Du und ich und die Schwalben - Katerina Silwanowa - E-Book

Du und ich und die Schwalben E-Book

Katerina Silwanowa

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Beschreibung

Kann die Liebe alle Wunden heilen, die das Leben verursacht hat?

Ihre erste Liebe in einem Ferienlager begann und endete mit einem unvergesslichen Kuss. Doch ihren Gefühlen weiter nachzugeben, hätte große Gefahr für Jura und Wolodja bedeutet, und so mussten sie sich am Ende eines traumgleichen Sommers trennen. Nun, zwanzig Jahre später, haben sich die beiden jungen Männer endlich wiedergefunden. Während Jura glücklich darüber ist, seiner Jugendliebe wieder nahe zu sein, hadert Wolodja allerdings mit seinen Gefühlen. Zu viel Schlimmes ist in all den Jahren passiert. Zu viel, das ihn bis heute verfolgt und daran hindert, sich so zu akzeptieren, wie er ist. Gibt es trotz allem eine Chance für ihre Liebe?

Sensibel und berührend erzählt das russisch-ukrainische Autorenduo von einer besonderen Liebesgeschichte in einem Land, in dem »Anderssein« bis heute unter Strafe steht.

Die »Jura und Wolodja«-Reihe:
Du und ich und der Sommer
Du und ich und die Schwalben
Du und ich und für immer

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 636

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Ihre erste Liebe in einem Ferienlager begann und endete mit einem unvergesslichen Kuss. Doch ihren Gefühlen weiter nachzugeben, hätte große Gefahr für Jura und Wolodja bedeutet, und so mussten sie sich am Ende eines traumgleichen Sommers trennen. Nun, zwanzig Jahre später, haben sich die beiden jungen Männer endlich wiedergefunden. Während Jura glücklich darüber ist, seiner Jugendliebe wieder nahe zu sein, hadert Wolodja allerdings mit seinen Gefühlen. Zu viel Schlimmes ist in all den Jahren passiert. Zu viel, das ihn bis heute verfolgt und daran hindert, sich so zu akzeptieren, wie er ist. Gibt es trotz allem eine Chance für ihre Liebe?

Autorinnen

Elena Malisowa wurde 1988 in einer sowjetischen Provinzstadt geboren. Bereits als Kind verfasste sie erste Gedichte, später kamen Kurzgeschichten und Romane dazu.

Katerina Silwanowa wurde 1992 in Charkiw, Ukraine, geboren. Nach ihrem Studium zog sie in die russische Stadt Nowgorod, wo sie in ihrer Freizeit zu schreiben begann.

2016 lernten sich die beiden Autorinnen kennen und beschlossen, gemeinsam Bücher zu schreiben. Die Veröffentlichung von »Du und ich und der Sommer«, der Auftakt einer Romance-Trilogie, in dem es über die erste Liebe zweier junger Männer geht, die sich in einem sowjetischen Sommerlager kennenlernen, löste eine Welle der Begeisterung bei den Leser*innen sowie auf TikTok aus und eroberte Platz 1 der russischen Bestsellerliste. Aufgrund der Thematik wurde die Reihe in Russland als »LGBTQ-Propaganda« eingestuft und verboten, die Autorinnen wurden daraufhin des Landes verwiesen. Elena Malisowa lebt mittlerweile in Deutschland, Katerina Silwanowa musste in die Ukraine zurückkehren.

Von Elena Malisowa und Katerina Silwanowa bereits erschienen

Du und ich und der Sommer

KATERINA SILWANOWA ELENA MALISOWA

Roman

Deutsch von Jennie Seitz

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »O chem molchit lastochka (О чем молчит ласточка)« bei Popcorn Books, Moskau.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Katerina Silwanowa and Elena Malisowa

The publication of the book was negotiated through MEOW LITERARY AGENCY.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Popcorn Books

Umschlagmotiv: Adams Carvalho

Karte: © www.buerosued.de

DK · Herstellung: lor

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31571-9V001

www.blanvalet.de

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet sich am Ende eine editorische Notiz.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Elena Malisowa, Katerina Silwanowa und der Blanvalet Verlag

Prolog

Sein Blick wanderte unruhig durch den Konzertsaal, wich dabei dem Dirigenten aus – er war noch nicht bereit, sich zu freuen oder enttäuscht zu werden. Er bestaunte die Schönheit und Herrschaftlichkeit der Orgel, die über der Bühne aufragte, auch wenn sie heute schwieg. Davor hatte sich ein kleines Orchester aufgebaut. Als Erstes erklang die Geige – eine langsame, ruhige Melodie floss unter dem Bogen hervor. Dann setzte der Flügel in der Ecke der Bühne ein. Dahinter wartete der Chor auf seinen Einsatz.

Igor lächelte sanft und streckte seine Hand aus, als würde er Wolodjas Knie berühren wollen, aber zog sie sofort wieder zurück und flüsterte leise: »Ganz ruhig.«

Endlich kam Wolodjas Blick in der Bühnenmitte zur Ruhe. Wie in Zeitlupe, weich und grazil, zeichnete der junge Mann mit dem Dirigentenstab Schnörkel in die Luft.

Wolodja musterte ihn eindringlich: Schlank, groß, die Rockschöße des Fracks reichten ihm fast bis an die Kniekehlen. Seine Hände waren feingliedrig, das Haar dunkel.

So könnte Jura aussehen. Oder auch jeder andere.

Aber die Musik! Eine Melodie, die so wundervoll und traurig zugleich ist, kann nur mein Jura schreiben, schoss es Wolodja durch den Kopf. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, weitere Details zu erkennen. Redete sich gut zu, dass immerhin zwanzig Jahre vergangen waren, dass Menschen sich veränderten. Und doch … Er starrte auf den Hinterkopf. Dunkles, widerspenstiges Haar. So widerspenstig, dass eine Locke zur Seite abstand …

Jura!

Vor Wolodjas Augen verschwammen der Saal und die Bühne.

Plötzlich wurde es still, die Musik riss ab. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Wolodja konnte den Blick nicht von dem einst so geliebten Hinterkopf abwenden. Er atmete aus und fühlte ein so allumfassendes, strahlendes, tiefes Glück, als wäre er wieder dort, weit, weit weg – in der hellsten Zeit seines Lebens.

Der junge Solist stimmte ein herzzerreißend schönes Lied an, in einer Sprache, die Wolodja nicht kannte. Aber die Melodie hüllte ihn ein. Die Traurigkeit des Gesangs sickerte in jede Körperzelle, jedes Molekül, jedes Atom seiner Seele. Auf einen Wink des Dirigentenstabs wechselten die Töne unvermittelt Richtung, Tonlage und Rhythmus. Und dann noch einmal. Erst flirrte die Musik wie eine umherwirbelnde Vogelschar, dann stürzte sie als Steinlawine in die Tiefe. Der Dirigent lenkte sie wie ein Magier die Naturgewalten, und Wolodja spürte, wie es sein Inneres mal in Stücke schnitt, mal mit einem Ruck entzweiriss. Aber aus den klaffenden Wunden floss kein Blut, sondern Erinnerungen.

Der Sommer, die Sonne, das Rauschen des Flusses, das Rascheln der Trauerweide. Juras Lachen, das er stets so leicht inmitten der lärmenden Pionierschar ausmachen konnte. Seine Liebe – ungestüm, alles verschlingend und dabei so hell und so aufrichtig. Wolodjas eigenes Gesicht im Spiegel – ganz jung noch, die Hornbrille auf der Nase, der verzweifelte Blick, die wutverzerrten Lippen. Das Verlangen, dieses Spiegelbild kaputt zu schlagen, um den Dämon in seinem Inneren zu vertreiben, der sein Bewusstsein so hartnäckig mit schmutzigen, perversen Visionen fütterte. Dann – seine Hände in der siedend heißen Dampfwolke über dem brodelnden Kochtopf. Die beschlagenen Brillengläser, durch die er nichts sah außer Nebel, und dann der ernüchternde und zugleich berauschende Schmerz.

»Hör auf, was tust du da?« Juras Hände, seine feinen Pianistenfinger, die Wolodjas feuchte, gerötete Handflächen streichelten. »Warum? Wieso tust du dir weh?«

Dann: Juras kalte Knie, die Wolodja mit seinem Atem wärmte, sie verstohlen küsste und lächelte, als seine Berührungen Jura erzittern ließen und er flüsterte: »Du bist der beste Mensch auf der Welt. Ich bin es, der schlecht ist, ich bin schuld, nicht du …«

Der Widerschein des Lagerfeuers in den braunen Augen, den Tränen darin. Die feuchte Kühle, die über erhitzte Haut wanderte. Juras Umarmung. Der Schmerz. Die herzzerreißende Sehnsucht.

Der Solist wechselte eine Oktave tiefer, der Chor stimmte mit ein. Wolodja musste die Worte nicht verstehen, um zu wissen, wovon das Lied handelte.

In seiner Erinnerung tauchten Gesichter auf, lösten einander ab. Die in Falten gelegte Stirn seines Vaters, die Sorge in den Augen seiner Mutter. Dann tauchte ein anderes Gesicht auf, ein fremdes und Furcht einflößendes – das Gesicht des Psychiaters: seine aufgesetzte Höflichkeit, die Misstrauen und den Wunsch weckte, den Blick abzuwenden.

»Was haben Sie für Beschwerden?«

Die klebrige Angst, die Unsicherheit, die Scham. Die Wörter blieben ihm im Hals stecken, er musste sie hervorwürgen.

»Ich … ich fühle mich … sexuell zu Männern hingezogen.«

»Das ist eine Perversion«, lautete die Diagnose.

Panik. Ein Wirbelsturm von Gedanken, die immer dasselbe wiederholten: Gesund werden, gesund werden … Ich will dich vergessen, ich will normal werden.

Der Dirigent riss den Arm hoch. Die Bögen legten sich auf die Saiten, die Geigen wimmerten los, die Celli summten tief dazu.

»Sie müssen sich lange und aufmerksam diese Fotos anschauen und versuchen, beim Anblick dieser Damen Lust zu empfinden.«

Wolodja nahm den Stoß Bilder, die der Psychiater ihm reichte, drehte das erste zaghaft um, sah eine nackte Frau. Seine Hände fühlten sich an, als würden sie von Maden zerfressen, er wollte die Bilder von sich wegschleudern, aber das ging nicht. Sofort tauchte Juras Gesicht vor ihm auf, sein Blick, schüchtern und doch voll lebendiger Neugier.

Jetzt kamen die Bläser dazu – scharf und donnernd fegten sie durch den Saal, ein Wirbelsturm von Emotionen, der einem das Herz bis in den Hals schlagen ließ. Der Solist sang höher, der Chor setzte ein, und Wolodja überrollte die schlimmste Erinnerung, die viele Jahre irgendwo ganz tief in seinem Inneren verborgen gewesen war.

»Ich kriege es nicht hin.«

Der Arzt sah ihn an, runzelte die Stirn, kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Dann müssen wir zu extremeren Mitteln greifen.«

Wolodja war mittlerweile alles recht. Der Arzt breitete vor ihm Fotos von nackten Männern aus. Wolodja wendete seinen Blick ab.

»Sieh hin!«, duzte der Arzt ihn plötzlich.

Wolodja gehorchte. Der Arzt schob Wolodjas Ärmel hoch, der Geruch von Spiritus stieg ihm in die Nase, eine dünne Kanüle drang unter seine Haut.

»Gleich wird dir schlecht werden. Sieh weiter hin.« Der Arzt stellte eine Emailschüssel neben ihn auf den Boden.

Wolodja sah hin. Fein geschwungene Bizepskurve, eine Vertiefung unter dem Schlüsselbein, kräftiger Nacken, Bartstoppeln am Kinn, gestyltes blondes Haar. Ein Model. Wolodja gefiel der Körper des Mannes, aber nicht das Gesicht. Er wollte nicht hinsehen. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Aber als er die Augen schloss, war da ein anderes Gesicht. Ein geliebtes, das sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Die schmalen Lippen, die er so dringend küssen wollte, dass es ihn schier verrückt machte. Das Gesicht war ganz nah, die Lippen flüsterten Liebesschwüre. Die dünnen Arme umschlangen ihn flehend, die Finger krallten sich an seinen Schultern fest.

»Bitte, Wolodja. Wenn wir es jetzt nicht tun, dann nie. Das ist unser letzter Abend.«

In seiner verzweifelten Fantasie küsste Wolodja ihn, der so schön war, so vertraut. Und über ihren Köpfen das Zelt aus Trauerweidenzweigen, das sie vor der ganzen Welt verbarg.

Die Übelkeit überkam ihn so plötzlich, dass Wolodja seinen wunderschönen Tagtraum nicht mehr verscheuchen konnte. Er ging vor der Schüssel in die Knie und übergab sich. Über seine Wangen kullerten vor Ekel und Anstrengung Tränen, und unter den aufeinandergepressten Lidern sah er immer noch Juras Lächeln.

Die Schlussakkorde donnerten und verhallten, das Orchester verstummte, im nächsten Moment brach tosender Applaus aus. Und Wolodja spürte echte Übelkeit in sich aufsteigen. Er starrte auf seine Oberschenkel und krallte sich an den Armlehnen fest.

Igor wandte sich ihm zu und fragte: »Hast du ihn erkannt? Ist er dein Jura?«

Wolodja sah in das blasse Gesicht seines Liebhabers. »Nein, wohl nicht.«

KAPITEL 1 Schamvolles Geheimnis

An jenem Tag schien in Moskau die Sonne, nur die frischen Windböen kündigten den nahenden Herbst an. Doch der vierzehnjährige Wolodja hatte gleich zwei Gründe zur Freude: Erstens hatten seine Eltern ihm ein neues Fahrrad der Marke Saljut geschenkt, und weil der Regen gerade aufgehört hatte, konnte er endlich damit über den Hof sausen. Zweitens würde übermorgen Wolodjas Cousin aus Twer zu Besuch kommen, der auch Wolodja hieß, jedoch Wowa genannt wurde. Er war gerade an einer Moskauer Hochschule angenommen worden, und Wolodjas Eltern ließen ihn bei sich wohnen, solange er auf einen Platz im Studentenwohnheim wartete.

Sie hatten sich lange nicht gesehen. Zum letzten Mal im Sommer nach der fünften Klasse, als Wolodja bei seinen Großeltern in Twer gewesen war. Damals hatten sie viel Spaß zusammen gehabt, draußen gespielt, im Fluss gebadet und im Garten geholfen. Das würden sie jetzt sicher auch alles machen.

Wolodja trat vor der Statue mit den lesenden Pionierinnen auf die Bremse. Die zwei Gipsfiguren in Schuluniform, die sich über ihre Bücher beugten, erinnerten Wolodja daran, dass die Ferien in weniger als einer Woche vorbei sein würden.

Na, macht nichts. Ich kann ja auch nach dem Unterricht mit Wowa rausgehen. Außerdem hilft er mir bestimmt bei den Hausaufgaben, dachte er sich, stieg von seinem Fahrrad, lehnte es an die riesige alte Eiche, kletterte auf den Sockel der Statue, setzte sich neben die Pionierinnen und ließ die Beine baumeln. Wir können auf die Baustelle, da zeige ich ihm die Baugrube, überlegte Wolodja. Oder wir steigen aufs Dach vom Hochhaus, das wird toll.

In Gedanken versunken, hätte Wolodja fast den groß gewachsenen jungen Mann mit dem Rucksack auf den Schultern und der Reisetasche in der Hand übersehen, der gerade um die Ecke bog. Erst als der schon am Hauseingang des vierstöckigen Wohnblocks war, erkannte er ihn. Das war doch Wowa! Aber dermaßen in die Höhe geschossen und mit so breiten Schultern, dass er kaum noch etwas mit dem Jungen aus Wolodjas Kindheitserinnerungen gemein hatte.

Wolodja schnappte sich das schwere Fahrrad am Rahmen und rannte seinem Cousin hinterher die Treppe hoch. Verschwitzt und außer Atem holte er ihn auf der letzten Etage ein. Wowa, den Finger schon auf der Türklingel, drehte sich um, als Wolodja freudig ausrief: »Wowa! Du wolltest doch erst übermorgen kommen!«

»Hallo«, erwiderte Wowa trocken. »Hatte Glück mit der Fahrkarte, hab sie umgetauscht.«

Wolodja hievte das Fahrrad auf die letzte Stufe, ließ es fallen und wäre seinem Cousin beinahe um den Hals gefallen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab – er sah in Wowas Blick weitaus weniger Wiedersehensfreude als erhofft.

Wowa streckte ihm stattdessen ganz erwachsen die Hand zur Begrüßung entgegen. Wolodja wischte sich nervös die verschwitzte Handfläche an der kurzen Hose ab. Wowas Haut war warm und trocken, er drückte seine Finger fest zusammen, und Wolodja zuckte zusammen – als hätte jemand einen Stromstoß durch seinen Körper gejagt.

Über einen Monat blieb Wowa bei ihnen – mit dem Wohnheim wollte es nicht klappen, es gab weniger Plätze als Studenten, und der neue Gebäudetrakt war nicht rechtzeitig zum neuen Schuljahr fertig geworden. Wolodjas Eltern hatten nichts dagegen: Ihr Neffe machte ihnen keine Umstände, in der großen Dreizimmerwohnung hatte er ein eigenes Zimmer und war ohnehin kaum zu Hause: Tagsüber besuchte er Vorlesungen, und abends war er mit seinen Kommilitonen unterwegs. Nach und nach lernte er auch die älteren Jungs aus dem Hof des Wohnblocks kennen. Für Wolodja blieb da keine Zeit.

Der Altersunterschied von dreieinhalb Jahren, der sie als Kinder überhaupt nicht gestört hatte, trennte plötzlich Welten voneinander. Wolodja war ein Schulkind, ein Pionier, und Wowa bereits Komsomolze und Student. Sie hatten unterschiedliche Interessen. Wowa begeisterte sich zum Beispiel für Motorräder und teilte Wolodjas Freude über das neue Fahrrad kein bisschen. Manchmal half er Wolodja zwar wirklich bei den Hausaufgaben, aber man sah ihm die Unlust an – in Wowas Regal standen weit ernsthaftere Lehrbücher als das, was der Schulstoff hergab. Ein paarmal schaute Wolodja ihm beim Lernen über die Schulter, aber das Universitätsprogramm war zu hoch für ihn, und er wollte seinen Cousin auch nicht unnötig nerven. Wahrscheinlich sah Wowa, dass sein kleiner Cousin sich von seiner Anwesenheit mehr erhofft hatte, und schenkte ihm wie zur Entschuldigung eine Armbanduhr. Wolodja freute sich riesig: Die Uhr der Marke Montana war eine echte Rarität! Wowa hatte sie bei einer Physik-Olympiade gewonnen, aber anstatt sie selbst zu tragen, überließ er sie Wolodja.

Doch die Freude war schnell verflogen, als er sie umband: Er konnte die kleinen Ziffern kaum erkennen. Noch weigerte er sich standhaft, eine Brille zu tragen. Aus der Entfernung sah er gut, aber von Nahem wurde es immer schlimmer. Und während man mit vor den Augen verschwimmenden Zahlen im Mathebuch irgendwie klarkam, waren unlesbare Ziffern auf der Armbanduhr, die einem der große Cousin geschenkt hatte, eindeutig zu viel.

Wolodja bestand darauf, dass seine Eltern ihn zum Augenarzt brachten. Nach dem Sehtest schimpfte der Doktor, sie hätten die Sache viel zu lange schleifen lassen, eine Brille wäre schon viel früher fällig gewesen, dann hätte seine Sehkraft nicht so schnell nachgelassen.

An dem Abend stand Wolodja vor dem Spiegel in seinem Zimmer, drehte die nagelneue, frisch geputzte Brille hin und her und traute sich nicht, sie aufzusetzen. Sie sah hässlich aus: dunkles Horngestell, dicke Gläser – wie bei einem sechzigjährigen Opa. Wolodja kniff die Augen zusammen, holte tief Luft und probierte sie endlich an. Als er die Augen wieder aufschlug, runzelte er todunglücklich die Stirn. Wie er sich so im Spiegel betrachtete, sah Wolodja, warum Wowa keine Zeit mit ihm verbringen wollte. Was scherten ihn Baustellen, Parks und Hochhausdächer? Das war alles Kinderkram, Wowa hatte Erwachsenendinge im Kopf. Wolodja hatte schon öfter gesehen, wie er im Kreis der älteren Jungs im Hof des Wohnblocks Gitarre spielte und wie ihn die Mädchen anschwärmten. Wolodja war noch nie verliebt gewesen – mit den Mädchen aus der Nachbarschaft war er einfach nur befreundet, aber er wusste, dass sie ihm irgendwann anfangen würden zu gefallen, und ab dem Zeitpunkt wäre er ganz klar auch erwachsen.

Eines Nachts im November wurde Wolodja von einer quietschenden Diele im Flur geweckt. Er hörte, wie der Garderobenschrank aufging, jemand vorsichtig eine Jacke vom Haken nahm und die Wohnungstür klappte.

Wolodja sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Wowa kam gerade aus der Haustür und steuerte den Nachbarhof an.

Unruhe überkam Wolodja und etwas wie eine düstere Vorahnung. Wie ferngesteuert zog er seine Jacke direkt über den Schlafanzug, schob seine Füße in die Stiefel und rannte nach draußen, seinem Cousin hinterher, der schon um die Ecke gebogen war.

Wolodja kam sich wie ein Spion vor, als er an der Mauer entlangschlich, über den beleuchteten Teil des Hofes hastete und sich hinter einem Apfelbaum versteckte. Er blickte auf die Betonfläche mit dem Blumenbeet in der Hofmitte. Im gelben Licht der Laternen und herbstlich verregnet wirkte der Platz geheimnisvoll, die zwei Elchstatuen mit ihren ausladenden, schweren Geweihen verliehen ihm zusätzlich etwas Majestätisches.

Auf der anderen Seite des Blumenbeets stand fröstelnd, die Arme um ihren Leib geschlungen, ein zierliches Mädchen, bekleidet mit einem Mantel, den sie über ihr kurzes Kleid geworfen hatte. Als sie Wowa erblickte, zuckte sie zusammen und winkte ihn her.

Wolodja konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber er konnte deutlich sehen, wie Wowa ihre Hände vorsichtig umschlang, sie an seinen Mund führte und mit seinem Atem wärmte. Sie kicherte hell und legte ihre Hände auf seine Schultern, während Wowa seine um ihre Taille legte. So standen sie minutenlang da und unterhielten sich leise, das Mädchen lächelte entrückt. Wolodjas Herz schlug ihm bis in die Kehle, vor seinen Augen verschwamm alles, die Minuten schienen eine Ewigkeit anzudauern. Wowa sagte noch etwas, dann lehnte er sich vor, sein Gesicht ganz dicht an ihres, und berührte ihre Lippen mit seinen.

Wolodja fiel ins Bodenlose. Ohne so recht zu verstehen, was los war, machte er kehrt und stürmte blindlings nach Hause. Auf dem Weg trat er in eine tiefe Pfütze, und im Hausflur wäre er fast über die erste Stufe gestolpert.

In der Wohnung schleuderte er Stiefel und Jacke in die Ecke, rannte in sein Zimmer, warf sich aufs Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, sein Zittern in den Griff zu kriegen. Von den nassen Füßen kroch eine eklige, lähmende Kälte herauf, aber das Zittern kam von woanders. Woher, wusste Wolodja nicht. War es Wut? Aber auf wen sollte er wütend sein? Auch wenn er die Augen ganz fest zusammenkniff, sah er Wowa und dieses Mädchen vor sich – wie sie sich an den Händen hielten, sich umarmten, wie er sie küsste.

Warum ausgerechnet sie? Sie gibt sich doch bloß mit ihm ab, weil er gut Gitarre spielt. Diese Tussi zerrt ihn mitten in der Nacht in die Kälte! Sind die Tage etwa zu kurz? Sie hat ihn nicht verdient, er sollte nicht mit ihr zusammen sein!

Aber wer sonst? Irgendein anderes Mädchen? Würde es Wolodja denn besser gehen, wenn eine andere an ihrer Stelle wäre? Nein. Wen wollte er dann an Wowas Seite sehen?

Ein schwerer, unruhiger Schlaf übermannte ihn, und im Traum sah er wieder diesen Hof, das Blumenbeet, die Elchstatuen. Nur dass nicht Herbst war – ringsum war alles in warmes Sonnenlicht getaucht und grünte frühlingshaft. Es duftete süßlich nach Flieder, ein Windstoß ließ Apfelblüten auf Wolodjas Kopf rieseln. Wieder sah er Wowa vor sich – er lächelte so, wie er das Mädchen angelächelt hatte, aber diesmal galt sein Lächeln ihm, Wolodja! Wolodjas Hände wurden warm, als Wowa sie in seine nahm. Wowas Atem brannte auf seiner Haut, brachte sie förmlich zum Schmelzen, als seine weichen Lippen sie berührten. Und niemand außer ihnen beiden schien zu existieren. Wolodja blickte in das glückliche Gesicht seines Cousins, streichelte seine Wangen und seinen Nacken. So heiß, so schwindelerregend war es, sich an Wowa zu schmiegen, an seinen nackten Oberkörper … Im nächsten Augenblick standen sie plötzlich nicht mehr im Hof, sondern in seinem Zimmer. Wie zart, wie angenehm waren seine Berührungen! Finger auf Wolodjas Rücken, Lippen auf seinen Wangen, tiefer, am Kinn entlang, am Hals.

Wolodja schlug die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel, der Mond schien schwach durchs Fenster. Ihm war heiß, er war nass geschwitzt. Er schlug die Decke zur Seite, drehte sich um und schrie erschrocken auf, als er unter sich etwas Feuchtes spürte. Er stürmte ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und hielt seine Schlafanzughose unter den Strahl und schrubbte so fest, dass der Stoff zu reißen drohte. Ekel, Scham und unbeschreiblicher Schmerz übermannten ihn. Es tat so weh, dass er am liebsten sich selbst unter den Wasserstrahl gehalten und ersäuft hätte, Hauptsache, er müsste das Ziehen in seinem Herzen nicht mehr spüren, könnte vergessen, was er da gerade geträumt hatte. Von wem.

Wolodjas Hände brannten von dem heißen Wasser, das er bis zum Anschlag aufgedreht hatte, er biss die Zähne zusammen, um nicht loszuschreien. Der Schmerz war höllisch, aber im Vergleich zu dem Schmerz, der ihn von innen heraus versengte, sogar angenehm. Nach und nach wurde ihm leichter ums Herz.

***

Wenn Wolodja sich im Spiegel anschaute, konnte er beobachten, wie er von Tag zu Tag erwachsener wurde: Seine Züge wurden kantiger, selbst die Augen schienen ihre Farbe zu verändern – das Grün machte einem Grau Platz. Unverändert blieben nur die hässliche Brille, die Angewohnheit, seine Hände mit heißem Wasser zu waschen, und der Gedanke, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte.

Wolodja bezweifelte nicht, dass er unter einer psychischen Krankheit litt. Bestimmt brauchte er Hilfe, aber woher sollte welche kommen? Er schämte sich, hatte schreckliche Angst davor, jemandem zu gestehen, was er von seinem Cousin wollte: etwas, das man auf keinen Fall von einem Verwandten, dazu einem Mann, wollen konnte! Wie sollte man diese Worte vor einer anderen Person aussprechen, wenn man sie kaum sich selbst eingestehen konnte?

Wolodja bekam Panik, wenn er an die Zukunft dachte: In einer Woche stand seine erste Vorlesung an der Universität an und in drei Monaten sein achtzehnter Geburtstag. Vor ihm lag sein Erwachsenenleben, ein eigener Weg, den er selbst gestalten musste. Aber wie sollte er nach vorne blicken, wenn er Tag für Tag, wieder und wieder, in Gedanken in jene Sommernacht zurückkehrte, auf diesen Hof, zu den Elchfiguren, zu Wowa, dem Mädchen, das er geküsst hatte? Zu seiner eigenen, alles verschlingenden, unkontrollierbaren Scham? Zu seiner Krankheit?

Das Leben zog an Wolodja vorbei. Seine Klassenkameraden hatten längst Rendezvous, verliebten sich, manch einer dachte sogar schon ans Heiraten. Aber Wolodja beobachtete sie wie hinter Glas – er hörte mit gespieltem Interesse zu, gaukelte Verständnis vor, wo keines war. Er war neidisch. Er wollte einer von ihnen sein, sich normal fühlen.

Aber Wolodja war nicht normal. Wolodja war krank und verdorben.

Er hatte gehofft, das Studentenleben würde ihn verändern. Aber gar nichts änderte sich. Vom ersten Tag an paukte er ununterbrochen, absolvierte Zusatzvorlesungen, saß bis zum Einbruch der Nacht in der Bibliothek. Seine Mühen trugen Früchte – im ersten Semester wurde er Jahrgangsbester. Die Dozenten lobten ihn, seine Eltern waren stolz, nur Wolodja war nichts als erschöpft, denn sosehr er sich auch anstrengte, seinen Gedanken konnte er nicht entfliehen.

Seine Krankheit, wie er es nannte, holte ihn nachts ein: manchmal mit Albträumen, die ihn schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken ließen, manchmal mit lebhaften Visionen. Die Visionen waren am schlimmsten – irgendwann begann Wolodja nicht nur seinen Cousin zu sehen, sondern auch andere junge Männer. Verschwommene Silhouetten, in denen Wolodja seine Kommilitonen erkannte. Zuerst freute er sich sogar: Vielleicht ließ die Krankheit namens »Wowa« langsam nach? Aber dann legte sich wieder die Angst wie ein Stein auf sein Herz: Hieß das, die Krankheit wurde nicht nur durch den Cousin ausgelöst? Würde er, selbst wenn er Wowa vergaß, nicht normal werden?

Als er eines Morgens wieder aus einem feuchten Traum erwachte, wurde er so wütend, dass er sich mit voller Wucht ohrfeigte. Als er dann sein tränenüberströmtes, von der Ohrfeige rotes Gesicht im Spiegel sah, grinste er hämisch: »Geschieht dir recht.«

Er musste etwas gegen die Krankheit unternehmen, so viel war klar. Sie machte sein Leben zu einem unerträglichen Albtraum; der Dämon fraß seine Seele auf, vernichtete alle positiven Emotionen und hinterließ nichts als gähnende Leere.

Wolodja beschloss, künftig wenigstens zu versuchen, normal zu sein. Wenigstens so zu tun.

Er begann, die Mädchen mehr zu beachten, versuchte Merkmale zu finden, die ihm gefielen: Diese hatte schönes Haar, jene hatte volle Lippen und ein hübsches Grübchen am Kinn. Er zwang sich, nicht verlegen wegzuschauen, wenn ihn die Mädchen im Hörsaal oder in der Mensa ansprachen. Er lernte, ihr Lächeln zu erwidern, und lobte sich selbst für den Versuch, auch wenn es sich jedes Mal verkrampft und unnatürlich anfühlte. Außerdem ging er jetzt regelmäßig zu den Wohnheimpartys, auf denen Wein getrunken und Gitarre gespielt wurde und von denen er sich früher ferngehalten hatte.

Aber auch nach monatelangem Kampf gegen sich selbst hatte kein Mädchen sein Blut auch nur annähernd in Wallung gebracht. Ja, er mochte Mädchen – als Menschen. Er hatte es lustig mit ihnen, ließ sie gerne seine Notizen ausborgen und half ihnen bei Referaten und Hausarbeiten, und zum Dank schenkten sie ihm Süßigkeiten und umarmten ihn. Aber niemand außer Wolodja selbst ahnte, dass ihm ein kräftiger Händedruck von einem gut aussehenden Kommilitonen lieber war als jede weibliche Umarmung. Trotzdem blieb er streng: tadelte sich für jeden falschen Gedanken, sah ausschließlich Mädchen an und erlaubte sich nicht einen einzigen Moment der Schwäche.

***

In Zimmer 309 des Studentenwohnheims war es schummrig. Die Lichterkette am Wandteppich über dem Bett blinkte orangefarben. Auf dem Bett saß mit seiner Gitarre Sascha Schepkin und sang Lieder vom legendären Wladimir Wyssozky. Etwas anderes hatte er nicht auf Lager, und als er nach kurzer Verschnaufpause wieder in die Saiten griff und Bolschaja Karetnaja anstimmte, stöhnten die Anwesenden genervt.

»Sascha, erbarme dich, gib Mischa die Gitarre!«, flehte Wolodjas Kommilitonin. »Heute ist der achte März, endlich haben wir Frühling, und du verbreitest hier Trauerstimmung.«

Sascha ließ enttäuscht den Kopf hängen, aber reichte die Gitarre weiter. Mischa spielte Harlekino, und mit den ersten Akkorden lebte die Stimmung auf.

Mir ist Wyssozky lieber, dachte Wolodja, aber behielt es für sich.

Er saß an die Wand gelehnt auf dem Boden und hielt eine Emailtasse mit Portwein in der Hand. Echter Portwein war dieses Gebräu natürlich nicht – bloß was Selbstgebrautes, das einer der Jungs aus seinem Dorf mitgebracht hatte. Aber Wolodja wollte lieber denken, dass er Portwein trank. Seine Wirkung verfehlte er jedenfalls nicht – nach dem ersten Becher schwebte Wolodja durchs Zimmer, wiegte sich zum Klang der Gitarre und betrachtete fasziniert das warme Leuchten der Lichterkette. Er fühlte sich leicht und gelöst. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit trieben ihn keine dunklen Gedanken um. Das beschwipste Gehirn hätte zu viel Mühe gehabt, welche zu formulieren.

Als er wieder saß und vor sich hin träumte, war plötzlich jemand neben ihm. Wolodja drehte sich in Zeitlupe um und sah die von Locken umrahmten runden Wangen von Katja Selzman, einer Kommilitonin, die öfter als andere seine Mitschriften auslieh. Sie verströmte einen süßlich-schweren Parfümgeruch, und auf ihren Lidern glitzerte silbriger Lidschatten.

»Willst du noch einen Schluck?«, fragte sie, die Flasche in der Hand.

»Gern.« Wolodja hielt ihr den Becher hin.

Katja schenkte erst ihm, dann sich ein.

»Auf dich«, sagte Wolodja. »Alles Gute zum Frauentag.«

Katja kicherte und trank aus. Dann hakte sie sich plötzlich bei ihm ein und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

Wolodja erstarrte, horchte angespannt in sich hinein, aber da hallte nur die Musik wider. In ihm war kein Beben. Aber zumindest auch keine Angst oder Beklemmung.

Warum nicht, dachte Wolodja und entspannte sich.

So saßen sie drei Lieder lang da. Katja sang mal mit, mal nippte sie melancholisch an ihrem Wein. Aber die ganze Zeit über ließ sie ihren Kopf auf Wolodjas Schulter.

Dann richtete sie sich plötzlich auf und fragte: »Kommst du mit raus? Hier ist es so stickig, mir wird noch schlecht.«

Wolodja nickte, stand auf und reichte Katja die Hand.

Die dritte Etage war so verraucht, dass der Qualm in Schwaden unter der Decke hing. Katja lief zum Fenster und riss es auf. Der Hausflur füllte sich mit frischer, noch winterlich frostiger Luft. Wolodja trat ebenfalls ans Fenster und atmete tief ein, sofort klarte sich sein Kopf etwas auf.

Katja hüpfte auf die Fensterbank. Die ruckartige Bewegung ließ ihr blaues Kleid hochrutschen und gab den Blick frei auf ihre rundlichen Knie und eine winzige Laufmasche in der beigen Strumpfhose. Vom Alkohol benebelt, berührte Wolodja unwillkürlich die Laufmasche mit seinem Finger. Katja lief rot an und zupfte ihr Kleid zurecht.

»Oh«, sagte Wolodja verlegen. »Ich … Macht doch nichts, ich find’s süß.« Er wusste wirklich nicht, warum er das gemacht hatte, er war eben angetrunken.

Aber Katja warf ihm einen durchdringenden Blick zu und sagte gedehnt: »Wolodja … Ich hab ein bisschen was getrunken, deswegen bin ich mutig … Kann ich dir was sagen?«

»Klar.«

»Ist dir nichts aufgefallen?«

»Wo?«

»Nicht wo, sondern wann. Na ja, in den letzten Monaten …«

Wolodja überlegte. »Nicht dass ich wüsste.«

Katja seufzte. »Ihr Typen seid echt schwer von Begriff.« Sie sah ihm direkt in die Augen: »Du gefällst mir, Wolodja. Nur ein Blinder mit Krückstock würde das nicht sehen.«

»Oh …« war alles, was Wolodja herausbekam.

»Du musst nichts sagen.« Sie lächelte kokett und legte einen Finger an ihre rosa geschminkten Lippen. »Du kannst mich einfach küssen.«

»Oh …«, wiederholte Wolodja.

Katja kicherte leise und schloss erwartungsvoll die Augen.

Wolodjas Herz begann zu rasen, aber nicht vor Aufregung, sondern vor Angst. Katja war hübsch, sie stieß ihn nicht ab oder so, aber küssen wollte er sie auch nicht. Doch Katja wartete, die Sekunden verstrichen, und die Angst verwandelte sich in Wut.

Das wolltest du doch!, drängte ihn eine innere Stimme. Das ist es doch, was du brauchst. Das ist deine Chance, normal zu werden.

Also beugte er sich zu ihr vor und umfasste ihre Taille. Als sie sich bereitwillig an ihn schmiegte, legte Wolodja seine Lippen auf ihre. Sie waren warm und weich. Katja drückte sich noch enger an ihn, seufzte, und der Kuss wurde leidenschaftlicher. Aber nur von ihrer Seite. Wolodja kam sich vor wie ein Steinklotz, ein Eiszapfen. Er musste plötzlich daran denken, wie er als Kind im Winter an einer Metallschaukel geleckt hatte. Zum Glück nicht lange genug, dass seine Zunge daran kleben geblieben wäre, aber so ungefähr musste sich das für Katja gerade anfühlen – als würde sie kaltes totes Metall küssen.

Aber ihr schien es zu gefallen. Ihm selbst nicht.

Er löste sich von ihr. Katja schlug die Augen auf und lächelte. Wahrscheinlich musste er jetzt irgendetwas sagen, aber er sah durch sie hindurch, während er in seinem Inneren vergeblich nach einer Gefühlsregung suchte.

»Willst du mit auf mein Zimmer?«, fragte Katja schüchtern. »Nicht das, was du denkst … Es ist bloß kalt hier, und zurück zu den anderen will ich nicht … Ich wäre lieber mit dir allein.«

Wolodja ließ ihre Taille los. »Tut mir leid, es ist spät geworden. Ich muss den letzten Trolleybus erwischen.«

Für ein paar Sekunden wirkte sie enttäuscht, aber dann lächelte sie wieder. »Gut. Dann sehen wir uns morgen in der Vorlesung?«

»Na klar«, versicherte Wolodja.

Wahrscheinlich wollte sie ihn zum Abschied auf die Wange küssen, aber das wurde Wolodja erst klar, als er sich schon umgedreht hatte und zur Treppe gestürmt war.

Zur Haltestelle rannte Wolodja. Im Trolleybus trommelte er nervös mit den Fingern auf dem Griff herum, und im Hof rutschte er fast auf den vereisten Stufen aus. Erst als er die Wohnungstür hinter sich zugezogen, sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte und auf dem Bett saß, ließ er den Kopf in die Hände sinken und fragte sich: Vor wem rennst du weg, du Idiot? Du kannst weder dir noch der Krankheit entkommen.

In jener Nacht träumte er wirr, und am nächsten Morgen, als Wolodja zum zehnten Mal seine Hände einseifte, um mit siedend heißem Wasser unsichtbare Glitzerschminke von sich abzuwaschen, konnte er die Tränen kaum zurückhalten. Nicht weil es wehtat, sondern weil er sich wie ein eingesperrtes Tier fühlte, das sich verzweifelt gegen die Gitterstäbe seines Käfigs wirft, obwohl ihm klar ist, dass es kein Entkommen gibt. Wolodja steckte in einer Sackgasse. Die Krankheit hatte ihn fest im Griff.

***

Den ganzen nächsten Tag fühlte sich Wolodja wie ausgewrungen. Sich auf die Vorlesungen zu konzentrieren, war völlig unmöglich – das monotone Gemurmel des Dozenten war so einschläfernd, dass Wolodja in der zweiten Stunde die Augen für einen Moment zufielen. Als er aufschreckte, verstand er nicht, warum in der Geschichtsvorlesung plötzlich von Tschaikowski die Rede war. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass Ignat Sergejewitsch in seinem Unterricht gerne Exkurse machte.

»Entschuldigung«, meldete sich Sascha Schepkin, der Gitarrist vom Vorabend, zu Wort. »Darf ich etwas fragen? Ein Bekannter von mir hat in einer Zeitschrift gelesen, dass Pjotr Tschaikowski nicht mit seiner Frau zusammenlebte, weil er Affären mit Männern hatte. Wissen Sie etwas darüber?«

Wolodja fiel vor Schreck der Stift aus der Hand, der unter den Tisch rollte.

Ignat Sergejewitsch musterte Sascha grimmig, seine Nasenflügel weiteten sich.

»Junger Mann, ich weiß nicht, aus welchen Zeitschriften Ihr Freund diese absurden Gerüchte herhat, aber ich würde ihm eindringlich raten, sie nicht mehr zu konsultieren. Das Gerücht, Pjotr Iljitsch Tschaikowski habe an der Krankheit Homosexualität gelitten, verbreitet gerne die ausländische Presse.« Er zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. »Und Sie wissen ja ganz genau, dass die uns gern verunglimpft. Es gibt keine einzige vertrauenswürdige sowjetische Quelle, die dieses Gerücht bestätigen würde.«

Mit diesen Worten wandte sich Ignat Sergejewitsch wieder seiner Lektion zu. Wolodja hob mechanisch seinen Stift auf, aber Notizen machte er in dieser Stunde keine mehr. Er starrte auf seinen Block, während in seinem Kopf nur ein Satzfetzen wie in Laufschrift pulsierte: »An Homosexualität gelitten, an Homosexualität gelitten, an Homosexualität …«

Er kam erst am Ende der Vorlesung zu sich, als es im Hörsaal laut wurde. Wolodja stopfte seine Sachen in seine Tasche und eilte zum Ausgang, aber an der Tür stieß er fast mit Sascha Schepkin zusammen.

»Tut mir leid«, rief Wolodja im Vorbeihasten, blieb dann abrupt stehen und drehte sich um. »Sag mal, was war das für eine Zeitschrift mit Tschaikowski?«

Schepkin guckte verdattert und zischte: »Hast du sie noch alle, so zu brüllen?«

Wolodja besann sich. Klar, die Zeitschrift hatte nicht irgendein Bekannter gelesen, sondern Sascha selbst – sein Vater hatte da seine Kanäle, das wussten alle, weil Sascha hin und wieder etwas Gutes im Wohnheim anschleppte. Wolodja musste vorsichtiger sein. Wenn jemand von den Dozenten davon Wind bekam, gab es Ärger.

»Na ja, was denkst du wohl. Weißt du doch selbst.« Sascha kam näher und flüsterte Wolodja ins Ohr: »Auf Englisch.«

»Kann ich mir die mal ausleihen?«

Sascha musterte ihn misstrauisch. »Seit wann interessierst du dich für klassische Musik?«

»Schon immer. Ich steh auf jede Art von Musik, ich liebe Musik.«

»Gestern bei der Fete sah das aber nicht so aus.«

»Ich war betrunken und hab halt zugehört. Sascha, echt, ich liebe Wyssozky, und du hast toll gesungen.«

Wolodja wusste selbst nicht, ob er die Wahrheit sagte oder log, aber es zeigte Wirkung, Sascha grinste stolz.

»Also gut. Bring ich dir morgen mit.«

Wolodja schlug ein und eilte weiter, in die Bibliothek. Der Lesesaal war leer; normalerweise kamen die Studenten erst nach Vorlesungsschluss. Wolodja hielt dem Mann hinterm Tresen seinen Ausweis hin und steuerte die Abteilung mit den Lexika an. Er zog den siebten Band der Großen Sowjetischen Enzyklopädie aus dem Regal und durchsuchte das Register.

»Hoh…, hol…«, bewegte Wolodja leise die Lippen. »Hom… Da ist es!«

Er blätterte zu der entsprechenden Seite vor und suchte nach dem Eintrag. Dort las er: »Homosexualität. Eine sexuelle Perversion, die in der unnatürlichen Anziehung zu Personen des eigenen Geschlechts besteht. Sie kommt bei Personen beiderlei Geschlechts vor. In der UdSSR, den sozialistischen Ländern und einigen imperialistischen Staaten steht H. (Sodomie) unter Strafe.«

Wolodja knallte das Buch zu und schob es mit steifen Fingern zurück ins Regal. Er hatte die Definition nur einmal gelesen, aber sie hatte sich sofort Wort für Wort in sein Gehirn eingebrannt. Und jetzt pulsierten die Wörter in seinem Inneren wie ein Brandmal.

Wenn er bis zu diesem Moment die seltsame Anziehung, die sein Cousin auf ihn ausübte, nur deshalb als Krankheit bezeichnet hatte, weil er es nicht besser wusste, hatte er jetzt die Bestätigung: Es war wirklich eine richtige Krankheit, die einen wissenschaftlichen Namen und eine Definition hatte. Außerdem konnte man für Homosexualität bestraft werden.

KAPITEL 2 Erwiderte Gefühle

Jetzt, da Wolodja den Namen für seine Krankheit kannte und wusste, dass sie unter Strafe stand, spürte er, wie er allmählich den Verstand verlor. Die verborgenen Ängste, die er tagsüber noch irgendwie unterdrücken konnte, erwachten in seinen Träumen zum Leben. Buchstäblich jede Nacht wurde er von Albträumen heimgesucht: Mal wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, mal in die Psychiatrie, mal wurde er öffentlich in der Vorlesung verhöhnt. Und er hatte keine Ahnung, wie er mit alldem fertigwerden sollte.

Sascha Schepkin brachte ihm die versprochenen Zeitschriften über klassische Musik mit. In einer von ihnen fand Wolodja jenen Artikel, auf den sich Sascha in der Vorlesung bezogen hatte. Der Autor bestand darauf, dass es sich keineswegs um Gerüchte handelte, und zitierte Auszüge aus dem Originaltagebuch von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Geschlagene zwei Wochen saß Wolodja Abend für Abend mit einem Englischwörterbuch über den Text gebeugt da, um herauszufinden, ob es sich um die Wahrheit handelte oder alles Lüge und Propaganda war. Der Autor behauptete, Tschaikowski selbst zu zitieren, der seine Treffen mit Männern und seine Gefühle für sie schilderte. Aber die Zitate waren nur Bruchstücke eines großen Mosaiks, über das Wolodja mehr erfahren wollte. Er hätte eigentlich lernen, seine Notizen durchgehen und sich auf die Prüfungen vorbereiten müssen, aber Tschaikowski vermochte ihn viel besser von seinen düsteren Gedanken abzulenken als der Lernstoff.

In der Hoffnung, mehr herauszufinden, machte sich Wolodja in die Stadtbibliothek auf. Zwischen den Biografien, musikwissenschaftlichen Abhandlungen und Notenheften fand er schließlich, was er suchte – Tschaikowskis Tagebuch, verfasst in vorrevolutionärem Russisch. Als er zu lesen begann, fielen Wolodja Ungereimtheiten auf: Es war, als würden Teile fehlen. Und in manche dieser Lücken fügten sich dem Sinn nach genau jene Zitate, die in der Zeitschrift abgedruckt waren.

Natürlich ist das Tagebuch, das frei zugänglich in der Stadtbibliothek herumsteht, zensiert!, ärgerte er sich, als er immer neue Auslassungen fand.

Aus dem Tagebuch waren genau die Abschnitte verschwunden, die darauf schließen ließen, dass Tschaikowski an Homosexualität litt und sich zu Männern hingezogen fühlte. Aber vielleicht hatte die Zensurbehörde ja recht: Warum sollte man den Namen des großen russischen Meisters in den Schmutz ziehen?

Später am Abend fand Wolodja zwischen den Schallplatten seines Vaters eine Orchesteraufnahme von Tschaikowskis 6. Sinfonie. Er legte sie auf, setzte sich auf die Wohnzimmercouch und lauschte. Die Sinfonie riss ihn vollkommen mit, Wolodja löste sich förmlich darin auf. Vielleicht konnte er dermaßen in die Musik eintauchen, weil er jetzt wusste, dass der Mensch, der dieses großartige Werk geschaffen hatte, an der gleichen Krankheit gelitten, die gleichen Ängste gehabt hatte wie er selbst. Abgesehen davon brachte ihm diese Erkenntnis jedoch nicht viel, sie machte seine Bürde nicht leichter.

Dann hatte Tschaikowski eben dieselbe Krankheit, dachte er. Was soll ich damit anfangen, dass ich bin wie Tschaikowski? Ist es dann also mein Schicksal, diese Last bis an mein Lebensende zu tragen?

Wolodja begann, Medizinratgeber auszuleihen, um herauszufinden, ob es ein Mittel gegen Homosexualität gab. Schließlich entdeckte er einen Artikel über die sogenannte Konversionstherapie, bestehend aus verschiedenen psychologischen Methoden und Medikamenten, die sexuelle Vorlieben beeinflussen sollten. War das wirklich der einzige Ausweg? Musste er sich in einer psychiatrischen Klinik behandeln lassen, zusammen mit echten psychisch Kranken? Seine Fantasie zeichnete Schreckensbilder von seiner Zukunft: wie er sich das Zimmer mit randalierenden Patienten teilen und im Hof im Kreis gehen muss wie ein Häftling; wie man ihn in eine Zwangsjacke steckt. Aber selbst diese Horrorszenarien waren nicht so Furcht einflößend wie der Gedanke, zuerst alles seinen Eltern beichten zu müssen.

Einmal stieß Wolodja bei seinen Recherchen zum Thema Homosexualität auf Maxim Gorkis Artikel »Proletarischer Humanismus«, in dem er las:

»Während in den Ländern des Faschismus die Homosexualität, welche die Jugend verdirbt, ungestraft agiert, ist sie in dem Lande, wo das Proletariat kühn und mannhaft die Staatsmacht erobert hat, zum sozialen Verbrechen erklärt worden und wird streng bestraft. […] Inzwischen ist es eine Parole: ›Rottet die Homosexualität aus – und der Faschismus verschwindet.‹«

Wolodja wusste auch so, was normale Leute von Homosexuellen hielten, aber in diesem Artikel fand er einen weiteren Beweis für den Hass gegen sie. Wie sollte er je mit seinen Eltern reden? Seine Mutter liebte Gorki …

Im Klammergriff seiner Panik wurde Wolodja unkonzentriert und fahrig: Seine Leistungen wurden schlechter, er fiel bei einer wichtigen Prüfung durch.

Sein Vater, der immerzu arbeitete, sagte dazu bloß streng: »Ich misch mich da nicht ein, du bist erwachsen. Vergiss aber nicht, dass du am Ende die Konsequenzen für dein Scheitern selbst tragen musst.«

Doch seine Mutter, auch wenn sie die wahren Gründe für den Zustand ihres Sohnes nicht kannte, bemerkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und schlug ihm vor, den Sommer als Gruppenleiter im Pionierlager zu verbringen.

»Das vergangene Jahr war hart für dich, die Universität, der Leistungsdruck, die neue Umgebung«, sagte sie sanft. »Dort könntest du dich in der Natur erholen, hättest etwas Abwechslung. Kontakt zu Kindern tut gut, das weiß ich als Erzieherin ja aus eigener Erfahrung.«

Und auch wenn Wolodja überzeugt war, dass ihm nicht mehr zu helfen war, gefiel ihm die Idee, das staubige Moskau gegen Landluft einzutauschen. Also wiederholte er die vergeigte Prüfung und bereitete sich auf seine Sommertätigkeit vor.

Der Start war holprig – wegen der Prüfung verpasste Wolodja den ersten Lagerdurchgang und konnte erst zum zweiten fahren. Obendrein wurde er in die Nähe von Charkiw geschickt, in die Ukraine, weit weg von zu Hause. Als Erstes musste er das Vorbereitungslager für Gruppenleiter absolvieren.

Noch im Bus beschlichen Wolodja Zweifel, ob das alles nicht ein Fehler war. Es herrschte ein Heidenlärm, die zukünftigen Leiter bildeten sofort Grüppchen, und die Engagiertesten, die mit dem wahren Komsomolgeist, machten sich gleich eifrig daran, Parolen zu dichten und sich Fragen fürs Geschichtsquiz auszudenken. Wolodja schaute sich verloren um und versuchte die zu finden, die ebenfalls nach Charkiw kommen sollten. Aber zu allem Überfluss stellte sich heraus, dass er der Einzige war.

Niemand machte sich die Mühe, Wolodja zu erklären, wozu das Vorbereitungslager überhaupt gut war. Die Frage kam ihm selbst erst vor dem Schlafengehen in den Sinn, nachdem er sich den ganzen Tag sozialistische Parolen und Quizfragen ausgedacht, selbst am Quiz teilgenommen hatte und beim Tanzabend gewesen war.

Als endlich alle im Bett waren, zog sich Wolodja die Decke bis unters Kinn – die Mainächte im Wald entpuppten sich als ziemlich kalt –, starrte an die Decke und seufzte resigniert: »Wozu soll das alles gut sein?«

»Na, damit man sich an das Lagerleben gewöhnt«, antwortete sein Zimmernachbar. »Wir bereiten uns vor, lernen, wie man einen Abend organisiert, seine Mannschaft zum Fahnenappell zusammentrommelt … Wir sollen uns besser vorstellen können, was uns erwartet.«

»Und was erwartet uns?«

»Eine tolle Zeit!«

Ja, eine ganz tolle Zeit … Aber genauso oft, wie Wolodja sich dafür verfluchte, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben, so oft sollte er später dem Schicksal danken, dass es ihn in die Schwalbe geführt hatte.

In das Pionierlager Die Schwalbe verliebte er sich auf den ersten Blick. Besonders gefielen Wolodja der direkt dahinter ruhig dahinströmende Fluss und die Freilichtbühne.

Aber zum Singen hatten die Gruppenleiter keine Zeit, ihnen blieben nur wenige Tage, um alles für den nächsten Lagerdurchgang vorzubereiten.

Und doch fühlte er sich rasch besser. Vielleicht zeigte die Natur ihre Wirkung, vielleicht war Wolodja abends aber auch einfach so erledigt, dass er, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte, sofort ein- und ohne Albträume durchschlief. Am Morgen ging das Gerenne wieder los: Die Aufgaben prasselten so schnell auf ihn ein, dass keine Zeit zum Nachdenken blieb. Aber das Beste war: Wolodja fühlte sich zu keinem seiner Kollegen besonders hingezogen, nicht einmal zu seinem Zimmergenossen – dem Sportlehrer Schenja mit dem Adoniskörper. Allmählich legte Wolodja seine Scheu und Scham ab, lächelte häufiger und hegte die leise Hoffnung, seine Krankheit könnte wirklich ausgestanden sein. Vor allem erinnerte ihn nichts in der Schwalbe an Wowa. Wolodja erwartete voller Ungeduld die Ankunft der Kinder, deren heilsame Wirkung seine Mutter beschworen hatte. Nicht im Leben hatte er daran gedacht, dass sich unter den Kindern ein Erwachsener befinden könnte.

Zum ersten Mal hörte Wolodja seinen Namen beim Orgatreffen: Jura Konew.

Einen Tag vor der Ankunft des zweiten Durchgangs saß das ganze Lagerkollektiv, angeführt von der stellvertretenden Lagerleiterin, zusammen und besprach die letzten Einzelheiten.

»Konew kommt auch, Irina …«, sagte Olga Leonidowna mit angewidert gespitzten Lippen.

»Ja, ich habe die Listen gesehen«, erwiderte Irina.

»… und ich bitte eindringlich darum, dass er keine Zeit hat, im Lager herumzulümmeln. Er muss unbedingt dazu gebracht werden, sich für eine oder besser mehrere Aktivitäten einzutragen, und deine Aufgabe wird es sein, zu kontrollieren, ob er auch daran teilnimmt. Von den anderen Gruppenleitern erwarte ich, dass sie Initiative zeigen und dir bei dieser Aufgabe helfen. Ist das so weit klar?«

»Jawohl!«, tönte es im Chor.

Auf dem Weg nach draußen fragte Wolodja: »Wer ist denn dieser Konew?«

»Ach, so ein Raufbold«, winkte Lena, die mit ihm zusammen die Gruppe leiten würde, ab, warf Irina einen Seitenblick zu und fügte lachend hinzu: »Mach dir keine Sorgen, er ist in Gruppe eins, nicht bei uns.«

Als Wolodja, dem die Theaterbrigade anvertraut worden war, Richtung Theatersaal abbog, rief ihm Schenja hinterher: »Hey, Wolodja, wenn du fertig bist, schnapp dir Slawa und komm zum Strand. Wir machen Lagerfeuer, die Mädels decken schon mal den Tisch, ich hol die Gitarre und bin gleich da.«

»Ja, und beeilt euch«, fügte Irina hinzu. »Lasst uns die Ruhe vor dem Sturm noch genießen.«

Es war der einzige Abend, an dem die Gruppenleiter freihatten – am nächsten Tag würden die Kinder in der Schwalbe ankommen. Wolodja saß am Feuer und betrachtete das Spiel der Flammen durch das geschliffene Glas mit dem Himbeergeist, den Schenja in Goretowka aufgetrieben hatte. Er hörte den Geschichten der anderen Gruppenleiter zu. Wolodja war der einzige Neuling. Die anderen kamen jedes Jahr wieder und erzählten sich nun Anekdoten aus den letzten Sommern, lachten und alberten herum. Wolodja hörte lächelnd zu.

Normalerweise wäre er sich in einer solchen Runde fehl am Platz vorgekommen, er hatte ja nichts beizutragen. Aber diesmal – sei es dank der entspannenden Wirkung des Alkohols oder des weiten Sternenhimmels über ihnen – fühlte sich Wolodja ganz richtig. Selbst als Lena von einem gruseligen Vorfall erzählte, der sich vor ein paar Jahren ereignet hatte, blieb Wolodja locker.

»Ich kannte mal eine Gruppenleiterin – nicht hier, sondern im Adler, in der Nähe von Perwomaisk, Marina hieß sie. Sie hat dort vor drei Jahren die älteste Gruppe geleitet. Und es gab einen Unfall – ein Mädchen ist im Fluss ertrunken. Am helllichten Tag, als alle am Strand waren. Sie hat zu viel Sonne abbekommen, ist ins Wasser gesprungen und … das war’s. Sie sind immer noch dabei, den Vorfall aufzuklären. Aber wahrscheinlich werden sie Marina verknacken. Sie hatte ja die Aufsicht. Und das bedeutet eben Gefängnis.«

»Die Kleinsten sind die Hölle«, erwiderte Irina. »Als ich zum ersten Mal hier war, hatte ich Gruppe vier. Es war so anstrengend, dass ich beim nächsten Mal alles getan hab, um Gruppe eins oder wenigstens zwei zu kriegen. Die Jugendlichen sind anders anstrengend, aber wenigstens ruhiger. Die sind mit ihren Liebesdramen beschäftigt, machen nicht so ein Theater.«

»Und du wischst ihnen dann die Tränen ab, oder was?«, witzelte Olga von Gruppe drei. »Weißt du noch, wie die sich letztes Jahr alle bei dir wegen diesem Wischnewski ausgeheult haben?«

Schenja mischte sich ein: »Stimmt, dieser Wischnewski … So ein Weiberheld. Und der Vater hat uns terrorisiert. Gut, dass er dieses Jahr nicht kommt.«

Slawa, der Älteste unter den Gruppenleitern, stand auf und machte eine Runde, um die Gläser aufzufüllen.

»Keine Sorge«, sagte er grinsend. »Ich bin mir sicher, unsere Mädels finden sofort einen, nach dem sie sich kollektiv verzehren können.«

»Und wer soll das sein?«

»Na, er hier«, erwiderte Slawa, der mit der Flasche gerade bei Wolodja angekommen war. »Das perfekte Opfer, wenn ihr mich fragt.«

Wolodja schob nervös seine Brille zurecht. Gut, dass es dunkel war und niemand sah, dass er rot wurde.

»Wieso denn jetzt ich?«, fragte er, als er die belustigten Blicke der Versammelten auf sich spürte.

»Einer muss ja«, zuckte Slawa mit den Schultern.

»Stimmt schon«, bemerkte Schenja. »Du bist ja nicht mal neunzehn, und wir alle sind weit über zwanzig. Für die sind wir alte Knacker. Außerdem siehst du …« Er lachte kurz auf. »Na ja, sag jedenfalls nicht, wir hätten dich nicht gewarnt.«

»Lass gut sein«, knuffte Irina ihn in die Schulter. »Macht dem Armen doch keine Angst.«

Zu Wolodjas Erleichterung war das Thema damit erledigt, man ging zu Charkiw über. Fast alle stammten von da, nur Slawa kam aus Mykolajiw. Sie redeten über Plätze, an denen Wolodja noch nie gewesen war, und er beschloss, sich auf der Rückfahrt einen Tag Zeit zu nehmen, um Charkiw zu erkunden.

Wieder auf seinem Zimmer, blieb Wolodja bis weit nach Mitternacht wach und schrieb das Theaterstück, das ihm die Leonidowna anvertraut hatte, in sein Heft ab, und selbst danach war er so nervös angesichts des bevorstehenden Tages, dass er sich bis in die Morgenstunden im Bett herumwälzte.

Am nächsten Morgen, als sie die Kinder abholen fuhren, schaute sich Wolodja, statt zu dösen, Charkiw an. Aus irgendeinem Grund hatte er immer gedacht, es sei eine kleine Stadt, grau und trist, aber Charkiw eroberte sein Herz, sobald sie von der Schnellstraße abfuhren. Pappelflaum flog durch die Straßen, wirbelte zwischen den Plattenbauten umher, landete weich am Straßenrand. Der Bus manövrierte sich lange durch die Randbezirke, bevor sie plötzlich im Zentrum auftauchten: An die Stelle der Platten traten vorrevolutionäre Prachtbauten, statt über Asphalt rumpelten die Busräder jetzt über Pflastersteine. An manchen Ecken erinnerte Charkiw Wolodja an Moskau – breite Alleen, sowjetische Prachtarchitektur, sogar an einem Gebäude, das wie eines der Stalin-Hochhäuser aussah, kamen sie vorbei.

Obwohl sie anderthalb Stunden vor dem verabredeten Zeitpunkt vor Ort waren, wimmelte der Platz vor der Fabrik schon von Menschen. Kaum hatten Wolodja und Lena sich die rote »5« an die Nickis geheftet, wurden sie von Eltern belagert, die mit Dokumenten wedelten. Der Trubel machte Wolodja nichts aus, er kam zurecht und hatte sogar Spaß. Im Bus dann brach ein Höllenlärm los.

Um die Kinder bei Laune zu halten, zauberte Lena selbst gemalte Plakate mit Pilzen und Beeren hervor und fragte deren Bezeichnungen ab. Während die Mädchen bereitwillig antworteten, beachteten die Jungs Lena gar nicht. Wolodja dämmerte, dass er sich von seinem gemütlichen Sitzplatz für den Rest der Fahrt verabschieden musste. Seufzend stand er auf und ging in den hinteren Teil des Reisebusses, die Meute beruhigen.

Die einen weinten laut nach Mama und wollten nach Hause, die anderen spielten Schere, Stein, Papier oder lasen in der Kinderzeitschrift Mursilka. Nur Ptschjolkin rannte durch den Bus und stiftete die anderen an, sämtliche Fenster aufzumachen, obwohl Lena vor fünf Minuten angeordnet hatte, sie dürften immer nur auf einer Seite geöffnet sein.

Wolodja schnappte sich den Unruhegeist, setzte ihn nach vorne neben Lena und ließ die Kinder die Fenster wieder zumachen.

Ptschjolkin schmollte. »Ich will nicht bei den Mädchen sitzen«, aber wenigstens kehrte etwas Ruhe ein.

Kaum hatte Wolodja verschnauft, begann ein anderer Unruhegeist, Äpfel zu verteilen. Das war Oleschka. Die Kinder kauten fröhlich drauflos, und nach fünf Minuten flogen die Apfelstrünke aus den wieder aufgerissenen Fenstern. Während Wolodja den Müll einsammelte, schrie sich Lena heiser, um die Jungs zu übertönen.

Wolodja hatte gehofft, bei der Rast endlich etwas Ruhe zu haben, aber nein. Er musste den Durchgang zwischen den Bussen bewachen, damit die wild gewordene Schar nicht auf die Straße rannte. Neidisch schielte er zu den anderen Gruppenleitern hinüber, deren Schützlinge zwar auch nicht hörten, aber wenigstens älter und nicht so aufgedreht waren. Kaum hatte er eine Minute nicht aufgepasst, entwischte ihm der kleine Sascha und wäre beinahe unter die Räder eines wie aus dem Nichts aufgetauchten Autos geraten. Wolodja packte ihn gerade noch rechtzeitig am Arm und zerrte ihn von der Straße. Der kleine Ausreißer bekam einen Tadel, lief rot an und entschuldigte sich; ihm war nichts passiert, aber Wolodja zitterte am ganzen Körper.

Als sie endlich die Schwalbe erreichten, stand Wolodja kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Das Ausladen ging ohne Zwischenfälle vonstatten, aber als alle ausgestiegen waren, lagen jede Menge Bonbonpapiere und Essensreste herum. Der Fahrer verlangte, dass aufgeräumt wurde – was natürlich an Wolodja hängen blieb.

Lena bekam die Schlüssel zu ihrer Baracke ausgehändigt, schloss auf, und sofort ergoss sich die ganze Kinderschar wie eine Lawine in die Schlafräume. Die Jungs kippten ihre Sachen über den Betten aus und prügelten sich fast darum, wer welches bekam.

Bevor sie in den Schlafraum der Mädchen ging, krächzte Lena heiser: »Wir haben keinen einzigen Punkt der Instruktion erfüllt, Wolodja. Olga Leonidowna ist irgendwo hier, ich habe ihre Stimme gehört. Wenn wir die Kinder nicht gezähmt bekommen, reißt sie uns nachher die Köpfe ab.«

Wolodja bat die Jungen flehentlich, sich endlich zu beruhigen – und plötzlich kehrte Stille ein. Er wusste selbst nicht, wie er das hingekriegt hatte. Sahen sie etwa, dass ihr Betreuer fix und alle war, und hatten Mitleid? Aber eine Verschnaufpause blieb Wolodja trotzdem nicht, es war schon Zeit für den feierlichen Appell. Und wieder ging alles von vorne los: Die Jungs schubsten, stritten, schrien und gehorchten nicht. Allen voran Ptschjolkin, der mal zum Karussell ausbüxen wollte, mal sich in das mit Kletten bewachsene Gebüsch stürzen.

Den Appell bekam Wolodja gar nicht richtig mit, er hörte zwar den Lagerleiter und seine Stellvertreterin auf der Bühne sprechen, aber er verstand nicht, was sie sagten. Während er mechanisch die Pionierhymne sang, die Hand zum Pioniergruß erhoben, wanderte sein Blick immer wieder nervös über die Köpfe seiner Schützlinge.

***

Am nächsten Tag gingen nach dem Mittag die Vorbereitungen für die Disco los, die anlässlich des neuen Durchgangs stattfinden sollte. Die einen dekorierten die Bühne, die anderen hängten Girlanden in die Bäume rings um die Tanzfläche. Wolodja war verantwortlich für die Musikanlage.

Er trug gerade zusammen mit ein paar Jungs die Lautsprecher aus dem Theater, als er hörte, dass es bei der Bühne einen waschechten Skandal gab.

Wolodja hatte den Anfang nicht mitbekommen und wusste deshalb nicht, was los war. Er sah nur, dass sich hinten beim alten Apfelbaum eine Menschentraube versammelt hatte, und hörte Olga Leonidownas Stimme: »Andere Methoden helfen ja nicht bei ihm! Gleich am ersten Tag randalierst du im Speisesaal, und jetzt machst du die Girlanden kaputt!«

»Das war keine Absicht!«

Es musste Konew sein, der sich da verteidigte. Wolodja sah genauer hin: Unter dem Apfelbaum standen zwei Pioniere, aber wer von den beiden Konew war, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Wolodja tippte auf den rothaarigen Kerl mit dem spitzbübischen Grinsen auf dem sommersprossigen Gesicht – der andere sah zu erwachsen aus, Wolodja hielt ihn für einen Betreuer. Aber nein.

»Jetzt kann Jura sich warm anziehen«, sagte Wanja aus der ersten Gruppe und deutete auf den vermeintlichen Betreuer.

»Selbst schuld. Mit fremdem Eigentum muss man eben vorsichtiger umgehen …«, sagte Wolodja belehrend, aber als er gerade zurück an die Arbeit wollte, ließ ihn Irinas Stimme aufhorchen.

»Er ist ein so begabter Junge, er braucht nur eine sinnvolle Beschäftigung«, legte sie für Konew ein gutes Wort ein. »Zum Beispiel beim Sportzirkel, oder, Jura? Oder bei der Theaterbrigade – Wolodja hat doch zu wenig Jungs …«

Wolodja ließ vor Schreck das Kabel der Lichtanlage fallen. Sie wollten den Raufbold zu ihm, dem Neuen, stecken? Das fehlte ja noch!

»Wolodja!«, riss die schrille Stimme der stellvertretenden Lagerleiterin ihn aus seinen Grübeleien. Er zuckte zusammen und eilte hin.

»Ja, Olga Leonidowna?«

»Darf ich vorstellen – dein neuer Schauspieler. Und damit er nicht auf dumme Ideen kommt, werden deine Befugnisse erweitert. Über seine Fortschritte ist jeden Tag zu berichten.«

Wolodja trat näher und musterte das Problemkind: dunkle Wuschelhaare, groß. Seine riesigen braunen Augen, die gleichzeitig vor Wut und Kränkung funkelten, und seine Stirn, die in verzweifelten Falten lag, brannten sich regelrecht in Wolodja ein.

»Verstanden, Olga Leonidowna. Konew …« Wolodja tat so, als wüsste er den Vornamen nicht mehr, und fügte nach einer Pause möglichst trocken hinzu: »Jura, oder? Die Proben beginnen gleich um sechzehn Uhr im Theatersaal. Sei bitte pünktlich.«

Wenn man es mit einem Haudegen zu tun hatte, musste man von Anfang an als Respektsperson auftreten, dachte sich Wolodja. Also streckte er die Schultern durch und warf Konew einen strengen Blick zu.

»Verstanden, pünktlich sein!«, salutierte Jura, die Hacken zusammenschlagend.

Der spielt sich nur auf, dachte Wolodja. Na, der wird sich noch wundern.

Er beschloss, möglichst viel über Jura in Erfahrung zu bringen, und machte sich auf die Suche nach Irina.

Auf dem Weg zur Baracke von Gruppe eins erinnerte er sich: Was hatte Olga Leonidowna noch mal gesagt, sechzehn war dieser Konew?

Irina war nicht da, dafür stand auf der mit rosa Petunien bewachsenen Veranda ein blondes Mädchen in kurzem gelbem Kleid und aß eine Birne.

»Hallo!«, rief Wolodja. »Ist Irina hier irgendwo?«

»Oh … Hallo.« Das Mädchen errötete und strich sich die Haare zurück. »Nein, sie musste weg. Soll ich ihr was ausrichten?«

»Nein, ist schon gut. Ich geh dann mal. Oder warte … Wie heißt du?«

»Was?«, fragte sie verlegen. »Ach so … Mascha.«

»Ich heiße Wolodja, freut mich.«

»Ja, mich auch«, antwortete sie schüchtern.

»Ich wollte fragen, ob du zufällig Jura Konew aus der ersten Gruppe kennst?«

Mascha zog die Augenbrauen zusammen. »Wer kennt den nicht? Der fährt jedes Jahr mit.«

»Ich seh schon, du kannst ihn wohl nicht besonders leiden …«, sagte Wolodja.

»Diesen Nichtstuer und Raufbold? Letztes Jahr hat er hier eine Schlägerei angezettelt, Sascha ist bestimmt seinetwegen dieses Jahr nicht da.«

»Verstehe. Na gut, ich muss dann los.«

Kaum hatte er sich umgedreht, rief ihm Mascha hinterher: »Willst du eine Birne? Ich hab viele davon. Hier.« Als sie sich bückte und aus ihrer Tasche eine große reife Birne holte, fielen ihre Haare lang herab.

»Eigentlich dürfen wir nichts …«, setzte Wolodja an, aber als er sah, dass Mascha rot anlief, nahm er das Geschenk doch an. »Danke. Wir proben heute Abend übrigens zum ersten Mal, und aus eurer Gruppe hat sich noch niemand außer Konew für die Theaterbrigade gemeldet. Willst du zu mir kommen?«

»Ja, sehr gerne …«, murmelte Mascha und wickelte sich eine Haarsträhne auf den Finger. »Ich liebe Theater. Außerdem spiele ich Klavier, da steht doch eins …«

»Du kannst spielen? Das ist ja großartig! Wie gut, dass ich dich getroffen habe!«

Wolodja wusste sofort, dass er das nicht hätte sagen dürfen: Mascha wurde noch röter und zupfte so nervös an ihrer Frisur herum, dass sich ihre Haarklammer löste und runterfiel. Wolodja bückte sich und hob sie auf.

»Oh, die ist kaputt …«

Nervös begann sie, ihr Haar zu ordnen, aber es war zu lang und schwer und wollte nicht gehorchen.

»Lässt sich bestimmt reparieren«, sagte Wolodja und fügte, um seine Verlegenheit zu kaschieren, hinzu: »Also abgemacht? Du wirst unsere Musikbeauftragte?«

Mascha kicherte vergnügt, nickte und sah Wolodja dabei direkt in die Augen. Weil er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, lächelte er nur konfus und steckte die Haarklammer in seine Hosentasche.

»Ich werd sie reparieren, und du holst sie abends bei der Probe ab, abgemacht?«

»Gut … Danke.«

Irina fand er bei den Tennisplätzen. Während sie seine Frage nach Konew beantwortete, ließ sie den Schläger gedankenversunken gegen ihren Oberschenkel dotzen.

»Hm, ich weiß nicht … Eigentlich ist Jura ein guter Kerl, aber er zieht Ärger magisch an. Es sind vielleicht Kleinigkeiten, aber die läppern sich zu einem großen Chaos: Er zertrümmert Teller, reißt Treppengeländer und Girlanden ab, raucht, geht ohne Erlaubnis ins Dorf und stiftet die Jüngeren an. Aber eigentlich ist alles im Rahmen. Wäre diese Schlägerei letztes Jahr nicht gewesen, mit dem Sohn von … na ja, diesem Bonzen …«, Irina verdrehte die Augen, »… würde niemand so einen Wind um Juras gelegentliche Ausfälle machen.«

»Und worum ging es bei der Schlägerei?«

»Hm …« Irina überlegte und warf Wolodja einen nachdenklichen Blick zu: »Stell dir vor, ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich ein blöder Konkurrenzkampf unter Jungs.«

Irina wurde von einem Trio kokett lächelnder Mädchen aus ihrer Gruppe abgelenkt. Das Lächeln galt natürlich Wolodja, der lieber schnell Richtung Theatersaal floh.