Dünenschrei - Heike Messal - E-Book

Dünenschrei E-Book

Heike Messal

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Beschreibung

Urlaub auf einem Hausboot – dazu haben Sylke und ihre Tochter zwei Freundinnen eingeladen. Doch ihre Freude wird getrübt. Gleich in der ersten Nacht finden sie eine verstörte Frau vor ihrer Tür. Sie hat panische Angst. Aber vor wem? Und wovor? Warum musste sie fliehen? Die Frauen wollen ihr auf dem Hausboot Schutz geben – und geraten in einen gefährlichen Strudel aus Geheimissen, Lügen und Verrat. "Dünenschrei" ist nach "Düsterstrand" und "Klippenfall" der dritte Fehmarn-Thriller von Meike Messal – ein unbedingtes Muss für alle, die Hochspannung von der Insel lieben.

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Ähnliche


Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Info

Meike Messal
Dünenschrei
Fehmarn-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Fehmarn.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2023
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Meike Messal
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-255-3
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-245-4
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Meike Messal wurde 1975 in Minden geboren. Nach dem Abitur lebte sie für einige Zeit in Israel und Südafrika und studierte in Hamburg Germanistik, Anglistik und Amerikanistik. Anschließend unterrichtete sie in Schleswig-Holstein. Die Wege an die Küste waren kurz und Messal, die das Meer liebt, verbrachte ihre Freizeit am liebsten am Wasser. Besonders hatte und hat es ihr Fehmarn angetan.
Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern wieder in ihrer Heimat und unterrichtet an einem Mindener Gymnasium. Wann immer es die Zeit zulässt, findet man sie jedoch an ihrem Sehnsuchtsort – auf Fehmarn. Nach Nachtfahrt ins Grauen und Atemlose Stille spielen ihre aktuellen Kriminalromane Düsterstrand, Klippenfall und nun auch Dünenschrei daher auf ihrer Lieblingsinsel.
Messal ist außerdem als Herausgeberin aktiv und veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten.
Weitere Informationen zu der Autorin unter www. messal.com
Für Wolfgang, meinen Vater
Du bist wie ein Tag am Meer –
voller Sonne, Wärme und Glück
Prolog
Über dem Wasser schimmerte ein Licht. Mit letzter Kraft schwankte sie darauf zu. Auf den schmalen Streifen Helligkeit, der auf den Wellen tanzte. Dort musste sie hin, dort würde es Rettung für sie geben.
Die Nacht war von einem tiefen Schwarz, schwere Wolken verhängten den Himmel. Unmöglich zu erkennen, wohin sie ihre Füße setzte. Aber es war nicht mehr weit. Da vorne beim Licht, da waren Menschen.
Schemenhaft tauchte der Umriss eines Hausbootes auf, als sie sich dem Hafen näherte. Das Werft-Gelände war ausgestorben, nur der Wind pfiff hohl durch die Masten der Schiffe. Es hörte sich wie ein Stöhnen an. Überall Finsternis, allein das Boot ganz am Ende des Stegs streute diese Handvoll Helligkeit in die Nacht. Verbissen steuerte sie darauf zu, zog ihr rechtes Bein hinter sich her. Sie konnte es nicht richtig bewegen, der Knöchel schmerzte. Brombeerranken streiften sie, umklammerten ihre Arme. Wo kamen die her? Ein Dorn ratschte durch den groben, zerrissenen Wollpullover in ihr Fleisch und sie wimmerte auf.
Für einen Moment blieb sie stehen, wischte sich über das Gesicht. Sie würde es schaffen. Nur noch ein paar Meter.
Leises Lachen wehte zu ihr hin. Sie sammelte sich, ignorierte den Schmerz, der durch ihren Körper floss. Einen Schritt. Und noch einen.
Jetzt sah sie die Tür des Hausbootes deutlich vor sich, das Grau hob sich ab, fast konnte sie den Arm danach ausstrecken. Sie wurde schneller, umklammerte mit beiden Händen ihren Oberschenkel, zog das rechte Bein mit.
Verstand nicht, warum sie plötzlich ins Leere trat. Warum sie vornüberkippte und fiel. Aufschlug und sofort sank.
Wieso bloß war da Wasser und kein Steg?
Dann dachte sie gar nichts mehr. Die kalte Ostsee umschloss sie so schnell, dass sie vor Schock erstarrte. Ihre Kleidung sog sich voll, zerrte sie nach unten. Verzweifelt riss sie die Augen auf, drehte panisch ihren Kopf. Eine solche Schwärze hatte sie noch nie erlebt. Sie strampelte, aber ihre Beine waren furchtbar schwer, eine Eishand umklammerte ihre Lunge. Nach oben, sie musste hoch!
Doch ihr Wollpullover war wie Blei an ihren Armen. Ein Tintenfisch, der sie gepackt hatte und in die Tiefe zog. Nein, das durfte nicht sein! Sie musste hier raus, musste atmen!
Wo war oben, wo war unten? Sie hing fest in dem schwarzen Raum.
So durfte das alles nicht enden … Sie war doch kurz davor gewesen … Nein, so wollte sie nicht … so wollte … sie … nicht …
Sie zog ihre Beine an den Körper, einen Schwimmzug, aber ihre Stiefel waren zu schwer.
Ich schaffe es nicht. Der Gedanke war plötzlich in ihrem Kopf, glasklar. Die Wasseroberfläche war weit weg und unerreichbar und die Finsternis so tief und endlos.
Kapitel 1
»Es wird kalt.« Fröstelnd zog Sylke die Decke enger um ihre Schultern und kuschelte sich tiefer in die dicken Kissen des Strandkorbes.
Levke rückte näher an sie heran. »Aber es ist so schön hier draußen.« Sie ließ lächelnd ihren Blick über den Hafen schweifen. Von der Dachterrasse des Hausbootes hatte man eine grandiose Aussicht. Tagsüber konnte man das quirlige Leben im Hafen Burgstaaken beobachten, nachts kam man sich vor wie auf dem offenen Meer. Die Masten der Segelschiffe waren kaum auszumachen, nur die Wellen schlugen sacht gegen die hölzernen Wände. Heiser schrie in der Ferne eine Möwe.
»Wunderschön«, stimmte Sylke zu und griff nach Levkes Hand. »Tausend Dank noch mal, Levi, für diese tolle Idee. Ein paar Tage auf einem solchen Boot, das ist einfach ein Traum.«
»Es heißt Floating home«, korrigierte Levke sie lachend. »Es ist kein Boot, weil es fest im Hafen liegt und nicht fahren kann.«
Lauras Hand tauchte zwischen all den Kissen und Decken auf, sie hielt ein Weinglas hoch in die Luft. »Aber es sieht aus wie ein Boot. Und schnurzegal, was es ist, es ist wunderschön. Also, auf unsere gemeinsame Auszeit! Und auf diesen XXL-Strandkorb, in den wir alle drei hineinpassen.« Levke und Sylke ließen ihre Gläser gegen Lauras klirren.
»Wäre Emmi nicht schon müde gewesen und zu Bett gegangen, wäre es doch etwas eng.« Sylke schob sich ein Kissen in den Rücken und lächelte bei dem Gedanken an ihre Tochter, die den Strandkorb nachmittags bei der Ankunft gleich als ihren neuen Lieblingsplatz auserkoren hatte und stundenlang nicht herauszubekommen war.
Nun schlief sie hoffentlich tief und fest. Seit sie im Sommer entführt worden waren und um ihr Leben hatten kämpfen müssen, zeigten die Nächte Emmi ihr düsteres Gesicht. Oft wachte sie auf, schrie in einem Albtraum auf oder wälzte sich unruhig hin und her. Sylke hoffte, dass die Wellen, die Geräusche des Meeres, die Emmi so liebte, ihr halfen, zur Ruhe zu kommen. Sylkes Laden Fehmarn und Meer, in dem sie ausgesuchte kunstgewerbliche Ware nicht nur als Souvenirs für Touristen verkaufte, hatte sie für das lange Wochenende um den Tag der Deutschen Einheit geschlossen. Sie hob das Weinglas erneut. »Auf uns vier! Auf unseren Urlaub! Was wollen wir morgen unternehmen?«
»Ich könnte hier die ganze Zeit auf der Terrasse liegen und in den Himmel schauen.« Levke blinzelte in die Nacht. »Schade nur, dass es so wolkig ist, man kann keinen einzigen Stern erkennen.«
Laura beugte sich ein wenig vor, um Sylke und Levke ansehen zu können. Das kleine Windlicht auf dem Tisch vor ihnen warf einen flackernden Schein auf die Frauen. »Ich bin dafür, dass wir uns morgen einfach durch Burgstaaken treiben lassen und spontan entscheiden. Vielleicht hat Emmi Lust, mit dem Boot zum Schaufischen rauszufahren? Wir können auch ins Museum Übersee gehen, das ist doch hier direkt nebenan. Verrückt, ich wohne schon so lange auf Fehmarn, aber die typischen Tourisachen habe ich noch nie unternommen.« Sie schwieg einen kurzen Augenblick. »Jedenfalls nicht mehr, seit ich ein Kind war«, fügte sie leise hinzu. »Dabei machen die bestimmt viel Spaß.«
»Gute Idee, wenn auch leckerer Fisch und anschließend ein großes Stück Kuchen im Kontor dabei herausspringt.« Levke nickte zufrieden vor sich hin. Wenn das Essen stimmte, war ein Tag schon mal grundsätzlich gut. Sie stieß Sylke in die Seite. »Und du? Worauf hast du Lust?«
»Ich finde, wir sollten alle etwas unternehmen, was wir noch nie auf Fehmarn gemacht haben, obwohl wir hier wohnen. Jede sucht etwas aus und nimmt die anderen mit.«
»Perfekt!« Laut schnalzte Levke mit der Zunge.
Laura prostete ihren Freundinnen erneut zu. »Dann auf neue Wege und …« Sie stockte mitten im Satz. Ein unnatürlich lautes Platschen schnitt durch die Nacht, nah, direkt hinter ihnen. Das Hausboot wackelte.
Sylke erstarrte. Von einer Sekunde auf die andere wandelte sich die friedliche Atmosphäre. Mit einem Mal wirkte die Dunkelheit bedrohlich und unheilvoll. Flackernde Schatten tanzten über die Holzplanken und schlagartig wurde Sylke, die sich eben noch neben ihren Freundinnen warm und geborgen gefühlt hatte, klar, dass sie die einzigen Menschen im Hafen waren.
Das Hausboot lag hinter der Werft ganz am Ende der hölzernen Stege, die sich durch den Hafen zogen. Tagsüber herrschte hier geschäftiges Treiben, aber nachts war der Hafen jetzt im Oktober leer und verlassen. Die Hausboote neben ihnen waren nicht vermietet. Als sie am Nachmittag das Boot bezogen, hatte ihr die Ruhe gefallen, die Abgeschiedenheit. Jetzt raubte ihr genau das den Atem. Ohne es zu wollen, zogen blitzschnelle Bilder an ihrem inneren Auge vorbei: Sein blutüberströmtes Gesicht, zu einer Fratze verzerrt. Sein keuchender Atem in der Finsternis. Das Gefühl, als sie fiel, die Klippe hinunter. Seine Gestalt, die am Strand von der Nacht verschluckt wurde.
Die Polizei hatte ihn noch nicht gefunden, er war weiterhin auf der Flucht. Er, ein Mörder, der Emmi und ihr seit Monaten den Schlaf raubte … seit ihrer Entführung im Sommer. War er zurückgekommen? Wollte sich an ihnen rächen? Dafür, dass sie entkommen waren? War er in das Hausboot eingedrungen, während sie oben gelacht und getrunken hatten? Hatte er Emilie aus ihrem Bett gezerrt und sie in das kalte Meer geworfen?
Laura war aufgesprungen, hatte die Decken zur Seite geworfen. »Was war das?«, rief sie. Ihre Augen leuchteten groß und weiß in der Dunkelheit. Auch sie hatte mit Dämonen zu kämpfen, das wusste Sylke nur allzu gut.
Sylke wollte antworten, doch ihr Mund fühlte sich trocken an. Levke hastete die schmalen Stufen hinunter, die von der Dachterrasse außen an dem Boot entlang direkt zum Eingang führten. »Levi, warte!« Jetzt kam ihre Stimme wieder, krächzend. Wenn er dort unten lauerte? Und Levke die Nächste war, die er ins Wasser stoßen würde? Sie wollte aufspringen, aber die Kälte in ihrem Inneren lähmte sie, schien sie mit aller Macht nach unten zu drücken, nahm ihr den Raum zum Atmen. Seit ihrer Entführung im Sommer hatte sie oft das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Am schlimmsten war es, wenn sie erschrak. Schlagartig erstarrte ihr Körper, sie konnte noch nicht einmal den kleinen Finger krümmen. Als sei sie hypnotisiert und dazu verdammt, wie eine bleiche Puppe in Raum und Zeit festzuhängen.
Laura packte ihre Schultern und schüttelte sie, zerrte sie aus dem Strandkorb und zog sie mit sich. Sylke bewegte sich steif und ungelenk.
»Emmi?« Immerhin kam ein Wort aus ihrem Mund, ihre panische Stimme fegte durch die kühle Luft. Lauras keuchender Atem war direkt neben ihr. Sie hatte Sylke unter den Achseln gepackt und schleppte sie mit sich die Treppen hinunter. Bei den letzten Stufen kam endlich Gefühl in Sylkes Körper zurück. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. Am Nachmittag hatte sich der Vermieter bei ihnen entschuldigt, dass die Lampen am Steg ausgefallen waren, und versprochen, sie schnellstmöglich zu reparieren. Völlig egal war ihr das da gewesen. Hätten sie doch bloß darauf bestanden, dass er den Schaden sofort behob!
Zwei Personen standen unten am Steg. Levkes roten Wollmantel konnte sie ausmachen. Die Person neben ihr war barfuß und trug nur ein helles, langes Shirt. Sylke blinzelte, dann stieß sie erleichtert die Luft aus. »Emmi!«, rief sie und wankte auf ihre Tochter zu. »Was machst du denn hier draußen?«
Emilie antwortete nicht, zeigte nur zitternd auf das dunkle Wasser. »Da ist jemand reingefallen«, stammelte sie. »Ich habe es genau gesehen.«
»Okay, ganz ruhig.« Froh, dass das Eis in ihr langsam schmolz, zog Sylke ihr Handy aus der Tasche. »Ich rufe den Rettungsdienst.«
»Bis die hier sind, ist es doch längst zu spät.« Emilie schwankte leicht. »Sie kommt einfach nicht wieder hoch.« Ehe Sylke sich versah, war Emilie einen Schritt nach vorne getreten, dann platschte es erneut, als das Wasser über ihr zusammenschlug.
»Bist du verrückt?« Fassungslos sah Sylke ihrer Tochter hinterher. Ohne nachzudenken ließ sie das Handy fallen, riss sich ihre Jacke vom Leib, warf ihre gefütterten Stiefel zur Seite und hechtete ins Wasser. Für einen Moment raubte ihr die Kälte den Atem. Ein paar schreckliche Sekunden fühlte sie ihre Arme nicht und hatte das Gefühl, unkontrolliert zu sinken. Doch endlich erinnerte sich ihr Körper. Es hatte etwas Gutes, wenn man nah am Strand wohnte und bis in den Spätherbst hinein in der Ostsee schwimmen ging. Drei Züge und ihr Kopf tauchte aus dem Wasser auf. »Emmi?« Hektisch schaute sie sich um. Ein heller Lichtkegel ließ sie blinzeln. Oben auf dem Steg standen zwei Schatten, der Schein von Lauras Taschenlampe tanzte auf den Wellen. »Mein Gott, passt auf euch auf!«, rief Levke ihr zu.
»Wo ist Emmi? Seht ihr sie?« Sylke zitterte und wusste nicht, ob es an dem kalten Wasser lag oder an der Angst, die ihr erneut die Kehle zuschnürte. Der Lichtkegel huschte suchend über die Wasseroberfläche. In dem Augenblick teilten sich die Wellen und Emilies nasse blonde Haare leuchteten direkt vor Sylke auf. Sie hustete und schnappte nach Luft. »Mama, da unten! Ich glaube, da ist was.« Und schon war sie wieder verschwunden. Schnell tauchte Sylke hinter ihr her, öffnete die Augen und sah – nichts. Eine undurchdringliche Finsternis umgab sie. Da packte sie eine Hand, zog sie nach vorne. Und Sylke spürte etwas Weiches, einen Pullover vielleicht. Sie krallte sich daran fest, zog. Verdammt, war der schwer. Die Luft ging ihr aus, Blut dröhnte in ihren Ohren. Noch einmal zog sie und mit einem Mal ging es leichter. Etwas berührte ihren Arm, das Wasser neben ihr bewegte sich. Sie zerrte an dem Pullover, nach oben, an die Oberfläche!
Keuchend tauchte sie auf, ließ nicht los. Und sah in dem Augenblick nicht nur die blonden Haare ihrer Tochter, sondern auch Lauras Kopf neben sich auftauchen. Sie war ebenfalls ins Wasser gesprungen, um ihnen zu helfen. Levke stand noch immer am Steg und leuchtete auf sie hinab. »Wir haben sie«, röchelte Laura. Mit vereinten Kräften zogen alle drei Frauen an dem Körper. Es gelang ihnen sogar, ihn auf den Rücken zu drehen, sodass die dunklen Haare sich an der Wasseroberfläche ausbreiteten wie ein Fächer. Sylke griff nach dem Kopf, umfasste ihn von hinten mit ihrem Arm. Levke hatte sich schon bäuchlings auf den Steg gelegt und packte den leblosen Körper an den Schultern. »Das schaffe ich nicht allein«, ächzte sie, während sie versuchte, die Person nach oben zu hieven. Sylke drückte von unten, versank dabei immer wieder, schnappte nach Luft. Wie Blei fühlte die Person sich an.
»Laura, komm hoch und hilf mir hier«, keuchte Levke, die weiterhin von oben an der Gestalt zerrte. »Okay.« Laura zog sich auf die Holzplanken und legte sich triefend neben Levke. Sie gaben nun zu zweit alles, die Person auf den Steg zu ziehen, während Sylke und Emmi von unten den Körper aus dem Wasser stemmten.
Sylke kam es wie eine Ewigkeit vor, aber irgendwann hatten sie es geschafft. Die Füße in dicken, tropfenden Winterstiefeln baumelten kurz so nah vor ihnen, dass Sylke und Emilie die davon herabfallenden Tropfen in die Augen bekamen. Dann hatten Laura und Levke die Frau ganz auf die Planken gezogen.
Dass es eine Frau war, die sie aus dem Wasser gefischt hatten, konnte Sylke im flackernden Schein der Taschenlampe gut erkennen. Ihr spitzes Gesicht wurde von rötlichen langen Haaren eingerahmt, die blasse Haut schimmerte durchsichtig im Mondlicht. Schnell warf Sylke einen Blick zu Emilie, ihre Augen blickten schreckensweit wie aus schwarzen Höhlen. Zwei dunkle Schatten hatten sich darunter geheftet. »Alles in Ordnung?«, fragte Sylke und schwamm direkt an ihre Tochter heran. Die schniefte, ihre Zähne klapperten leise. »Wir haben sie gerettet, oder?«, wisperte sie.
»Ganz bestimmt.« Obwohl Sylke nicht sicher war, legte sie alle Zuversicht in ihre Stimme. »Kannst du dich hochziehen?« Emilie nickte und saß ein paar Sekunden später auf dem Steg. Sylke folgte ihr. Sofort war Levke bei ihnen und wickelte sie mit den wollenen Decken aus dem Wohnzimmer ein. »Seid ihr okay?«, fragte sie besorgt. Das Licht ihrer Taschenlampe huschte von Emilie zu Laura. Die hatte ihr Ohr dicht an die Lippen der Frau gelegt und hielt gleichzeitig ihr Handgelenk. »Sie atmet und hat Puls«, rief sie schließlich erleichtert. »Habt ihr den Notruf gewählt?«
»Mach ich sofort!« Levke stürmte in das Hausboot zurück, wahrscheinlich um ihr Handy zu holen. Sylke schaute sich suchend nach ihrem um, konnte es aber nirgendwo entdecken. Hoffentlich war es nicht ins Wasser gefallen. Die Frau lag regungslos da. »Wir müssen sie in die stabile Seitenlage bringen«, sagte Laura. Verdammte Seitenlage, Sylkes letzter Erste-Hilfe-Kurs war zehn Jahre her. Oder zwanzig? Zum Glück schien Laura besser Bescheid zu wissen. Sie hatte schon den einen Arm der Frau nach hinten geschoben und war dabei, das Bein anzuwinkeln. Sylke robbte zu ihr hinüber und gemeinsam drehten sie die Frau zur Seite. Sylke zog die Decke von ihren Schultern und legte sie behutsam über den triefenden Körper. »Bitte«, flüsterte sie dabei, »sag doch was.«
Emilie war neben ihre Mutter gerutscht und griff nach ihrer Hand. »Was wollte sie hier?«, fragte sie. Aus der Decke, die bis zu den Schultern hochgezogen war, schaute nur ihre Nase heraus. »Mitten in der Nacht?«
Sylke runzelte die Stirn. Das war eine gute Frage. Gehörte ihr eins der Boote in Burgstaaken? Aber warum war sie genau vor ihrem Hausboot ins Wasser gefallen, das einsam und allein ganz am Ende des Hafens lag? Direkt vor einem Werftgelände, das nachts komplett ausgestorben war? Und wenn sie hier einen Liegeplatz hatte, hätte sie sich dann nicht auch im Dunklen besser auskennen müssen und den Sturz ins Wasser verhindern können?
Als hätte Emilie ihre Gedanken gelesen, fuhr sie leise fort: »Sie wusste nicht, dass zwischen dem gepflasterten Steinweg am Ufer und dem Holzsteg noch ein kleines Stück Wasser kommt. Ich glaube, das kann man in dieser Dunkelheit auch nicht erkennen. Sie dachte, dass der Steg direkt hinter dem Uferweg beginnt. Warum sollte sie sonst hineingefallen sein?«
In dem Augenblick hustete die Frau. Erleichtert starrten die drei sie an. Erneutes Husten, schließlich öffneten sich flackernd ihre Augen. Laura beugte sich über sie. »Sie sind in Sicherheit«, sagte sie beruhigend. »Wir haben Sie aus dem Wasser gezogen, der Rettungswagen wird gleich hier sein.«
Doch bei Lauras Worten war der Blick der Frau immer panischer geworden. Mit aufgerissenen Augen starrte sie an Laura vorbei in die Dunkelheit. Sie versuchte zu sprechen, aber es kamen nur gurgelnde Laute aus ihrem Mund.
»Es ist alles gut.« Lauras Stimme glich einem Singsang, einem Schlaflied für Kinder. »Sparen Sie Ihre Kräfte, atmen Sie einfach, ja? Ein und aus.« Sie machte es laut vor, beugte sich dabei weiter zu ihr hinunter. Doch die Frau sah sie nicht an, nahm sie gar nicht wahr. Ihre Augen irrten durch die Gegend. Sylke kroch näher zu ihr heran, legte ihre Hand auf den kalten Arm. Die Berührung ließ die Frau zusammenzucken, sie leckte sich über ihre weißen Lippen. »Er … wird … kommen«, flüsterte sie heiser. Sie drehte den Kopf, schaute in die Finsternis am Ufer. »Passt auf … er …«
Emilie sprang auf. Trotz der Decke zitterte sie noch stärker als im Wasser. »Was meint sie?«, fragte sie laut und sah sich dabei selbst hektisch um. »Wer wird kommen?«
»Es ist nichts! Sie steht unter Schock.« Sofort war Laura neben Emilie und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich denke, wir sollten reingehen und du legst dich wieder hin, hm?«
»Absolut richtig.« Energisch bekräftigte Sylke den Vorschlag und drehte sich zu Levke um, die gerade mit dem Handy in der Hand aus dem Hausboot stürmte. »Hast du die 112 erreicht?«
»Ja, sie werden bald hier sein. Sie haben gesagt, dass wir sie warmhalten sollen.«
»Sehr gut. Kommt, wir helfen ihr ins Wohnzimmer und legen sie aufs Sofa. Levke, kannst du eine Bettdecke holen?«
Sylke wollte der Frau unter die Arme fassen, doch deren Finger krallten sich in Sylkes Arm. »Er war … hinter mir.« Ihre Worte waren kaum verständlich, so heiser und rau klang ihre Stimme.
»Wer?« Irritiert runzelte Sylke die Stirn. »Von wem reden Sie? Was ist passiert?«
Die Frau zog sie noch näher an sich heran. Sylkes Ohr lag nun fast an ihrem Mund. »Er … er will … er will mich … töten. Und er ist … bestimmt gleich hier.«
*
Vielleicht sollte ich alles aufschreiben. Ich habe gelesen, das kann helfen. Helfen, seine Gedanken zu sortieren. Ob das stimmt?
In mir ist alles verbrannt. Eine verkohlte Fläche. Die Bäume ragen stumm und schwarz in den bleiernen Himmel, ihre Äste flehentlich nach oben gestreckt. Der beißende Rauch nimmt mir die Sicht. Ich möchte mich so gern davon befreien. Irgendwo ein bisschen Gras entdecken, wenigstens ein winziges bisschen Grün.
Immer wenn ich mich durch den heißen Nebel vorwärts kämpfe, sehe ich sein Gesicht. Es ist ganz schwarz von Ruß. Doch seine weißen Zähne sind gebleckt, sie grinsen mich an.
Ich möchte seinen Kopf greifen, ihn drehen und sein Gesicht auf den Boden drücken. In all die verbrannte Erde, die er hinterlassen hat. Möchte seinen Mund und seine Nase so fest in die schwelende Glut pressen, dass er keine Luft mehr bekommt. Dass er röchelt, hustet, würgt, während sich die Hitze in seine Haut brennt.
Eisern hält meine Hand ihn unten. Ganz fest. So lange, bis seine Arme nicht mehr um sich schlagen, seine Fußspitzen nicht mehr über den Boden kratzen. So lange, bis er ganz still daliegt und sich nicht mehr rührt. Bis er endlich still ist, da unten auf dem Boden. Und hier oben, in meinem Kopf.
Kapitel 2
»Geht es so?« Sylke zog die Bettdecke fester um die Frau.
»Ja.« Sie schaute Sylke nicht an, sondern sah aus dem Fenster, hinter dem sich nichts als Dunkelheit abzeichnete. Sie hatte ihren Wollpullover ausgezogen und eine Jacke von Sylke angenommen, sich aber geweigert, ihre nasse Hose abzulegen. Jetzt lag sie auf dem Sofa, doch ihre Augen huschten unablässig durch den Raum. Sie sah schon viel besser aus als ein paar Minuten zuvor. Ihre Haut war immer noch blass, aber inzwischen zeigte sich ein leichter Rosaton auf ihren Wangen. Die roten langen Haare hatte sie mit den Fingern glatt gestrichen, sodass sie nicht mehr so wirr abstanden.
»Was haben Sie denn hier gemacht? Wo wollten Sie hin?« Levke war an das Sofa herangetreten und sah die Frau neugierig an. Die starrte noch immer nach draußen.
»Ich … er hat …« Die Worte kamen stockend aus ihrem Mund.
Sylke setzte sich zu ihr auf die Sofakante. »Von wem reden Sie?« Ein kleiner, kalter Strom wuchs in ihrem Körper. So als hätte sie eben die frostige Ostsee in sich eingesaugt und würde die Kühle nicht mehr aus ihrem Inneren herausbekommen. Der nasse, zerrissene Wollpulli lag zerknautscht vor ihren Füßen, eine Lache hatte sich neben ihm auf dem Fußboden gebildet.
Die Frau sah durch sie hindurch. »Er … wollte nicht, dass ich gehe. Er hat mich … eingesperrt. Aber ich konnte … ich habe es geschafft …«
»Er hat Sie eingesperrt?« Emilies Stimme war viel zu hoch, zu dünn. Sie schwankte.
Mit einem Satz war Sylke bei ihr. »Ich bin mir sicher, dass das alles ein Missverständnis ist«, fuhr sie schnell dazwischen. »Komm, Emmi, du musst jetzt wirklich schlafen.« Sie legte den Arm um die Schulter ihrer Tochter und warf Levke einen Blick zu. Die räusperte sich und sagte laut: »Alles ist gut, der Krankenwagen kommt bald und die ganze Sache wird sich aufklären, bestimmt.«
Sylke zog ihre Tochter mit sich zur nächsten Tür. Das Boot hatte zwei Schlafzimmer, die von dem Wohnzimmer mit Küchennische abgingen. In dem einen schliefen sie und Emilie, in dem anderen Levke. Laura hat den gemütlichen Alkoven bezogen, ein weiteres Zimmer, das sich oben auf der Dachterrasse in einem eigenen Anbau befand, einer Art Minihütte auf dem Boot.
Sie schob Emilie in ihr kleines Reich hinein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. Das hatte gerade noch gefehlt! Sie hatte sich so auf die dringend benötigte Auszeit gefreut und nun saß eine wildfremde Frau in ihrem Wohnzimmer, die sie aus dem Wasser gefischt hatten. Und die so tat, als sei der Teufel hinter ihr her. Emmi durfte davon auf keinen Fall noch mehr mitbekommen, schon jetzt zeigte ihre Tochter die typischen Anzeichen einer Panik, die sie im Sommer direkt nach der Entführung so oft erfasst hatte. Sie zitterte unkontrolliert und kleine Schweißperlen hatten sich auf ihrer weißen Stirn gebildet. Außerdem trug sie immer noch das nasse Nachthemd unter der Wolldecke. Sylke atmete tief ein.
Behutsam nahm sie die Decke zur Seite. »Komm, wir ziehen dir erst mal etwas Warmes an.« Ihre Bemühungen, gelassen zu klingen, schlugen kläglich fehl. Die ganze Situation gefiel ihr gar nicht. Seit sie das schreckliche Platschen gehört hatte, war das ungute Gefühl nicht verstummt, und die Tatsache, dass sie vollkommen allein hier im Hafen waren, drängte sich unaufhaltsam in ihre Gedanken. Wenn doch der verdammte Rettungswagen endlich hier wäre! Warum brauchte der bloß so lange?
Emilie ließ sich von ihr das Nachthemd über den Kopf ziehen, einen warmen Kapuzenpulli überstreifen und ins Bett legen. Sie wirkte so klein und zerbrechlich, dass Sylke schlucken musste.
»Hey, ist alles in Ordnung?« Liebevoll strich Sylke ihrer Tochter das Haar aus der Stirn. »Wahrscheinlich hat diese Frau einfach nur zu viel getrunken, ist deshalb ins Wasser gefallen und redet wirres Zeug. Das passiert bei Erwachsenen leider manchmal.«
»Ich konnte nicht schlafen.« Emilies Augen waren auf das Fenster gerichtet. »Da habe ich etwas gehört. Schritte auf dem Weg.« Sie stockte. »Das fand ich komisch. Ich habe die Gardinen zur Seite geschoben und nach draußen gestarrt. Und habe sie gesehen, die Frau. Sie taumelte. Es ging ihr nicht gut, deshalb bin ich rausgelaufen und ehe ich etwas sagen konnte, ist sie schon über die Kante des Steinwegs getreten und ins Wasser gefallen.«
»Siehst du, sie ist bestimmt betrunken und kannte sich hier nicht aus. Das hätte jedem passieren können.«
»Ich möchte nach Hause.«
»Ach Schatz.« Sylke legte sich hinter Emilie und nahm sie fest in den Arm. »Heute Abend geht das nicht mehr und morgen sieht die Welt schon ganz anders aus. Du wirst sehen!« Sie drückte ihre Tochter an sich, spürte erst da, dass sie selbst noch immer in den nassen Klamotten steckte. Vorsichtig richtete sie sich auf, ging zum Kleiderschrank hinüber und begann, sich auszuziehen. »Was möchtest du denn morgen am liebsten unternehmen, hm?«, fragte sie. Erleichtert griff sie nach ihrer warmen Jogginghose und dem Fleecepullover. Jetzt merkte sie plötzlich, wie eiskalt ihr war.
»Ich … ich weiß nicht.« Emilies Stimme klang noch immer dünn. In dem Augenblick hörte Sylke die Sirenen des Krankenwagens. »Na endlich«, rief sie und streifte sich schnell ihre warmen Socken über. Ihre Tochter atmete hörbar auf.
»Siehst du, Süße, nun kümmern sich die Rettungshelfer um die Frau.« Zuversichtlich lächelte Sylke zu dem blassen Gesicht in den weißen Kissen. »Bleib du im Bett. Sobald alles geregelt ist, komme ich zu dir.« Sie legte die Hand auf die Türklinke, drehte sich noch einmal um. »Aber vorher mache ich uns eine Wärmflasche, okay?«
Emilie nickte matt. »Bitte schließ die Haustür ab, ja? Und mach alle Fenster zu.«
»Natürlich.« Der Kloß in Sylkes Brust wurde größer. Ein junges Mädchen sollte im Urlaub nicht an verriegelte Türen und Fenster denken. Das Problem war, dass ihr gerade selbst auch nichts anderes durch den Kopf ging. Schnell schob sie sich ins Wohnzimmer. Die Sirenen waren nun ganz nah, das Blaulicht huschte über das Wasser, in das Zimmer hinein, irrte über den Fußboden und die hellen Möbel. Sie warf einen Blick auf das Sofa. Die Bettdecke war zur Seite geschoben, nur eine kleine Kuhle zeigte, dass dort eben noch jemand gelegen hatte. Bestimmt waren Levke und Laura schon mit der Frau hinausgegangen.
In dem Moment klopfte es laut. Levke kam aus dem Bad. »Ich musste auf die Toilette und habe mich etwas aufgewärmt«, sagte sie, »mir war so kalt, dass heißes Wasser im Gesicht und über die Handgelenke eine wahre Wohltat war.« Sie eilte zur Tür. »Wo ist Laura?«, rief sie über die Schulter.
»Keine Ahnung.« War sie mit der Frau draußen? Sylke runzelte die Stirn. Im nächsten Moment sah sie Laura die Treppe hinunterkommen und Levke die Tür öffnen. Zwei Sanitäter in orange-gelber Kluft standen davor, der eine hielt eine große Tasche in der Hand. Der Ältere von den beiden, ein Mann um die vierzig mit Vollbart, sprach zuerst. »Haben Sie uns gerufen?«, fragte er und seine Stimme dröhnte durch den Raum. »Frau ins Wasser gefallen?«
»Äh … ja.« Levke trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. »Sie liegt hier auf dem …« Verwirrt zeigte sie auf das Sofa.
Die Sanitäter kamen zögernd herein, ihr Blick folgte Levkes Hand. »Wo isse denn?«, wollte der Jüngere wissen.
Irritiert blickte Sylke von Levke, deren Gesicht ein einziges Fragezeichen war, zu Laura hinüber. Die zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich war nur schnell oben und habe mich umgezogen, meine Klamotten waren völlig durchnässt.« Mit wenigen Schritten durchquerte Laura das kleine Zimmer. »Sie kann doch nicht verschwunden sein.«
Sylke lief zu dem Sofa und hob die Bettdecke hoch, obwohl sie wusste, dass die Frau nicht darunter lag. »Hallo?«, rief sie in den Raum hinein, kam sich in ihrer Hilflosigkeit ein wenig albern vor, denn die Frau konnte sich hier nirgends versteckt haben. »Die Sanitäter sind hier.« Im selben Moment ging ihr auf, dass sie keine Ahnung hatten, wie die Frau überhaupt hieß.
»Joa, dat hab ich och noch nich erlebt«, sagte der Ältere und kratzte sich am Bart. »Wollter uns nu sajen, dat de Froo wech is?«
»Das … das kann doch nicht sein!« Laura setzte sich nun ebenfalls in Bewegung, öffnete die Badtür, lugte hinein.
»Dort ist sie nicht, da war ich doch drin.« Levkes Stirn war zerfurcht. »Und oben warst du, richtig, Laura?« Sie drehte auf dem Absatz um und riss ihre eigene Schlafzimmertür auf. »Hier ist niemand«, stellte sie nach einem prüfenden Blick fest.
Sylke drehte sich im Kreis. »Das versteh ich nicht. In unserem Zimmer ist sie definitiv auch nicht.«
»Wer ist die Person denn überhaupt? Eine Freundin von Ihnen? Und wieso ist sie ins Wasser gefallen?« Der junge Sanitäter spähte in die Küchennische. Wahrscheinlich suchte er nach leeren Alkoholflaschen. Sylke konnte es ihm nicht verübeln.
»Wir kennen sie nicht«, schaltete sich Levke ein. »Sie ist vor unserem Hausboot ins Wasser gefallen und wir haben sie herausgezogen. Es ging ihr zuerst nicht gut, aber nach kurzer Zeit hat sie sich berappelt. Ich verstehe nur nicht …« Sie fuhr sich durch das Gesicht und hob fragend beide Arme, als Laura zurück ins Wohnzimmer kam. »Sie ist nicht da«, verkündete Laura.
»Good.« Der Vollbart wandte sich zur Tür. »Dann gehen wir wieder. Is ja nicht so, dass wir nix zu tun hätten. Aber ne Rechnung wird es trotzdem geben, dat is sicher.«
»Ja, also …« Der junge Sanitäter gab seine Suche nach Alkohol und Drogen auf. »Wenn sie doch wieder auftaucht … sie sollte sich besser von einem Arzt durchchecken lassen.« Sein Funkgerät knackte, eine blecherne Stimme ertönte. In die beiden Männer kam Bewegung.
»Vielleicht wartet sie irgendwo draußen.« In dem Moment, als Sylke die Worte aussprach, hörte sie, wie unwahrscheinlich sie klangen. Trotzdem gingen die drei Frauen mit den Sanitätern zur Tür, traten auf den Steg hinaus. Der Sirenenton war ausgestellt, aber das Blaulicht kreiste noch und warf ein flackerndes Licht auf die Umgebung.
»Hallo?«, rief Sylke erneut.
Laura griff ihren Arm. »Das Fahrzeug ist nicht zu übersehen. Wir auch nicht.«
Sylke schluckte. Die Worte der Frau fielen ihr wieder ein, Eindringlinge in ihre Gedanken, die sich zu verschwinden weigerten. Er wird kommen. Er will mich töten.
Wer zur Hölle war diese Frau? Und wer war hinter ihr her?
Sie drehte ihren Kopf in alle Richtungen, kniff die Augen zusammen. Versuchte, in dem spärlichen Licht mehr zu erkennen als tanzende Schatten. Sie stützte sich schwer an Laura ab. Was, wenn er schon hier war? Hier, ganz in der Nähe, und er die Frau …
Die Sanitäter liefen eilig den Steg hinunter, entfernten sich immer mehr von ihnen. Und mit jedem Schritt, den sie gingen, wuchs das schreckliche Gefühl in Sylke. Das Gefühl, dass das hier nicht das Ende, sondern gerade erst der Anfang war. Der Anfang von etwas, das ihr ganz und gar nicht gefiel.
*
Susan. Ich durfte sie nie Mum nennen. Das fand sie albern und sie kam sich alt vor. »Nenn mich Susan, Schätzchen«, hatte sie mir eingetrichtert, seit ich sprechen konnte. Eigentlich hieß sie Susanne, aber als Dad in ihr Leben trat und sie mit nach London nahm, hatte sie aus Susanne Susan gemacht und dabei blieb es. Auch nachdem Dad uns verlassen hatte, eines Tages, wortlos. Er war plötzlich ganz einfach aus unserem Leben verschwunden.
Von da an hausten wir in einer kleinen miefigen Einzimmerwohnung. Susan arbeitete nicht und wir lebten von social care.
Geld. Klar, ich hätte auch gern die cooleren Nikes gehabt. Den hippen Rucksack. Aber vor allem hätte ich gern eine Mutter gehabt. So eine, die mit ihren Kindern Plätzchen backte. Fragte, wie der Tag gewesen war. Die Arme aufhielt, wenn man hinfiel. Susan war nur in einem wirklich gut: im Rauchen. Sie rauchte den ganzen Tag, und wenn ich nach Hause kam, saß sie vor der Glotze. Wenn ich Glück hatte, gab es am Abend ein Brot. Wenn nicht, musste ich mit knurrendem Magen bis zum nächsten Tag warten, auf das Mittagessen in der Schule.
Zuerst fand ich David nett, war glücklich, als Susan ihn vor etlichen Jahren kennenlernte. Er war still und leise und schimpfte nie. Aber da gab es noch Trevor. Seinen Sohn. Trevors Mutter war ein Jahr zuvor gestorben, und ich dachte, dass er arm dran sei. Noch schlimmer als ich. Er hatte einen Elternteil unwiederbringlich verloren. Mein Vater lebte immerhin noch, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wo. Trotzdem. Ich konnte mir vorstellen, dass er eines Tages zurückkommen würde. Einfach in der Tür stehen und mich in den Arm nehmen würde. Das malte ich mir oft genug aus. Dann würde alles wieder gut.
Trevor war groß für seine elf Jahre und sehr breit. Er war hochgewachsener als sein schmal gebauter Vater und ungefähr doppelt so schwer wie meine Mutter. Von mir gar nicht zu reden. Ich war schon immer sehr dünn, auch mit meinen gerade einmal zwölf Jahren ein zartes, kleines Wesen mit langen Haaren und blasser Haut.
David war nie bei uns zu Hause gewesen. Eines Tages verkündete Susan, dass wir zu ihm ziehen würden. Ich hatte ihn da erst zwei Mal gesehen. Aber alles erschien mir besser als unser stinkendes kleines Apartment. Davids Wohnung hatte vier Zimmer und ich sollte ein eigenes bekommen! Das konnte ich kaum glauben. Ich war mir sicher, im Paradies gelandet zu sein.
Bereits am selben Abend wurde meine Illusion zerstört. Als Trevor in der Tür stand. Wir wollten gerade Abendbrot essen. Meine Mutter hatte sich mal ausnahmsweise Mühe gegeben und etwas gekocht. Ihr Essen sah zwar aus, als hätte sie das Wort Lebensmittelvergiftung erfunden, aber immerhin.
Trevor polterte herein und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, an den Tisch. Er zog geräuschvoll die Nase hoch und wischte sie anschließend mit dem Handrücken ab. Ich merkte mir, dass die Bakterien, die bei uns im wenig beachteten Kühlschrank gelauert hatten, in diesem Haus auf Trevors Händen herumkrochen.
»Trevor«, sagte David, »das hier sind Susan und Sarah. Ich habe dir ja von ihnen erzählt. Sie wohnen ab jetzt bei uns.« Er versuchte ein Lächeln. »Ich hoffe, dass ihr euch gut versteht. Ihr werdet nun Bruder und Schwester sein.«
Das war das Längste, was ich je von David gehört habe. Danach schwieg er.
»Hallo, Trevor.« Meine Mutter gab sich Mühe, ihre Stimme nicht so barsch klingen zu lassen. Es fiel ihr schwer.