Dunkelheit, bleib bei mir - Ann-Marie  Ljundberg - E-Book

Dunkelheit, bleib bei mir E-Book

Ann-Marie Ljundberg

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Beschreibung

Schweden im Frühjahr 1940. Finnland und die Sowjetunion befinden sich in der letzten Phase des Winterkriegs. Während die schwedische Regierung auf Neutralität besteht, wünschen sich große Teile der Bevölkerung ein aktives Eingreifen in den Krieg. Überall in Schweden brodelt der Antikommunismus, bis er sich schließlich (wenige Tage vor dem Sieg der Roten Armee über die Finnen) im größten terroristischen Attentat in Schweden im 20. Jahrhundert entlädt: Am 3. März sprengt eine Gruppe von Männern das Gebäude der sozialistischen Zeitung Norrskensflamman in Luleå (Nordschweden, nahe der finnischen Grenze) in die Luft, mehrere Menschen sterben bei dem Anschlag. Ann-Marie Ljungberg zeichnet in ihrem spannenden Roman die Wochen vor und nach dem Attentat aus der Perspektive eines der Attentäter nach, des Journalisten Paul Wilhelmsson; dabei steht die psychische Verfassung im Vordergrund, das allmähliche Abtauchen in den finsteren Tunnel des Terrors. Warum werden Menschen zu Attentätern? Was ist moralisch vertretbar und was nicht? In Ann-Marie Ljungbergs Roman verwischen die Grenzen zwischen Eifer und Obsession, zwischen Engagement und Verbrechen, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Realität und Einbildung. Ausgehend vom Gerichtsprozess gegen die Täter erfährt der Leser in Zeitsprüngen erst nach und nach von den Ereignissen und erlebt mit, wie sich die Dynamik innerhalb der Gruppe der Attentäter verändert. Die Zeitsprünge werden dabei immer kleiner, bis die Woche des Attentats beginnt und die Nacht des Anschlags erzählt wird. Verstörend, spannend, informativ.

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Seitenzahl: 301

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Über das Buch

Wie und warum wird ein Journalist zum Attentäter? Und begeht 1940 den schwersten Terroranschlag in der Geschichte Schwedens? Ausgerechnet gegen eine Zeitung? Dieser Roman gibt die Antworten.

Schweden im Frühjahr 1940. Finnland und die Sowjetunion befinden sich in der letzten Phase des Winterkriegs. Während die schwe­dische Regierung auf Neutralität besteht, wünschen sich große Teile der Bevölkerung ein ­aktives Eingreifen in den Krieg. Überall in Schweden brodelt der Antikommunismus, bis er sich schließlich (wenige Tage vor dem Sieg der Roten Armee über die Finnen) im größten ­terroristischen Attentat in Schweden im 20. Jahrhundert entlädt: Am 3. März sprengt eine Gruppe von Männern das Gebäude der sozialistischen Zeitung Norrskensflamman in Luleå (Nordschweden, nahe der ­finnischen Grenze) in die Luft, mehrere ­Menschen sterben bei dem Anschlag.

Über die Autorin

Ann-Marie Ljungberg

Dunkelheit, bleib bei mir

Roman

Mit einer Einführung von Björn Sandmark

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe, Mörker, stanna hos mig, erschien 2009 bei Alfabeta Bokförlag AB, Stockholm. © alfabeta 2009. Published by agreement with agentur literatur Gudrun Hebel, Germany

The cost of this translation was defrayed by a subsidy from the Swedish Arts Council, gratefully acknowledged. Wir danken dem Swedish Arts Council für die Förderung der Übersetzung.

Die Übersetzerin dankt der Kunststiftung NRW für ein Arbeitsstipendium.

Printausgabe: © Weidle Verlag 2016

Lektorat: Mareen Bruns

Korrektur: Stefan Weidle

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: August 2016

ISBN 9783959880541

Einführung

Die schwedische Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist noch nicht geschrieben. Das dankbare Bild eines neutralen Landes, das Flüchtlinge aufnahm und mit weißen Bussen (hauptsächlich nordische) Überlebende aus deutschen Konzentrationslagern holte, wurde immer wieder zum Leben erweckt und verbirgt so eine weitaus komplexere Historie. Eine Historie, die zum Beispiel einschließt, daß wie in der ebenso neutralen Schweiz ein »J« in die Pässe von Juden gestempelt wurde, und auch die Weigerung, sie aufzunehmen, solange es ihnen möglich war, Deutschland zu verlassen – wodurch man sich selbstverständlich nicht von anderen Länder unterschied.

Die Beschwichtigungspolitik gegenüber Deutschland zu Beginn des Kriegs wandelte sich zu einer restriktiveren Haltung. Als die parteilose Außenministerin Christina Günter mit Unterstützung von König Gustav V. 1941 die Allianz Schwedens mit Deutschland und Finnland im »Unternehmen Barbarossa« gegen die Sowjetunion durchzusetzen versuchte, kam der Wendepunkt. Ministerpräsident Per Albin Hansson, der bis dahin die Außenpolitik seinen Ministern überlassen hatte, übernahm Ende Juni während der sogenannten »Mittsommerkrise« die außenpolitische Verantwortung selbst.

Danach wurde die schwedische Politik gegenüber Deutschland härter, und nach Stalingrad unterstützte Schweden für den Rest des Krieges öffentlich die Allierten.

Sowohl Deutschland als auch England waren auf schwedisches Eisenerz für die Rüstungsindustrie angewiesen. Daß dieses Erz im Norden Schwedens gefördert wurde (und immer noch wird), machte die flächenmäßig große Provinz Norrbotten zu einem strategisch relevanteren Ort für den Verlauf des Kriegs, als die geographische Lage es vermuten lassen würde. Die Verwaltungshauptstadt von Norrbotten, auch damals schon Luleå, war in vielerlei Hinsicht eine Miniatur von Schweden, wo die politische Uneinigkeit auffiel. In Teilen der Oberschicht wurde traditionell eine starke Sympathie für Deutschland gepflegt. Beinahe jeder, der in den Bergwerken oder bei der Eisenbahn, die das Erz transportierte, oder in der Industrie arbeitete, war Sozialdemokrat oder Kommunist.

Dunkelheit, bleib bei mir bringt genau diese Spaltung der schwedischen Gesellschaft zum Ausdruck. Die kommunistische Zeitung Norrskensflamman war Luleås Bürgern, die mit den Deutschen sympathisierten, ein Dorn im Auge. Ann-Marie Ljungbergs Recherchen in den Archiven und Protokollen der Gerichtsprozesse zeigen, wie in einer damals ziemlich kleinen norrbottnischen Küstenstadt der ungeheuerlichste Akt von politischem Terrorismus in der Geschichte Schwedens möglich wurde. Das Attentat auf den Norrskensflamman – ein Bombenanschlag auf das Redaktionsgebäude – forderte fünf Todesopfer, darunter zwei Kinder.

Rückblickend, fünfundsiebzig Jahre später, ist der politische Terrorismus und seine Präsenz in den Medien aktueller denn je. Er läßt sich kaum wegdenken bei der Lektüre von Ann-Marie Ljungbergs faktenbasiertem Roman, der ruhig und sachlich eine Geschichte erzählt, die lange im Schatten anderer, größerer historischer Ereignisse stand. Ljungbergs Ortskenntnis von Luleå und ihre familiären Verbindungen zu einigen der beteiligten Personen gibt der Erzählung eine Tiefe, die ihr Autorenkollege Ola Larsmo, Präsident des schwedischen PEN, als beste Schilderung des Zweiten Weltkrieges in der schwedischen Literatur bezeichnet hat.

Björn Sandmark

Ein Verzeichnis der wichtigsten Personen des Romans findet sich am Ende des Buches.

27. April 1940

Der Himmel ist bewölkt. Von unten sieht man nur eine hellgraue Schicht, und darüber ziehen die Wolken schnell vorbei. Ein etwas dunklerer Grauton. Graubrauner Matsch bedeckt den Hof: Schotter und Sand. Wo der Schnee entlang den Wänden des Hofs geschmolzen ist, sind braune Beete mit verwelkten Pflanzen aus dem Vorjahr sichtbar. Er schaut über den quadratischen Hof zurück, und sein Blick fällt auf das Gesicht des ehemaligen Stadsfiskals, Dahlström. Er ist außergewöhnlich groß und überragt alle anderen. Sein Haar ist zurückgekämmt.

Er hat einen Kamm? wundert sich Wilhelmsson. Er selbst hat keinen Kamm. Hat während seiner Haftzeit nicht einmal einen zu Gesicht bekommen.

Dahlström macht sich nun klein, duckt sich im Gehen, so daß seine enorme Größe noch mehr Aufsehen erregt. Das letzte Mal, daß er die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Dahlström hatte, liegt schon einige Tage zurück. Da war seine Miene ... so undurchdringlich gewesen. »Korsakow«, hatte er gemurmelt. »Korsakow? Wer? Was?« hatte Wilhelmsson verzweifelt nachgefragt. Ist Korsakow eine Person? Wieder ein Puzzleteil in ihrem Leben. Ein Leben, das die Grenzen des Möglichen überschritten zu haben scheint, ein Leben jenseits jeglicher Kontrolle. Dahlström hatte ihn bloß stumpfsinnig angesehen, mit leerem Blick und offenem Mund. Wilhelmsson hatte sich abwenden müssen, damit sein wütender Ekel abebben konnte. Dahlström war einmal mehr als nur ein Freund gewesen. Für ihn war er ein Mentor.

Dahlström schleppt sich über den Hof. Er trägt eine zerschlissene graue Jacke, eine graue Hose und Schuhe, die eher wie Pantoffeln aussehen. Der ehemalige Stadsfiskal, sein Freund oder Mentor, dem man ansieht, wie krank er ist, schleppt sich über diesen trostlosen, von Mauern umgebenen Hof auf den Gerichtssaal zu, der vorübergehend im Rathaus untergebracht ist. Im angrenzenden Stadtviertel schlagen die Domglocken zehn Mal. Das Läuten dieser Glocke, das über die Stadt hallt, hat Wilhelmsson schon unzählige Male gehört, genau wie die Krähen, die mit dem immer gleichen verwunderten Krächzen aufflattern. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat und jedes Jahr.

Er fühlt sich lebendig, als würde er brennen, sein Herz pocht, er spürt den Puls in seinem kräftigen Körper. Warmes Blut, Muskeln. Er hat noch ein paar Zigaretten. Er zieht das Päckchen aus der Tasche und zeigt es dem Wärter. Der Wärter, den er gut kennt oder vielmehr kannte, denn sie waren über sieben Jahre lang Nachbarn gewesen, schaut ihn distanziert an, auch wenn er nur knapp eine Schrittlänge neben ihm steht. Sein Name ist Georg Nilsson. Seine fünf Kinder hatte Wilhelmsson immer gegrüßt, meist eher beiläufig und manchmal sogar mürrisch, obwohl es zwischen ihm und Georg Nilsson nie Ungereimtheiten gegeben hatte. Im Gegenteil. Wilhelmsson wedelt mit dem Zigarettenpäckchen, hebt fragend die Augenbrauen. Der Wärter scheint zu zögern, schließlich nickt er aber. Sein Blick ist leer. Von allen denkbaren Strafen, die ihn erwarten könnten, kann keine schlimmer sein als das hier. Nichts quält ihn mehr als diese Distanz. Nicht nur die gegenüber dem Wärter, sondern die zu seinem gesamten bisherigen Leben. Sein Gesicht versteinert genau wie das des Wärters, er zieht eine Zigarette aus dem Päckchen, wendet sich Dahlström zu und bietet sie ihm an. Er beobachtet, wie Dahlström gleichgültig den Kopf schüttelt und mit trübem Blick auf die nun offenstehende Tür zugeht, die in den Gerichtssaal führt. Hauptmann Liljegren, der in der Reihe hinter Dahlström geht, bleibt neben Wilhelmsson stehen und nimmt die Zigarette, die für Dahlström bestimmt war. Wilhelmsson bleibt nichts anderes übrig, als Georg Nilsson um Feuer zu bitten. Doch dieses Procedere löst schmerz­liche Erinnerungen an sein früheres Leben in ihm aus, und plötzlich ist er wie gelähmt. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, reicht Georg Nilsson ihm eine Schachtel Streichhölzer. Immerhin bleibt Wilhelmsson die Demütigung erspart, ihn fragen zu müssen. Er zündet seine eigene und Liljegrens Zigarette an. Da Liljegren im Gegenlicht steht, ist sein Gesicht sehr dunkel. Er trägt keinen Hut, und der kahle Fleck auf seinem Kopf gleicht einer Insel in diesen kohlrabenschwarzen Haaren. Das alles verleiht ihm etwas Zerbrechliches und Verwundbares.

Rieber geht vorbei, die hellen Haare wirr und verfilzt und viel zu lang. Hilfesuchend blickt er in Wilhelmssons und Liljegrens Richtung. Er glaubt, daß sie ihm jetzt helfen könnten. Doch selbst wenn sie gekonnt hätten, sie hätten es nicht gewollt. Das weiß Wilhelmsson. Vermutlich hatten nämlich Rieber, und wahrscheinlich auch Nyberg, diese schüchternen, rotbäckigen Fähnriche aus Südschweden, alles gestanden. Und nicht nur gestanden, sie müssen auch Dinge hinzugefügt und verfälscht haben, versucht haben, ihn und Dahlström anzuschwärzen und ihnen die Schuld zuzuweisen. Zwar erwidert er Riebers Blick, aber dabei beläßt er es auch. Das Gesicht aschfahl, schlägt Rieber die Augen nieder, wendet sich ab, beinahe trotzig, und folgt Dahlström über den Hof, den Blick starr nach vorn gerichtet, genau wie Nyberg. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte dieser verweichlichte Salonfähnrich ausgesagt. Wilhelmsson wendet sich an Liljegren, der ihn aus tiefliegenden Augen mustert. Auch Liljegren sieht mitgenommen aus. Die Zigarette zwischen seinen Fingern zittert. Rask geht vorbei, starrt auf den Boden. Als er auf Wilhelmssons Höhe ist, hebt er den Kopf und schaut ihn an. In seinen Augen liegt ein Anflug von Bedauern. Wilhelmsson hat Rask immer gemocht, und er nickt ihm zu. Dicht hinter Rask geht Andersson, der beinahe so groß ist wie Dahlström, aber verglichen mit dem ehemaligen Stadsfiskal wirkt Andersson geradezu hünenhaft. Er dreht sich wieder zu Liljegren und beobachtet, wie dessen Mundwinkel zucken. Anscheinend kann Liljegren dem Ganzen etwas Komisches abgewinnen. Ausgerechnet Liljegren, dieser ernste Militär, der in Freiheit so selten gelacht hatte. Jetzt lacht er. Und auch Wilhelmsson findet das Ganze plötzlich ungemein amüsant. Sie brechen in Gelächter aus, können sich kaum noch beherrschen. Georg Nilsson stiert sie an, unternimmt jedoch nichts. Einer der anderen Wärter nähert sich.

»Machen Sie die Zigaretten aus! Sie müssen sich beeilen.«

Sie lassen sie auf den Boden fallen und treten sie aus. In diesem letzten unbeobachteten Moment beugt sich Liljegren zu ihm herüber und flüstert:

»Wir müssen Dahlström schützen.«

Wilhelmsson nickt. Einige Sekunden verstreichen. Sie schweigen. Dann erinnert sich Wilhelmsson an Dahlströms Worte und fragt Liljegren:

»Wissen Sie, wer Korsakow ist?«

Liljegren sieht ihn fragend an.

»Korsakow?«

Danach werden sie getrennt.

Wilhelmsson wird als erster verhört. Er denkt, sie tun das aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb, weil sie glauben, er wird derjenige sein, der am meisten aussagt. Und das berührt ihn unangenehm. Der Gerichtssaal schwankt vor ihm; er ist so voll besetzt mit neugierigen Menschen und Journalisten, daß die Luft zum Schneiden ist. Ihm kommt der Gedanke, daß er selbst an deren Stelle hätte sein können, damit beauftragt, genau darüber zu schreiben. Das hätte ihm gefallen: ein derart politisch brisanter Prozeß. Für eine Sekunde gelingt es ihm, sich selbst vorzumachen, er säße tatsächlich zwischen den anderen Journalisten und berichtete über den Prozeß. In den Bänken, die der Presse vorbehalten sind, hält er Ausschau nach sich selbst und entdeckt wie von einem weiter entfernten Platz aus einige Bekannte. Von seiner eigenen Zeitung sieht er Granberg, der ihn mit seinen leuchtend blauen Augen fixiert. In seinem Blick liegt blankes Entsetzen, aber auch ein Anflug von Neugier. Ehemalige Kollegen vom Norrländska sind auch hier. Dann überwältigt ihn noch tiefere Hoffnungslosigkeit, denn ihm wird wieder bewußt, daß das alles wirklich geschieht. Er sieht hinüber zu den anderen: Rieber und Nyberg starren mit gesenktem Kopf auf den Fußboden. Andersson läßt die Schultern hängen, und sein Gesicht zeigt keinerlei Regung. Dahlström ist mit leerem Gesichtsausdruck auf dem Stuhl zusammengesunken. Er ist alt geworden und grau. Liljegrens finsterer Blick ist auf ihn geheftet.

Der Bürgermeister der Stadt wird die Verhandlung leiten. Wilhelmsson erkennt ihn wieder, sie hatten bei mehreren Gelegenheiten über die eine oder andere Belanglosigkeit geplaudert. Nun ist er bloß eine gleichgültige Gestalt, die mit grauer Weste und dunklem Anzug mit den Amtsdienern in einer Reihe sitzt, das kantige Gesicht ganz ernst. Letztere scheinen sowohl größer als auch selbstsicherer als er zu sein. Daneben sitzt der Gerichtsschreiber. Polizeibeamte bewachen den Ausgang, aber sie schauen nach vorn zum Richtertisch. Die Wände des Saals zieren verschnörkelte Stuckleisten, und – Wilhelmsson sieht auf – an der Decke hängen vier vergoldete Kronleuchter.

Das Gemurmel im Saal erstirbt, und an seine Stelle tritt ein fortwährendes Papierrascheln. Das Kratzen der Füllfedern und das Rücken der Stühle hallen durch den hohen Raum. Der Vorsitzende des Gerichts wartet, bevor er sich an den Staatsanwalt wendet und ihm das Wort erteilt.

»Trifft es zu, daß Sie seit 1931 Angestellter in der Redaktion des Norrbottens-Kuriren hier in Luleå sind, Herr Wilhelmsson?«

Wilhelmsson fällt in dem weißlichen Licht auf, wie spiegelblank der kahle Schädel des Staatsanwalts ist.

»Ja.«

»Würden Sie bitte etwas zu Ihren Gefühlen den Krieg betreffend sagen?«

Wilhelmsson zögert. Seine Gefühle den Krieg betreffend? Das ist so umfassend. Er blickt zu Boden.

»Herr Wilhelmsson?« sagt der Staatsanwalt unerwartet mild. Verwundert hebt Wilhelmsson den Kopf. Der Staatsanwalt sieht ihm in die Augen und sagt:

»Meinen Informationen zufolge waren Sie es, der in der Redaktion des Norrbottens-Kuriren die Telegramme in Empfang genommen hat. Welche Wirkung hatten diese Telegramme auf Sie?«

13. November 1939

»In China sind über hunderttausend Menschen ums Leben gekommen. In Indien gibt es mehr Ratten als Einwohner, und innerhalb weniger Jahre wird sich ihre Zahl noch verdoppeln. Die Zahl der Ratten steigt überall, auch in der Großstadt Madras. Selbst in Deutschland, wo die Ungeheuer schon aus dem Meer gestiegen sind, auf daß sie nie dorthin zurückkehren werden.«

Diese Worte hört Wilhelmsson, als er an der Straßenecke zwischen der Stationsgatan und der Storgatan steht. Es ist November. Grauer, hartgefrorener Schnee bedeckt Straßen und Bürgersteige, und der Wind, der vom Södra Hamn her weht, hüllt alles in einen glitzernden, frostigen Dunst. Zuerst tut er die Worte »Ungeheuer ... aus dem Meer gestiegen ...« nur als eine weitere eigentümliche Aussage unter den vielen ab, die er in letzter Zeit gehört hat. Die erste, und die unvorstellbarste, betraf den Pakt der Sowjets mit Hitler, gefolgt von dem Bericht aus den baltischen Ländern und dem Angriff auf Polen, und schließlich, spät am gestrigen Abend, die Nachricht, der finnische Außenminister Erkko befinde sich in Verhandlungen mit den Sowjets.

Genau wie eines der Telegramme, die er entgegengenommen hat, erreichen ihn nun die Worte über Madras, der Wind trägt sie an ihm vorbei, und sie erscheinen bedeutsam. Es sind nämlich seine eigenen Worte. Erst in diesem Herbst, der so lang und intensiv ist, hat er sie selbst für die Zeitung geschrieben. Bis auf die Passage mit den Ungeheuern. Diese Worte haben ihn auf so seltsame Weise überrascht.

Der Gedanke an Ereignisse und Vorkommnisse in der Welt außerhalb Schwedens erschreckt ihn oft, doch auch innerhalb der Landesgrenzen nehmen die Unruhen zu. Soldaten werden in immer größeren Trupps transportiert. Auch hier an seiner Straßenecke ist er von all dem umgeben, ihren derben Schnürstiefeln, ihren grauen Uniformen, dem Scheppern und Trampeln, während er auf seinen Vorgesetzten, den Chefredakteur Jonsson, wartet. Sie wollen im Restaurant Norden zu Mittag essen. Durch die schmutzigen Fenster des Lokals, die auf dem Bürgersteig Rechtecke aus Licht bilden, sieht er Schatten, die sich bewegen. Der Tag ist dämmrig, selbst zur Mittagszeit.

In verzweigten, asymmetrischen Mustern ziehen die Soldaten durch die Straßen, Frauen eilen auf Tretschlitten die kalte Storgatan entlang, an den Griffen hängen Taschen und Tüten mit Lebensmitteln. Der Wind frischt leicht auf, doch als die Worte ihn erreichen, flaut er schon wieder ab, und Wilhelmsson schaut auf. Es scheint der krumme Mann in der verschlissenen grauen Jacke gewesen zu sein, der sie ausgesprochen hat.

Wilhelmsson sieht dem Mann nach, der an ihm vorbeigegangen ist. Er sieht noch immer seinen Hinterkopf, die Pelzmütze, die langen Beine. Seine Bewegungen haben etwas Heiteres. Ja. Er muß es gewesen sein. Er muß die Worte gesagt haben, und Wilhelmsson verspürt den Wunsch, ihm nachzugehen, ihn am Arm zu packen und ihn zu fragen:

»Haben Sie diese Worte gesagt? Wenn ja, was meinen Sie damit? Was meinen Sie, wenn Sie über Madras sprechen und von Ungeheuern? Worauf wollen Sie hinaus?«

Obwohl das sonst gar nicht seine Art ist, setzt er zum Laufen an, um den Mann einzuholen, der nun kleiner wird und nur noch ein verschwindender Rücken weit hinten auf dem Gehweg ist. Doch er wird von Jonsson, der nun endlich auftaucht, zurückgehalten. Jonsson ist breitschultrig und ein bißchen kleiner als Wilhelmsson. Den grauen Mantel trägt er offen, und der Gürtel flattert hinter ihm im Wind. Jonsson nimmt den Hut ab und bietet den dunklen Wolken seinen Kopf mit dem dünnen Haar dar. Er geht auf die Tür des Restaurants zu.

»Wo wollten Sie denn hin?« fragt er. Ihm ist also aufgefallen, daß Wilhelmsson in die andere Richtung gegangen ist.

Wilhelmsson deutet ein Lächeln an und antwortet:

»Da war ein Mann, der seltsame Dinge sagte. Er hat aus meinem Leitartikel von diesem September zitiert.«

Jonsson dreht sich um, sieht den Gehweg entlang, und lacht:

»Meinen Sie etwa Martinsson?«

Mit einem Kopfnicken deutet er auf den Mann, der gerade die Storgatan überquert und mit kleinen, schnellen Schritten auf das Polizeirevier zuläuft. Wilhelmsson kommt der Gedanke, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmt.

»Martinsson?« wiederholt er.

»Ja, Martinsson. Er hält sich seit August hier auf. Ist nicht ganz richtig im Oberstübchen. Hat nördlich von Pajala in Tornedal Familie.«

Wilhelmsson sagt der Name etwas, doch er hat den Mann bisher nie bemerkt.

»Pech für die Tornedaler«, sagt Jonsson.

Und da kann Wilhelmsson selbstverständlich nur zustimmen.

Sie betreten den Flur des einfachen Gasthauses, wo die Gäste ihre Jacken selbst auf einen kleinen Kleiderständer hängen, der jetzt, im November und zur Mittagszeit, beinahe zusammenbricht. Wilhelmsson quetscht seinen Mantel zwischen die anderen, die in einer chaotischen Reihe hängen.

»Gehen wir hinein«, sagt Jonsson.

Im Gastraum setzen sie sich an einen freien Tisch. Wilhelmsson bestellt Pyttipanna, Jonsson Ostseehering.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagt Jonsson.

Wilhelmsson winkt ab. Er weiß, wie es zur Zeit in der Redaktion zugeht. Am laufenden Band werden Telegramme zugestellt.

Das Gespräch dreht sich um die Arbeit.

»Sie können am Dienstag über das Rathausgericht schreiben. Das Übliche: Jemand ist wegen Diebstahls angeklagt. Es wird eine Meldung in der Mittwochausgabe«, sagt Jonsson.

Wilhelmsson nickt. Er wechselt das Thema.

»Gibt es etwas Neues? Werden die Sowjets Finnland angreifen? Ist heute morgen etwas geschehen?«

Jonsson schaut ihn an.

»Wir wissen noch nichts. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und Finnland eingestellt wurden. Finnland hat den Russen laut den sowjetischen Nachrichten die Einrichtung einer Militärbasis bei Hanko verweigert, aber seitdem ist nichts passiert.«

Wilhelmsson holt tief Luft und schaut Jonsson an. Jonsson erwidert seinen Blick. Sie schweigen.

In diesem Herbst diskutiert alles und jeder über die russischen Gebietsansprüche an Finnland. Von allem, was in der Welt passiert, gibt es nichts, das Wilhelmssons Gedanken mehr beschäftigt. Noch spätabends sprechen sie in der Redaktion stundenlang darüber. Seit diesem Oktobertag, an dem sie durch das erste Telegramm erfahren haben, daß die Sowjets plötzlich und ohne Vorwarnung Gebietsansprüche an Finnland stellen. Und auch Jonsson und Wilhelmsson läßt die seit Wochen andauernde Debatte nicht los.

»Vielleicht ist das aus Rußlands Sicht gar kein vollkommen absurder Anspruch«, sagt Jonsson und knüllt seine Serviette zusammen. »Die Russen müssen wirklich auf Hanko angewiesen sein, wenn sie im Gegenzug so große und reiche Gebiete anbieten. Das ist doch immerhin etwas.«

Er starrt aus dem Fenster und seufzt.

»Es wäre purer Wahnsinn vom alten Kyösti und seinen Bauern, ohne weiteres auf Hanko zu verzichten. Und Stalin ist ja auch niemand, mit dem man gern verhandelt«, entgegnet Wilhelmsson.

»Die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs ist jedenfalls gering, selbst wenn Finnland nicht auf die Ansprüche eingeht. Der Sozialismus ist ja eine antimilitärische Ideologie – trotz allem.«

»Tanner ist derjenige«, sagt Wilhelmsson, »der das alles richtig versteht. Ich denke, es steht außer Frage, daß Rußland angreifen wird. Finnland besitzt wohl kaum eine ernstzunehmende Armee, und Mannerheim ist zurückgetreten. Sollten sie also angreifen ...«

Aber er verstummt, kann das, was er sagen wollte, nicht laut aussprechen: Sollten sie angreifen, ist der Weg frei.

Und dann warten sie schweigend auf das Essen. Als die Kellnerin die Teller bringt und sie anfangen zu essen, bemerkt Wilhelmsson, daß Jonsson ihn hin und wieder forschend ansieht. Nachdem die Teller leer sind, lenkt er das Gespräch auf Wilhelmssons neuen Posten.

»Mit der Redakteurstelle in Boden springt auch eine Gehaltserhöhung heraus«, sagt er zu Wilhelmsson. »Eine Dienstwohnung bekommen Sie ja auch. Haben Sie sie schon angeschaut?«

Wilhelmsson schüttelt den Kopf und lächelt. Dafür hat er noch keine Zeit gefunden. In einer Woche wird er umziehen, und man hat ihm eine kleine Wohnung im Zentrum von Boden angemietet, wo er unter der Woche wohnen wird. Alle Reisen von und nach Luleå wird die Zeitung bezahlen. Die Bedingungen sind vielversprechend.

Doch Wilhelmssons Aufmerksamkeit gilt der Sowjetmacht, und er kann sich kaum auf seinen neuen Posten oder seine Dienstwohnung konzentrieren. Trotzdem ist er sich, als er dort satt im warmen Restaurant sitzt, dessen bewußt, wie privilegiert er ist, verglichen mit so vielen anderen, und er sagt zu Jonsson:

»Ich habe wirklich großes Glück.«

Der Schnee hatte sich früh auf die Stadt gelegt, schon Anfang Oktober, gerade als die Bäume ihre letzten gelben Blätter verloren. Abends ging die Sonne flammendrot über den verschneiten Straßen und den kleinen Holzhäusern unter. Zur gleichen Zeit in anderen Jahren, anderen Herbstmonaten, hatten Wilhelmsson und seine Frau noch einen Spaziergang hinunter zum Gültzauudden-Strand machen können, vorbei am Norra Hamn und am Koksmagazin. Sie hatten in dem üppigen Park mit den Springbrunnen vor dem Museum gestanden, wo sie an den Sonntagvormittagen so gern Kaffee tranken. Aber dieses Jahr hatten sie in der Redaktion in der Kyrkogatan schon seit Anfang des Monats die alten Öfen angefeuert. Und dennoch waren die Schreibmaschinen schwergängig und steif.

Er erinnert sich an die warmen Sommer und kalten Winter seiner Kindheit. An Skiausflüge über das Eis mit Schokolade und Apfelsinen. Und an die Schreibwarenhandlung seiner Eltern, wo den ganzen Tag Leute ein- und ausgegangen waren. Ständig war er von Menschen umgeben gewesen. Die Stadt ist klein, und damals war sie noch kleiner. Auf dem Skurholmsberget gab es einen uralten Wald mit Kiefern und Fichten; Steine, Kies und Nadeln, die durch die Sandalen stachen, während man spielte. Dort hatten alte Tanten ohne Zähne gewohnt, die von der Allmächtigkeit gesprochen hatten. Und Trinker hatten dort gelebt. Ein grenzenloses Gebiet zum Erforschen. Und dann der Norra Hamn mit den dunklen, schwankenden Booten und der Södra Hamn mit den schäbigen Läden. Der Bahnhof mit den vielen Erzzügen und all die Häuser und alten Holzhütten in der Innenstadt. Keines sah aus wie das andere. Menschen, die reich waren, reicher als seine Familie, und schöner. Frauen und derbe, mürrische Kutscher mit ihren gutmütigen braunen Zugpferden, die die Straßen befuhren. Heute sind alle Zugpferde aus der Stadt verschwunden.

Und dann wollte Gott, daß er nicht weiterlebte. In dem Winter, als er dreizehn Jahre alt war, fing der trockene Husten an. Er erinnert sich an den Schrecken in Mutters Augen. Sie wollte ihn ins Bett schicken, doch sein Zustand verschlechterte sich nicht. Er ging weiter zur Schule. Mehrere Wochen verstrichen, seine Eltern beruhigten sich, und die Sorge um seine Lunge geriet in Vergessenheit. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang, und er verschwieg ihnen, in welche Atemnot er beim Rennen geriet. Im März wurde er dann auf dem Heimweg von der Schule ohnmächtig. Sein Cousin fand ihn und holte Hilfe.

Die Krankheit brach über ihn herein. Er erinnert sich an die trockenen Lippen, die nur noch taube, gefühllose Körperteile waren, die den klebrigen, warmen Mund bedeckten. An die Zähne wie Klötze in seinem Mund. An die Zunge, die in der leeren, heißen Stille mühsam Worte zu Gebeten formte. Gott, laß mich ... Gott, warum ... An die Spucke wie zähflüssiger Schleim. Und an seine Mutter. Er sieht sie vor sich in jenen fiebrigen Wochen, die Lider schwer von den durchwachten Nächten, die Hände auf den Bettrand gelegt. Sie betete für sein Leben. Er hörte Schritte im Flur und phantasierte im Fieberwahn tagelang, während die Staubkörner im Licht schwebten, das durch die zugezogenen Vorhänge hereinsickerte. Er hörte Stimmen. Den Arzt. Schwarzgekleidete Frauen, die an seinem Bett saßen und strickten. Frauen und Strickzeug. Unförmige braune Wollsocken, die sich die Röcke hinunter schlängelten. Nadeln, die klapperten und klapperten, Stricknadeln, die in unregelmäßigen Intervallen klickten.

Und später: Das Sanatorium in Sandträsk, das stattliche Gebäude im Wald einige Meilen nördlich von Boden. Die langen weißen Flure, die hohe Decke, die alles, was gesagt wurde, als Echo zurückwarf, jedes Husten und Röcheln, jeden Schritt. Die prächtigen Löwenfriese mit den gähnenden Tieren am Eingang. Das Licht, das mit dem Weiß der Wände spielte. Das unaufhörliche Rauschen der Fichten und die Ruhe im Wald, der das Sanatorium umgab, waren wie ein einziger langer, anhaltender Atemzug. Menschen, die kamen und für Wochen, Monate und Jahre verschwanden. Er hatte besonders die Kinder liebgewonnen, die so früh starben. Er denkt oft an Wilhelm, der bleich und mager in seinem Bett saß und las. An den Tagen, an denen es ihnen gutging, sprach er mit Wilhelm. Sie unterhielten sich über Sport, und er versuchte, Wilhelm Englisch beizubringen.

Bei einigen kurzen Besuchen sah er Wilhelms Mutter. Sie war jung, schlank und ganz in Schwarz gekleidet. Als trauere sie bereits um ihren Sohn. Und in Wilhelms Todeskampf begleitete er ihn erschöpft von seinem Zimmer aus mit ohnmächtigen stillen Gebeten. Dann sah er, wie die Mutter über den Flur ging. Es traf ihn, daß sie nach dem Tod ihres Sohnes genauso aussah wie vorhin, als er noch gelebt hatte. Derselbe aufrechte Gang, dieselben schwarzen Kleider. Damals hatte Wilhelmsson begriffen, daß das Schicksal existiert und daß es unausweichlich ist. Diese Dinge geschehen, und niemand kann sie verhindern. Mit dieser Erinnerung verknüpft er das Gefühl des kühlen Metalls der Spucknäpfe an den Zähnen. Den strengen, leicht bitteren Geschmack auf der Zunge. Die Zeitungen. Die Nachrichten und Schlagzeilen: »Die schwarze Gefahr«, »Das letzte Stündlein des Zaren«, »Mannerheim«. Damals hatte er im Magazin Illustra zum ersten Mal etwas über Atome gelesen. Diese kleinen Bausteine, aus denen die Materie besteht, die Luft und das Meer.

Einer der vielen nicht enden wollenden Vormittage im Sanatorium kommt ihm in den Sinn. Außerhausaufenthalte, der Wind, der durch die rauschenden Fichten strich, die Pritschen draußen auf der Terrasse. In seinen Händen eine Zeitung und darin ein Portrait von Mannerheim. Er sieht das Bild genau vor sich: Mannerheim im bodenlangen weißen Mantel und mit langfelliger Pelzmütze aus Ziegenhaar. Umgeben von weißem Schnee, Fichten, Kiefern, Steinen. All die Felsen Finnlands aus Granit und Feldspat. All die Seen Finnlands. An der Wand über seinem Bett hat er ein anderes Bild aufgehängt, das er aus der Illustra ausgeschnitten hat: Mannerheim im grauen Mantel, ein Kragen aus schwarzem Pelz. Weiße Mütze. Das Fernrohr vor der Brust und die Pfeife in der Hand. Im Schnee.

Da ist sie wieder, die Eingebung, er denke Mannerheims Gedanken. Denn selbst in Mannerheims Gedanken muß es dunkle Pfade gegeben haben. Glückliche Zeiten. Aber auch Mannerheims schwierige Stunden stehen groß und ruhmreich vor ihm. So wie die glücklichen. Er sieht hinunter auf seine Hände. Seine Handgelenke sind schmal. Zierlich. Er krümmt die Finger. Sie sehen wie Klauen aus, findet er. Schwache Hände. Kraftlos. Die Hände eines kranken Mannes.

Der Staatsanwalt mustert ihn. Es war eine lange Pause. Wilhelmsson erwidert seinen Blick. Er muß über all das etwas gesagt haben, denn der Staatsanwalt fährt mit der Befragung fort:

»Trifft es zu, daß Sie sich während der ersten Rekrutierung bei Kriegsausbruch haben anwerben lassen, Herr Wilhelmsson?«

Wilhelmsson nickt.

»Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein«, sagt der Gerichtsvorsitzende von seinem Platz aus.

»Ja«, sagt Wilhelmsson.

»Und Sie wurden aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Welche Diagnose lag vor?«

»Eine Lungenschädigung«, antwortet Wilhelmsson. »Infolge einer Tuberkuloseerkrankung im Kindesalter.«

Während des dritten und letzten Jahres im Sanatorium lag für einige Monate ein gleichaltriger Junge, Greger Lundgren, hustend und blaß im Bett neben Wilhelmssons. Beide verliebten sie sich in Elin, eine der Krankenschwestern, die er heute als ziemlich durchschnittliche Frau mit starkem Dialekt in Erinnerung hat und die immer etwas zerstreut gewesen war. Tatsächlich ist sie ihm nur wegen Greger und dessen langer letzter Nacht im Sanatorium im Gedächtnis geblieben. Er lag da und lauschte Gregers röchelndem Atem. Seinem Flüstern und seinem Glauben. Seinem Gott. In seiner Angst vor dem Tod hatte er dagelegen, als wollte er auch selbst nicht mehr leben. Er hörte, wie Greger phantasierte. Er redete vom Kommunismus. Eine ganze Nacht lang, von den Russen, von Angst und Schrecken. Von der Welt. Elin beugte sich in ihrer weißen gestärkten Schwesterntracht über Greger. Und auch er selbst hat sie gespürt. Die Liebe zu ihr. Doch es war ja eigentlich Gregers. Und das Röcheln, das trockene Husten. Von wem kam das? Kam das nicht von ihm selbst? Und als er dann aus dem Sanatorium zurückkehrte, war da Dahlström, eine stadtbekannte Persönlichkeit, berühmt und in aller Munde. Ein Mann von Welt. Jeder konnte sich von ihm einen Eindruck verschaffen, wenn er nachmittags durch die Stadt spazierte. Hochgewachsen und aufrecht. Strahlend und großzügig. Und mit demselben festen, kühnen Blick wie Mannerheim.

Es schneit stärker, als Wilhelmsson wieder aus dem Restaurant kommt. Jonsson und Wilhelmsson trennen sich. An diesem Nachmittag wirbeln die Flocken durch die Straßen. An der Ecke zwischen Rådstugatan und Smedjegatan entdeckt er eine einsame Gestalt, die an der Seefahrerkapelle an der Wand lehnt. Hoch über dem Blechdach der Kapelle schrauben sich die Krähen lärmend in die Lüfte hinauf. Er betrachtet die gewölbten Fenster, das beständige weiße Holz, die langgezogenen Fensternischen, die ungewöhnlich hohen Bögen des Dachs. Das ganze Gebäude scheint nach oben zu streben, was ihm zugleich vermessen und komisch erscheint. Vor Kälte zitternd und kerzengerade steht der Mann im schwächer werdenden Licht des Nachmittags auf der Smedjegatan. Wilhelmsson erkennt ihn wieder. Er hat ihn auf den ersten Blick wiedererkannt. Es ist Dahlström, der Stadsfiskal. Zwar kennen sie sich noch nicht, aber der Stadsfiskal gehört zu den Menschen, die Wilhelmsson am meisten bewundert. Er geht auf dem Bürgersteig an Dahlström vorbei und zieht den Hut, sieht Dahlströms breites Gesicht, die kräftige Nase und die buschigen Brauen. Dahlström deutet eine Bewegung an, als wolle er die Hand an die Mütze führen. Zwar scheint er Wilhelmssons Blick zu erwidern, schaut ihn aber nicht an. Sein Ausdruck bleibt starr und das Lächeln unverändert. Zwischen ihnen fällt der Schnee. Wilhelmsson geht weiter den Bürgersteig entlang durch die verschneite Stadt, und Dahlström steht noch immer dort, anscheinend in Gedanken versunken, und schaut die Smedjegatan hinunter.

Als Wilhelmsson in die Tjärhovsgatan einbiegt, kommt er an Berglunds unpersönlichem rotgestrichenen Haus vorbei. Und danach an Georg Nilssons Haus. Die weiße Farbe blättert hier und da bereits ab, und an der Wand lehnen drei Paar Ski. Alle Fenster sind hell erleuchtet. Als er auf sein eigenes gelbes Holzhaus zugeht, kann er durch das Fenster seine Frau in dem schwachen Licht sehen, und er wird von einer Welle plötzlicher Zuneigung für sie ergriffen. Sie sitzt in ihrer braunen Kittelschürze im Lehnstuhl und hat ihre schönen schlanken Beine auf dem Hocker ausgestreckt. Der Kopf ist seitlich in die Hand gestützt, und sie liest. Wilhelmsson, der sie zweifellos schon seit langer Zeit liebt, hat niemals eine solch intensive Wärme empfunden. Und diese Welle der Zuneigung kommt immer wieder über ihn, wie er so draußen vor seinem eigenen Haus steht und sie ansieht. Es wird ihm bewußt, daß sie ein Mensch ist, sie und auch alle anderen. Und ganz betroffen angesichts des Ausmaßes ihrer Menschlichkeit steht er da. Er sieht zum dunklen, kalten Himmel auf. Dann geht er hinein zu seiner Frau. Ihre schönen braunen Augen werden ihn ansehen, und sie wird aufstehen, um für ihn zu kochen.

In einigen Tagen soll er die Wohnung in der Lundagårdsgatan in Boden beziehen und dort seine Arbeit in der Lokalredaktion aufnehmen.

Nachts, besonders in den letzten Nächten während der Woche in Haft, träumt Wilhelmsson von der Begegnung vor der Seefahrerkapelle im November. Doch in diesen Träumen liest Dahlström in einer Zeitung, als Wilhelmsson durch das Schneetreiben vorbeigeht. Die Zeitung, die er aufgeschlagen vor sich hält, ist der Norrskensflamman. Und Wilhelmsson kann im Traum die Schlagzeile vom ersten Dezember lesen, die er niemals vergessen wird. Es war der Tag nach dem Angriff der Sowjets auf Finnland: »Finnlands Unverfrorenheit gegenüber Rußland führt zum Krieg«. Und über der Zeitung Dahlströms Gesicht, aschfahl und schmal, wie es jetzt ist, den festen Blick starr geradeaus gerichtet, fixiert er irgend etwas. Und dann sagt er:

»Die Zeit läuft rückwärts, und wo sie beginnt, ist Gott.«

An diese Version des Traums erinnert sich Wilhelmsson am deutlichsten. Vielleicht, weil es durchaus wahrscheinlich ist, daß Dahlström genau das gesagt haben könnte. Heute kennt er ja an Dahlström eine Seite, die er auch damals schon gekannt haben mußte. Denn die Zeit läuft rückwärts.

Wilhelmsson entdeckt seine Frau Inga, die in einer der hinteren Bänke sitzt. Er schaut sie direkt an, ohne eine Miene zu verziehen. Sie trägt ihren grünen Hut, und ihr Gesicht ist ganz ausgezehrt, als habe sie viele Nächte keinen Schlaf gefunden.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu dem ehemaligen Stadsfiskal Gunnar Dahlström?«

Im Gerichtssaal ist es still. Nicht einmal das Kratzen der Füllfedern auf dem Papier erreicht ihn mehr. Er sieht sich um. Einer der Polizisten, die den Ausgang bewachen, sieht schläfrig aus, denkt er. Er richtet sich auf und antwortet:

»Ich kannte ihn.«

Hinterher, an diesem grauenhaften Abend im Standard Hotell in der Woche nach dem Brand, als er dem wimmernden, weinenden und stinkenden Dahlström, diesem Wrack, gegenübersaß, da fragte er sich, wer dieser Mann war. Wer war er eigentlich? Eine Weile hatte Dahlström ihn aus wäßrigen Augen angeblickt. Diese Augen hatten Dahlströms zwar geähnelt, doch ihn selbst, sein Wesen, hatten sie vermissen lassen. Diese Person war nicht dieselbe, die er jahrelang in der Stadt gesehen und bewundert hatte, diejenige, die den Anschlag auf den Norrskensflamman mit einem Lächeln abgestritten und den Kampf gegen den Kommunismus geleitet hatte. Und das so viele Jahre lang. Eine einsame Aufgabe.

Dahlström saß ihm im Restaurant des Standard Hotell gegenüber. Liljegren und Burman waren längst gegangen, und Dahlström wollte ihn überreden, noch einen Grog zu bestellen. Er konnte Dahlströms erbärmlichen Anblick nicht ertragen, seine schmerzlich flehenden Augen, seine zitternden Hände. Er bestellte noch einen Grog mit Kognak, mißbilligend, doch nicht besonders widerstrebend. Die ungepflegte Bedienung ließ sich nicht zweimal bitten.

Es gab mal eine Zeit, dachte er, da hatte er diesen Mann so aufrichtig bewundert. Er erinnerte sich genau an Dahlströms Mimik und Gestik, als sie sich im November zum ersten Mal im Stadshotellet getroffen hatten. Kein altes Gesicht, aber auch kein junges. Damals hatten sie in der Pianobar gesessen. An den einfachen Tischen. Seinerzeit wohl eine ganz passable Einrichtung, im Gegensatz zu der im Standard Hotell. Dahlströms Interesse hatte Wilhelmsson geschmeichelt. Und Dahlström hatte sich über Wilhelmssons offensichtliche Bewunderung amüsiert. Sie scherzten miteinander. Dahlström sagte:

»Was wünschen Sie sich am meisten?«

Er antwortete:

»Selbstverständlich, die rote Gefahr abzuwenden.«

»Nein, das meine ich nicht.«

»Was meinen Sie dann?«

Dahlström sah ihn an, hob langsam den Zeigefinger und legte ihn direkt auf sein Herz. Auf seine linke Brusttasche. Erst jetzt sagte Dahlström:

»Das wünschen Sie sich am meisten ... ewiges Leben.«

Wilhelmsson konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Was wünschen Sie sich denn am meisten?«

»Ich?« wiederholte Dahlström erstaunt.

»Ja.«

»Selbstverständlich, die rote Gefahr abzuwenden«, kam die prompte Antwort.

Sie lachten.