus verbracht hatte. Doch es waren keine eindeutigen blauen Flecken zu erkennen; nichts, was Bemerkungen provozieren oder ungebetene Aufmerksamkeit auf mich lenken würde. Das war zumindest eine Erleichterung. Wie bist du bloß in diese Situation geraten, Rina?, fragte ich die Frau im Spiegel stumm. Aber die starrte nur resigniert zurück.

Vic war nicht immer so gewalttätig gewesen. Im Laufe der Zeit war er langsam aggressiver geworden, Stück für Stück, Schritt für Schritt. Als wir frisch verheiratet waren, hatte sich seine Wut höchstens darin geäußert, dass er mir einen warnenden Blick zuwarf, mich fest am Arm packte oder mir schmerzhaft in den Oberschenkel kniff. Über die Jahre – und mit zunehmendem Wodkakonsum – war seine Gewalttätigkeit ausgeufert und zu einem Teil unserer Beziehung geworden. Ich hatte heiraten müssen, und es gab kein Zurück, keinen Ausweg – zumindest sah ich keinen.

Bevor ich die Wohnung verließ, räumte ich schnell noch auf – Unordnung ging gar nicht –, rückte den Wohnzimmertisch gerade und wischte mit einem Taschentuch einen verschmierten Blutfleck vom Rand. Dann sammelte ich das benutzte Geschirr ein, und als ich Tasse, Teller und Besteck in der Spüle ablud, stellte ich fest, dass mein Mann sein Abendessen fast vollständig verzehrt hatte – trotz seines Wutausbruchs, weil es seiner Meinung nach angebrannt gewesen war.

Draußen zog ich leise die Wohnungstür hinter mir zu und schlich auf Zehenspitzen in meinen Turnschuhen die Treppe hinunter, wobei ich mich auf jeder Stufe am Rand hielt, um so wenig knarrende Geräusche wie möglich zu verursachen. Am Fuß der Treppe sah ich zuerst nach, ob die Kundentoilette mit Seife und Klopapier ausgestattet war, bevor ich Vics Café betrat. Mit einem kurzen Blick in den Gästebereich vergewisserte ich mich, dass die Tische und Stühle noch genauso sauber waren, wie ich sie hinterlassen hatte, und ging dann zu der Kochnische hinterm Tresen hinüber. Wie auf Autopilot erledigte ich die morgendliche Routine: band meine Schürze um und knipste anschließend die Neonröhren, das Radio, die Kaffeemaschine, den Ofen und das Frittiergerät an. Während ich mit halbem Ohr den Schlagzeilen lauschte, räumte ich die Spülmaschine aus und holte dann aus der Vorratskammer und dem Kühlschrank die üblichen Zutaten: Brot, Baked Beans, Eier, Würstchen, Schinkenspeck, Milch und Margarine. Nachdem ich den Toaster bestückt hatte, steuerte ich auf die Glasfenster an der Vorderseite des Cafés zu, zog die schweren ausgefransten Jalousien hoch, die von der Decke bis zum Boden reichten, und schloss die Tür auf, bevor ich das »Geschlossen«-Schild zu »Geöffnet« umdrehte.

Das Licht der Straßenlampen vor den angeschimmelten Fensterscheiben drang kaum durch den trüben Januardunst. Der Nordwind zog und zerrte an den Sonnensegeln und Abdeckplanen, während draußen die mit unzähligen Schichten bekleideten Männer und Frauen angestrengt ihrer Arbeit nachgingen. Ich erkannte die üblichen Verdächtigen: Melvin und sein pickliger Teenagersohn vom Eisenwarenstand; Jo, die Gemüsehändlerin; Mags, die Antiquitäten verkaufte, und Gary, der Florist, mit seinen Eimern voller Blumen, die den Jahreszeiten trotzten.

Jo schleppte gerade Kartoffelsäcke und grinste zu mir herüber, und ich hob die Hand, um ihr zu winken. Nachdem sie ihre Säcke gegen Plastikkisten mit Lebensmitteln getauscht hatte, kam sie, schwankend unter ihrer Last, auf mich zu. Ich öffnete ihr die Tür – voller Bewunderung für ihre Kraft.

»Morgen, Rina«, begrüßte sie mich, bevor sie die Kiste mitten im Eingang abstellte, wo der Linoleumboden durch den jahrelangen Kundenverkehr abgewetzt war.

»Danke, Jo.« Ich unterdrückte ein Zittern und betrachtete die bunte Auswahl an Gemüse zu meinen Füßen, das seine besten Zeiten schon hinter sich hatte. Um Geld zu sparen, hatte Vic mit Jo irgendeinen Handel ausgemacht, aber ich war diejenige, die den welken Salat und die angeschlagenen Karotten, Gurken und Tomaten so schälen und zurechtschneiden musste, dass man ihre Beulen und Dellen nicht mehr sah. Natürlich musste ich auch meine eigenen Beulen und Dellen verstecken, doch in der Regel verletzte Vic nur Bereiche meines Körpers, die ich unter meiner Kleidung verbergen konnte, und die meisten Leute – so wie Jo – sahen ohnehin nur das, was sie sehen wollten. »Wie geht’s Teddy?«

»Es wird langsam«, entgegnete Jo und vergrub die Fäuste in ihren Jackentaschen. »Der Tierarzt sagt, die Antibiotika haben endlich angeschlagen; dauert also nicht mehr lange, bis er wieder den Postboten anbellen kann.«

»Das ist toll. Was für eine Erleichterung.«

»Jep, ohne ihn ist es hier am Stand einfach nicht dasselbe – viel zu ruhig. Na ja, ich muss weiter einräumen, aber ich komme nachher zum Frühstück«, verkündete sie, zog die Schultern gegen die Kälte ein und drehte sich um.

»Okay, bis später dann.«

Am Anfang war die Arbeit in dem heruntergekommenen kleinen Café ziemlich stressig für mich gewesen. Nicht so sehr wegen der Aufgaben – jeden Tag bis spätabends kochen, bedienen und putzen, und teilweise alles gleichzeitig –, vielmehr bereitete mir der Körperkontakt zu anderen Menschen Probleme. Ich fühlte mich unwohl. Seit meiner Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien fiel es mir schwer, anderen Menschen zu vertrauen. In der Vergangenheit war ich Fremden so gut wie möglich aus dem Weg gegangen, hatte mich im Hintergrund gehalten und Abstand gewahrt. Doch in Vics Café bestand diese Möglichkeit nicht immer. Zwar gab ich mein Bestes – sorgte dafür, dass sich meistens der Tresen zwischen mir und den Kunden befand; rief sie herüber, um ihre Bestellungen aufzunehmen, und bewegte mich vorsichtig zwischen den Tischen hin und her, wenn es doch mal nötig wurde –, aber ich musste ja auch noch kassieren. Mir wäre es lieber, die Gäste würden mir das Geld einfach auf den Tresen legen, doch die meisten Leute streckten es mir mit den Fingern entgegen oder – noch schlimmer – in der geöffneten Handfläche. Selbst jetzt, nachdem ich bereits seit achtzehn Jahren hier arbeitete, musste ich bei jeder Berührung den Impuls unterdrücken, zusammenzuzucken.

Und dennoch waren es gerade die Stammgäste – die Markthändler mit ihren fingerlosen Handschuhen; die Bauarbeiter in ihren Rüstungen aus Schutzhelmen, Warnwesten und staubigen Stiefeln; die mit Farbklecksen übersäten Maler; die alleinerziehenden Eltern, die ihren Nachwuchs mit einem Essen außer Haus verwöhnten; die Senioren auf ihren Elektromobilen und die Studenten, die sich in ihren Notizen vergruben –, genau diese Leute brachten mich durch jeden einzelnen Tag: mit ihren Begrüßungen, ihrem Tratsch und ihren knurrigen Bemerkungen, die sie mit mir teilten oder bei mir abluden, während ich ihre Bestellungen aufnahm oder ihnen das Essen servierte. Und ich mochte es, ihnen zuzuhören; sog geduldig ihre Höhen und Tiefen, Vorlieben und Abneigungen und die dramatischen Ereignisse ihres Lebens in mich auf, während mein eigenes Leben an mir vorbeiging. Nein, trotz der Herausforderungen war ich dankbar für meine Arbeit – sie war besser als die Alternative. Ich beugte mich hinunter, um die schwere Kiste vom Boden zu heben, und ließ die Eingangstür hinter mir zuschwingen, als ich zur Küchenzeile zurückging und mit dem Frittieren anfing.

Kapitel Zwei

Ich versteckte mich. Ich war ein dreißigjähriger Mann, der sich im Badezimmer seines Dads versteckte.

Ich hatte mal gehört, Trauer könne sich auf seltsame Weise zeigen, als handelte es sich dabei um ein lebendiges, atmendes Monster. Aber meine Trauer war nicht der Grund, warum ich mich versteckte; es waren die Leute unten im Wohnzimmer. Und das war gar nicht meine Art; normalerweise fühlte ich mich wohl in einer Gruppe, war gut darin, andere Menschen mit harmlosen Bemerkungen aufzulockern. Jasmine, meine Freundin, sagte immer, ich würde sie an eine britische Version von Ashton Kutcher erinnern, und dies sei der Grund, warum ich den Leuten sofort sympathisch sei. Ob das nun stimmte oder nicht, ich mochte Menschen, und sie mochten mich. Da unten befanden sich ausschließlich liebe, warmherzige Leute vom Land, die einfach nur für mich da sein wollten.

Doch diese ganze offensichtliche Aufmerksamkeit erstickte mich. Den ganzen Tag über hatten mir die Leute verstohlene Blicke zugeworfen: während der Messe; auf dem Friedhof; selbst durch die abgedunkelten Autoscheiben hatten sie zu linsen versucht, als wir im Schritttempo durch die Stadt gefahren waren; hatten mit zögernder, mitfühlender Neugier zugesehen und darauf gewartet, dass sich James Southwoods Monster zeigte.

Denn Dad war tot – ein Herzinfarkt, nur wenige Wochen nach Neujahr. Reg Southwood – getreuer Einwohner der Stadt und ein in jeder Hinsicht guter Mensch – war gestorben, einfach so, und ich fühlte mich wie betäubt. Jasmine erinnerte mich immer wieder daran, wie viel »Glück« er gehabt habe, weil er so schnell gestorben war. Ich wusste, was sie meinte – ich wünschte niemandem einen qualvollen, sich lange hinziehenden Tod –, trotzdem wäre es mir lieber gewesen, sie hätte damit aufgehört. Es fühlte sich nicht an wie Glück. Wie gern hätte ich mich von ihm verabschiedet oder mich wenigstens bei ihm bedankt. Danke, dass du mich aus der Pflegefamilie geholt und adoptiert hast, als ich noch ein dürrer siebenjähriger Junge war, unddanke, dass du mich nicht wieder zurückgeschickt hast, als deine Frau (die einzige Mutter, an die ich mich erinnern kann) nur drei Jahre später starb.

Ich starrte auf die ausgeblichenen Vorhänge mit Paisleymuster, die das Badezimmerfenster umrahmten, und lauschte dem ehrfürchtigen Gemurmel, das aus dem Raum unter mir drang: Freunde und Nachbarn aus ganz Wildham, von denen ich die Meisten eigentlich besser kennen sollte, als ich es tat. Die Namen und Gesichter kamen mir durchaus bekannt vor, aber ich war lange weg gewesen – erst zum Studium, dann zum Arbeiten in London –, deshalb fiel es mir schwer, mich zu erinnern. Geografisch gesehen war die Stadt nicht weit weg, aber manchmal kam es mir vor, als befände sie sich auf einem anderen Planeten, und da Jasmine sich nicht gerne über die M25 hinaus bewegte, hatten wir Dad in den zwei Jahren und fünf Monaten, die wir nun schon zusammen waren, kaum besucht. Eigentlich hätten wir am Zweiten Weihnachtstag zu ihm fahren sollen, doch Jasmine hatte mit einem Kater flachgelegen, nachdem wir zwei Tage bei ihrer überspannten Familie verbracht hatten, und so war Dad stattdessen zu uns gekommen.

Mum hatte diese Vorhänge selbst genäht. Vage erinnerte ich mich daran, wie sie an einem Wochenende am Esstisch gesessen hatte, als ich neun gewesen war, und den Stoff mit den Fingerspitzen durch die Singer-Nähmaschine schob, während sie mit ihrem pantoffelbesetzten Fuß sanft das Pedal dirigierte und die Geschwindigkeit bestimmte. Dad hatte die Vorhänge für sie aufgehängt, und sie hatte sehr zufrieden gewirkt. Wir alle hatten so getan, als bemerkten wir nicht, dass der eine Vorhang etwa drei Zentimeter oberhalb der Fensterbank endete. Kurz darauf war sie gestorben.

In diesem Moment rüttelte jemand an der Türklinke, und ich zuckte erschrocken zusammen.

»Einen Moment noch«, rief ich durch die Tür.

»Ich bin’s, Liam. Alles klar bei dir, Kumpel?«

Trotz seines lockeren Tonfalls hörte ich die Besorgnis in seiner Stimme. »Mir geht’s gut, danke. Ich komme gleich.«

Er antwortete nicht, und schwer erklangen seine Schritte auf der Treppe, als er sich zurückzog.

Liam Hunt war mein bester Freund seit der Schule. In den letzten Jahren hatten wir uns nicht oft gesehen, aber unsere Freundschaft war durch unsere gemeinsame Leidenschaft für Rugby entstanden – und die Tatsache, dass wir beide ohne Mutter aufgewachsen waren, wobei wir nie darüber sprachen. Liam war hier, um meinem Dad die letzte Ehre zu erweisen, hielt mir jedoch auch den Rücken frei – was ich ihm hoch anrechnete.

Während ich mir die Hände wusch – begleitet vom vertrauten Poltern und Zischen des Wassertanks, der sich wiederauffüllte –, blickte ich durch das beschlagene Fenster nach draußen. Im Dämmerlicht des Januartages konnte ich gerade so die Gärtnerei und das Gartencenter weiter unten ausmachen. Bald musste alles »für den Frühling fitgemacht werden«. Das war Dads Standardspruch und bedeutete im Einzelnen: das herunterhängende Blattwerk jeder Pflanze zurückschneiden; die oberen Wurzeln mit frischem Kompost bedecken; jeden Topf mit der entsprechenden Gattung, Art und dem Preis auszeichnen.

Aber wer sollte sich dieses Jahr darum kümmern? Dads letzter Wille war ziemlich klar und eindeutig verfasst. Da es keine anderen nahen Verwandten oder Geschäftspartner gab und ich keine Geschwister hatte, gehörte nun alles mir: das Haus, das Gartencenter, die Gärtnerei, der gesamte Kram – selbst zum alleinigen Geschäftsführer hatte er mich ernannt, damit das Unternehmen bis zur Testamentseröffnung weitergeführt werden konnte. Aber er hatte doch sicher nicht vorgesehen, dass ich das Geschäft allein übernahm, oder? Meine Eltern hatten es geliebt, es quasi aus dem Nichts aufgebaut, aber für mich hatten sie immer mehr gewollt. Deshalb hatte Dad mich zum Studieren geschickt; deshalb arbeitete ich in der Versicherungsbranche, kletterte die Karriereleiter stetig weiter nach oben, zahlte in die private Altersvorsorge ein und fuhr einen Firmenwagen. Ich hatte seit meiner Jugend nicht mehr in der Gärtnerei gearbeitet. Der Gedanke, dass sie nun mir gehörte, machte mich ganz schwindlig.

Mit wachsendem Unwohlsein betrachtete ich die Anlage; bemerkte die wackligen, schiefen Lagerschuppen aus Holz; die zerrissenen, grau werdenden Plastikplanen der Folientunnel; den Turm aus leeren Holzpaletten, auf denen sich sonst ordentlich aufgestapelte Kompostsäcke befanden; und die Hochbeete ohne Inhalt. Büschel aus Unkraut hatten sich durch die unebenen Schotterwege gedrängt, die nun von der Last verfaulender Ahornblätter plattgedrückt wurden. Selbst für diese Jahreszeit wirkte das Familienunternehmen irgendwie heruntergekommen. Das Grundstück und die Gebäude mussten dringend gepflegt werden, und für den Frühling musste neue Ware bestellt werden. Wieso hatte Dad die Dinge so schleifen lassen? War es ihm zu viel geworden? Am Telefon hatte er nie etwas dergleichen erwähnt – andererseits hatten wir auch nie wirklich über so was geredet.

Unten ertönte rasch unterdrücktes Gelächter und unterbrach meine sorgenvollen Gedanken. Die Zeit war abgelaufen. Flüchtig warf ich einen Blick in den Spiegel und richtete meine Krawatte, bevor ich die Tür aufschloss und zu meinen Gästen zurückging.

Liam lehnte in einer Ecke bei der Eingangstür, neben seiner Freundin Cally. Die beiden hatten Getränke in der Hand – ein Glas Orangensaft und ein kleines Glas Wein – und hörten einem gemeinsamen Freund dabei zu, wie der fröhlich eine seiner berüchtigten, weit hergeholten Geschichten zum Besten gab. Liam und ich nickten uns zu und tauschten diskret einen vielsagenden Blick aus, während Cally mir zulächelte. Tränen des Mitgefühls trübten ihre Augen, doch ich blieb nicht stehen, um mich zu unterhalten.

Das Wohnzimmer kam mir ungewöhnlich stickig vor, als würden die abblätternde Tapete, die durchgesessenen Polster und die abgewetzten Teppiche langsam näher kommen, aber wenigstens hatte jemand die restliche Weihnachtsdekoration weggeräumt. In der Mitte des Zimmers stand Jasmine und strahlte in ihrem kleinen Schwarzen mit jeder Pore Eleganz aus. Die blondierten Locken hatte sie hochgesteckt, ihre Augen funkelten. Ausdrucksvoll gestikulierte sie mit den Händen, während sie sich unterhielt, und unter den ansonsten eher ernsten Tonlagen stach ihre hohe und mädchenhafte Stimme deutlich heraus. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie die Aufmerksamkeit fast aller Anwesenden auf sich zog – wie immer –, aber diesmal war ich dankbar dafür, weil dann wenigstens nicht ich im Mittelpunkt stand.

»Da bist du ja, James«, sagte sie und lächelte mich mit ihren glänzenden Lippen an, bevor sie meinen Arm drückte. In der Öffentlichkeit tauschte Jasmine oft Zärtlichkeiten mit mir aus, als würde sie für eine neue Rolle in einem Theaterstück proben oder für den Part der »Freundin« vorsprechen. »Deine Gäste haben sich schon langsam gefragt, wo du bist!«

Klirrend stießen die Eiswürfel in ihrem Glas gegeneinander, als sie auf ihren Fünfzehn-Zentimeter-Absätzen leicht schwankte. Mit einem kurzen Blick nach unten stellte ich erleichtert fest, dass es ihr gelungen war, den Matsch vom Friedhof weitestgehend von ihren Designerschuhen zu entfernen. So ärgerlich, wie sie mich vorhin – beim Einsinken – angesehen hatte, wusste ich, dass sie mich persönlich für den sumpfigen Zustand von Dads Grabstätte verantwortlich machte, aber mittlerweile hatte sie mir hoffentlich verziehen.

»Tut mir leid, ich hab noch telefoniert. Ist bei euch alles klar?«, erkundigte ich mich und lächelte in die Runde. »Haben alle was zu essen und zu trinken bekommen?« Mit dem freien Arm deutete ich auf das Sideboard, das mit einem gefühlt unerschöpflichen Angebot aus gespendetem Essen vollgestellt war: dreieckige Sandwiches, Cocktailwürstchen und kleine Schottische Eier, wovon ich das Meiste jedoch als Vegetarier nicht essen konnte. Ein allgemeines zustimmendes Gemurmel erhob sich, und eine Frau mit tränenfeuchten Augen nickte, bevor sie mir aufmunternd den Arm tätschelte. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass es sich um Barb handelte, die eine enge Freundin meiner Mutter und Angestellte in der Gärtnerei gewesen war. Barb musste mittlerweile über siebzig sein. Ob sie immer noch für meinen Dad gearbeitet hatte, als er starb? Als ich den Blick durch den Raum schweifen ließ, entdeckte ich noch einige andere Angestellte, und langsam dämmerte mir, dass ihre berufliche Zukunft nun in meinen Händen lag. Nicht nur in meinem Leben hatte Dad eine Lücke hinterlassen.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Barb, wie geht es dir?«, fragte ich und legte meine Hand über ihre.

»Oh, mir geht’s gut, Schätzchen, keine Sorge«, entgegnete sie, lächelte mir zu und tupfte sich die Nase mit einem Taschentuch ab.

»Hast du … Ich meine … Arbeitest du noch in der Gärtnerei?«

»Oh ja, allerdings nur halbtags. Ich helfe draußen im Verkauf aus, halte die Kunden bei Laune und so was.«

»Ah, okay. Hör mal, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich weiß zwar noch nicht, was ich mit dem Geschäft mache, aber egal, was ist: Du und die anderen Angestellten, ihr werdet versorgt sein. Dad hatte eine sehr gute Lebensversicherung – dafür hab ich gesorgt –, und falls noch irgendwelche Löhne ausstehen sollten, kümmere ich mich darum, dass sie gezahlt werden.«

»Ach, James, mach dir doch darüber jetzt keine Gedanken.« Tränen strömten aus ihren Augen, und sie wischte sie hastig weg.

»Ich wollte nur, dass du das weißt«, erwiderte ich.

Jasmine unterbrach uns, indem sie sich zu mir vorbeugte. »Die Leute, die hinten in der Straße wohnen, wollen sich verabschieden. Sie warten in der Küche.« Ihr teures Parfüm konnte den verräterischen Zigarettengeruch, der sich in ihrem Haar verfangen hatte, nicht überdecken. Eigentlich hatte sie versprochen, aufzuhören, aber ich tat so, als würde ich es nicht bemerken, bedankte mich bei ihr und entschuldigte mich, um in das angrenzende Zimmer zu gehen.

Als ich mit jedem zumindest kurz gesprochen hatte und auch der letzte Nachbar gegangen war – mit Tupperdosen und feuchten Taschentüchern in den Händen –, war es draußen schon dunkel. Müde und benommen schloss ich die Haustür des Cottages, das meinem Dad gehört hatte, und lehnte mich dagegen. Jasmine war damit beschäftigt, vor dem Spiegel im Eingangsbereich ihren Lippenstift nachzuziehen, hatte bereits ihren Kunstfellmantel angezogen, und an ihrem Unterarm baumelte ihre Handtasche.

»Können wir dann los, James?«

»Los?«

»Mittlerweile sollte der Verkehr nachgelassen haben, und morgen früh um neun hab ich ein Vorsprechen – ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«

»Ich glaube, ich sollte noch eine Zeit lang hierbleiben.«

Abrupt drehte sie sich zu mir um und starrte mich an, eine Hand an ihrem perfekt frisierten Haar. »Bleiben? Hier?«

»Ja. Mein Chef hat mir ein paar Tage freigegeben, und ich muss noch einige Dinge erledigen …«

»Wie lange willst du denn bleiben?«

»Hm … ich weiß nicht. Eine Woche vielleicht, oder so.«

»Eine Woche?« Mit einem ungeduldigen Blick sah Jasmine mich an, und zwischen ihren sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen bildete sich eine Ansammlung schmaler Falten.

Ich hatte eine wachsende Liste von Aufgaben abzuarbeiten und Dinge zu organisieren – und außerdem keine Lust, so schnell wieder in meinen Job zurückzukehren, der nur aus Worst-Case-Szenarien, Lieber-auf-Nummer-sicher-gehen-Vorgaben und statistikbasiertem Pessimismus bestand. Absurderweise sorgte Jasmine mit ihrer Ungeduld nur dafür, dass ich noch länger bleiben wollte. Als stumme Geste der Entschuldigung zuckte ich die Achseln. Jasmine presste die Lippen zusammen, blähte die Nasenflügel und zog sich die Lederhandschuhe über, bevor sie aus dem Haus marschierte. Wortlos stöckelte sie über den Kies, bis zu der Stelle, wo ihr Cabrio, Kühler an Kühler, vor meinem Kombi parkte.

Während ich zusah, wie sie in die Dunkelheit davonfuhr – und zaghaft hoffte, dass sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten würde –, kam mir der Gedanke, dass eins meiner eigenen Worst-Case-Szenarien Wirklichkeit geworden war: Das letzte Mitglied meiner Familie war gestorben. Ich war zwar kein Kind mehr, aber trotzdem fühlte es sich so an, als sei ich aufs Neue verlassen worden. Und wieder Vollwaise.

Kapitel Drei

»Wach auf, du blöde Schlampe«, fauchte er, packte mich bei den Haaren und zerrte mich grob aus dem Bett und auf den Boden.

Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 2:45 an. Ich hatte nicht gehört, dass Vic hereingekommen war, doch jetzt war ich wach – hellwach. Was hatte ich diesmal verbrochen? Die Wunde an meinem Hinterkopf war gerade erst verheilt, und nun das. Vergeblich krallte ich die Finger um seine Hand, ein verzweifelter Versuch, das Brennen in meiner Kopfhaut abzumildern, während ich mit den nackten Füßen auf den Dielenbrettern Halt suchte.

»Wo ist sie?«, wollte Vic wissen und schleifte mich durch die Tür zum Wohnzimmer, wobei ich mit dem Knie über die kaputte Fußleiste schrammte.

»Wer?«, entgegnete ich keuchend und blinzelte ins gleißende Licht der Deckenleuchten, als er mich losließ. Durch den Bogengang konnte ich sehen, dass er den Inhalt des Tretmülleimers über den gesamten Küchenboden verteilt hatte.

»Meine verdammte Zeitung – wo ist die?«

Vic ging gern den Sportteil der Zeitung durch und machte sich am Rand kryptische Notizen, bevor er seine Wetten abschloss. Das war zwar eine altmodische Methode, aber er war abergläubisch und nahm sein Glücksspiel sehr ernst. An der Kante der Couch zog ich mich hoch, ließ den Blick schnell durch den Raum schweifen und versuchte nachzudenken, während ich Vics geballte Fäuste im Auge behielt, die vor Wut zitterten. Vorsichtig hob ich seine schwere Jeansjacke vom Couchtisch, die er achtlos dorthin geworfen hatte. Aus dem Stoff stieg der herbe Geruch von Alkohol, Zigaretten und Schweiß auf, doch darunter kam die ordentlich gefaltete Zeitung zum Vorschein.

Sofort schnappte Vic sich das Papier. »Wie oft hab ich dir verflucht noch mal gesagt, dass du die Finger von meinen Sachen lassen sollst?«

Ich biss mir auf die Zunge, um die Antwort zurückzuhalten, die mir in den Sinn kam. Hätte ich die Zeitung auf dem Boden liegen lassen, wo er sie hatte fallen lassen, hätte er sich darüber aufgeregt, dass ich nicht aufgeräumt hatte. Diesen Kampf konnte ich nicht gewinnen, und schon lange hatte ich gelernt, ihm nicht zu widersprechen; Widerspruch erhöhte nur die Wahrscheinlichkeit, dass er mich schlagen würde.

Nachdem Vic mir seine Jacke aus der Hand gerissen hatte, zog er sie an und holte sich anschließend ein Sixpack Bier aus dem Kühlschrank. »Räum das weg«, sagte er und deutete mit dem Fuß auf den Müllhaufen, während er in Richtung Wohnungstür ging.

In stummem Trotz starrte ich ihm nach, ließ ihn nicht aus den Augen, obwohl ich spürte, wie warmes Blut über mein Schienbein rann. Wenn ich es verhindern konnte, ließ ich mir niemals anmerken, dass er mich verletzt hatte. Ich hörte zu, wie er Türen schlagend aus dem Gebäude stampfte, verfolgte akustisch seinen Weg. Erst, als ich mir sicher war, dass er nicht zurückkommen würde, ließ ich die Anspannung aus meinem Körper entweichen. In ein paar Stunden würde ich aufstehen müssen, aber jetzt war an Einschlafen nicht mehr zu denken. Resigniert fand ich mich mit der Tatsache ab, dass ich den ganzen Tag müde sein würde, und säuberte und verband die Wunde an meinem Knie. Dann zog ich mir einen Morgenmantel über und räumte die Küche auf. Jetzt, da Vic gegangen war, konnte ich es mir ein bisschen gemütlich machen. Behutsam holte ich eine kleine Packung Fischstäbchen aus der untersten Schublade des Eisschranks, machte mir einen Kaffee und kuschelte mich auf die Couch, wo ich am Fernseher den Nachrichtensender einschaltete und den Ton leise stellte, um ein wenig Gesellschaft zu haben.

In der Packung befanden sich keine Fischstäbchen. Sie war einfach nur ein gutes Versteck – Vic ging nur dann zum Eisschrank, wenn er Wodka oder Eiswürfel brauchte. Vorsichtig kippte ich den kalten, mageren Inhalt in meinen Schoß: ein Bündel Fünf-Pfund-Noten und etwas Kleingeld; ein durchsichtiges Plastikarmband aus dem Krankenhaus; ein klein zusammengefaltetes liniertes Din-A4-Blatt und ein verblasstes Foto mit Eselsohren.

Als Erstes zählte ich das Geld: Nur siebzig Pfund und sechsundvierzig Pence insgesamt, aber jeden einzelnen Penny davon hatte ich mir hart erarbeitet. Das war mein einziges Vermögen. Vic überwachte seine Finanzen akribisch, und ich hatte nicht mal ein Bankkonto. Von Vic bekam ich immer nur so viel Bargeld, dass ich einkaufen konnte, was er wollte, und da er jeden Beleg überprüfte, fiel jeder fehlende Penny auf. Seiner Aussage nach sollte ich als seine Frau kein eigenes Geld benötigen, aber in Wirklichkeit stellte er damit nur sicher, dass ich ihn nicht verlassen konnte. Mein Erspartes hatte ich zusammengekratzt, indem ich heimlich Trinkgelder in meinen BH geschmuggelt hatte – immer nur kleine Münzbeträge, sodass Vic es nicht bemerkte –, und wenn ich genug zusammenhatte, wechselte ich die Münzen unauffällig in Scheine um. Für mich war es mein Notgroschen, allerdings war ich mir nicht sicher, was genau ich als Notfall definierte. Ich schätze, ich hoffte darauf, dass Vic – sollte ich ihn eines Tages verlassen – vielleicht weniger darauf erpicht wäre, mir zu folgen, wenn ich für meine Flucht nicht auch noch sein Geld aus der Ladenkasse gestohlen hätte. Aber das war eine vergebliche Hoffnung – mein Mann betrachtete mich als sein Eigentum und hatte ernüchternd gute Verbindungen; egal, wo ich hinging, er würde mich finden. Entkommen würde ich ihm erst, wenn er tot war – und wer wusste, wie lange es bis dahin noch dauern würde. Davon abgesehen: Wo sollte ich schon hin? So trostlos mein Leben auch sein mochte, mittlerweile hatte die tägliche Routine etwas Vertrautes und war weitaus besser, als meinen Körper zu verkaufen oder auf der Straße zu leben.

Ich legte das Patientenarmband beiseite, nicht bereit, mich dem zu stellen, wofür es stand; unwillig, mich in Gedanken dorthin zurückzubegeben und diese bestimmte Wunde aufzureißen. Stattdessen nahm ich einen großen Schluck Kaffee und wandte meine Aufmerksamkeit dem Stück Papier zu, faltete es sorgsam auseinander, bis ich die vertrauten Wörter darauf lesen konnte:

Der Hund lief mit dem Ball davon.

Lächelnd betrachtete ich die kräftigen Buchstaben, gewissenhaft abgeschrieben mit blauem Kugelschreiber und zwei Linien umfassend. Darüber stand sein Name:

Jamie.

Ich hob das Foto auf und starrte eindringlich auf das körnige Abbild des kleinen Jungen, den ich einmal gekannt hatte: Große kastanienbraune Augen blickten unter einem gleichfarbigen, struppigen Pony hervor, und das schiefe Grinsen enthüllte eine Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen. Die Hände hatte er in die Taschen seiner Latzhose gesteckt, während er sich innig an meine linke Seite schmiegte. Ich hatte den Arm um ihn gelegt, den einzigen Menschen, der sich dort an mich kuscheln durfte. Damals war er fünf Jahre alt gewesen und ich zehn. Rechts von mir standen drei weitere Pflegekinder, aber an deren Namen erinnerte ich mich nicht mehr: nur an Jamies.

Er war ein kluger, lebhafter Junge mit einer schnellen Auffassungsgabe gewesen, der es jedem recht machen wollte. Doch aufgrund seiner geringen Körpergröße war er ein leichtes Opfer – deshalb und weil er selten etwas sagte. Statt andere direkt anzusprechen, stellte er sich lieber auf die Zehenspitzen und flüsterte mir etwas ins Ohr, damit ich für ihn sprach, als fürchte er sich vor seiner eigenen Stimme. Ich war die Einzige, der er sich anvertraute, was die Erwachsenen extrem auf die Palme brachte, aber mir machte es überhaupt nichts aus.

An den Wochenenden und während der Ferien baute ich unter den Möbeln Höhlen für ihn, in denen er sich verstecken konnte, und erfand Spiele für uns. Und nachts, wenn er Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein hatte, kam er zu mir ins Bett gekrochen, und ich malte ihm mit dem Finger Wörter auf den Rücken, Buchstabe für Buchstabe; I-C-H P-A-S-S-E A-U-F D-I-C-H A-U-F. Dabei schlief er jedes Mal ein, bevor ich fertig war.

Ich hätte alles für diesen kleinen Jungen getan. Ich liebte ihn bedingungslos, als wäre er mein richtiger kleiner Bruder. Und er wiederum hatte mich gebraucht, wirklich gebraucht, wie niemand zuvor oder danach. Natürlich hatte ich versucht, mich für Jamie zu freuen, als man ihn adoptierte – danach sehnten wir Pflegekinder uns alle; richtige Eltern zu haben, eine richtige Familie, ein normales Leben … Aber es fühlte sich so an, als hätte Jamie einen wichtigen Teil von mir mitgenommen und ein Loch in meinem Innern hinterlassen.

Anfangs hatte ich noch vieles gehabt, das mich an ihn erinnerte, diverse persönliche Gegenstände, die er dagelassen hatte: Bücher, ein Spielzeugauto, einen blauen Fausthandschuh … Im Laufe der Jahre jedoch, während ich von Heim zu Heim stolperte, von Hostel zu Hostel und Hauseingang zu Hauseingang, war mir fast alles gestohlen worden. Nichts war heilig, wenn man von staatlicher Unterstützung oder auf der Straße lebte.

In der relativen Stille der Nacht starrte ich blicklos auf das Stück Papier in meiner Hand mit der Schreibübung darauf, und wieder gingen mir die üblichen Fragen durch den Kopf: Wo war Jamie jetzt? War er glücklich? Gesund? Reich und erfolgreich? War er verheiratet? Hatte er Kinder?

Die Antworten auf diese Fragen würde ich nie bekommen. Wieso konnte ich ihn dann nicht endlich loslassen?

Kapitel Vier

Erst als mein Handy abrupt auf dem Schreibtisch zu vibrieren begann, wurde mir bewusst, dass ich fast eine Stunde lang mit leerem Blick aus dem Fenster gestarrt hatte. In letzter Zeit hatte ich mich häufiger dabei ertappt – seit Dads Beerdigung neigte ich dazu, mit den Gedanken abzuschweifen, besonders bei der Arbeit. In diesem Fall hatte ich über den Ausblick aus meinem Büro sinniert. Für die Leute, die im Stockwerk unter mir in einer der Waben unter dem Kunstlicht des Großraumbüros saßen, war ein Fenster definitiv ein Luxus. Ich hatte hart für meine Beförderung gearbeitet, und dieses kleine Zimmer mit Blick auf eine Ziegelmauer und ein Betontreppenhaus war meine Belohnung. Seit meinem kurzen Aufenthalt auf dem Land vermisste ich jedoch schmerzlich die Grünflächen vor meiner Haustür.

Wenn ich mich in meinem justierbaren, ergonomisch korrekten Schreibtischstuhl weit genug zurücklehnte und den Hals reckte, konnte ich zwar gerade so am Nachbargebäude vorbeisehen und den Wipfel des Baumes auf dem Gehsteig erfassen. Aber das reichte mir nicht. Momentan hatte der Baum sowieso keine Blätter; gegen den grauen Himmel wirkten die kahlen Äste wie Spinnennetze, die es kaum schafften, der trüben Blässe dieses Stadtteils etwas Farbe zu verleihen. Dass mir nicht sofort einfiel, um welche Art von Baum es sich handelte, ärgerte mich, aber nach langem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass es mit ziemlicher Sicherheit eine London-Platane war. Gähnend griff ich nach meinem Handy und machte mir in Gedanken eine Notiz, mir den Baum genauer anzusehen, wenn ich das nächste Mal daran vorbeikam. Die Textnachricht war von Jasmine:

Bin heute Abend mit Freunden unterwegs, sehen uns morgen. x

Ich antwortete mit einem Okay und dachte im letzten Moment noch daran, ein x für den Kuss hinzuzufügen. Jasmines Nachrichten endeten immer mit einem Kuss, egal, ob sie mir oder dem Fensterputzer schrieb. Die Küsse hatten keinerlei Bedeutung, trotzdem war sie irrationalerweise vollkommen eingeschnappt, wenn ich einmal aus Versehen einen vergaß. Auch meine anderen Freundinnen hatten sehr viel Wert auf solche Kleinigkeiten gelegt – den richtigen Kosenamen, den finanziellen Wert eines Geschenks, die Stellung der Klobrille –, als hinge der Erfolg oder Misserfolg unserer Beziehung davon ab. Vielleicht tat er das ja auch, woher sollte ich das wissen? Wie auch immer: Ich hatte mich stets bemüht, mich an die unzähligen Regeln und Vorlieben meiner Freundinnen zu halten, und dennoch waren die Beziehungen jedes Mal zum Scheitern verurteilt gewesen.

Als ich den Blick wieder zu der Ziegelmauer vor meinem Fenster wandte, zog eine Folge hübscher Gesichter vor meinem inneren Auge vorbei: Cecily, das halb-brasilianische Model, das süchtig nach Grapefruits gewesen war – je bitterer, desto besser; Jessica, die in einer PR-Agentur arbeitete, zu schnell redete und im Bett immer Lippenstift getragen hatte; und Dionne, die Aromatherapeutin aus Australien, die unzählige Steine und Kristalle auf jeder freien Fläche hinterlassen hatte, selbst in meiner Aktentasche. Sie war davon überzeugt gewesen, diese Steine würden unsere Beziehung verbessern – oder mich im Speziellen –, aber falls sie tatsächlich geholfen hatten, war die Wirkung so subtil, dass ich sie nicht bemerkt hatte. Alle Frauen, mit denen ich im Laufe der Jahre zusammen gewesen war, waren auf die eine oder andere Art attraktiv, lebenslustig und ehrgeizig gewesen, und alle hatte ich zwangsläufig am Ende enttäuscht. Jasmine und ich waren nun schon fast zweieinhalb Jahre zusammen – für mich ein Rekord –, doch ich ahnte, dass auch für uns das Ende nahte.

Um ehrlich zu sein, war ich einfach nicht gut in Liebesdingen. Normalerweise grübelte ich darüber nicht nach und analysierte das Thema auch nicht; im Gegenteil: Ich vermied es komplett, mir darüber Gedanken zu machen. Trotzdem war es da – wie ein Hohlraum, eine Lücke in meinem Innern, die Abwesenheit von etwas, das alle anderen hatten und für selbstverständlich hielten. Irgendwann hatte ich mal eine Fernsehsendung über Soziopathen gesehen, und einige der Merkmale waren mir beunruhigend vertraut vorgekommen: Ich benutzte oft meinen Charme dazu, die Leere in meinem Innern zu verbergen, und fühlte mich häufig allein, obwohl ich selten Single gewesen war – seit meiner Jugend hatte ich mich von einer gescheiterten Beziehung zur nächsten gehangelt.

Doch so sehr ich es mir auch wünschte, ich war nicht gut darin, Nähe zu einer Frau aufzubauen – oder sie umgekehrt an mich ranzulassen. Jasmine war ein Paradebeispiel dafür: Mein Dad war gerade gestorben. Sollte ich sie nicht irgendwie daran teilhaben lassen? Sollte ich nicht das Bedürfnis haben, meine Trauer mit meiner Freundin zu teilen und mich von ihr trösten zu lassen? Allein bei der Vorstellung packte mich schon das Grauen, aber wieso? Kam meine Abneigung gegen jegliche Bindung daher, dass meine biologische Mutter mich als Kleinkind im Stich gelassen hatte? Sicher nicht – damals war ich noch viel zu klein gewesen, um irgendeine Erinnerung an die Situation zu haben, und ich dachte kaum an sie. Trotzdem: Seit Dads Tod sinnierte ich über alle möglichen Dinge nach.

Mit meinen Eltern hatte ich nie über die Adoption oder mein vorheriges Leben gesprochen, und ich hatte auch nie darüber fantasiert, wie meine leiblichen Eltern wohl gewesen sein mochten – da in den offiziellen Dokumenten klar verzeichnet war, dass man ihre Personalien nicht feststellen konnte, gab es keinen Grund dafür. Ich war ein Findelkind, das man in einem Gemeindehaus abgelegt hatte und das bei Pflegeltern aufgewachsen war, bis die Southwoods es im Alter von sieben Jahren adoptiert hatten. Bei ihnen hatte ich ein Leben, von dem jedes Kind nur träumen kann (zumindest bis Mum starb), also hatte ich fast keinen Grund, über die Zeit davor nachzudenken. Fast. Einen Grund gab es: eine Person, die ich nie hatte vergessen können; ihr Name war Kitkat.

Sie war ungefähr fünf Jahre älter als ich gewesen – ein großes, dürres, wildes Mädchen mit aschbraunem Haar und stark abgekauten Fingernägeln. Sie hatte schon eine Weile bei den Plumleys gelebt und war mir clever, resolut und furchteinflößend vorgekommen, als ich zu ihnen stieß; ein naiver Dreijähriger, der ziemlich klein war für sein Alter. Doch als die anderen Pflegekinder anfingen, mich zu schikanieren, verteidigte Kitkat mich sofort, trickste sie aus und verdrehte ihnen die Worte (manchmal auch die Arme), bis sie aufgaben. Dabei brockte sie sich zwar jede Menge Ärger ein, aber aus irgendeinem Grund nahm sie mich unter ihre Fittiche, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein.

In den vier Jahren, die Kitkat und ich miteinander verbrachten, standen wir uns sehr nah. Die Plumleys hatten einen alten Hund namens Mungo, den wir sehr gern hatten, aber darüber hinaus gab es nur uns beide. Ich hatte vor allem und jedem Angst, war schrecklich unsicher und hatte Schwierigkeiten, mich auszudrücken. Manchmal sprach ich tage- oder wochenlang kein Wort. In diesen Fällen war KitKat mein Sprachrohr: Ich flüsterte ihr die Worte ins Ohr, und sie teilte sie – gefahrlos für mich – den anderen mit. Sie war wie eine Schwester für mich. Meine Familie.

Natürlich war ich aus dem Häuschen, als die Southwoods mich adoptierten, aber nachdem die anfängliche Euphorie etwas abgeebbt war, brauchte ich eine Weile, bis ich mir eingestand, wie sehr ich Kitkat vermisste. Am liebsten hätte ich alles aus der Zeit bei den Pflegeeltern vergessen, aber sosehr ich es auch versuchte – sie konnte ich einfach nicht vergessen. Schließlich, als Mum verstorben war – ich war zehn –, bat ich meinen Dad, Kitkat nachzuholen. Ich nervte und bettelte und machte ihm so lange ein schlechtes Gewissen, bis er endlich – wider besseres Wissen – mit mir zu den Pflegeeltern fuhr, um Kitkat zu besuchen. Doch die Plumleys wohnten schon länger nicht mehr dort; das Haus hatte man in Mietwohnungen unterteilt, und die Anwohner waren fremd und nicht besonders hilfsbereit. Kitkat war in die vertrauliche Anonymität des Fürsorgesystems hineingesogen worden, und damit hatte sich der Fall erledigt. Dennoch war der Schmerz, den die Trennung von ihr in mir ausgelöst hatte, nie ganz weggegangen. Letztendlich war es vielleicht kein Wunder, dass ich Probleme mit Nähe hatte.

Ich beugte mich vor und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf meinen Computer und den Bericht, den ich erstellen sollte, aber der eilte nicht und das einzige Meeting, das ich an diesem Nachmittag gehabt hätte, war verschoben worden. Seit meiner Rückkehr aus dem Sonderurlaub hatte ich Mühe, in die Alltagsroutine zurückzufinden.

Die Tage nach der Beerdigung waren nicht besonders angenehm gewesen. Das Wetter war typisch kalt, feucht und trüb, die Abwesenheit meines Dads erschreckend spürbar, und meine To-do-Liste wuchs stetig. Jeden Abend hatte ich Jasmine auf dem Handy angerufen, um zu erfahren, was es Neues bei ihr gab, und mich zu vergewissern, dass in meinem Leben immer noch jemand existierte, dem ich etwas bedeutete, doch oft kam es mir so vor, als befände sie sich auf einem anderen Planeten. Wieder in meinem Elternhaus und in Wildham zu sein hatte einen ganzen Wust von Erinnerungen aufgewühlt, die ich lange verdrängt oder einfach vergessen hatte. Das war desorientierend, als würde ich durch einen Traum stolpern; alles war vertraut, aber doch irgendwie fremd.

Ich nahm meinen Stift in die Hand, drehte ihn ein paarmal zwischen den Fingern hin und her und begann schließlich in meinem Notizbuch herumzukritzeln. Ich hatte Stunden damit verbracht, die persönlichen Dinge meines Dads durchzugehen und in Kisten zu verstauen. Einige Sachen hatte ich weggeworfen, andere der Wohlfahrt im Ort gespendet und wieder andere mit nach London genommen. Doch die Möbel hatte ich alle an Ort und Stelle gelassen. Ich sträubte mich dagegen, das Haus komplett auszuräumen, weil ich mich immer noch um das Familienunternehmen kümmern musste und nicht gerade darauf erpicht war, währenddessen in einem leeren Haus zu wohnen.

Glücklicherweise musste ich nicht viel Mühe in das Cottage investieren: Das zweistöckige Drei-Zimmer-Haus war zwar ein wenig in die Jahre gekommen, und die Innenausstattung konnte eine Modernisierung vertragen, aber die Bausubstanz war immer noch solide. Ich hatte es gründlich von oben bis unten geputzt, die Küche und die beiden Schlafzimmer mit einem frischen Anstrich versehen, den Schornstein kehren lassen und die Regenrinnen gereinigt. Aus Sicht eines Immobilienmaklers war Southwood Cottage ein gemütliches Häuschen mit Charakter, das sich in einer reizvollen ländlichen Gegend befand – nur wenige Autominuten von der Kleinstadt Wildham und der Fernstraße gelegen. Falls notwendig konnte man es auch als renovierungsbedürftig inserieren und es getrennt vom Betrieb verkaufen. Es sollte nicht lange dauern, bis irgendein Bauunternehmen zugreifen würde. Die Sache mit dem Gartencenter und der Gärtnerei zu regeln konnte dagegen weitaus mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Trotz seiner malerischen Umgebung war es außerhalb der Saison nicht gerade einladend, in Southwood zu arbeiten. Seit Dads Tod hüllten die Angestellten sich Tag für Tag in wasserfeste Thermokleidung und nahmen rissige Lippen, Frostbeulen und Erfrierungen in Kauf, um den Betrieb am Laufen zu halten – und das, obwohl ihre berufliche Zukunft am seidenen Faden hing. Mit Hilfe des Geldes aus Dads Lebensversicherung konnte ich weiterhin die Löhne zahlen, zumindest momentan. Doch bis zur Testamentseröffnung konnten noch mehrere Wochen vergehen, und dann musste das Anwesen noch für einen eventuellen Verkauf hergerichtet werden.

Nachdenklich warf ich einen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. Noch zwei Stunden, bis die Arbeitswoche rum war. Morgen war Valentinstag, aber dieses Jahr schien Jasmine keine Pläne zu haben, ihn zu feiern. Natürlich hatte ich ihr die Handtasche gekauft, die sie haben wollte – sie hatte mir den Link gemailt, damit ich sie online bestellen und direkt zu ihr liefern lassen konnte –, doch ich hatte keine Ahnung, was sie mir – wenn überhaupt – schenken würde. Eine Krawatte vielleicht? Erneut nahm ich mein Handy und las noch einmal ihre Textnachricht. Es war nichts Ungewöhnliches, dass sie freitagabends allein mit ihren Freunden unterwegs war, aber sonst war ich zu dieser Zeit auch immer mit den Leuten von der Arbeit was trinken gegangen. Wann hatte sich das im Sande verlaufen?

Mein Finger schwebte über dem Adressbuch-Icon, während ich darüber nachdachte, zwei Kollegen zu texten und ein Feierabendbier vorzuschlagen, doch das war ohnehin sinnlos. Beide hatten mittlerweile Familie – sie waren lieber pünktlich zu Hause, um ihren Kindern Gutenachtgeschichten vorzulesen und ihren Frauen mit dem Abendessen zu helfen. Kurz überlegte ich, ein Stockwerk weiter runter zu gehen und ein paar von den Angestellten dort zu fragen, ob sie Zeit hätten, aber meine Intuition hielt mich davon ab; ich war befördert worden und sie nicht. Zwar war ich mir sicher, dass sie es mir nicht übelnahmen – ich hatte peinlich darauf geachtet, ihnen meinen Aufstieg nicht unter die Nase zu reiben –, aber technisch gesehen war ich nun ihr Vorgesetzter, und zumindest in dieser Firma traf man sich nicht privat mit dem Chef; es sei denn, es ging nicht anders. Tatsächlich war keiner meiner Freunde oder Kollegen aus der Stadt zur Beerdigung meines Dads gekommen oder hatte auch nur eine Beileidskarte geschickt. Aber ich schätze, das war okay so – um ehrlich zu sein, hatte ich sie auch nicht vermisst. Mit einem Seufzer legte ich das Handy zurück auf den Schreibtisch. Vielleicht würde ich mich einfach ins Auto setzen und aufs Land fahren; das Wochenende eher einläuten – Valentinstag hin oder her. Für morgen früh hatte ich ein Treffen mit den Angestellten der Gärtnerei anberaumt und wollte, wenn irgend möglich, einen guten Eindruck hinterlassen. Ich war mir nicht sicher, ob sie ihre Loyalität gegenüber meinem Vater noch viel länger auf mich ausdehnen würden, aber das musste ich unbedingt herausfinden – wenn ich das Unternehmen herrichten und verkaufen wollte, brauchte ich definitiv die Hilfe des Personals dafür.

Ein Gefühl in meinem Bauch, das ich nicht ganz einordnen konnte, verstärkte sich, und erneut wandte ich mich dem Fenster zu; reckte den Hals, um einen beruhigenden Blick auf den Baum zu erhaschen, ohne zu wissen, warum.

Kapitel Fünf

»Was darf ich dir bringen, Mags?«, fragte ich und erhob die Stimme gegen die allgemeine Geräuschkakofonie.

»Eine Ofenkartoffel, bitte, Süße. Ich versuche, mich gesund zu ernähren – damit ich noch ein paar Kilos abnehme vor dem großen Tag.«

»Ach, stimmt ja. Die Hochzeit ist Ende des Monats, oder?«

»Am achtundzwanzigsten Februar – nur noch zwei Wochen!« Mags nahm sich Besteck aus dem Becher, der auf dem Tresen stand, während ich ihre Bestellung in die Kasse eingab. »Eigentlich wollte ich das Mittagessen ganz ausfallen lassen, aber ich bin am Verhungern, und da draußen ist es verdammt kalt.« Durch die mit Kondenswasser überzogenen Fenster blickte ich auf die Menschen hinaus, die mit gesenkten Köpfen vorbeihasteten; das Kinn in Schals vergraben, während sie den Pfützen auswichen, die der Graupelschauer bildete. »Und Sal meint, als Brautmutter und so soll ich einen Hut tragen, aber mal ehrlich, Rina, kannst du dir mich mit Hut vorstellen?« Lächelnd versuchte ich mir die kleine, stämmige Mags in irgendetwas anderem als in Jeans und der grauen Vliesweste vorzustellen, die sie normalerweise trug. »Ich meine, es ist doch schließlich nur eine standesamtliche Trauung, und außerdem hat sie mich schon dazu gezwungen, dieses furchtbare Altrosa anzuziehen, das angeblich total in ist. Wenn ich dazu noch einen Hut aufsetze, sehe ich aus wie ’n Champignon!« In ihrem Gesicht bildeten sich Falten, die an abgewetztes Leder erinnerten, und ihre Augen funkelten, als ihr kehliges Lachen kurzzeitig das Zischen des bratenden Fetts, das Dröhnen der Kaffeemaschine und das Geplauder übertönte, das aus dem Radio und von meinen anderen Gästen kam.

»Du wirst wunderschön aussehen, und das weißt du auch – du musst nur aufpassen, dass du deiner Tochter nicht die Show stiehlst«, entgegnete ich.

Mags kicherte. »Wohl kaum! Wie auch immer, mein zukünftiger Schwiegersohn führt sie heute Abend ganz romantisch zum Essen aus – zum Valentinstag und so –, dann hört sie zumindest eine Weile auf, so ein Trara zu machen.«

Ich lächelte. Mir war schon bewusst, dass heute Valentinstag war, aber nur weil es dauernd im Radio erwähnt wurde. Für mich persönlich hatte der Tag keinerlei Bedeutung – hatte er noch nie gehabt. »Möchtest du Baked Beans zu deiner Kartoffel?«

»Ach, du bist ein Schatz, ja, bitte. Und ganz viel Käse und richtige Butter, falls du hast – nicht dieses fade Streichzeugs.«

»Natürlich. Was zu trinken dazu?« Am anderen Ende des Tresens begann ein Mann mit Baseballmütze, einen Salzstreuer auf die Arbeitsfläche zu knallen, um einen Klumpen zu lösen, der sich in der Öffnung festgesetzt hatte. Ich schob ihm einen anderen zu, den er mit einem zustimmenden Knurren annahm, bevor er großzügig Salz auf seinem Essen verteilte.

»Eine Cola. Aber nimm lieber eine Light«, fügte Mags hinzu.

Über ihre Schulter hinweg sprach mich Travis an, Vics rechte Hand. »Alles klar, Rina? Ist Vic da?«

»Ja, er müsste bald runterkommen«, gab ich mit einem Blick auf die digitale Uhr an der Mikrowelle zurück und wappnete mich innerlich für jede mögliche Gemütslage, in der er sich heute befinden mochte.

Vic führte ein kleines Imperium in diesem Stadtteil von London. Abgesehen von dem Café und dem Kleintaxi-Unternehmen in der Nähe vom Bahnhof, das er zur Hälfte leitete, verlieh er außerdem Geld und heuerte muskelbepackte Security-Leute für Pubs und Clubs an – er hatte seine nikotinbefleckten Finger überall drin. Vic selbst bezeichnete sich am liebsten als »Geschäftsvermittler«, der jede sich bietende »Gelegenheit« dazu nutzte, die richtigen Leute miteinander zu vernetzen. Er war beliebt, und – was noch entscheidender war – man vertraute ihm in den unterschiedlichen sozialen Kreisen der Umgebung, was ihm einen gewissen Einfluss und Respekt verschaffte. Ich wurde zwar nie in irgendwelche Einzelheiten eingeweiht, aber im Laufe der Jahre hatte er Diebe mit Hehlern zusammengebracht, Drogendealer mit Zulieferern und Prostituierte mit Zuhältern – wobei er immer sicherstellte, dass er einen Teil der schmutzigen Gewinne für sich einstrich, ohne dabei ein Risiko einzugehen.

Nachdem ich eine Dose Bohnen in einen Stieltopf auf dem Herd gegeben hatte, brachte ich einem anderen Gast zwei Tee und ein Schinkensandwich, während Mags’ gebackene Kartoffel in der Mikrowelle erhitzt wurde. Als die große Knolle gar war, wälzte ich sie in ein wenig Salz und Öl, bevor ich sie in den Ofen schob, damit die Schale knusprig wurde. Ich war gerade dabei, Käse zu reiben, mit dem Rücken zum Gästeraum, als Vic fröhlich vor sich hin pfeifend herunterkam. Ohne mich umzudrehen, versuchte ich angestrengt, seine Stimmung herauszuhören, während er die Stammgäste mit Namen begrüßte und sich ganz locker an der Kaffeemaschine bediente – und an der Kasse. Erst als er wieder nach oben verschwunden war, mit Travis im Schlepptau, bemerkte ich erschrocken, dass ich mir in die Finger gerieben hatte und den Käse vollblutete. Hastig kratzte ich das Häuflein in den Mülleimer, verband meine schmerzenden Fingerkuppen mit blauem Pflaster und machte Reibe und Schneidebrett sauber, bevor ich von vorn begann.

Natürlich hatte ich gewusst, dass Vic kein Engel war, als ich ihn mit achtzehn geheiratet hatte. Doch ich war verzweifelt gewesen, und Vics Aufmerksamkeit hatte mir geschmeichelt. Besonders attraktiv war er nicht – er war recht klein und hatte einen dürren, harten, sehnigen Körper. Sein rotes Haar ließ er sich weißblond bleichen und trug es oben stachlig. Aber er hatte Charisma – cool-lässiger Gang, ein Funkeln in den Augen und das selbstsichere Auftreten eines harten Kerls mit den dazu passenden Tattoos. Ihn zu heiraten würde mir genau das sichere, behütete Leben bieten, nach dem ich mich sehnte – zumindest hatte ich das damals gedacht. In Wirklichkeit war ich nur von einem Albtraum in einen anderen geschlittert – hatte das gefährliche Leben auf der Straße gegen ein Ehegefängnis eingetauscht.

Ich holte die Kartoffel aus dem Ofen und legte sie auf einen Teller, wo ich sie kreuzförmig aufschnitt, die Innenseiten mit Butter bestrich, die Baked Beans darauf gab und das Ganze mit einer großzügigen Portion Käse garnierte. Noch bevor ich Mags rufen konnte, stand sie bereits am Tresen, ihr Besteck in der Hand.

»Danke, Süße«, sagte sie, als ich eine Dose Cola Light neben ihrem Teller abstellte.

»Möchtest du ein Glas?«

»Nein, danke, so ist’s perfekt.« Damit klemmte sie sich die Dose in ihre Armbeuge, nahm ihr Mittagessen und steuerte auf den Tisch zu, den sie sich gesichert hatte.

»Was bekommen Sie?«, fragte ich den nächsten Kunden und lächelte ihm zu, während ich mir die Hände wusch.

Die nächsten zwei Stunden versuchte ich, nicht an die beiden Männer oben in der Wohnung zu denken oder daran, welches Geschäft sie ausbaldowern mochten, sondern konzentrierte mich einfach darauf, die Gäste zu bedienen. Es war ziemlich voll, und ich bekam diverse Bestellungen für warmes Frühstück, getoastete Sandwiches und Pommes – Mahlzeiten, um der Kälte da draußen zu trotzen. Doch als Cherry hereinkam – bekleidet mit einer dünnen Jacke über einem tief ausgeschnittenen Shirt, einem kurzen Rock aus Goldlamé und Schuhen mit sehr hohen Absätzen –, hatte sich der Mittagsansturm aber schon wieder gelegt.

»Danke, Rina«, sagte sie abwesend, als ich ihr eine Tasse Tee eingoss. Cherry aß nur selten im Café, trank dafür jedoch oft und viel Tee zwischen ihren Kundenterminen. Gerade blätterte sie die Magazinbeilage einer Zeitung durch, sah sich allerdings nur die Bilder an. »Hey, hast du von dieser Theaterschauspielerin hier aus dem Viertel gehört? Jasmine Reed? Hier steht, die dreht vielleicht einen Film.«

»Ach, echt?«, entgegnete ich, ohne eine Ahnung zu haben, von wem sie redete. Gelegentlich sah ich zwar Fernsehen und blätterte die Magazine durch, die unsere Gäste ab und zu hier liegen ließen, aber die Unterhaltungsbranche – genauer gesagt: der Rest der Welt – hatte so wenig mit meinem Leben zu tun, dass ich mich davon einfach nur berieseln ließ. Bücher dagegen – Bücher waren etwas ganz anderes. Ich besaß nicht viele – nur vier ramponierte Taschenbücher, die Kunden im Laufe der Jahre hier vergessen und nicht wieder abgeholt hatten –, doch jedes davon hatte ich unzählige Male gelesen. In ein Buch konnte ich so richtig eintauchen und für eine Weile jemand anders sein. Ich ließ Cherry mit ihrem Promiklatsch allein, befeuchtete einen Lappen in der Spüle und fing an, die Tische abzuräumen.

»Du hast da eine Ecke vergessen, Rina«, sagte Vic hinter mir, und in seiner Stimme schwang ein bedrohlicher Tonfall mit.