Du und ich und der Sommer - Elena Malisowa - E-Book

Du und ich und der Sommer E-Book

Elena Malisowa

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Beschreibung

Ein Sommer und der Zauber der ersten Liebe …

Als der rebellische sechzehnjährige Jura das Sommerlager in Charkiw betritt, glaubt er ein paar lange, langweilige Wochen vor sich zu haben. Doch dann tritt Wolodja in sein Leben. Der sonst eher nachdenkliche Neunzehnjährige plant, ein Theaterstück auf die Beine zu stellen, und bittet Jura um Hilfe. Während der Vorbereitungen für das Stück merken die Teenager, dass sie weitaus tiefere Gefühle füreinander hegen als nur Freundschaft. Gefühle, die verboten sind und von denen niemand etwas erfahren darf. Nach dem Sommer trennen sich die Wege der beiden. Zwanzig Jahre vergehen – Jahre voller Veränderungen, Jahre, in denen sie einander nie vergessen können. Bis Jura endlich beschließt, seine erste Liebe Wolodja wiederzufinden …

Sensibel und berührend erzählt das russisch-ukrainische Autorenduo von einer besonderen Liebesgeschichte in einem Land, in dem Anderssein bis heute unter Strafe steht.

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Seitenzahl: 609

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Quality Paperback: € (D) 17,00 / € (A) 17,50 / CHF 23,90 I​S​B​N 978-3-7645-0869-2 Erscheinungstermin: 28.02.2024

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Buch

Als der rebellische sechzehnjährige Jura das Sommerlager in Charkiw betritt, glaubt er ein paar lange, langweilige Wochen vor sich zu haben. Doch dann tritt Wolodja in sein Leben. Der sonst eher nachdenkliche Neunzehnjährige plant, ein Theaterstück auf die Beine zu stellen, und bittet Jura um Hilfe. Während der Vorbereitungen für das Stück merken die Teenager, dass sie weitaus tiefere Gefühle füreinander hegen als nur Freundschaft. Gefühle, die verboten sind und von denen niemand etwas erfahren darf. Nach dem Sommer trennen sich die Wege der beiden. Zwanzig Jahre vergehen – Jahre voller Veränderungen, Jahre, in denen sie einander nie vergessen können. Bis Jura endlich beschließt, seine erste Liebe Wolodja wiederzufinden …

Autorinnen

Katerina Silwanowa wurde 1992 in Charkiw, Ukraine, geboren. Nach ihrem Studium zog sie in die russische Stadt Nowgorod, wo sie in ihrer Freizeit zu schreiben begann.

Elena Malisowa wurde 1986 in einer sowjetischen Provinzstadt geboren. Bereits als Kind verfasste sie erste Gedichte, später kamen Kurzgeschichten und Romane dazu.

2016 lernten sich die beiden Autorinnen kennen und beschlossen, ein gemeinsames Buch zu schreiben. Die Veröffentlichung von »Du und ich und der Sommer«, die von der ersten Liebe zwischen zwei jungen Männern in einem sowjetischen Sommerlager erzählt, löste eine Welle der Begeisterung bei den Leser*innen sowie auf TikTok aus und eroberte Platz 1 der russischen Bestsellerliste. Aufgrund der Thematik wurde der Roman in Russland als »LGBTQ-Propaganda« eingestuft und verboten, die Autorinnen mussten daraufhin das Land verlassen.

KATERINA SILWANOWA ELENA MALISOWA

Roman

Deutsch von Olga Tomyuk

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Leto v pionerskom galstuke (ЛЕТО В ПИОНЕРСКОМ ГАЛСТУКЕ)« bei Popcorn Books, Moskau.Die Gedichte 1 und 2 stammen aus »Pionery-geroi« von Pawel Schelesnow, übersetzt von Olga Tomyuk.Die Liedstrophe stammt aus der Oper »Juno und Avos«, Libretto: Andrej Wosnesenskij, 1983, übersetzt von Olga Tomyuk.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Elena Malisowa and Katerina Silwanowa

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Popcorn Books

Umschlagmotiv: Adams Carvalho

Karte: © www.buerosued.de

DK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31570-2V002

www.blanvalet.de

Liebe Leser*innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Deshalb findet sich am Ende des Buches eine editorische Notiz.Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.Katerina Silwanowa, Elena Malisowa und der Blanvalet Verlag

KAPITEL 1 Rückkehr

Sie wunderten sich, dass in seinem Kofferraum eine Schaufel lag. Dabei ist das in ländlichen Gegenden ganz normal. Was, wenn es einen plötzlichen Wintereinbruch gibt? Gut, gerade war September – aber wenn er nun in einem Schlammloch stecken blieb? Hatten sie zu Gummistiefeln und Scheibenreiniger auch eine Meinung?

Jura wusste nicht genau, ob die Verkehrspolizisten ihn ein bisschen drangsalieren wollten. Sie waren doch Einheimische, sie kannten die Straßen hier.

Nachdem sich die Polizisten seine Erklärungen bezüglich der Schaufel angehört hatten, nickten die zwei, die einander wie aus dem Gesicht geschnitten waren, im Gleichtakt, ließen ihn jedoch nicht fahren. Juras Führerschein hatte ihnen verraten, dass er im Ausland lebte, und nun witterten sie ihre Chance auf ein Souvenir – ausländisches Geld. Der Regelverstoß sei ja wohl offensichtlich. Steht dort ein Schild? Ja. Ist das hier eine Fünfzigerzone? Ja. Ist er zu schnell gefahren? Ja. Liegt also ein Verstoß vor? Natürlich.

Er ist den Hügel runtergebrettert, an dessen Fuß zwar ein Schild steht, aber vom Ast einer Pappel verdeckt wird. Jura hat es schlicht übersehen.

Er grinste: »Statt hier unten mit dem Blitzer rumzustehen, hättet ihr lieber den Ast absägen sollen, der das Schild verdeckt.«

Das nahmen die Verkehrspolizisten gar nicht gut auf. Es liege nicht in ihrem Kompetenzbereich, Äste abzusägen, und nicht in seinem, ihnen ihren Beruf zu erklären.

»Also gut, dann her mit dem Strafzettel.« Der eine der Zwillingsbrüder, der ein bisschen größer war als der andere, drehte Juras Führerschein in seinen Händen. »Wir können dieses Problem auch anders lösen. Sie wollen sicher keinen Ärger, oder?«

Jura hatte sein halbes Leben in Deutschland verbracht. Sein europäisches Rechtsverständnis lieferte sich einen Kampf mit seinem gesunden Menschenverstand. Sollte er auf Gerechtigkeit pochen oder die Polizisten einfach bestechen und Zeit sparen? Der Kampf währte nur kurz.

»Wie viel?«

Die Männer schauten sich an und kniffen abschätzend die Augen zusammen. »Fünfhundert.«

Jura klappte seine Brieftasche auf. Die Verkehrspolizisten grinsten siegesgewiss.

»Wie komme ich nach Goretowka?«, fragte Jura, als er bezahlt hatte. »Auf der Karte ist zwar das Dorf verzeichnet, aber keine Straße dorthin. Früher hat es eine gegeben.«

»Goretowka?«, fragte der Große. »Das ist schon seit Langem kein richtiges Dorf mehr. Dort ist jetzt eine Siedlung.«

»In Ordnung, dann ist es halt kein Dorf mehr. Aber wie kommt man hin?«

»Hin kommt man, hinein aber wohl kaum. Das Gelände wird bewacht.«

Bevor er auf die Polizisten getroffen war, hatte Jura einen klaren Plan gehabt: bis Goretowka fahren und von dort aus über die Felder der einstigen Kolchose und zum Fluss hinabsteigen. Doch nun stellte sich heraus, dass das Gelände abgesperrt war.

Sollte er es dennoch riskieren? Den Wachschutz bestechen, damit sie ihn reinließen? Nein, falls es missglückte, hätte er zu viel Zeit verloren. Ihm blieb nur der Weg durch das Lager.

»Verstehe. Wie komme ich zur Schwalbe?«, fragte er.

»Wohin?«

»Zum Pionierlager Schwalbe, benannt nach der Partisanin Sina, die Schwalbe, Portnowa. Das war hier irgendwo in der Nähe.«

Der kleinere Zwilling leuchtete förmlich auf. »Ach ja, das Lager. Ja, da war mal eins.«

Der größere Zwilling musterte Jura misstrauisch. »Was wollen Sie da?«

»Unter der Sowjetmacht war ich oft in diesem Lager, habe dort sozusagen meine Kindheit verbracht. Und nun habe ich Heimweh, Nostalgie, Sie verstehen …«

»Nostalgie, klar.« Die Verkehrspolizisten blickten sich an. »Haben Sie eine Karte?«

Jura reichte die Karte einem von ihnen und verfolgte aufmerksam, wohin dieser mit dem Finger zeigte.

»Fahren Sie auf der P-295 bis zum Dorf Retschnoje, direkt hinter dem Ortseingangsschild biegen Sie nach rechts ab und fahren immer geradeaus.«

»Danke.«

Er nahm die Karte wieder an sich, bedankte sich erneut und machte sich auf den Weg.

»Ich wusste, dass man mich mindestens einmal anhalten würde«, schimpfte er und gab Gas.

Er erkannte nichts wieder und orientierte sich nur mittels Karte. Vor zwanzig Jahren hatten sich entlang der Straße noch dichte dunkle Wälder mit Sonnenblumenfeldern abgewechselt, aber nun griff die nahe gelegene Stadt nach dem Gebiet. Die Wälder waren abgeholzt, die Felder planiert und einige Bereiche eingezäunt worden, dahinter dröhnten Kräne, Traktoren und Bagger. Der einst endlose Horizont war von Datschen- und Einfamilienhaussiedlungen verstellt.

Jura bog hinter dem Ortseingangsschild von Retschnoje ab. Die asphaltierte Straße endete schlagartig, das Auto schwankte über einen Feldweg, die Schaufel im Kofferraum schepperte.

Er konnte sich an den Weg zum Lager nicht mehr erinnern. Das letzte Mal war Jura vor zwanzig Jahren hier gewesen. Wie viel Freude es gemacht hatte, inmitten einer Kolonne weiß-rot gestreifter LiAZ-Busse, mit der Aufschrift Kinder und mit Wimpeln verziert, auf großer Fahrt zu sein, Pionierlieder zu singen oder gelangweilt aus dem Fenster zu blicken, da man bereits zu erwachsen für so etwas war. Jura erinnerte sich, wie er beim letzten Mal nicht mehr gesungen, sondern dem Lied zugehört hatte, das genau so eine Buskolonne mit Wimpeln auf dem Weg ins Pionierlager beschrieb. Und nun, zwanzig Jahre später, hörte er dem Scheppern der Schaufel zu, die im Kofferraum herumhüpfte. Er schimpfte auf die Schlaglöcher und betete, dass er nicht stecken bleiben würde, blickte nicht zu blauem Himmel wie damals, sondern zu grauen Wolken hinauf.

»Es darf nicht regen.«

Sein Plan war minutiös durchdacht. Allerdings war er davon ausgegangen, dass er übers Dorf an den Fluss gelangen würde, und daher früh losgefahren. Doch nun musste er sich am hellen Tag durch das Lager schleichen. Andererseits war September, und etwaige Kinder waren längst abgereist. Und da das Lager kein Militärobjekt war, war gewiss nur ein einzelner Wachmann anwesend.

Würde der Mann ihn stellen, müsste er sich was einfallen lassen.

Pionierlageralltag … rote Halstücher, Frühsport, morgendlicher Fahnenappell, Baden und Lagerfeuer – all das war vor langer Zeit gewesen. Heute lief so was wahrscheinlich ganz anders ab: Ein regelrecht anderes Land war das inzwischen, man hatte andere Freizeitbeschäftigungen und Lieder. Kinder trugen keine Halstücher und Anstecknadeln mehr. Doch es war dasselbe Lager. Und schon bald würde Jura sich dort an die wichtigste Zeit in seinem Leben und an den für ihn wichtigsten Menschen zurückerinnern. Vielleicht würde er auch herausfinden, was aus ihm geworden war. Und das bedeutete, dass er ihm vielleicht irgendwann wiederbegegnen würde – dem einzigen Freund, den er je gehabt hatte.

Doch als er vor dem Tor aus dem Auto stieg, sah Jura seine heimlichen Befürchtungen bestätigt: Vom Maschendrahtzaun, der das ganze Gelände einst umschlossen hatte, ragten lediglich die Betonpfosten auf, das Metall hatte die Zeit nicht überdauert. Das fröhlich rot-gelbe Tor war kaputt: Ein Torflügel hing wie ein ausgekugelter Arm in den Angeln, während der andere auf dem Boden lag und schon halb zugewachsen war. Das Blau-Grün des Wächterhäuschens war längst abgeblättert, die Holzwände waren schwarz und modrig, und das Dach war eingestürzt.

Jura seufzte schwer. Im Grunde hatte er es geahnt, schließlich hatte er in Deutschland gelebt und nicht hinter dem Mond. Er wusste, was in der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion los gewesen war. Er wusste, dass Fabriken geschlossen worden waren. Und dieses Lager war schließlich an eine von ihnen gebunden gewesen, die Kinder der Werktätigen waren jeden Sommer hierher gefahren.

Doch Jura hatte nicht wahrhaben wollen, dass der allgemeine Zerfall zwangsläufig auch die Schwalbe ereilen würde. Das Pionierlager war immerhin der glücklichste Ort seiner Kindheit gewesen.

Die freudige Aufregung der Herfahrt erlosch, und Wehmut und Trauer machten sich in ihm breit. Seine Stimmung entsprach nun dem düsteren Wetter und dem staubigen Nieselregen, der eingesetzt hatte.

Jura ging zum Auto zurück, zog seine Gummistiefel an, holte die Schaufel aus dem Kofferraum und schulterte sie. Er stieg über den morschen Torflügel und betrat das Gelände.

Jeder Schritt vorwärts entpuppte sich als ein Schritt zurück in jene glückliche Zeit, in der er verliebt gewesen war. Er blieb unweit der Kreuzung stehen. Nach links ging es zum Speisesaal, der Pfad rechts von ihm führte zu einem Gebäude, dessen Funktion er nicht mehr wusste, und geradeaus führte die Allee der Pionierhelden zum Zentrum des Lagers, dem Appellplatz. Neben einem Blumenbeet lagen noch ein paar der Platten, mit denen der Weg damals gepflastert gewesen war.

»Das war doch hier.« Jura lächelte, als er sich daran erinnerte, wie er spät in der Nacht, als das ganze Lager schlief, mit weißer Kreide den schönsten Buchstaben der Welt auf die Gehwegplatten gemalt hatte – das W.

Am nächsten Morgen hatten sich die Kinder auf dem Weg zum Frühstück gefragt, was das seltsame runde Gebilde um den Buchstaben wohl zu bedeuten hatte. Rylkin aus Gruppe zwei glaubte, dahintergekommen zu sein. »Kameraden, das ist ein Apfel.«

»Quatsch. Welche Apfelsorte fängt denn mit W an?«

Keiner kam dahinter, dass es sich in Wirklichkeit um ein Herz handeln sollte. Als Jura inmitten der Nachtgeräusche den Klang geliebter Schritte erkannt hatte, war ihm beim Malen vor Schreck die Hand weggerutscht und das Herz ein Apfel geworden.

Jura blickte sich um. Die Zeit hatte die Allee nicht verschont. Betonpfeiler, Holz und Ziegelscherben lagen herum. Er griff sich ein spitzes rotes Ziegelstück und hockte sich hin. Mit einer weit ausholenden Bewegung malte er ein riesiges, verschnörkeltes W und umschloss es mit einem Herzen. Jura, inzwischen erwachsen und Zyniker, nickte seinem jugendlichen Ich zu: Was in der Schwalbe passiert ist, bleibt in der Schwalbe.

Seine Erinnerungen zogen ihn weiter die Allee entlang, an deren Ende eine breite dreistufige Treppe zum Appellplatz des Lagers führte. Das ganze Gelände ließ ihn an einen Friedhof denken, einen aus der Zeit gefallenen und verlassenen Ort. Hier und da ragten links und rechts des Weges moosbewachsene Statuen oder nur deren Sockel auf, die an Grabsteine erinnerten.

Von den Statuen, die einst finster Richtung Westen geblickt hatten, gab es insgesamt sieben. Jura hatte seinerzeit wie Tausende andere Pioniere die Namen und Heldentaten dieser Kinder in- und auswendig gewusst und ihnen nachgeeifert. Doch nach über zwei Jahrzehnten erkannte er nur den Partisanen Leonid Golikow wieder.

Die Ehrentafel in ihrem Kasten rechts neben der Treppe stand noch, doch das Glas war herausgebrochen. Einige Textteile waren noch recht gut lesbar. Auch drei Schwarz-Weiß-Fotos hatten die Zeit überdauert.

»3. Lagerdurchgang, August 1992. Verdienste und Erfolge«, las Jura die Überschrift. Pro Jahr gab es drei Durchgänge. Das war also die letzte Belegschaft des Lagers gewesen. Also war es tatsächlich noch sechs weitere Jahre in Betrieb gewesen, nachdem er das letzte Mal hier war.

Als er die wenigen Stufen zum Appellplatz hinaufstieg, spürte Jura, wie sein Herz vor Schwermut stolperte. Nicht dass das Alte dem Verfall anheimgegeben worden war, schmerzte ihn, sondern dass er selbst seine ganz persönlichen Erinnerungen an das Lager vergessen und in sich begraben hatte. Warum war er erst jetzt zurückgekehrt?

Die Lenin’schen Gebote und die Gelöbnisse von damals hatte er so lange befolgt. Wie hatte es dazu kommen können, dass er sein Versprechen, das er seinem einzigen Freund gegeben hatte, nicht gehalten hatte?

Rechts neben der Treppe sah Jura im Gras ein ausgeblichenes Bruchstück einer Schultafel, darauf in weißer Lackfarbe die Losung: Voran, in eine helle, strahlende Zukunft!

»Sehr hell ist sie nicht und noch weniger strahlend, das kann ich euch versichern«, murmelte er und betrat den mit Müll und Laub bedeckten Appellplatz. Durch die Löcher im Asphalt wuchsen der fahlen Sonne Unkrautbüschel entgegen. Im Zentrum des Platzes lag inmitten von Steinbrocken das enthauptete Denkmal Sina Portnowas, der Partisanin, die als junges Mädchen gegen die Nazis gekämpft hatte und nach der das Lager benannt worden war. Auch wenn das Mädchen nur aus Gips war, tat sie ihm dennoch leid. Sie hatte wirklich Heldentaten vollbracht. Er wollte sie aufrichten, aber aus ihren abgeschlagenen Unterschenkeln ragten lediglich zwei rostige Metallstäbe hervor.

Jura lehnte ihren Körper an den Sockel, legte den Kopf daneben und drehte sich um, betrachtete das Einzige, was unversehrt geblieben war – der nackte Fahnenmast, der wie vor zwanzig Jahren gen Himmel ragte.

Mit elf Jahren war Jura zum ersten Mal ins Pionierlager gefahren und war dermaßen begeistert gewesen, dass ihn seine Eltern von da an jedes Jahr hinschickten.

Das Lagerleben begann für gewöhnlich mit einem Fahnenappell. Die Gruppen strömten in Zweierreihen auf den Appellplatz und stellten sich auf. Begeisterung lag in der Luft. Die Pioniere freuten sich, ihre Freunde vom letzten Sommer wiederzusehen. Die Gruppenleiter schoben ihre Schützlinge in Reih und Glied. Jura schien der Einzige zu sein, der nach fünf Jahren Pionierlager die Nase voll hatte, der Einzige, bei dem keine Freude aufkam, sondern Frust.

Aber etwas vermochte doch sein Interesse zu erregen. Rechts vom Fahnenmast stand inmitten der Zwerge der fünften Gruppe ein neuer Gruppenleiter. Er trug eine dunkelblaue kurze Hose, ein weißes Hemd, ein rotes Halstuch und eine Brille. Ein Student, ganz klar, vielleicht sogar Erstsemester, garantiert war er der Jüngste unter den Gruppenleitern und sichtbar auch der Angespannteste. Eine Brise fuhr ihm durchs Haar, das unter seinem roten Komsomolkäppi hervorstand, seine blassen Beine waren von frischen Mückenstichen übersät, und er zählte hektisch seine Gruppe durch. Er hieß Wolodja, zumindest hatte Jura diesen Namen zuvor neben den Bussen gehört.

Das Hornsignal ertönte, und die Arme schnellten zum Pioniergruß nach oben. Die Lagerleitung betrat die Bühne. Grußworte hallten über den Platz. Pathetische Reden über das Pionierdasein und den sozialistischen Menschen wurden vorgetragen.

Jura hatte das alles schon tausendmal gehört und bemühte sich vergebens, nicht so angeödet dreinzuschauen. Er glaubte weder dem kinderlieben Lächeln der stellvertretenden Lagerleiterin noch ihren leuchtenden Augen und pathetischen Worten. Es kam ihm vor, als war an den Gruppenleitern und erst recht an Olga Leonidowna nichts echt. Denn warum sonst sollten sie immer wieder die gleiche Rede halten? Wer aufrichtig war, konnte immer neue Worte finden. Und Jura hatte ohnehin den Eindruck, dass alle in seinem Land Parolen schwangen und Gelöbnisse ablegten, ohne dabei im Inneren auch nur das Geringste zu fühlen. Er hatte den Eindruck, dass nur er allein echt war, und alle anderen, auch dieser Wolodja da drüben, waren Roboter. Er war perfekt, ein braver Komsomolze wie von einem Plakat: groß, klug, Grübchen und visionärer Blick in die Ferne. Nur mit seinen Haaren ist was schiefgelaufen, dachte Jura hämisch grinsend. Er ist nicht blond. Aber Roboter bleibt trotzdem Roboter.

Jura war so sehr in Gedanken versunken und konzentrierte sich dermaßen auf diesen Wolodja, dass er das Wichtigste beinahe verpasst hätte – das Hissen der Fahne. Zum Glück wurde er von seiner Nachbarin angestoßen. Er blickte an der Fahne empor und sang brav den »Marsch der Jungpioniere«. Nach »Immer bereit!« aus hundert Kehlen starrte er Wolodja erneut wie ein Trottel an, bis dessen fünfte Gruppe sich aufzulösen und den Platz zu verlassen begann. Ihr Leiter rückte seine Brille zurecht und zählte wieder hektisch: »Zwölf … Oh! Dreizehn …« Er spurtete den Kindern hinterher.

Jura schüttelte die Erinnerungen ab und ließ seinen Blick abermals über den Appellplatz schweifen. Noch zehn weitere Jahre und man würde sich durch Gestrüpp vorankämpfen müssen. Die aus dem Gebüsch ragenden Gipspioniere würden zufälligen Besuchern einen Schrecken einjagen. Oder die Baustelle drang bis hierher vor, und an Juras Herzensort würden Einfamilienhäuser aus dem Boden gestampft.

Jura folgte mehr seinen Erinnerungen als seinen Augen und ging in Richtung der Freilichtbühne, wo immer die Disco stattgefunden hatte. Er ging den Pfad entlang, als wäre all dies ein eigenartiger Traum. Alles hier schien gleichzeitig fremd und vertraut zu sein.

Er erreichte die Freilichtbühne – wo die Geschichte zwischen Wolodja und ihm ihren Anfang genommen hatte. Eine kurze Geschichte, die jedoch sein ganzes Leben beeinflusst hatte.

Die Bühne war einst mit roten Wimpeln und Bannern mit der Aufschrift Lang lebe die KPdSU und Wir sind Lenins Erben geschmückt gewesen, die Jura schon damals überholt vorgekommen waren. Unter seinen Füßen lag ein zerrissenes rotes Banner mit einem Gedicht. Jura stand auf dem Lumpen und blickte nach unten. Er las, was noch zu erkennen war: Dein Halstuch, halt es in Ehren … Rechts der Bühne hing früher der Tagesplan. Jetzt verkündete die einzige erhaltene Zeile, dass um vier Uhr vierzig ein Arbeitseinsatz anstand. Links der Bühne stand noch immer Juras Aussichtspunkt, ein Apfelbaum. Einst war der Baum mit schweren Früchten behangen gewesen, doch jetzt war er knorrig und halb tot. Hochzuklettern war undenkbar – er wäre augenblicklich umgestürzt. Jura war mal runtergefallen, vor zwanzig Jahren, als er auf Anweisung der Erzieherin bunte Lichterketten in den Baum gehängt hatte.

Nach dem Begrüßungsappell zog er in die Baracke ein. Anschließend war er körperlich, nicht aber geistig bei der ersten Versammlung seiner Gruppen anwesend, und dann ging es zum Sportplatz, um neue Pioniere kennenzulernen und seine Kameraden und Freundinnen aus dem letzten Sommer zu suchen. Per Lagerfunk wurden alle Neuankömmlinge begrüßt. Die Wettervorhersage sagte eine regenarme Woche an und wünschte aktive Ferien.

Jura erkannte Mitjas Stimme sofort. Er spielte Gitarre, hatte eine schöne Singstimme und war bereits im letzten Jahr Radiosprecher gewesen.

Neben dem Tennisplatz standen Polina, Uljana und Ksjuscha und tuschelten. Jura hatte sie schon beim Appell bemerkt. Und schon wieder waren sie in seiner Gruppe, das fünfte Mal in Folge. Er hatte sie schon als zehnjährige Rotzgören gekannt. Aus irgendeinem Grund waren sich Jura und das berühmt-berüchtigte Mädchentrio von Anfang an unsympathisch gewesen.

Wanja und Mischa, Juras Gruppenkameraden und sehr gute Freunde, winkten ihm zu. Er antwortete mit einem Nicken, ging jedoch nicht zu ihnen hinüber. Sie würden ihn fragen, wie sein Jahr war. Aber sein Jahr war wieder nicht so gut verlaufen, so was erzählte man nicht gern.

Auch die beiden kannte Jura seit Langem. Im Grunde waren sie die Einzigen, mit denen er sich abgab. Wanja und Mischa waren unauffällige Streberjungs – pickelig und lustig. Mit Mädchen kamen auch sie nicht sonderlich gut klar. Jura erkaufte sich ihren Respekt mit Papirossy, die sie manchmal zusammen rauchten, wenn sie der Mittagsruhe entflohen und hinter dem Lagerzaun im Wald hockten.

Auch Mascha Sidorowa stand nicht weit von ihm entfernt und blickte sich verwirrt um. Jura kannte sie schon vier Jahre. Sie konnte Polina, Uljana und Ksjuscha nicht ausstehen und sah auch auf Jura herab. Dafür war sie im letzten Sommer sehr gut mit Anja ausgekommen.

Anja war großartig. Jura mochte sie. Er war mit ihr befreundet und hatte sie sogar zweimal in der Disco zum Tanzen aufgefordert. Und sie hatte ihn nicht zurückgewiesen. Jura mochte ihr schallendes Lachen. Anja war im letzten Jahr zudem eine der wenigen gewesen, die sich nach dem Vorfall nicht von ihm abgewandt hatten … Doch diesen Gedanken verdrängte er sofort wieder. Er blickte erneut über den Sportplatz, doch Anja war nirgends zu sehen. Auch beim Appell war sie nicht gewesen.

Nachdem er sich bei Mascha nach Anja erkundigt und sie seine Hoffnungen endgültig zerstört hatte, schob Jura seine Fäuste in die Taschen, schaute finster drein und schlurfte den Weg hinauf. Er dachte an Anja. Wie schade, dass sie sich erst gegen Ende der Ferien angefreundet hatten. Sie hatte erzählt, dass ihr Vater Probleme in der Partei oder auf seiner Arbeit hatte und dies vielleicht ihr letztes Mal Pionierlager war. Und nun war anscheinend tatsächlich etwas passiert.

Jura boxte gereizt gegen einen Fliederbusch. Er hasste den intensiven, beinahe klebrigen Fliederduft, blieb jedoch stehen, um nach fünfblättrigen Blüten zu suchen: Seine Mutter hatte ihm mal erzählt, dass, wenn man eine solche Blüte fand, sie zerkaute und sich etwas wünschte, der Wunsch ganz sicher in Erfüllung gehen würde. Doch Jura wusste gar nicht, was er sich wünschen sollte. Früher, vor anderthalb Jahren, hatte er Träume und Pläne gehabt, aber jetzt war alles anders.

»Konew!«, ertönte hinter ihm die strenge Stimme seiner Gruppenleiterin. Jura biss die Zähne zusammen, drehte sich um und starrte in Irinas hellgrüne Augen, die ihn misstrauisch musterten. »Was schleichst du denn hier herum?«

Irina war bereits das dritte Jahr in Folge seine Gruppenleiterin. Sie war streng, aber nett. Eine der wenigen im Lager, mit denen er klarkam.

Er brach einen Fliederzweig ab und reichte ihn der Gruppenleiterin. »Ich bestaune die Blüten. Hier, Irina Petrowna, für Sie.« Jura war der Einzige, der sie aus Respektgründen siezte.

»Konew!« Irina wurde rot und fügte ihrer Stimme noch ein wenig Strenge hinzu: »Das ist ein Verstoß gegen die Lagerordnung. Was, wenn jemand von den älteren Erziehern dich beim Blumenabreißen erwischt hätte?«

Jura wusste, dass die Gruppenleiterin ihn nicht melden würde. Erstens war sie trotz ihrer Strenge freundlich und bemitleidete ihn aus irgendeinem Grund, zweitens konnten Gruppenleiter bei Verstößen ihrer Schützlinge selbst einen Vermerk in ihrer Akte erhalten und ließen bei den meisten Vergehen die Lagerleitung außen vor. Also seufzte sie nur und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich. Mach dich auf die Suche nach Aljoscha Matwejew aus der dritten Gruppe. Ein Rotschopf mit vielen Sommersprossen. Geht gemeinsam zum Hausmeister, fragt nach zwei Leitern und tragt sie zur Freilichtbühne. Dort werde ich euch Lichterketten aushändigen, die für die Disco aufgehängt werden müssen. Alles klar?«

Jura war sauer. Er hatte vorgehabt, an den Fluss zu gehen. Doch jetzt musste er stattdessen auf einer Leiter herumtänzeln.

Als er lahm nickte, kniff Irina die Augen zusammen. »Ist wirklich alles klar?«

»Zu Befehl!« Jura streckte sich und machte den Pioniergruß.

»Konew, treib es nicht zu weit. Ich kenne deine Witze schon von den letzten Ferien.«

»Entschuldigen Sie, Irina Petrowna. Alles klar, Irina Petrowna. Wird erledigt, Irina Petrowna.«

»Ab mit dir, du Frechdachs. Und zwar schnell!«

Aljoscha Matwejew war nicht nur rothaarig und sommersprossig, sondern hatte auch Segelohren und Hasenzähne. Auch er war nicht zum ersten Mal im Lager und plapperte ununterbrochen von den vergangenen Aufenthalten. Er erzählte ein Abenteuer nach dem anderen und fragte unaufhörlich: »Kennst du den? Erinnerst du dich noch an die?« Aljoscha sprudelte nur so vor Energie und Lebenslust, er war erschreckend aktiv, aber der Typ Mensch, der schlussendlich nichts fertigbrachte. Daher dachte man zweimal nach, bevor man ihm eine Aufgabe übertrug.

Die Lichterketten waren schnell angebracht. Nach kaum einer Stunde war der Großteil der Bäume ringsum eingewickelt. Über der Freilichtbühne wurden die schönsten Lichter aufgespannt. Jetzt blieb nur noch der Apfelbaum. Jura stieg auf die Leiter. Seinen Lieblingsbaum wollte er so gestalten, dass er, wenn er es sich in den kommenden Tagen oben bequem machen würde, nicht an einem Kabel hängen blieb. In der einen Hand hielt er das Kabel mit den Glühbirnen, klammerte sich mit der anderen an einem dicken Ast fest und stieg von der Leiter in den Baum, um die Lichterkette hoch oben zu befestigen.

Es gab ein trockenes Knacken. Aljoscha schrie auf. Jura krachte auf den Boden. Seine Sicht verschwamm, und in seinem Rücken und seinem Hintern breitete sich Schmerz aus.

»Konew! Jura! Alles in Ordnung?« Irina beugte sich mit schreckgeweiteten Augen über ihn.

»Ich lebe noch …«, ächzte er, setzte sich auf und fasste sich an den Rücken. »Es tut weh …«

»Was tut weh? Wo tut es weh? Der Arm, das Bein, wo denn? Hier?«

»Aua! Es ist kaputt!«

»Was hast du dir gebrochen, Jura?«

»Die Lichterkette ist zerbrochen …«

»Zum Teufel mit der Lichterkette, das Wichtigste ist, dass du …«

Jura richtete sich auf. Alle zwanzig Leute, die zuvor mit der Vorbereitung des Platzes beschäftigt gewesen waren, auf dem immer die Disco stattfinden würde, standen nun um ihn herum und sahen zu, wie er sich ächzend das Handgelenk rieb und zu lächeln versuchte. Er hatte große Angst, sich seinen guten Ruf zu ruinieren und als Jammerlappen, Schwächling und Weichei zu gelten. Zu allem Überfluss taten nicht nur seine Hand und sein Rücken weh – auch sein Steißbein pochte. Doch würde er das zugeben, würden die anderen ihn auslachen: »Konew hat sich den Schwanz angeschlagen.«

»Was sagen Sie denn da? Irina, wie soll ich das verstehen?« Olga Leonidowna kam herbeigeeilt. »Die Lichterkette ist Eigentum des Lagers, wer soll dafür aufkommen? Ich? Sie? Oder vielleicht du, Konew?«

»Was kann ich denn dafür, dass eure Leitern wackelig sind?«

»Aha, die Leitern sind wackelig? Vielleicht bist ja du schuld? Sieh dich nur an.« Sie tippte Jura mit spitzem Finger gegen die Brust. »Das Halstuch ist der wertvollste Besitz eines Pioniers. Und deins ist schmutzig, zerfleddert und schief gebunden.«

Jura hob die Spitze seines roten Tuchs an und warf einen Blick darauf. Es war tatsächlich schmutzig. Aber war es vielleicht schmutzig geworden, weil er gerade vom Baum gefallen war?!

»Beim Appell war das Halstuch ordentlich gebunden. Es ist aufgegangen, als ich gestürzt bin.«

»Nein, sondern weil du ein Nichtsnutz und Vandale bist!«, keifte Olga Leonidowna ihn an. Jura erstarrte. Unfähig, etwas zu erwidern, stand er schweigend da und hörte sich an, wie sie ihn ausschimpfte. »Den Pionieren bist du schon seit zwei Jahren entwachsen, bist ein riesiger sechzehnjähriger Kerl. Und du denkst nicht einmal daran, der sozialistischen Jugendorganisation Komsomol beizutreten. Oder wollen sie dich vielleicht nicht aufnehmen? Natürlich nehmen sie einen wie dich nicht auf. Als ob ein Raufbold ein Komsomolze sein kann.«

Jura hätte sich eigentlich freuen können. Er brachte Olga Leonidowna zu gern auf die Palme. Und nun war es ihm sogar vor all den anderen geglückt. Doch irgendwie hatten ihre Worte ihn getroffen.

»Ich bin kein Raufbold. Hier ist einfach alles wackelig und kaputt, und ihr … und ihr …«

Die Wahrheit war bereit, aus ihm herauszusprudeln. Jura atmete tief ein, wollte alles sagen und … bekam plötzlich keine Luft mehr. Jemand hatte ihm einen Stoß in seinen geprellten Rücken verpasst. Es war Irina.

Sie flüsterte: »Sei still!«

»Was wolltest du mir sagen, Jura?« Olga Leonidowna kniff die Augen zusammen und höhnte: »Fahr fort, wir hören dir alle ganz aufmerksam zu. Und dann rufe ich deine Eltern an und schreibe dir eine Beurteilung, dass du nie auch nur einen Fuß in den Komsomol, geschweige denn in die Partei setzen wirst. Du wirst dein ganzes Leben Böden wischen. Wie kannst du es wagen, den Familiennamen des sowjetischen Helden Iwan Konew durch dein Verhalten derartig in den Dreck zu ziehen?«

»Aber Olga Leonidowna, bitte. Sie selbst weisen uns doch immer darauf hin, dass man Kinder nicht anschreien darf«, brachte Irina den Mut auf, die stellvertretende Lagerleiterin zurechtzuweisen.

Um sie herum hatten sich jede Menge Pioniere versammelt.

»Andere Erziehungsmethoden bringen bei dem nichts!«, schrie die stellvertretende Lagerleiterin und fuhr fort, Jura zu beschuldigen: »Nachdem du bereits letztes Jahr den Speisesaal verwüstet hast, machst du jetzt auch noch Lichterketten kaputt!«

»Das war ein Versehen. Ich wollte das nicht.«

Gegen Ende seines letzten Aufenthalts im Lager war ihm sein schmutziger Teller beim Zurückbringen aus Versehen auf einen unordentlich aufgetürmten Tellerstapel gefallen, woraufhin alles mit einem fürchterlichen Geschepper zu Boden krachte und zerbrach. Das bekam natürlich jeder mit, und das halbe Lager eilte zur Unfallstelle, an der Jura mit offenem Mund dastand, rot wie eine Tomate. Diese Art von Aufmerksamkeit wollte er ganz sicher nicht. Er hatte nie Aufmerksamkeit gewollt.

Und jetzt das.

Alle schauten zu, wie er aus dem Baum fiel und dann auch noch einen Anschiss bekam. Sogar die, die eigentlich genug zu tun hatten mit den ihnen übertragenen Aufgaben, standen da und schauten zu. Ausgeschimpft wurde aber nur Jura.

»Olga Leonidowna, bitte verzeihen Sie ihm dieses eine Mal«, flehte Irina. »Jura ist ein guter Junge, er ist erwachsen geworden und hat sich seit dem letzten Jahr gebessert, nicht wahr, Jura? Er kann doch nichts dafür. Die Leiter ist tatsächlich wackelig. Wir müssten ihn eigentlich zur Krankenstation bringen …«

»Irina, jetzt reicht es aber! Du solltest dich schämen, mir, einer Kommunistin mit dreizehnjähriger Erfahrung in Kinderbetreuung, geradewegs ins Gesicht zu lügen.«

»Verzeihung, ich …«

»Genauso wie du habe ich gesehen, dass Konew von der Leiter auf den Ast gestiegen ist. Du bekommst einen Vermerk in der Akte! Das wird dich lehren, keine Saboteure zu decken.«

»Ach kommen Sie, Olga Leonidowna, das war doch keine Sabotage.«

»Reicht dir ein Vermerk nicht? Soll ich etwa nachlegen und einen Verweis draus machen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber Jura ist noch ein Kind. Er strotzt nur so vor Energie, die eben in richtige Bahnen gelenkt werden muss.«

»Ein Kind? Als ob! Er ist eins achtzig groß.«

Seine Körpergröße betreffend, hatte sie natürlich übertrieben. So Gott wollte, würde er Olga Leonidowna irgendwann überholen, aber in der Sowjetunion gab es keinen Gott. »Ein Meter fünfundsiebzig«, hatte die medizinische Kommission verkündet.

»Er ist ein kreativer Junge. Er braucht einen Zirkel, in den er sich einbringen kann«, flehte Irina Petrowna die stellvertretende Lagerleiterin an. »Wir bieten doch unterschiedlichste Sportaktivitäten an. Jura, vielleicht wäre ja da etwas für dich dabei? Oder die Theaterbrigade? Wolodja fehlen noch ein paar Jungs. Bitte geben Sie ihm eine Chance, Olga Leonidowna. Auf meine Verantwortung.«

»Auf deine Verantwortung?« Die stellvertretende Lagerleiterin grinste höhnisch. »In Ordnung … Auf deine Verantwortung, bis zur ersten Verwarnung.« Sie blickte Jura an. »Beim nächsten Vergehen werdet ihr beide euch verantworten müssen. Ja genau, du hast richtig gehört. Für deine Verfehlungen wird ab jetzt auch Irina bestraft werden. Vielleicht hält dich das ja in Schach. Wolodja!«, rief sie, woraufhin der Gerufene verängstigt einen Schritt aus der Menge hervortrat.

»Olga Leonidowna?«

»Begrüß deinen neuen Schauspieler. Und damit ihm nicht langweilig wird, kannst du Konews Aufgabenbereich gern nach Gutdünken erweitern. Über seine Fortschritte ist täglich zu berichten.«

»Wird gemacht, Olga Leonidowna. Konew … Jura, nicht wahr? Die erste Probe findet gleich um sechzehn Uhr im Theatersaal statt. Sei bitte pünktlich.«

Sei bitte pünktlich, äffte ihn Jura in Gedanken nach, obwohl er Wolodjas tiefe Stimme mochte, aber dass Wolodja immer so streng sein musste, fand er ein wenig nervig. »Alles klar, ich werde pünktlich sein«, sagte er.

Wolodja nickte zufrieden und ging weg, rief im Vorbeigehen mit strenger Stimme ein paar Kindern zu: »He, was macht ihr da? Das sind die Kabel von der Lichtorgel!«

Jura drehte sich um. Die Tanzfläche brummte wie ein aufgestörter Bienenstock. Die Pioniere waren wieder alle damit beschäftigt, etwas aufzuhängen, zu reparieren oder anzustreichen, zu putzen oder auch den Boden zu fegen. Und hinter Jura wurden Seile gespannt, um ein Banner aufzuhängen. Hausmeister Pjotr Iljitsch gab mit lauter Stimme das Kommando: »Und zieht!« Die Seile schnellten knarrend nach oben, und über Juras Kopf breitete sich ein breiter scharlachroter Stoffstreifen mit schneeweißer Schrift aus.

Jura zog an dem ausgefransten Rand seines Pionierhalstuchs und murmelte verächtlich: »Halt dein Pionierhalstuch in Ehren. Denn es ist Teil der roten Fahne.«

KAPITEL 2 Durcheinander

Der Wind trieb von der Baustelle den Gestank verbrannten Maschinenöls heran. Hinzu kam der Regen, der erst nur leicht vor sich hin getröpfelt hatte, nun aber immer stärker wurde. Jura machte sich unverzüglich auf den Weg zum Theatergebäude, das sich hinter der Freilichtbühne befand. Das hohe Holzgebäude war erstaunlich gut erhalten. Nur die großen Fenster klafften als Löcher in ihren Rahmen.

Die Außentreppe knarrte wie vor zwanzig Jahren. Wie am ersten Abend ihrer Bekanntschaft. Wie magisch sind doch die Geräusche aus der Kindheit in der Erinnerung. Wenn er nur auch das Klavier hören könnte – Tschaikowskis liebevolles, tiefgründiges Wiegenlied, das Leitmotiv jenes Sommers.

In den Fensterhöhlen wehten große löchrige Vorhänge. Die mit Filz gedämmte Tür war herausgeschlagen worden, und durch den Türrahmen drang Tageslicht in den halbdunklen Saal, strich über die Rückenlehnen der grünen Zuschauersessel und fiel auf eine kahle Wand, von der die Farbe abblätterte, erhellte den mit Dreck bedeckten Boden.

Auf der linken Seite der Bühne, wo Wolodja an diesem unvergesslichen Tag gesessen hatte, wuchs nun ein kleines Bäumchen, ringsherum lagen einzelne Dielenstücke. Die schlanke, junge Birke hatte die morschen Bretter aufgebrochen und streckte sich dem Licht entgegen, unterstrich die zeitlose Einsamkeit der Umgebung.

Jura trat auf die zerborstenen Dielen und näherte sich der Birke. Als er ihre staubigen Blätter berührte, wünschte er, er könnte hier bis zum Anbruch der Dunkelheit bleiben, die Birke betrachten und warten, bis in seiner Imagination sich der schwere Vorhang lüften und die Schauspieler die Bühne betreten würden. Er lehnte die Schaufel an die Wand und ließ sich in einen alten Zuschauersessel sinken, der sich knarrend widersetzte. Jura lächelte, als er sich daran erinnerte, wie der Boden am Tag der ersten Probe unter seinen Füßen geknarzt hatte, als er den Saal betreten hatte.

»Aber Irina Petrowna, was soll ich denn im Theater?!« Juras Laune war auf dem Tiefpunkt. Kein Wunder, schließlich war er vor einer ziemlichen Menschenmenge ausgeschimpft und lächerlich gemacht worden. Zum Teufel mit dieser Olga Leonidowna. Jura kochte vor Wut, war gekränkt und versuchte, einen Vorwand zu finden, um nicht zur Probe zu gehen. Aber es gab kein Entkommen, er musste dringend seine schlechte Laune in den Griff bekommen, wusste er doch nur zu gut, dass Irina Petrowna den Kopf für ihn hinhielt und er sie nicht hängen lassen durfte.

Doch seine Wut ließ nicht nach. Am liebsten hätte er beim Hereinkommen die Tür hinter sich zugeschlagen, um allen zu demonstrieren, was er von dieser dummen Amateuraufführung hielt. Doch dann blieb er wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen.

Wolodja war allein. Er saß am äußersten linken Rand der Bühne auf dem Boden, las in seinem Notizheft und aß eine Birne. Neben ihm stand ein Kofferradio und übertrug unter Knarren und Zischen Pachelbels Kanon. Wolodja legte sein Heft auf den Schoß und drehte an der Antenne herum.

Der Gruppenleiter biss in die Birne, kaute nachdenklich und schüttelte unvermittelt den Kopf – irgendetwas im Text missfiel ihm wohl. Seine Brille rutschte ihm bis zur Nasenspitze hinunter.

Kein Wunder, auf dieser geraden Nase, konstatierte Jura und hustete versehentlich. Er hätte gerne noch länger dagestanden, ihn bestaunt und beneidet – nicht um seine Nase natürlich, sondern um die Birne – Juras Lieblingsobst. Wolodja hob den Kopf, warf das Notizbuch zur Seite und rückte seine Brille vorsichtig zurecht.

»Na, schon zurück?«

Jura nickte. »Wo werden denn Birnen verteilt? Im Speisesaal gab es keine.«

»War ein Geschenk.«

»Von wem?«, fragt Jura prompt. Vielleicht war er mit der Person bekannt und konnte sie um eine Birne anschnorren.

»Mascha Sidorowa. Sie spielt für uns Klavier und kommt gleich. Willst du?«

Jura schüttelte den Kopf. »Und, was soll ich hier machen?«, erkundigte er sich, stieg auf die Bühne und verschränkte trotzig die Arme.

»Du kommst gleich zur Sache, was? Gute Einstellung, gefällt mir. Stimmt, was sollst du machen?« Wolodja richtete sich auf und starrte nachdenklich an die Decke. »Ich habe das Stück gerade noch mal gelesen und wollte dir eine Rolle zuteilen, aber stell dir vor – es gibt keine Rolle für einen so großen Kerl wie dich.«

»Was heißt, es gibt keine? Gar keine?«

»Gar keine.«

»Vielleicht als Baum oder Wolf? In jedem Kindertheaterstück gibt es einen Wolf oder einen Baum.«

Wolodja grinste. »Ein Waffenversteck in einem hohlen Baum kommt tatsächlich vor, aber das ist eine Requisite, keine Rolle.«

»Einen umgestürzten Baumstamm würde ich ganz sicher herausragend darstellen. Soll ich mal vormachen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sich Jura flach auf den Boden. »Und, was denkst du?«, fragte er, setzte sich auf und blickte herausfordernd zu Wolodja auf.

»Ich glaube, du hast da was nicht verstanden. Wir führen hier keine Komödie auf, sondern ein Drama. Sogar eine Tragödie. Dieses Jahr feiern wir nämlich den dreißigsten Jahrestag der Gründung des Lagers. Olga Leonidowna hat darüber beim Appell gesprochen.«

»Hab ich gehört«, bestätigte Jura.

»Na also. Die Tatsache, dass das Lager den Namen der Pionierheldin Sina Portnowa trägt, dürfte dir bekannt sein. Dass die erste Theateraufführung damals ein Stück über das Leben Portnowas war, weißt du aber bestimmt noch nicht. Und genau dieses Stück werden wir anlässlich des Lagerjubiläums aufführen. Den Baumstamm, Jura, kannst du dir also für das nächste Mal aufheben.«

»Aha.« Jura verzog sein Gesicht. »Wie langweilig.«

Wolodja sah ihn prüfend an und erwiderte schließlich: »Nein, langweilig wird es nicht. Für dich jedenfalls nicht. Weil ich keine Rolle für dich finden konnte, wirst du mir mit den Schauspielern helfen. Wir haben hier außer mir nur einen Erwachsenen …«

Jura verdrehte die Augen. »Außer dir? Wie alt bist du denn? Siebzehn? Du bist Studienanfänger, nur ein Jahr älter als ich.«

Wolodja räusperte sich, richtete seine Brille und sagte leise: »Neunzehn. Zumindest fast. Werde ich im November.« Dann trat er an Jura heran und fügte hinzu: »Und an deiner Stelle wäre ich nicht so aufsässig, Konew, du sprichst immerhin mit einem Gruppenleiter.«

Jura sah Wolodjas Unsicherheit und gab nach. »Verstehe, wer ist denn die zweite erwachsene Person?«

»Mascha«, antwortete Wolodja. »Sie ist übrigens in deiner Gruppe. Mit den Mädchen ist es leicht, die sind grundsätzlich brav. Die Jungs dagegen sind schwer zu bändigen. Für die brauchen wir eine Autoritätsperson. Das wärst du dann.«

»Pff, soll Mascha auf sie aufpassen. Ich spiel doch hier nicht die Mama.«

»Ich sage ja, Mascha schafft das nicht. Die Jungs brauchen eine Autoritätsperson. Ich habe keine Zeit, um …«

»Und warum soll ich diese Aufgabe übernehmen?«

»Weil du keine andere Wahl hast.«

»Wieso denn das?«

»Weil die Lagerleitung dich auf dem Kieker hat. Wenn du noch einmal Mist baust, fliegst du. Ich meine es ernst. Hast du überhaupt eine Ahnung, was für Ärger Irina heute wegen der Lichterkette bekommen hat? Und ich soll dir übrigens von Olga Leonidowna ausrichten, dass das die letzte Verwarnung war.«

»Erst setzt Irina und du euch mal kurz für mich ein, und dann erpresst ihr mich?«, platzte Jura wütend heraus.

»Niemand erpresst dich. Ordne dich unter, gehorch der Lagerleitung und pack mit an.«

»Ich soll mich unterordnen?« Er war gerade erst angekommen, und schon wurde er angegriffen, beschuldigt und beschimpft.

»Was denkt ihr, wer ihr seid? Scheiß auf dein Theaterstück. Ich mache so ein Theater, dass ihr euch noch wundert!«

»Nur zu«, sagte Wolodja kalt. »Die schmeißen dich raus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Aber wer wird dafür bestraft? Du? Nein, ich! Keine Ahnung, warum du der Lagerleitung ein Dorn im Auge bist. Aber es wird schon seinen Grund haben.«

»Ich habe nichts Schlimmes getan!«, platzte Jura heraus. »Das war nur ein Zufall, die Teller und die Lichterkette … Ich wollte das nicht! Und Irina wollte ich schon gar nicht in Schwierigkeiten bringen, die ist eine gute Gruppenleiterin …«

»Ich glaube dir.« Wolodja nickte ihm zu. »Aber du hast einen verdammt schlechten Ruf, Jura Konew. Die Schlägerei im vergangenen Jahr war nicht unbedingt hilfreich. Gib der Leonidowna nur einen Grund, und sie wird dich rauswerfen. Also komm, sei ein Mann. Irina ist für dich eingestanden und jetzt auch ich. Enttäusch uns nicht.«

Auf der rechten Seite der Bühne stand ein Klavier mit einer Büste auf dem Deckel. Vor lauter Frust wollte Jura am liebsten den Leninkopf auf den Boden werfen, doch er versuchte, sich zu beruhigen und durchzuatmen. Er trat an Lenin heran, stützte sich auf, legte seine Stirn an die kalte Glatze und blickte Wolodja traurig an.

»Wenn du ach so ehrlich bist, kannst du mir auch sagen, ob du mir keine Rolle gibst, damit ich keinen Ärger machen kann?«

»Unsinn! Es gibt wirklich keine Rolle für dich. Unsere Jungs sind alle klein. Neben ihnen würdest du wie ein Riese unter Zwergen erscheinen. Und Riesen kommen in unserem Stück nun mal nicht vor.« Er lächelte. »Sag mir mal, worin deine Stärken liegen, vielleicht finde ich eine Aufgabe für dich. Kannst du singen oder tanzen? Oder irgendein Instrument spielen?«

Jura blickte zum Klavier und verspürte ein Stechen in der Brust. Er starrte zu Boden. »Ich habe keine Stärken und möchte auch keine haben.« Ihm war bewusst, dass er gerade nicht nur Wolodja, sondern auch sich selbst belog.

»Alles klar. Dann wirst mir eben wirklich mit der Rasselbande unter die Arme greifen, an deiner Disziplin arbeiten und deinen Ruf wiederherstellen.«

Damit vertiefte Wolodja sich wieder in sein Heft. Inzwischen kamen nach und nach die Schauspieler in den Theatersaal, allen voran Mascha Sidorowa. Sie lächelte Wolodja zu, würdigte Jura keines Blickes und setzte sich in ihrem Faltenrock ans Klavier. Jura musterte sie. Seit dem vergangenen Jahr hatte sich Mascha verändert. Sie war gewachsen, hatte abgenommen, Haare bis zu den Hüften und bewegte sich ganz wie eine Erwachsene. Da saß sie nun, mit geradem Rücken und langen braun gebrannten Beinen.

»Ludwig van Beethoven«, verkündete sie würdevoll. »Klaviersonate Nummer vierzehn in cis-Moll, Opus siebenundzwanzig.« Sie warf die Haare zurück und legte die Finger auf die Tasten.

Jura verzog das Gesicht. Die Mondscheinsonate? Hätte sie sich nicht etwas Originelleres einfallen lassen können? Er war ein bisschen eifersüchtig. Denn nicht ihm, sondern Wolodja warf sie schüchterne Blicke zu. Wolodja wurde derweil von Kindern, die ihm alle sehr laut etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen hatten, umzingelt. Polina, Uljana und Ksjuscha kamen herein. Die drei Freundinnen waren eine lebendige Verkörperung der drei Affen: Ich seh nichts, ich hör nichts, ich sag nichts, nur umgekehrt: Sie sahen alles, lauschten immerzu und tratschten. Jetzt schwebten sie anmutig auf die Bühne. Sie waren aufgetakelt, trugen alle drei den gleichen Lippenstift und den gleichen Duft – das polnische Parfüm Być może. Jura kannte den Duft, weil die halbe Sowjetunion ihn trug.

Im ersten Moment dachte er, dass Wolodja ihn über die einzigen zwei Erwachsenen in der Theaterbrigade angelogen hatte. Doch als Jura das nervöse Schwitzen des Regisseurs bemerkte, begriff er, dass dieser selbst überrascht war, dass die drei hier auftauchten, zumal Polina sich gerade frech bei ihm einhakte.

»Wolodja, wollen wir nicht etwas Modernes aufführen? Ich kenne da ein sehr interessantes Theaterstück über die Liebe und könnte übrigens auch spielen …«

»Mädels, wisst ihr etwa nicht, dass das Vorsprechen längst vorbei ist?«, mischte sich Mascha ein. »Ihr müsst gehen, ihr seid zu spät dran.«

»Nicht so schlimm«, stammelte Wolodja verlegen und errötete. Kein Wunder, bei so vielen Schönheiten um ihn herum, die ihn alle anhimmelten … Da würde selbst Jura in Verlegenheit geraten. »Für euch werden wir schon eine Rolle finden. Eine Frusa Senkowa fehlt uns zum Beispiel noch …«

»Die bekommen Rollen, und ich soll den Aufpasser spielen?!« Juras Protest blieb unbeachtet.

»Kann ich die Kostüme übernehmen?«, quiekte Ksjuscha. »Ich werde euch schöne Kleider nähen.«

»Schöne Kleider für Kriegsszenen?«, empörte sich Jura.

»Das Stück spielt im Krieg?«, fragte Ksjuscha sichtlich enttäuscht. »Ach sooo …«

»Ja«, sagte Jura. »Natürlich, es handelt ja von der Partisanin Sina Portnowa. Da will sie bei einem Stück mitmachen und weiß nicht einmal, worum es geht … Wolodja! Warum muss ich den Aufpasser spielen?«

»Wolodja, lass uns doch lieber etwas Modernes machen.« Polina gab nicht auf. »Juno und Avos zum Beispiel.«

Mascha war vom Klavierhocker aufgestanden und schrie ihre Konkurrentinnen an, sie sollten aufhören, Jura schrie, dass er nicht den Aufpasser spielen wolle, die Kinder schrien etwas anderes, und Wolodja rief, dass sie still sein sollten. Aber niemand hörte ihn.

»Leute, es reicht!«, brüllte er schließlich. Schlagartig wurde es still. Alle erstarrten, nur so ein kleiner Angeber kreiselte am Rand der Bühne entlang, die ungefähr einen Meter hoch war, um vorzumachen, wie der Zug einfuhr.

Wums!

»Au-a-a! Mein Bein!«

Wolodja sprang von der Bühne, lief hilflos um den Verletzten herum. Trotz seines Ärgers auf Wolodja eilte Jura ihm zu Hilfe. Er schob die gaffenden Schauspieler beiseite und kniete sich neben Sascha. Sein Vater hatte ihm tausendmal gezeigt, wie man das machte. Und so begutachtete er den zerkratzten Fußknöchel und das aufgeschürfte Knie und schlussfolgerte in Expertenmanier, dass der Patient zur Krankenstation gebracht werden müsse. Eine Krankentrage sei aber nicht notwendig, attestierte er.

Wolodja versuchte, den Verletzten hochzuziehen. Dieser weinte jedoch und weigerte sich kategorisch, auf seinem gesunden Bein zu stehen.

»Jura, hilf mir. Stell dich auf seine linke Seite«, keuchte Wolodja.

Der kleine Sascha zappelte. »Mama! Maamaaa!«, jaulte er.

»Komm schon, heben wir ihn hoch. Und eins!«, befahl Jura eifrig und versuchte mit aller Kraft, den Anschein aufrechtzuerhalten, dass er sich bei seinem Sturz vom Apfelbaum nicht verletzt und keine Schmerzen hatte.

»Mascha, du hältst hier die Stellung«, befahl Wolodja.

Mascha blickte ihre Konkurrentinnen triumphierend an.

»Darf ich mich um die Kostüme kümmern?«, wiederholte Ksjuscha in all ihrer Dreistigkeit.

»Darfst du, darfst du«, antwortete Wolodja gereizt und instruierte alle: »Macht euch mit dem Text des Stückes vertraut, ich komme später wieder und … Mensch, Sascha, ich verstehe ja, dass du Schmerzen hast, aber hör auf, mir ins Ohr zu schreien.«

Sie brauchten lange zur Krankenstation. Sascha jammerte, Jura schwieg und spürte unangenehm sein geprelltes Steißbein, während Wolodja auf den Verwundeten einredete.

»Sascha, halt noch ein bisschen durch, wir sind bald da.«

Die Krankenschwester kam heraus und wuselte gackernd um den Patienten herum. Jura beschloss, draußen zu warten. Nicht dass Larisa Sergejewna ihn am Ende noch vor Publikum fragte, ob die Salbe für seinen Steiß geholfen habe, und Wolodja von seiner peinlichen Verletzung erfuhr. Aber er wollte schon wissen, ob sich seine Diagnose bestätigen würde – ziemliche Blödheit, aber kaum Prellungen, keine Verstauchungen oder Zerrungen – also ging er nicht weg.

In der Nähe der Krankenstation stand im Schutz eines blühenden Rosenbusches eine Bank. Jura legte sich darauf, blickte zum Himmel und atmete die frische Luft und den Blumenduft tief ein. Er fühlte sich gut und begriff erst jetzt, wie stickig es im Theatersaal gewesen war.

Nach zehn Minuten kam Wolodja heraus, schob Juras Beine beiseite und ließ sich neben ihn auf die Bank fallen. Er seufzte schwer.

»Und, wie geht es ihm? Kommt er durch?«, fragte Jura träge.

»Er hat ein aufgeschürftes Knie und ein paar blaue Flecken, nichts Ernstes. Warum hat er dann so laut gejault?«

»Wie, warum?« Jura hob den Kopf, blieb jedoch liegen. »Heute ist doch das Vorsprechen. Scheinbar wollte er all seine Talente auf einmal demonstrieren. So eine großartige Stimme, und du gibst ihr keine Bühne.«

Wolodja lächelte, und Jura freute sich und war geschmeichelt. Doch das Lächeln verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war.

»Ich habe das alles so satt.« Wolodja rieb sich die Schläfen.

»Was hast du satt? Leute herumzukommandieren?«

»Heute ist erst der erste Tag, und ich habe schon alles satt: auf die Kinder aufzupassen, mich vor der Lagerleitung für jede Kleinigkeit zu rechtfertigen und eine Standpauke zu bekommen, auch für jede Kleinigkeit! Und jetzt wurde mir auch noch dieses Theaterstück aufgebrummt … Und zu allem Überfluss hab ich ein verletztes Kind in meiner Gruppe.«

»Warum bist du überhaupt mitgefahren? Wusstest du nicht, dass es anstrengend wird?«

»Das wusste ich schon, ich dachte nur nicht, dass es so anstrengend wird. Als ich als Pionier ins Lager gefahren bin, hatte ich immer den Eindruck, dass das leicht ist. Wie schwer kann es schon sein, auf Kinder aufzupassen! Man wird bezahlt und bekommt einen positiven Vermerk in der Akte – für den Parteieintritt. Doch in Wirklichkeit ist alles anders.« Wolodja rutschte näher an Jura heran und beugte sich über ihn. »Sie haben mir die jüngste Gruppe aufgebrummt, mit der Begründung, dass es mit den Kleinen am leichtesten wäre. Aber das stimmt nicht, im Gegenteil. Ich zähle die Zwerge dreimal pro Stunde durch, sie sind wie ein Sack Flöhe, rennen vor mir und der zweiten Gruppenleiterin weg und hören nicht auf uns. Was soll ich tun, sie anschreien?«

»Warum nicht, wenn neuerdings sogar die Lagerleitung rumschreit? Olga Leonidowna ist schließlich eine echte Pädagogin.« Jura schaute finster drein.

»Das hätte sie natürlich nicht tun sollen«, stimmte Wolodja ihm zu. »Sie hat uns eindringlich ermahnt, unsere Stimme einem Kind gegenüber nie zu erheben. Und wenn man jemanden schon ausschimpfen muss, dann nicht ihn selbst, sondern sein Vergehen. Und das Allerwichtigste – nie vor anderen.«

»Das hat sie gesagt?« Jura lachte auf.

»Hat sie. Aber das war vor der gestrigen Inspektion, bei der etliche Verstöße und Mängel aufgedeckt worden sind. Und rate mal, wem wir die Inspektion zu verdanken hatten …«

»Mir etwa? Als ob!«, sagte Jura ungläubig.

»Wer hatte denn letztes Jahr die Idee, eine Schlägerei anzufangen? Du kannst froh sein, dass nicht die Miliz gerufen wurde.« Wolodja warf ihm einen strengen Blick zu. Doch dann fiel sein Blick auf das grüne Sanitätshäuschen, und er sackte in sich zusammen. Anscheinend stürzte ihn die bloße Erinnerung an den verletzten Sascha augenblicklich wieder in einen Strudel aus Sorgen und Befürchtungen. Als Wolodja erneut zu sprechen begann, klang seine Stimme heiser und leblos: »Ich soll morgen mit meiner Gruppe an den Fluss. Natürlich nicht allein. Eine zweite Gruppenleiterin kommt mit, Lena, sie hat ein wenig mehr Erfahrung, außerdem ein Rettungsschwimmer. Aber ich habe trotzdem eine Heidenangst, Lena auch. Sie hat erzählt, dass im letzten Jahr ein Mädchen im Fluss ertrunken ist. Am helllichten Tag, vor den Augen der Gruppenleiter. Heute haben wir es nicht an den Fluss geschafft, aber morgen ist es dann ganz sicher so weit. Wenn es nach mir ginge, würde ich niemanden auch nur in die Nähe des Wassers lassen.«

Jura erschauderte. Er hatte von Unfällen in den vergangenen Jahren gehört. »Lass den Kopf nicht hängen«, sagte er. »Die Ferien haben doch gerade erst begonnen, du wirst schon reinkommen. Wart’s ab, das mit den Zwergen macht dir bald Spaß.«

»Ich bin ehrlich gesagt nicht wegen Spaß hier, sondern wegen des Gehalts und einem positiven Vermerk in der Akte, der mir am Ende den Parteieintritt ermöglicht.«

»Wozu musst du denn in die Partei?!«, platzte Jura heraus.

Wolodja zuckte mit den Schultern. »Als ob du das nicht weißt. Ohne Parteibuch ist es unmöglich, eine gute Arbeit zu finden oder zu reisen. Unser politisches System ist nicht perfekt, in manchen Aspekten veraltet.«

»Wie bitte?« Jura runzelte verwundert die Stirn. Wolodja wirkte wie ein Systemtreuer. Doch nun stellte sich heraus, dass er es als überflüssig und veraltet empfand …

»Das bleibt aber unter uns, in Ordnung? Zwar leben wir nicht mehr unter Stalin, aber trotzdem ist solche Kritik nicht ungefährlich …«

»Abgemacht, das bleibt unter uns«, entgegnete Jura.

»Wahrscheinlich ist jeder denkende Mensch bei uns im Land unzufrieden, dass wir immer noch so leben wie vor fünfzig Jahren: Pioniertum, Komsomol, Partei. Ich bin nicht blind, aber es ist nun mal, wie es ist, da lässt sich nichts machen.«

»Da muss ich dir widersprechen.« Jura richtete sich auf, sein Steißbein tat bei der Bewegung höllisch weh. »Es lässt sich immer was machen.«

Wolodja lächelte herablassend, aber Jura freute sich aus irgendeinem Grund trotzdem.

»Konew, du bist aber auch mit vielem nicht einverstanden. Immer auf Abwehr – so kann man auch nicht leben. Es ist einfacher, das zu tun, was von einem verlangt wird: in den Komsomol einzutreten und dann in die Partei, ganz egal was du von ihr hältst. Sich aufzulehnen und das Unzerstörbare zerstören zu wollen, das bringt tatsächlich gar nichts.«

»Wenn du magst, kann ich dir ja helfen«, platzte Jura heraus.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, mit den Kleinen … Dann passe ich nicht nur auf deine Schauspieler auf, sondern auch auf deine Pioniergruppe. Wenn du magst, kann ich morgen zum Beispiel mit an den Fluss kommen …« Jura stockte in Verwunderung über seinen übermäßigen Eifer. »Du scheinst ja ein bisschen Schiss zu haben …«, erklärte er verlegen.

»Das würdest du tun? Das wäre wunderbar!« Wolodja riss die Arme hoch. »Aber warum sprechen wir überhaupt die ganze Zeit über mich und meine Probleme? Erzähl mal was von dir.«

Doch Jura kam nicht dazu. Ein lautstarkes Heulen aus dem Lautsprecher über ihnen unterbrach das Gespräch. Es waren nicht die Trompeten von Jericho, sondern ein Hornsignal, das alle zum Abendessen rief. Und die Erde erbebte auch nicht vom Fall der Stadtmauer, sondern vom Stampfen der Pioniere. Wie die Generäle schrien die Gruppenleiter ihren Soldaten zu: »In Zweierkolonne aufstellen! Vorwärts marsch!« Das Lagerleben war wieder in vollem Gange.

Wolodja war längst losgerannt, um seine Gruppe zu versammeln und sie in den Speisesaal zu führen, als Jura ächzend aufstand und zur Krankenstation ging, damit Larisa Sergejewna ihm noch einmal die Salbe auftrug. Immerhin würde er am nächsten Tag in Badehose unterwegs sein.

Jura wusste, dass auch die erste Gruppe am nächsten Tag am Fluss sein würde, aber er dachte nicht an seine, sondern an die fünfte Gruppe. Genauer gesagt an ihren Leiter.

KAPITEL 3 Vogelscheuche

Den Morgen in der Schwalbe mochte Jura besonders gerne. Doch nur, solange er nicht gezwungen war, unter seiner Decke hervorzukriechen und sich in den Jungswaschraum zu schleppen. Alles war perfekt: Die Vögel zwitscherten, die Bäume raschelten, und das Lager lag verschlafen da. Doch dann wurde über den Lagerfunk von einer Schallplatte das Signal fürs Aufstehen gesendet – nicht der Schrei der Sünder aus der Hölle, wie es ihm immer vorkam, sondern auch wieder ein Hornsignal.

Ungeachtet der Tageshitze kühlte die waldige Gegend über Nacht stark aus, und zur Aufstehzeit war das Lager von Tau und Nebel überzogen, die besonders spürbar waren, wenn man gezwungen war, das warme Gebäude zu verlassen. Für den Waschgang mussten selbst abgehärtete Jungs viel Mut aufbringen, denn aus dem Wasserhahn kam eiskaltes Quellwasser, das einem die Zähne klappern ließ. Doch das Ganze hatte einen unbestreitbaren Vorteil: Nach der morgendlichen Katzenwäsche war die Müdigkeit wie weggeblasen.

In der Tür des Waschraums fing Irina Petrowna ihn ab. Sie war offensichtlich verärgert, aber wieso nur? Vergeblich versuchte er zu verstehen, was er nun schon wieder verbrochen haben sollte. Er war doch gerade eben erst aufgestanden.

»Irina Petrowna? Guten Morgen!«

Sie verdrehte die Augen. »Warum hast du gestern Fliederzweige abgebrochen?«

Jura starrte sie erstaunt an: »Was für Fliederzweige?«

»Von dem Busch hinter den Baracken.«

»Den hab ich nicht angerührt, Irina Petrowna!«

»Was du nicht sagst! Und wer ist es dann gewesen?« Sie musterte ihn misstrauisch.

»Ich weiß es ni…«

»Du bist gestern zu spät zum Abendessen erschienen, und danach habe ich neben dem Eingang Blätter und Blüten entdeckt. Und auf Polinas Nachttisch steht ein Blumenstrauß. Du brichst doch nicht zum ersten Mal Fliederzweige ab.«

»Warum muss das denn schon wieder ich gewesen sein? Polina kann sich auch selbst Blumen gepflückt haben.« Schon wieder wurde er beschuldigt, das schien hier allmählich zur Gewohnheit zu werden. Er runzelte die Stirn und versuchte herauszufinden, wie viel Ärger er für dieses Vergehen bekommen würde, für das er nicht verantwortlich war.

»Irina, er war es wirklich nicht.«

Wolodja trat zu ihnen. »Jura war gestern im Theater und hat mir anschließend geholfen, einen Jungen zur Krankenstation zu bringen. Deshalb ist er zu spät zum Abendessen gekommen. Deinen Flieder hat also jemand anderes auf dem Gewissen.«

Irina Petrowna zögerte, schaute Jura verwundert an und wandte sich Wolodja zu. »Er hat dir geholfen?«

»Du hast doch vorhin bei der Morgenbesprechung gehört, dass es gestern bei mir einen Unfall gegeben hat. Sascha ist von der Bühne gestürzt, und Jura hat mir seine Hilfe angeboten«, beteuerte Wolodja, und Irina hatte keine andere Wahl, als ihm zu glauben. Jura atmete auf und blickte Wolodja mit grenzenloser Dankbarkeit an. Wie rechtzeitig er doch aufgetaucht war!

»Ich kann mich nicht erinnern, dass das bei der Besprechung vorkam. Aber wie dem auch sei, wenn du tatsächlich geholfen hast, dann gut gemacht. Ich gehe mal zu den Mädchen und finde raus, wo sie den Flieder herhaben.«

»Hätte man nicht gleich zu ihnen gehen können?«, brummelte Jura unzufrieden.

Die Gruppenleiterin strich ihm lediglich durch die Haare und stolzierte davon.

»Danke.« Jura wandte sich Wolodja zu. »Ich dachte schon, das war’s, jetzt muss ich nach Hause.«

»Keine Ursache. Scheinbar hat Olga Leonidowna es bereits geschafft, Irina einzubläuen, dass du immer Schuld hast.«

»Wieso bist du hier, deine Gruppe ist doch schon fertig?«

»Ich wollte dir Bescheid geben, dass wir gegen zehn Uhr an den Fluss gehen. Du hattest doch gestern deine Hilfe angeboten …«

Er wurde von der plötzlichen Rückkehr Irina Petrownas unterbrochen: »Jura, schnapp dir nach dem Frühstück Mitja aus der zweiten Gruppe. Du kennst ihn doch, oder? Überprüft gemeinsam die Matratzen. Einige Kinder haben sich beschwert, dass sie feucht sind. Räumt die unbrauchbaren Matratzen ins Lager, und ich bitte jemanden, zur Mittagsruhe neue reinzubringen.«

Jura stöhnte. »Haben Sie vielen Dank, Irina Petrowna, dass Sie mich wenigstens tagsüber nicht hinter den Pflug spannen.«

»Red keinen Unsinn, sonst …« Sie sprach nicht zu Ende, weil gerade Ksjuscha die Baracke verließ. »Ksjuscha, warte, ich habe eine Frage an dich …«

»Jetzt bekommt jemand Ärger«, Jura grinste.

Wolodja seufzte: »Dann schaffst du es wohl nicht an den Strand?«

Jura zuckte mit den Schultern. »Ich beeile mich.«

Auf dem Weg zur Baracke schüttelte er Wanja und Mischa, die auf der Bank neben dem Eingang abhingen, die Hand, nickte Mascha zu, wollte hineingehen, blieb jedoch wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Neben der Tür hing eine große Wandzeitung, die dem Beginn der Ferien und dem ersten Pionierlagertag gewidmet war. Seine Laune verschlechterte sich, als ihm ein öffentlicher Tadel in Form einer Karikatur ins Auge stach.

Ein Apfelbaum war da nämlich aufgemalt, kopfüber hing Jura daran und ruderte mit Armen und Beinen, sein Knöchel hatte sich in einer an einem Ast befestigten Lichterkette verfangen. Sein Gesicht war eher eine Fratze: breit wie die eines Schweines, mit aufgerissenem Maul und fehlendem Schneidezahn. Dabei waren Juras Zähne doch vollständig, mehr noch, in ausgezeichnetem Zustand. Unangenehm, so etwas. Auch wenn das Bild lustig und er inzwischen erwachsen war und solche Methoden eigentlich ihre Wirksamkeit hätten verloren haben sollen, so war er dennoch verletzt. Aus Gewohnheit vielleicht und vielleicht auch, weil er nun gewissermaßen den ganzen Tag mit dieser Schweinsvisage durch das Lager stolzieren musste. Alle schauten die Wandzeitung an, alle sahen es.

Auch der leckere Quarkauflauf zum Frühstück konnte das unangenehme Gefühl nicht beseitigen. Und bevor er sich an die Überprüfung der Matratzen machte, fragte er den Gruppenratsvorsitzenden, wer das Bild gemalt hatte. Es war Ksjuscha, eine aus dem infernalischen Mädchentrio. Und Jura hatte natürlich nicht vor, sich zu rächen, würde es aber im Hinterkopf behalten.