Dunbar und seine Töchter - Edward St Aubyn - E-Book

Dunbar und seine Töchter E-Book

Edward St Aubyn

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Beschreibung

Edward St Aubyns meisterhafter Roman über einen machtbesessenen und eitlen Despot am Ende seines Lebens

Sein ganzes Leben lang hat Henry Dunbar auf nichts und niemanden Rücksicht genommen, besessen von der Vision, seinen kleinen Zeitungsverlag zu einem Medienkonzern auszubauen. Auf dem Zenit seiner Macht hat nur noch einen einzigen, aber mächtigen Feind: das Alter. Dunbar weiß, er muss sein Reich in die Hände seiner Töchter legen. Nur zwei der Kinder hält er für geeignet. Doch das Leben erteilt ihm eine bittere Lektion.

In seinem neuen Roman, inspiriert von Shakespeares König Lear, seziert Edward St Aubyn gekonnt innerfamiliäre Beziehungen. "Dunbar und seine Töchter" ist ein brillantes Lehrstück über Egoismus, Starrsinn und die Erkenntnis, wie leicht einem am Ende des Lebens alles Erreichte aus den Händen gleiten kann.

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Seitenzahl: 330

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Über das Buch:

Sein ganzes Leben lang hat Henry Dunbar auf nichts und niemand Rücksicht genommen, besessen von der Vision, seinen kleinen Zeitungsverlag zu einem Medienkonzern auszubauen. Auf dem Zenit seiner Macht hat er nur noch einen einzigen, aber mächtigen Feind: das Alter. Dunbar weiß, er muss sein Reich in die Hände seiner Töchter legen. Er hat sie hart erzogen, sie von klein auf zu gegenseitigen unerbittlichem Konkurrenzkampf angehalten. Die beiden Älteren, Abigail und Megan, sind zu seiner Zufriedenheit geraten: ehrgeizig, verschlagen, ruchlos. Doch die jüngere Tochter, Florence, schlägt aus der Art: sanft und voller Empathie will sie ein Leben fern der Geschäftswelt ihres Vaters führen. Dunbar ist darüber tief enttäuscht und schließt sie vom Erbe aus. Aber als Abigail und Megan mit Hilfe ihrer intriganten Ehemänner nach der Macht greifen, ist es Florence, die sich um den ob des Verrats nun geistig umnachteten Vater kümmert. Zu spät erkennt Dunbar, dass er sein Leben lang den falschen Werten nachjagte.

Edward St Aubyns meisterhafter Roman über einen machtbesessenen und eitlen Despoten am Ende seines Lebens ist eine geniale Neuerzählung von Shakespeares König Lear.

Über den Autor:

Edward St Aubyn, geboren 1960, stammt aus einer der bekanntesten und ältesten Familien des englischen Hochadels. Er durchlebte eine schwierige Kindheit, verbrachte die meiste Zeit davon in Internaten, wurde bereits als Jugendlicher drogenabhängig und brauchte Jahre, um von seiner Sucht loszukommen. Er verarbeitete diese traumatischen Erlebnisse in mehreren Romanen, deren Veröffentlichung als Tabubruch empfunden wurde.

Edward St Aubyn lebt in London.

Edward St Aubyn

Dunbar und seine Töchter

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen

Knaus

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Dunbar« bei Hogarth, 

 einem Imprint der Penguin Random House Group, London

Dieser Roman ist Teil der Reihe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2017 by Edward St Aubyn

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 beim Albrecht Knaus Verlag, 

 in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: © shutterstock: Fernando Garcia Esteban / Hanna Alandi / italianphoto

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-17700-3V002www.knaus-verlag.de

Für Kate

1

»Mit dem Stoff ist jetzt Schluss«, flüsterte Dunbar.

»Mit dem Stoff ist jetzt Schluss/Und im Kopf nur noch Stuss«, sagte Peter, »Doch zu Haus nur Verdruss/Mit dem Stoff ist jetzt Schluss! Gestern«, fuhr er mit einem verschwörerischen Flüstern fort, »haben wir noch die Revers unserer Frottee-Bademäntel vollgesabbert, aber jetzt haben wir den Stoff abgesetzt! Wir haben ihn ausgespuckt, haben die Gummibäume ruhiggestellt! Wenn die frischen Lilien, die Sie jeden Tag geschickt bekommen …«

»Wenn ich bloß daran denke, von wem die sind«, knurrte Dunbar.

»Nur die Ruhe, alter Knabe.«

»Erst stehlen sie mir mein Reich, und dann schicken sie mir stinkende Lilien.«

»Oh, Sie hatten mal ein ganzes Reich, wirklich?«, sagte Peter im Ton einer beflissenen Hotelempfangsdame, »Sie müssen unbedingt Gavin von Zimmer 33 kennenlernen, er ist inkognito hier, aber sein richtiger Name«, Peter senkte die Stimme, »ist Alexander der Große.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, maulte Dunbar, »der ist doch schon seit Jahren tot.«

»Also«, sagte Peter, jetzt ganz Facharzt von der Harley Street, »wenn diese verwirrten Lilien an einer schizophrenen Disposition leiden – ich spreche von einer Disposition, von einem leichten Hang ins Schizoide, nicht von dem voll ausgebildeten Defekt –, werden ihre Symptome unter Vermeidung schwerwiegender Nebenwirkungen deutlich zurückgedrängt.« Er beugte sich vor und flüsterte: »Da hab ich meine abgesetzten Medikamente entsorgt: in der Vase mit den Lilien!«

»Mir gehörte mal ein ganzes Reich«, sagte Dunbar. »Hab ich Ihnen schon die Geschichte erzählt, wie es mir gestohlen wurde?«

»Schon oft, alter Knabe, schon oft«, sagte Peter versonnen.

Dunbar stemmte sich aus dem Armsessel, machte ein paar unsichere Schritte, richtete sich zu voller Größe auf und blinzelte in das grelle Licht, das durch das Panzerglas seiner 1.-Klasse-Zelle hereinfiel.

»Ich hab Wilson gesagt, dass ich den Aufsichtsratsvorsitz behalte«, begann Dunbar, »ich behalte das Flugzeug, die Leute, die Liegenschaften und die mir zustehenden Privilegien, aber ich werde mich der Lasten« – er nahm die große Vase mit den Lilien und stellte sie behutsam auf den Boden –, »der Lasten entledigen, die die operative Führung des Konzerns mit sich bringt. Von jetzt an, hab ich ihm gesagt, ist die Welt mein perfekter Spielplatz und, wenn es eines Tages an der Zeit ist, mein privates Hospiz.«

»Oh, das hört sich gut an«, sagte Peter, »›die Welt ist mein privates Hospiz‹, den kannte ich noch nicht.«

»›Aber der Konzern ist alles‹, hat mir Wilson gesagt.« Je tiefer Dunbar in die Geschichte vordrang, desto mehr erregte sie ihn. »›Wenn Sie den abgeben‹, hat er gesagt, ›dann bleibt Ihnen nichts mehr. Sie können nicht etwas abgeben und gleichzeitig behalten.‹«

»Eine unhaltbare Position«, warf Peter dazwischen, »wie R.D. Laing zum Bischoff gesagt hat.«

»Bitte lassen Sie mich meine Geschichte erzählen«, sagte Dunbar. »Ich hab Wilson gesagt, es ist eine Frage der Steuern, wir können die Erbschaftssteuer vermeiden, wenn wir die Firma den Mädchen schon jetzt überschreiben. ›Sie zahlen besser die Steuern‹, hat Wilson geantwortet, ›anstatt sich selbst zu enterben.‹«

»Oh, der gefällt mir, dieser Wilson«, sagte Peter. »Klingt nach einem ernstzunehmenden Menschen, nach jemandem mit Sinn für die richtige Dosis, Dosis an Härte und Stärke.«

»Härte und Mitgefühl«, sagte Dunbar unwirsch, »er war schließlich kein Unmensch; meine Töchter sind die Unmenschen.«

»Kein Unmensch?«, sagte Peter. »Was für ein Langweiler! Wenn ich so richtig antidepressiv eingestellt bin, werde ich so was von zum Unmenschen, da kann der Führer einpacken.«

»Mag sein, mag sein«, sagte Dunbar. Er sah zur Decke hoch und polterte dann mit Wilsons Stimme von oben herab: »Sie können nicht an den Insignien der Macht festhalten, ohne die Macht selbst zu haben. Das ist einfach nur«, er machte eine Pause, versuchte das Wort zu meiden, ließ es aber schließlich doch vom Stuck an der Decke auf sich niedersausen, »dekadent.«

»Oh, Dekadenz, Verfall und Tod«, sagte Peter mit theatralischem Tremolo, »der Abstieg, Silbe für Silbe, in ein enges Grab. Leichtfüßig wie Fred Astair sind wir jene Stufen herabgetänzelt, haben dabei eine Sense statt eines Spazierstocks geschwungen!«

»Herr im Himmel«, sagte Dunbar, und sein Gesicht lief rot an, »könnten Sie bitte aufhören, mich zu unterbrechen? Nie haben die Leute es gewagt, mich zu unterbrechen; sie haben mir demütig gelauscht. Wenn sie das Wort ergriffen, dann um mir zu huldigen oder um schmeichelhafte Andeutungen zu machen. Aber Sie, Sie …«

»Okay, Leute«, sagte Peter und tat, als würde er sich an eine aufgebrachte Menge wenden, »lassen wir ihn reden, den Mann. Hören wir uns an, was er zu sagen hat.«

»›Ich kann tun und lassen, was ich verdammt noch mal will!‹«, rief Dunbar. »Das hab ich Wilson gesagt. ›Ich setze Sie in Kenntnis von meiner Entscheidung, ich bitte Sie nicht um Ihren Rat. Setzen Sie sie um!‹«

Wieder hob Dunbar den Blick zur Decke.

»›Ich bin nicht bloß Ihr Anwalt, Henry; ich bin der älteste Freund, der Ihnen geblieben ist. Ich sage dies alles, um Sie zu schützen.‹«

»›Sie messen unserer Freundschaft eine zu große Bedeutung bei‹, donnerte ich los. ›Ich lasse mich nicht belehren, was die Firma angeht, die ich selbst aufgebaut habe.‹« Dunbar schüttelte die Faust zur Decke hinauf. »An dieser Stelle ergriff ich ein Fabergé-Ei, das in einem Nest von Seidenpapier auf meinem Schreibtisch lag – es war das dritte in dem Monat: wie einfallslos doch die neureichen Russen sind, ein Haufen jüdischer kleptokratischer Emporkömmlinge, die sich als Romanow-Prinzen gebärden, ›ich brauch deren verdammten Russki-Schrott nicht‹, brüllte ich und warf das Ei in den Kamin hinter meinem Schreibtisch, so dass Perlen und Emailsplitter über den Boden hüpften. ›Wie nennen meine Töchter dieses Zeugs?‹, fragte ich Wilson. ›Klunker! Verdammte Russki-Klunker!‹ Wilson zeigte natürlich keine Reaktion; derartige ›kindische Ausraster‹ waren bei mir inzwischen an der Tagesordnung und sorgten für Unruhe in meinem Ärzteteam. Wissen Sie«, sagte Dunbar aufgeregt zu Peter, »ich kann jetzt seine Gedanken lesen. Ich habe …«

»Ich fürchte, dass es sich um die erste Stufe der Einsicht in Ihre Psychose handelt«, sagte Peter, ganz der Harley-Street-Facharzt.

»Ach, Papperlapapp, tun Sie nicht so, als wären Sie Arzt.«

»Und wer soll ich sein?«, fragte Peter.

»Seien Sie Sie selbst, Herrschaft noch mal.«

»Oh, den Part hab ich noch nicht drauf, Henry. Geben Sie mir eine einfachere Rolle. Wie wär’s mit John Wayne?« Peter wartete die Antwort nicht ab. »Wir werden hier die Fliege machen, Henry«, sagte er gedehnt, »und morgen bei Sonnenuntergang marschieren wir in den Windermere Saloon und bestellen beim Barmann ein paar Drinks, wie zwei richtige Männer, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.«

»Ich muss meine Geschichte erzählen«, jammerte Dunbar. »Mein Gott, passen Sie doch auf, dass ich nicht durchdrehe.«

»Wissen Sie«, sagte Peter, ohne auf Dunbars Hilferuf einzugehen, »ich bin oder ich war oder ich bin gewesen – wer weiß, ob ich nicht längst Geschichte bin? –, jedenfalls bin oder war ich ein berühmter Komödiant, aber ich leide unter Depressionen, das komische Leid oder das tragische Leid der Komiker oder das historische Leid der Tragikomiker oder die Fiktion vom tragischen Leid der historischen Komödianten!«

»Bitte«, sagte Dunbar, »Sie verwirren mich.«

»Oh, ich bin von Kopf bis Fuß antidepressiv eingestellt/ antidepressiv eingestellt«, sang Peter, sprang von seinem Stuhl auf, hakte sich bei Dunbar unter und riss ihn mit in eine Drehung, »ich bin total von Kopf bis Fuß antidepressiv eingestellt/das nennt man nur noch manisch!« Plötzlich blieb er stehen und löste sich von Dunbars Arm. »Das Geräusch quietschender Reifen«, sagte er unvermittelt mit einer Stimme wie aus dem Off und fing an zu schauspielern, »während er am Rande des Abgrunds tapfer mit dem Steuer kämpft.«

»Ich habe Ihre vielen Gesichter gesehen«, sagte Dunbar unbestimmt, »auf zahllosen Leinwänden.«

»Oh, ich behaupte nicht, einzigartig zu sein«, sagte Peter mit der Arroganz der Bescheidenheit. »Ich bin nicht der Einzige. 1953, als meine achtlose Mutter mich hinausstieß in dieses Tal der Tränen, gab es allein im Londoner Telefonbuch bereits zweihunderteinunddreißig Peter Walkers; na ja, nicht so sehr allein als vielmehr dicht an dicht.«

Dunbar stand wie erstarrt mitten im Zimmer.

»Aber ich schweife ab«, sagte Peter jovial. »Erzählen Sie mir von Ihrem ›Ärzteteam‹, alter Knabe.«

»Mein Ärzteteam«, sagte Dunbar und packte im stürmischen Taumel seiner Gedanken hilfesuchend das rettende Geländer eines vertrauten Begriffs. »Ja, ja; am Tag, bevor ich Wilson meine Entscheidung mitteilte, hatte Dr. Bob, mein Leibarzt, Wilson beiseitegenommen und ihm von einigen ›kleineren zerebralen Störungen‹ bei mir berichtet. Er sagte zu Wilson, es bestünde ›kein Grund zu übertriebener Sorge‹.«

»Kann denn übertriebene Sorge ganz generell angebracht sein«, fragte Peter, »solange es derart viele Dinge gibt, bei denen überhaupt eine Sorge überfällig ist?«

Dunbar machte eine wegwerfende Handbewegung, wie ein Mann, der eine hartnäckige Fliege verscheucht.

»Aber«, fuhr Dunbar fort, »dieser wortgewandte Arzt – diese vergoldete Schlange, dieser Dodekaeder –, der sich einen Experten schimpfte, weil ich oder wir oder jedenfalls meine Wenigkeit, Henry Dunbar, sein einziger Patient war«, sagte er und schlug sich an die Brust, »Henry Dunbar.«

»Doch nicht Henry Dunbar, der kanadische Medienmogul!«, fragte Peter mit gespielter Neugierde. »Einer der reichsten und wohl mächtigsten Männer der Welt?«

»Ja, ja, das bin ich, oder wir, oder wenigstens ist das mein Name – meine Grammatik umkreist gewisse Überlegungen, sie schlingert, wird in den einen oder anderen Strudel hineingesogen. Wie dem auch sei, dieser hassenswerte Verräter, mein Arzt, meinte, es sei besser, meine Anfälle auf ein ›Minimum‹ zu reduzieren; meine Umgebung solle ihnen weiter keine Beachtung schenken und nicht den Eindruck erwecken, man nähme sie allzu ernst.«

»Die Anfälle werden morgen Nachmittag ihren Höhepunkt erreichen«, verkündete Peter, »wenn Hurrikan Henry den Lake District überquert. Schaulustigen wird empfohlen, sich im Keller zu verkriechen oder an einen Felsen zu ketten.«

Dunbar ruderte mit den Armen, um immer mehr Fliegen zu verscheuchen.

»Ich … ich. Wo war ich? Ach ja, nach meinem kleinen Wutausbruch verhielt sich Wilson ruhig, weil er wohl meinte, so sei es am besten. Derweil fiel mein Blick auf das Ei; die Oberfläche war abgeplatzt und beschädigt, aber darunter war das ganze Ding aus Gold, und es hatte nicht in dem Maße Schaden genommen, wie es meiner Stimmung entsprochen hätte. Ich ging hinüber und traktierte das provokante Spielzeug mit dem größtmöglichen mir zu Gebote stehenden Zorn, aber das Ei leistete mehr Widerstand als erwartet und rutschte unter meinem Schuh weg. Im letzten Moment hielt ich mich am Kaminsims fest, um einen schmachvollen Sturz abzuwenden. Ich sah, wie sich der treue Wilson erhob und wieder in seinen Stuhl zurücksank. Der Schreckmoment riss mich aus meiner Wut und versetzte mich in einen milderen Gemütszustand.«

»›Ich werde alt, Charlie‹, sagte ich zu Wilson, hob das Spielzeugei auf und unterdrückte dabei jenes Angstgefühl, das mich seit dem dummen Unfall in Davos in seinem Bann hielt: die ewige Furcht, wieder zu stürzen, meinem heimtückischen Körper nicht mehr trauen zu können. ›Ich will nicht länger dieses Ausmaß an Verantwortung tragen‹, sagte ich. ›Die Mädchen werden sich um mich kümmern, nichts lieben sie mehr, als ihren alten Vater zu umsorgen.‹«

»Anders ausgedrückt«, sagte Peter mit starkem Wiener Dialekt, »›er machte seine Töchter zu seiner Mutter!‹ So sprach Freud zum Bischoff an der Ecke von Heimatstraße und Wanderlust.«

»Ich öffnete das mir nächste Fenster«, fuhr Dunbar unbeirrt fort, »und schmiss das Ei hinaus. ›Da wird sich jemand ganz schön freuen‹, sagte ich.«

»›Solange es niemanden am Kopf trifft‹, sagte daraufhin Wilson. ›Köpfe sind zerbrechlicher als Gold.‹«

»Oh, der weise Wilson«, sagte Peter.

»›Ich denke, wir hätten den Schmerzensschrei inzwischen längst gehört‹, versicherte ich ihm und nahm hinter meinem Schreibtisch Platz. ›Die Menschen können ihr Entzücken besser verbergen als ihren Schmerz. Hier‹, sagte ich und bot Wilson ein Geschenk an, ›wollen Sie eins? Ich hab genug von diesen Russki-Klunkern für ein ganzes Fabergé-Omelette.‹ Ich zog die Schublade auf und warf eine glitzernde Weihnachtskugel durch den Raum. Wilson, der jahrzehntelang Fangball mit mir und meiner Familie gespielt hatte, seit jenem ersten Sonntag, als er uns alle beim Baseball im Garten angetroffen hatte wie eine ganz normale Familie – eine Familie, die ganz normale Familie spielte –, Wilson also fing sie problemlos auf, betrachtete die Linien aus winzigen Diamanten, die kreuz und quer über die purpurrote Oberfläche liefen, und ließ das Schmuckstück kommentarlos auf den Tisch neben seinem Sessel rollen, wo es zitternd neben seiner leeren Kaffeetasse aus Meissener Porzellan liegen blieb.«

»Ich kann gar nicht genug bekommen von solchen Einzelheiten, Darling«, sagte Peter, ganz der begeisterte Theaterregisseur, »einfach nicht genug.«

»›Sie sollten zumindest ein größeres Aktienpaket halten‹, sagte Wilson, ›und ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie Global One auf keinen Fall behalten dürfen. Kein Privatmensch besitzt eine 747.‹

›Dürfen?‹, donnerte ich los, ›dürfen? Wer wagt es, Dunbar seine Wünsche abzuschlagen? Wer wagt es, Dunbar seine Marotten zu versagen?‹«

»Natürlich niemand«, sagte Peter. »Dunbar allein hat die Macht oder hatte die Macht oder hatte einstmals die Macht.«

»Ich mache es zur Bedingung für die Schenkung! Bei Gott, ich werde meinen Willen durchsetzen.«

Ein Klopfen an der Tür ließ Dunbar schlagartig verstummen. Der Ausdruck eines Gejagten lag auf seinem Gesicht.

»Schnell«, sagte Peter, sprang auf und lief zu ihm. »Immer dran denken, alter Knabe: So tun, als würden Sie Ihre Medikamente nehmen, aber nicht runterschlucken«, flüsterte er. »Morgen ist der Tag der Befreiung, der Tag des großen Gefängnisausbruchs.«

»Ja, ja«, flüsterte Dunbar, »der große Ausbruch. Herein!«, rief er großtuerisch.

Peter hatte angefangen, die Titelmusik von Mission: Impossible zu summen, und zwinkerte Dunbar zu.

Dunbar versuchte, mit einem Zwinkern zu antworten, musste aber feststellen, dass er die Augenlider nicht einzeln kontrollieren konnte, so dass er lediglich ein paarmal blinzelte.

Zwei Krankenschwestern schoben einen Wagen mit Arzneifläschchen und Plastikbechern ins Zimmer.

»Einen schönen Nachmittag, meine Herrn«, sagte Schwester Roberts, die ältere der beiden. »Wie geht es uns heute?«

»Ist es Ihnen jemals in den Sinn gekommen, Schwester Roberts«, fragte Peter, »dass es in uns und allemal zwischen uns mehr als nur eine einzige Gefühlsregung geben könnte?«

»Ah, wieder die alten Tricks, Mr. Walker«, sagte Schwester Roberts. »Waren wir denn heute bei unserer Gruppensitzung?«

»Wir waren bei unserer Gruppensitzung, und ich freue mich berichten zu können, dass zwischen den Gruppenteilnehmern in der Gruppe ein wohltuendes Gruppengefühl geherrscht hat.«

Schwester Muldoon musste kichern.

»Ermuntern Sie ihn nicht noch«, sagte Schwester Roberts mit einem missbilligenden Seufzen. »Wir versuchen nicht wieder auszureißen und in die Kneipe zu gehen, nicht wahr?«

»Wofür halten Sie mich?«, fragte Peter.

»Für einen zügellosen Alkoholiker«, sagte Schwester Roberts spöttisch.

»Was auf der Welt könnte einen Menschen dazu bewegen, diesen für seine einzigartige Schönheit berüchtigten Ort zu verlassen?«, sagte Peter mit theatralischem Tremolo. »Dieses Paradies natürlicher Beruhigungsmittel, dieses Tal, durch das gleich einem seidigen Fluss die Milch der menschlichen Freundlichkeit fließt, denn nur sie vermag die geistigen Beschwerden seiner von keinerlei finanziellen Nöten beschwerten Kundschaft zu lindern?«

»Hm«, sagte Schwester Roberts, »treiben Sie es nicht zu bunt.«

»Hier im Schloss Meadowmeade«, sagte Peter und verwandelte sich in einen deutschen Kommandeur, »herrscht neunundneunzigprozentige Sicherheit! Der einzige Grund, warum keine hundertprozentige Sicherheit herrscht, liegt darin, dass Sie einen Ihrer eigenen Offiziere auf dem Fenstersims ausgesperrt haben und ihm ein Finger abgefroren ist!«

»Jetzt reicht’s mit dem Unsinn«, sagte Schwester Roberts. »Warum steht die Vase am Boden? Schwester Muldoon, wenn Sie so freundlich wären. Und würden Sie dann bitte Mr. Walker zurück in sein Zimmer begleiten. Mr. Dunbar braucht sein Nachmittagsschläfchen. Es ist Zeit, sich zu verabschieden und ihm ein bisschen Ruhe und Frieden zu gönnen.«

»Wir sehn uns, Kumpel«, sagte John Wayne mit einem Augenzwinkern.

Dunbar blinzelte zurück, um zu zeigen, dass er verstanden hatte.

Nachdem die anderen fort waren, ging Schwester Roberts mit dem Wagen voran ins Schlafzimmer.

»Ich finde, dass Mr. Walker kein guter Umgang für Sie ist«, sagte sie. »Er regt Sie bloß auf.«

»Ja«, sagte Dunbar demütig, »Sie haben ganz recht, Schwester. Er ist ein bisschen aufdringlich. Manchmal macht er mir geradezu Angst.«

»Das überrascht mich nicht, mein Lieber. Um ehrlich zu sein, The Many Faces of Peter Walker hat mir nie sonderlich gefallen – hab immer umgeschaltet. Danny Kaye kann ich jeden Tag schauen. Die Zeiten waren damals einfach unschuldiger. Oder Dick Emery, über den hab ich mich immer totgelacht.« Sie schüttelte Dunbars Kissen auf, während er auf der Bettkante saß und das Bild eines verwirrten alten Mannes abgab.

»Jetzt ist es Zeit für unsere Nachmittagsmedizin«, sagte Schwester Roberts. Sie stellte zwei Fläschchen beiseite und nahm einen Plastikbecher vom Becherturm in der Wagenecke.

»Hier haben wir die schöne grüne und die braune, da fühlen wir uns gleich ganz warm und wuschelig«, erklärte sie in einer einfachen Sprache, die auch der arme alte Dunbar verstand, »und dann gibt’s noch die große weiße, damit die dummen Ideen verschwinden, dass unsere Töchter uns nicht liebhaben, wo sie doch unseren hübschen langen Ferienaufenthalt hier in Meadowmeade bezahlen und dafür sorgen, dass wir die wohlverdiente Ruhe finden nach all den vielen Jahren als sehr sehr beschäftigter und bedeutender Mann.«

»Ich weiß, dass sie mich lieben, wirklich«, sagte Dunbar und nahm den kleinen Becher. »Ich bin nur manchmal ein bisschen durcheinander.«

»Natürlich sind Sie das«, sagte Schwester Roberts, »darum sind Sie ja hier, mein Lieber, damit wir Ihnen helfen können.«

»Ich hab noch eine Tochter …«, setzte Dunbar an.

»Noch eine Tochter?«, sagte Schwester Roberts. »Oje, ich werde mit Dr. Harris ein ernstes Wort wegen Ihrer Dosierungen reden müssen.«

Dunbar kippte sich die Pillen in den Mund und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das Schwester Roberts ihm hinhielt. Er lächelte seine Pflegerin dankbar an, legte sich aufs Bett und schloss ohne ein weiteres Wort die Augen.

»Und jetzt machen Sie ein hübsches kleines Schläfchen«, sagte Schwester Roberts und schob den Wagen aus dem Zimmer. »Träumen Sie schön!«

In dem Moment, als er hörte, dass die Tür geschlossen wurde, öffnete Dunbar abrupt die Augen, setzte sich auf und spuckte die Pillen in die Hand. Dann schob er sich aus dem Bett und schlurfte zurück ins Wohnzimmer.

»Ungeheuer«, brummte er, »Aasgeier, die mir an Herz und Eingeweiden zerren.« Er stellte sich ihr struppiges Kopfgefieder vor, verklebt mit geronnenem Blut und Fleischresten. Heimtückische lüsterne Schlampen, die seinen Leibarzt erniedrigten – den Mann, der ermächtigt war, Dunbar zu behandeln, Blut- und Urinproben zu nehmen, ihn auf Prostatakrebs zu untersuchen, mit einer Taschenlampe in seinen Rachen zu leuchten und seine zarten Mandeln zu begutachten; man durfte gar nicht daran denken, man durfte nicht daran denken – seinen Leibarzt erniedrigten sie zu ihrem ganz und gar persönlichen Leibgynäkologen, ihrem Luden, ihrem Beschäler, ihrem Schlangendildo!

Er stieß die Pillen mit zitternden Daumen den Vasenhals hinab.

»Ihr glaubt wohl, ihr könnt mich mit euren Medikamenten kastrieren, was? Passt lieber auf, meine kleinen Schlampen, ich komme zurück. Ich bin noch nicht fertig. Ich werde Rache nehmen. Ich werde … Ich weiß noch nicht, was ich tun werde … aber ich werde …«

Die Worte wollten nicht kommen, der Entschluss wollte keine Gestalt annehmen, aber die Wut brandete weiter in ihm hoch, bis er zu heulen anfing wie ein zum Angriff bereiter Wolf, ein leises, langsam anwachsendes Heulen, das nirgendwohin konnte. Er hob die Vase über den Kopf, bereit, sie durch sein Gefängnisfenster zu werfen, aber dann erstarrte er, unfähig, sie zu schmeißen oder wieder hinzustellen, jegliche Aktion war unterbunden durch die exakt ausgewogenen Kräfte von Omnipotenz und Impotenz, die keinerlei Regung von Körper und Geist erlaubten.

2

»Aber warum verrätst du mir nicht, wo er ist?«, fragte Florence. »Er ist schließlich auch mein Vater.«

»Liebling, natürlich verrate ich dir, wo er ist«, sagte Abigail mit rauchiger Stimme, deren kanadischer Akzent mit einer dicken Schicht englischer Erziehung übertüncht war. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und geneigten Kopf und zündete sich eine Zigarette an. »Mir fällt bloß im Moment nicht der Name von dem verdammten Laden ein. Ich sorge dafür, dass du ihn später gemailt kriegst – versprochen.«

»Wilson ist Henry nach London nachgereist, weil er sich Sorgen um ihn gemacht hat«, sagte Florence, »und an dem Tag, als er angekommen ist, wurde er gefeuert. Nach vierzig Jahren …«

»Ich weiß, ist das nicht schrecklich?«, sagte Abigail und sah mit leerem Blick aus dem Schlafzimmerfenster auf die sonnenbeschienenen Häuserblocks Manhattans. »Daddy ist in letzter Zeit so nachtragend.«

»Wilson sagt, er habe ihn noch nie so durcheinander erlebt«, sagte Florence. »Offensichtlich hat er nach der psychiatrischen Untersuchung, zu der du ihn geschickt hast, auf der Hampstead High Street Passanten angepöbelt. Alle seine Kreditkarten hat der Geldautomat gefressen, und als er dann noch feststellen musste, dass sie ihm das Handy abgestellt haben, hat er es unter einen vorbeifahrenden Bus geschmissen. Ich begreife nicht, wie das passieren konnte.«

»Na ja, du weißt ja, wie ungeduldig er ist.«

»Das meine ich nicht, ich meine, wie seine Karten und sein Handy …«

»Schatz, er hatte einen schweren Anfall, und die Polizei hat ihn in Selbstgespräche vertieft in einem hohlen Baum in Hampstead Heath gefunden.«

»Wenn man alle, die Selbstgespräche führen, in die Psychiatrie steckt, gibt es niemanden mehr, der die Betreuung übernehmen kann.«

»Jetzt werde ich aber gleich sauer«, sagte Abigail. »Dr. Bob«, fuhr sie fort und lächelte den vor ihr liegenden Mann an, die dramaturgische Ironie auskostend, die seine Erwähnung bedeutete, »hat festgestellt, dass Daddy unter massiven psychotischen Störungen leidet.«

Dr. Bob hob zwei Daumen, um ihr zu dieser imposanten Formulierung zu gratulieren.

»Und jetzt ist er im besten und komfortabelsten Sanatorium der Schweiz untergebracht«, fuhr Abigail fort. »Zu dumm, dass mir der Name nicht einfällt, er liegt mir auf der Zunge. Um ehrlich zu sein, als ich die Website gesehen habe, hätte ich mich am liebsten selbst dort angemeldet: Es sieht aus wie der Himmel auf Erden. Es tut mir leid, wenn ich eben ein bisschen sauer reagiert habe, aber es ist doch nicht so, dass wir Daddy weniger lieb haben als du; in Wahrheit kümmern wir uns doch schon viel länger um alles, man könnte also ebenso gut sagen, dass wir ihn doller lieb haben – wenn man die akkumulierten Erträge zugrunde legt. Aber im Ernst, die Märkte betrachten ihn nach wie vor als obersten Repräsentanten des Konzerns, und wenn das Gerücht die Runde macht, Henry Dunbar habe den Durchblick verloren, könnte es sein, dass wir morgen um ein, zwei Milliarden Dollar ärmer aufwachen, was den Wert der Aktien angeht, und übermorgen noch mal um zwei – dazu braucht es nichts weiter als ein Gerücht.«

»Der Aktienkurs interessiert mich nicht; mir kommt es einzig darauf an, dass es ihm gut geht. Wenn er Probleme hat, will ich helfen.«

»Oh, wie selbstlos von dir!«, sagte Abigail. »Na ja, einige von uns haben ihm schon dabei geholfen, die Dunbar-Gruppe zu führen, denn das ist es, was er sein ganzes Leben lang getan hat, falls du es nicht bemerkt haben solltest. Ich weiß, dass Du beschlossen hast, dich aus dem ›schmutzigen Machtspiel‹ rauszuhalten und lieber Künstlerin zu werden oder deine Kinder in einer ›gesunden Umgebung‹ großzuziehen. Gott behüte, dass du dich um etwas Ordinäres wie einen Aktienkurs kümmern musst – solange allmonatlich die Einkünfte aus Kapitalvermögen auf deinem Konto eingehen.«

»Ach, lass deine Tiraden, Abby. Ich will ihn doch nur sehen, weiter nichts«, sagte Florence. »Bitte mail mir so schnell wie möglich die Adresse.«

»Natürlich, mach ich, Liebling. Lass uns nicht streiten, die Sache ist viel zu … Oh, sie hat aufgelegt«, sagte Abigail, machte ihr Telefon aus und warf es scheppernd auf den Nachttisch. »Meine Güte, das Mädchen geht mir auf die Nerven«, sagte sie, ließ den Morgenmantel zu Boden gleiten und stieg zurück ins Bett. »Manchmal bin ich so weit, da könnte ich sie mit bloßen Händen erwürgen.«

»Das solltest du lieber lassen«, sagte Megan, die auf der anderen Seite von Dr. Bob lag und ein gefährlich gelangweiltes Gesicht machte. »Engagier besser einen Profi.«

»Meinst du, den könnten wir von der Steuer absetzen?«, kicherte Abigail. »›Betriebsbedingte Ausgaben?‹«

Ein Lächeln huschte über Megans Gesicht, die sich auf ihren Missmut einiges einbildete.

»Mädels!«, sagte Dr. Bob in gespieltem Entsetzen, »hier ist die Rede von eurer Schwester.«

»Halbschwester«, stellte Megan richtig.

»Wir wären schon ganz zufrieden, wenn du ihr den Teil rausoperierst, der nicht Dunbar ist, hab ich recht, Meg?«

»Hört sich nach einem vernünftigen Kompromiss an«, sagte Megan.

»Sie hat die langen Beine ihrer Mutter«, sagte Abigail.

»Und die Augen ihrer Mutter«, sagte Megan.

»Egal, wir müssen sie nur noch fünf Tage hinhalten, bis zur Sitzung am Donnerstag«, sagte Abigail. »Dann haben wir den Aufsichtsrat hinter uns. Es wird Zeit, dass Daddy den Posten als ›Aufsichtsratsvorsitzender‹ abgibt – das war wie ›Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass‹ –, all diese Scheißaktennotizen!«

»Deine E-Mail hat mir gefallen«, sagte Megan plötzlich lebhaft, »DADDY WIRD EWIG LEBEN.«

»Ich weiß, es gehört sich nicht, darüber zu lachen«, sagte Abigail, »aber ich stell mir die ganze Zeit vor, wie er auf der Hampstead High Street die Leute anschnauzt: ›Los, erledigen Sie dies! Los, erledigen Sie das!‹«

»Damit lässt sich bis dato seine emotionale Intelligenz auf den Punkt bringen«, sagte Megan: »dass er schreit: ›Los, erledigen Sie das!‹, und entweder er kriegt seinen Willen, oder er schmeißt jemanden raus. Erinnerst du dich an seinen Gesichtsausdruck, als wir ihm gesagt haben, dass er nicht mit der Global One nach London fliegen kann?«

»›Wozu brauchst du eine 747!‹, hab ich ihn gefragt«, sagte Abigail. »›Du kannst eine von den Gulfstreams nehmen – die sind doch viel gemütlicher.‹ Ich hatte Angst, dass er an Ort und Stelle einen Herzanfall kriegt.«

»›Eine Gulfstream‹«, sagte Megan und ahmte den Mauliges-Kind-Tonfall ihres Vaters nach. »›Was meinst du, wen du vor dir hast? Für wen hältst du mich irrigerweise? Für einen, der bloß reich ist?‹«

»Er hat immer gesagt, wir sollen in geschäftlichen Dingen nicht sentimental sein, und wir halten uns nur an das, was wir gelernt haben«, sagte Abigail gehorsam. »Als es darum ging, Mummy während der Auseinandersetzungen ums Sorgerecht in die Psychiatrie einweisen zu lassen, hat er sich weiß Gott keine Sentimentalitäten erlaubt. Na, jetzt erfährt er eben am eigenen Leibe, wie die Medizin schmeckt, die er damals verabreicht hat. Und deine Medizin«, fügte sie hinzu, als befürchte sie, Dr. Bob könnte sich übergangen fühlen. »Was hast du ihm denn verschrieben?«

»Ein unspezifisches Enthemmungsmittel. Es soll seine Beeinflussbarkeit erhöhen, seine Paranoidität, wenn sich in seinem Umfeld etwas Schlimmes ereignete«, sagte Dr. Bob und hoffte, dass das Zimmer nicht verwanzt war.

»Es ist schon erbärmlich, dass es so wenig gebraucht hat«, sagte Megan. »Wo sind deine inneren Ressourcen, Dunbar?«, spottete sie. »Kein Geld, kein Handy, kein Auto, kein Gefolge und ein paar ungemütliche Fragen von unserem Freund, dem Psychiater – mehr war nicht nötig, damit er sich in Hampstead Heath winselnd in einen hohlen Baum verkriecht.«

»Er kann froh sein, dass er einen hohlen Baum gefunden hat«, sagte Abigail wie ein Kindermädchen, das seinen Schützling anweist, sich besser auf sein Glück zu besinnen statt rumzujammern.

»Aber das Beste ist, dass er seinen getreuesten Verbündeten gefeuert hat«, sagte Megan. »Das ist kaum zu fassen. Wir hätten große Probleme gehabt, Wilson loszuwerden, und es war ein Geschenk des Himmels, dass wir mit großem Bedauern die letzte unter voller Zurechnungsfähigkeit erteilte Anweisung unseres Vaters zur Kenntnis nehmen und seinen Anwalt aus dem Vorstand entfernen durften.«

»Also«, sagte Dr. Bob in dem Bemühen, das Gespräch von seinem ehemaligen Patienten weg auf ein anderes Thema zu lenken, »ich möchte bloß sagen, dass ich erfreut bin, mich als den glücklichsten Mann der Welt bezeichnen zu können.« Er schlug sich einen Takt auf die aufgestellten Oberschenkel und fing an, einen Song aus Cabaret zu singen, der ihm nicht aus dem Sinn gehen wollte.

Beedle dee, dee, dee, dee

Two ladies

Beedle dee, dee, dee, dee

Two ladies

Beedle dee, dee, dee, dee

And I’m the only man, ja!

»Hör bitte mit diesem schrecklichen Lied auf«, sagte Megan. »Das Letzte, was wir brauchen, ist ein Titelsong für unsere äußerst nützliche ménage à trois.«

»Das stimmt«, sagte Abigail und tat so, als würde sie, ehe sie sich des realen Modells auf dem Nachttisch besann, ihre Zigarette in einem imaginären Aschenbecher auf Dr. Bobs Brust ausdrücken.

»Ihr beide seid wirklich ein Herz und eine Seele«, sagte Dr. Bob. »Als Mann kann man das Fürchten kriegen in eurer Gegenwart.«

»Tu nicht so, als würdest du ein bisschen Furcht nicht durchaus genießen«, sagte Abigail, fasste seine Brustwarze und zwirbelte sie fest.

Dr. Bob stöhnte auf und schloss die Augen.

»Fester!«, keuchte er.

Megan stieg begeistert mit ein und versenkte die Zähne in der anderen Seite seiner Brust.

»Mein Gott!«, schrie Dr. Bob auf, » zu viel!«

Megan hob den Blick und lachte.

»Mein Gott«, wiederholte er und schlängelte sich auf der Mittelritze zum Ende des Bettes, um der grausamen Umklammerung der Frauenkörper zu entkommen.

»Feigling«, sagte Abigail.

»Entschuldigung, ich muss mir nur kurz die Brustwarze wieder annähen«, sagte Dr. Bob. »Ich möchte nicht der erste Mann in Amerika sein, der unfreiwillig mit einem Brustimplantat herumläuft.«

Dr. Bob griff sich eine elegante Tasche, die mehr nach Direktor als nach Doktor aussah, und verschwand splitternackt im Badezimmer. Als er im Spiegel den Schaden an seiner Brust begutachten wollte, registrierte er in der unnatürlichen bläulichen Tönung, die seine Sicht behinderte, dass der Viagrarausch sein Gesicht dunkel färbte. Die Ansprüche der unersättlichen Schwestern brachten ihn zur Strecke. Die Nebenwirkung, die er am meisten fürchtete, war eine Dauererektion.

Der Inhalt des Koffers strahlte eine unmittelbare beruhigende Wirkung auf ihn aus, derer er dringend bedurfte. Im oberen Fach standen, von Ledergurten mit Klettverschlüssen gehalten, kleine Flaschen mit injizierbaren Flüssigkeiten: Ketamin, Diamorphin, und Lidocainhydrochlorid, das er gleich brauchen würde, um seinen abgekauten Nippel zu anästhesieren, während er ihn wieder annähte. Er nahm die Flasche mit Lidocain, die in der Mitte der zweiten Reihe stand, und stellte sie auf den Waschbeckenrand. Auf einem Tablett im unteren Teil der Tasche lagen alle möglichen Instrumente – Skalpelle, Retraktoren, Kanülen, eine Knochensäge, ein Stethoskop, Arterienklemmen und so weiter –, jedes in einer passend ausgeformten purpurroten Samtmulde. Er hob das Tablett heraus, unter dem sich eine Schicht gleicher orangefarbener Plastikröhrchen mit Medikamenten verbarg, die dicht bei dicht in purpurnen Samtvertiefungen lagen. Er schüttete sich ein paar Percocet in die Hand und schluckte sie; dann nahm er instinktiv, um die einschläfernde Wirkung des Schmerzmittels zu kompensieren und sich wach zu halten, eine Dexedrine. Bei den Dunbar-Schwestern konnte sich ein Mann Müdigkeit nicht erlauben.

Nachdem sich Dr. Bob das Lidocain in den Brustmuskel injiziert hatte, öffnete er ein Spezialfach in seinem Koffer und nahm eine Halbbrille mit starken Gläsern heraus. Er knipste die Schminkspiegelleuchte an und inspizierte die vergrößerte und hell erleuchtete Wunde. Es war eine schwierige Operation, wollte man sie an sich selbst vornehmen: Er musste die Wunde mit einer Pinzette offen halten und dann die Ränder festnähen, wozu er einen Nadelhalter und schwarzen Faden verwendete, doch dank seines Könnens und seiner Erfahrung war das Ergebnis eine gleichmäßige Reihe von Stichen und ein am Ende der Naht sauber hervorstehendes dünnes Stück Faden.

Er staunte immer wieder über Megans Verderbtheit; sie war es, die in eine Anstalt gehörte, nicht ihr Vater. Dr. Bob konnte sich eine Zukunft mit Abigail (vage) vorstellen, nur war sie allmählich zu alt und legte den absurden Hochmut eines Mädchens an den Tag, das von der gelangweilten Blasiertheit seines englischen Internats übermäßig stark geprägt war. Sie war vorwiegend amoralisch, manchmal konventionell moralisch und häufig opportunistisch unmoralisch – mit anderen Worten, sie war normal, so wie er. Megan dagegen war eine verdammte Psychopathin, die in die Obhut einer Klinik gehörte, wo man mit diesem Krankheitsbild umzugehen verstand. Am Ende würde er auf beide verzichten. Vorläufig aber hatte er sich auf ihre Bestechung eingelassen und den Sitz im Aufsichtsrat akzeptiert, dazu jährliche Bezüge in Höhe von sechseinhalb Millionen Dollar und Optionen auf Aktien im Umfang von eins Komma fünf Prozent des gesamten Dunbar-Aktienvolumens. Das war sein Preis für ein Gutachten, demzufolge ein achtzigjähriger Mann mit manipulierten Angstzuständen nicht mehr in der Lage war, eines der komplexesten Firmenimperien der Welt zu führen. Kein schlechter Deal. Er hatte im Laufe der vergangenen zwölf Jahre nach und nach Aktien angesammelt, der alte Mann hatte ihm regelmäßig welche als Weihnachtsgratifikation gegeben, und er hatte seine sämtlichen liquiden Mittel in die Konzernpapiere investiert.

Ein Klopfen an der Tür ließ Dr. Bob in dem Bedürfnis nach zusätzlichem Schutz zu seiner Pflasterrolle greifen.

»Kann ich reinkommen?«, fragte Megan ruhig, beinahe reumütig.

»Okay«, antwortete Dr. Bob und schnitt hastig ein großes Stück Pflaster ab.

Megan kam ins Badezimmer spaziert und küsste ihn auf die Schulter.

»Es tut mir leid, ich weiß, ich bin ein bisschen zu weit gegangen«, sagte sie.

»Ich verzeih dir«, sagte Dr. Bob.

Sie strich ihm mit den Fingernägeln sanft über die Brust bis hinab zur Hüfte. Das Viagra trat in Aktion.

»Hier«, sagte Megan, setzte sich auf die Kante des marmornen Waschtisches und schlang Dr. Bob die Beine um die Taille. »Besorg’s mir hier.«

Dr. Bob legte das Pflaster beiseite und fasste Megans Beine gleich oberhalb der Knie. Sie senkte ihre schweren Schenkel hinab auf seine Hände, so dass sie auf dem Waschtisch festgeklemmt waren, und mit einer flinken Bewegung hackte sie wie ein Greifvogel mit spitzen Zähnen auf die Wunde in seiner Brust ein.

»Da hab ich dich«, sagte sie mit einem triumphierenden Lachen.

Dr. Bob sprang zurück und befreite seine Hände.

»Du irres Dreckstück!«, schrie er.

»Sag so was nicht noch mal, oder ich lass dich ausnehmen wie einen Fisch«, sagte Megan.

Dr. Bob zählte bis zehn, wie er es Dunbar so oft wie erfolglos empfohlen hatte, in der Hoffnung, seine Wut zu bändigen.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Das will ich auch hoffen«, sagte Megan, sprang vom Waschtisch und stellte sich vor ihn hin. Sie fasste das schwarze Fadenstück, das am Ende der Naht hervorstand, und zog kräftig daran.

»Das hast du davon, wenn du mich so scheußlich nennst«, sagte sie.

»Das hab ich durchaus verdient«, sagte Dr. Bob, und aus der wieder aufgerissenen Wunde tropfte Blut.

»Okay, meine kleinen Turteltäubchen«, sagte Abigail, deren Kopf in der Badezimmertür erschien, »ich muss jetzt zurück zu meinem grässlichen Mann.«

»Und ich muss zurück zur Asche von meinem«, sagte Megan und schlüpfte an ihr vorbei in den Flur.

»Vergiss nicht, dass du heute Abend bei uns zum Essen bist«, sagte Abigail zu Dr. Bob.

»Wie könnte ich das vergessen?«, sagte Dr. Bob. Wie könnte er das jemals vergessen? Die drei waren inzwischen untrennbar miteinander verbunden wie Bergsteiger am Seil in einer vereisten Steilwand bei Sonnenuntergang.

3

»Wer bin ich?«

»Sie sind Henry Dunbar, wer sonst?«, sagte Schwester Roberts und zog die Vorhänge auf.

»Ich rede nicht von meinem Namen, Sie dumme, dumme Frau«, brummte Dunbar, »ich rede davon, wer mir sagen kann, wer ich bin, wer ich wirklich bin.«

»Ich schätze es nicht, dumm genannt zu werden«, sagte Schwester Roberts, »und wer Sie heute Morgen ›wirklich‹ sind, das kann ich Ihnen sagen: Sie sind ein sehr unhöflicher alter Mann, der Schwester Roberts eine Entschuldigung schuldet.«

»Entschuldigung, Schwester Roberts«, sagte Dunbar im vagen Gefühl, dass an diesem Tag etwas höchst Wichtiges geschehen würde und er jeglichen Ärger vermeiden sollte.

»Das hört sich schon besser an«, sagte Schwester Roberts. »Wir sind bloß Menschen, und wir haben alle mal Tage, an denen wir mit dem falschen Fuß aus dem Bett kommen, nicht wahr?«

»Ganz gewiss«, sagte Dunbar, »das gilt für fast jeden Tag.«

»Und, frühstücken wir jetzt einsam und allein auf unserem Zimmer, oder machen wir uns die Mühe und gehen in den Speisesaal und unterhalten uns nett mit dem einen oder anderen Gast?«, fragte Schwester Roberts.

»Wir machen uns die Mühe«, sagte Dunbar.

»Das hör ich gern«, sagte Schwester Roberts, stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht hinter den unnötigen Rollstuhl und schob ihn über den dicken Teppich, während Dunbar sich zurücklehnte und sie herzergreifend anlächelte.

Da er befürchtete, die Morgenpillen könnten sich unter seiner Zunge allmählich auflösen, simulierte er einen Hustenanfall und schaffte es, sie in sein Taschentuch zu spucken. Ohne seine Medikamente verspürte er eine größere Lebenskraft, aber auch größere Wut und Empörung. Nun, da die Räder der Spekulation und des Begehrens sich schneller zu drehen begannen, fühlte er, wie sie eine zunehmend größere Kraft entwickelten, aber er wusste nicht, ob sie sich anhalten ließen, bevor sie ganz außer Kontrolle gerieten. Er wollte nicht wieder diese Qual, die er nach dem Besuch beim Psychiater in Hampstead empfunden hatte. Das bitte nicht noch einmal, dieses Gefühl, dass es rein gar nichts Festes gab und dass der Boden, auf dem er stand, lediglich ein halbfertiges Puzzle war, das ein grausames und ungeduldiges Kind auseinanderzureißen versuchte. Und das Schlimmste war, dass er dieses Kind war – es gab niemand anderen, den er sonst für den allgegenwärtigen Verrat verantwortlich machen konnte; am Ende bestand der Horror in der Art und Weise, wie sein Geist funktionierte.

»Sie bleiben heute drinnen, Sie dürfen mit dieser grässlichen Erkältung nicht raus«, sagte Schwester Roberts. »Ich weiß nicht, warum Sie die großen schweren Stiefel angezogen haben. Wären unsere Pantoffeln nicht viel bequemer?«

»Nicht das schon wieder«, murmelte Dunbar. Er konnte den übergriffigen Irrsinn nicht ertragen, aber er konnte auch das übergriffige Irrenhaus nicht ertragen. Er brauchte Peter, der ihm bei der Flucht helfen musste. Wenn er heute nicht den Ausbruch schaffte, dann würde er vielleicht nie von hier wegkommen; er würde vielleicht in einem Zimmer mit stinkenden Lilien sterben, während Schwester Roberts ihm die Hand tätschelte.

»Was war denn das, mein Lieber?«

Er musste sich zusammenreißen, musste den perfekten Heuchler geben. Dunbar, bekannt für seine Direktheit, für seine Meinungsstärke, für seine erstaunlichen Fusionen und Übernahmen, Dunbar musste lernen, den Heuchler zu geben.

»Nein«, sagte Dunbar. »Ich bleibe heute drinnen, setze mich behaglich ans blaue Feuer.«

»Ans blaue Feuer?«, fragte Schwester Roberts, in deren Ohren der Ausdruck verdächtig pornographisch klang.

»Der Fernseher«, sagte Dunbar. »Sieht immer aus wie ein auf dem Kaminrost flackerndes blaues Feuer.«

»Oh«, sagte Schwester Roberts erleichtert, »das hört sich sehr gemütlich an.«