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Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle.
Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli. Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr.
Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen.
Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Die beiden verschwundenen Mädchen hüteten Geheimnisse, die niemand ahnte. Doch wer könnte so weit gehen, ein Verbrechen zu begehen? Und welche dunklen Wahrheiten verbirgt North Falls noch?
»Eine herausragende Autorin auf dem Gipfel ihres schriftstellerischen Schaffens. « Peter James
»Die neue Slaughter MUSS man einfach gelesen haben – wie stets.« Harlan Coben
»Karin Slaughter steht für „Leidenschaft, Intensität und tiefe Menschlichkeit.« Lee Child
»Betreten Sie die Welt der Karin Slaughter. Aber seien Sie gewarnt: Daraus gibt es kein Zurück. « Lisa Gardner
»Eigentlich müssten Karin Slaughters Thriller mit einem Warnhinweis für Leser mit schwachen Nerven versehen sein… « The Guardian
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Zum Buch
Willkommen in North Falls, einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Zumindest glaubt das jeder. Bis zur Nacht des Feuerwerks. Als zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton werden die Ermittlungen zu einer höchst persönlichen Angelegenheit. Sie wandte sich ab, als die Tochter ihrer besten Freundin Hilfe brauchte - und jetzt muss sie sie nach Hause bringen. Doch während Emmy das Puzzle durchforstet, das die Mädchen zurückgelassen haben, wird ihr klar, dass sie sie nie wirklich gekannt hat. Niemand kannte sie. Jedes Teenager-Mädchen hat Geheimnisse. Aber wer würde dafür töten? Und was verbirgt die Stadt sonst noch?
Zur Autorin
Karin Slaughter ist eine der weltweit berühmtesten Autorinnen und Schöpferin von über 20 New York Times-Bestseller-Romanen. Dazu zählen »Cop Town«, der für den Edgar Allan Poe Award nominiert war, sowie die Thriller »Die gute Tochter« und »Pretty Girls«. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ihr internationaler Bestseller »Ein Teil von ihr« ist 2022 als Serie mit Toni Collette auf Platz 1 bei Netflix eingestiegen. Eine Adaption ihrer Bestseller-Serie um den Ermittler Will Trent läuft derzeit erfolgreich auf Disney+, weitere filmische Projekte werden entwickelt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation »Save the Libraries« für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta. Mehr Informationen zur Autorin gibt es unter www.karinslaughter.com
Karin Slaughter
Dunkle Sühne
Thriller
Aus dem amerikanischen Englischvon Fred Kinzel
HarperCollins
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel We Are All Guilty Here bei William Morrow, New York.
© 2025 by Karin Slaughter
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Published by arrangement with
William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, US
Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung von Hafen Werbeagentur, Hamburg
E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749909025
www.harpercollins.de
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Für Kate und Kitty Sunshine,die einiges durchgemacht haben
»Wenn man ein Happy End anstrebt, so hängt das natürlich davon ab, an welchem Punkt man seine Geschichte enden lässt.«
Orson Welles, The Big Brass Ring, 1982
Madison Dalrymple lehnte sich an die riesige Eiche und kämpfte gegen die Panik an. Cheyenne war zu spät dran. Mehr als zu spät. So war das nicht geplant gewesen. Sie hatten vereinbart, sich spätestens um acht unter der Eiche im Park zu treffen. Aber jetzt war es zwanzig nach acht, und Cheyenne war nicht erschienen, hatte nicht angerufen oder eine Nachricht geschickt, und sie reagierte auch nicht auf Madisons Anrufe und Nachrichten. Hitze und Angst ließen Madison in Schweiß ausbrechen. Das Shirt klebte ihr am Rücken, und die Shorts bauschten sich im Schritt. Das Tütchen Gras, das sie bei dem alten Perversen gekauft hatte, kochte praktisch in ihrer Hosentasche.
Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, sich im Park zu treffen, aber Madisons Dad hatte ihnen kaum eine andere Wahl gelassen. Er hatte ihr gestern eröffnet, dass die gesamte Familie ihren Geburtstag beim Feuerwerk verbringen werde, so als wäre es eine Überraschung, über die sie sich tatsächlich freuen müsste. Fünfzehn zu werden war keine so große Sache wie sechzehn, aber dass sie mit ihrem Dad, ihrer Stiefmutter und ihrem quengelnden Halbbruder in den Park geschleift wurde, fühlte sich mehr nach Bestrafung an als nach Fete. Überall waren Mücken und Moskitos. Das Essen war widerlich. Die Bowle schmeckte wie Hustensirup. Mindestens zweihundert Menschen hatten sich auf der Wiese verteilt und planschten im See, während sie auf den Beginn des Feuerwerks warteten. Madison hasste jeden Einzelnen von ihnen.
»Mann, Cheyenne«, murmelte sie, während sie den Blick über all die Vokuhilas und Pudeldauerwellen schweifen ließ, »wo bist du nur?«
Wenigstens ging die Sonne endlich unter. Um zehn Uhr vormittags war die Temperatur auf achtunddreißig Grad geklettert. Der See fühlte sich wärmer an als Badewasser. Ihren Sonnenschutz hatte sie schon vor Stunden weggeschwitzt, ihre Haut kochte. Madison sah, wie die Luft über dem Parkplatz oben auf dem Hügel vor Hitze flimmerte. Die Autos standen dicht an dicht, und entlang des Gehsteigs und der Treppe waren Fahrräder abgestellt worden. Jemand hatte die Parkplatzbeleuchtung ausgeschaltet, denn das Feuerwerk sollte bald beginnen. Die ganze Stadt tat so, als wäre der 4. Juli wahnsinnig wichtig, dabei konnte niemand die Verfassung von der Unabhängigkeitserklärung unterscheiden, und wenn das Schulorchester die Nationalhymne spielte, mussten die Leute den Text größtenteils mitsummen.
Der 4. Juli war nur ein Vorwand, um zu viel zu essen und zu trinken und dabei zu vergessen, dass sie alle in diesem stinkenden Scheißhaufen von Stadt festsaßen.
Sie umklammerte ihr Handy. Ihre Stiefmutter hatte bereits zweimal angerufen, weil sie auf der Suche nach ihr war, und tat wieder so, als wären sie alle eine große, glückliche Familie, aber Madison wusste, dass Hannah nur eine Schau abzog. Sie spielte sich auch immer so auf, als wäre sie Madisons richtige Mutter. Oder tat so, als ob sie Madison nicht insgeheim hasste. Schlimmer noch, Madisons Dad führte sich die ganze Zeit so auf, als wäre Madison das Problem. Ihre richtige Mutter, seine Frau, war erst seit acht Jahren tot, und er hätte am liebsten vergessen, dass sie je existiert hatte.
»Scheiße«, fluchte Madison.
Sie würde nicht zulassen, dass Hannah ihr alles kaputt machte. Diesmal nicht. Sie schaute wieder auf ihrem Handy nach, wie spät es war. Cheyenne war um genau sechsundzwanzig Minuten verspätet. Madison holte tief Luft und sagte sich, dass sechsundzwanzig Minuten nur ein Klacks waren. Einmal war Cheyenne eine volle Stunde zu spät dran gewesen, und ein fremder Wagen hatte sie vor Madisons Haus abgesetzt. Nicht einmal ein Mustang oder eine Corvette, sondern ein Kombi mit diesen kleinen Aufklebern von Zeichentrickfiguren am Heck: einer Mom, einem Dad, zwei Kindern und einem Hund. Hannah hatte den Wagen nicht gesehen, aber sie hatte wegen des frischen Knutschflecks an Cheyennes Hals ganz auf vorwurfsvolle Stiefmutter gemacht und die Augen zusammengekniffen, als wollte sie sagen: Was bist du bloß für eine Hure.
»Madison?«
»Was?«, japste Madison. Sie fing zu schwitzen an, als ihr klar wurde, dass es Hannahs beste Freundin seit Urzeiten war, die sie gerade beim Namen gerufen hatte. Dass Emmy Clifton-Lang außerdem zufällig Polizistin war, sorgte für eine zusätzliche Portion Panik.
»Du bist ein bisschen schreckhaft«, sagte Emmy. »Was ist los, Geburtstagskind?«
Madison fing sich und schloss die Hand um das Tütchen Gras in ihrer Tasche. »Alles okay.«
»Du siehst aber nicht so aus. Trinkst du genug Wasser?« Emmy nahm ihren Hut ab. Sie hatte Naturlocken, aber sie trug ihr Haar zu einem unmodernen Dutt hochgesteckt wie eine alte Frau, obwohl sie und Hannah letzten Monat erst ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert hatten. »Hier draußen ist es heißer, als man denkt.«
»Ich weiß«, sagte Madison. Hielt Emmy sie für blöd? »Deshalb stehe ich unter einem Baum. Im Schatten. Allein.«
Emmy nahm die Anspielung nicht zur Kenntnis. Sie legte die Hand an den Baum. »Du kennst doch den Spruch, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht?«
Madison verdrehte die Augen. In letzter Zeit bekam sie nichts als unerbetene Ratschläge. »Und?«
»Manchmal glaubt man zu wissen, mit wem man es zu tun hat, und man übersieht die Anzeichen, dass jemand vielleicht alles andere als gut für einen ist.« Emmy zuckte mit den Achseln. »Manchmal sieht man das große Ganze nicht, weil man zu sehr auf Einzelheiten fokussiert ist, weil man Spaß haben will, sich aus dem Haus schleicht und Dinge tut, von denen man weiß, dass man sie besser nicht tun sollte. Dann wird man eines Tages plötzlich mit den Folgen seines Handelns konfrontiert.«
»O Gott«, stöhnte Madison. Sie wusste genau, woher dieser CheyenneBaker ist ein schlechter Umgang-Vortrag kam. »Sag Hannah, sie soll sich um ihren eigenen Kram kümmern, okay? Sie kann aufhören, Leute vorzuschicken, damit die mit mir reden. Ich verlasse diese blöde Stadt, sobald ich kann.«
»Verstehe«, sagte Emmy. »Bis zum College ist es allerdings noch eine Weile hin. In drei Jahren kann viel passieren.«
»Klar.« Madison hatte nicht die Absicht, ihr die Wahrheit zu sagen: Dass sie und Cheyenne nur noch die nächsten zwei Monate durchhalten mussten, wenn der Plan funktionierte, dann würden sie nach Atlanta ziehen und müssten sich nie wieder mit Leuten herumschlagen, die ihnen sagten, was sie tun sollten.
»Ich kann dich auf dem Mercer-Campus herumführen, wenn du willst«, bot Emmy an. »Es ist wunderschön. Ich war sehr gern dort. Hab wirklich coole Leute kennengelernt.«
Madison rollte wieder mit den Augen. »College interessiert mich nicht, okay?«
»Vielleicht jetzt nicht, aber … Was hältst du davon, nächstes Wochenende, wenn du auf Cole aufpasst, ein bisschen früher zu kommen, dann könnten wir reden …«
»Ich bin zu spät dran.« Madison ließ ihre Stimme eiskalt klingen. »Ich wollte mich schon vor zehn Minuten mit Cheyenne beim SnoBall-Eisstand treffen.«
»Okay, aber hör mir bitte noch eine Sekunde zu.« Emmy hielt ihre Hand, was seltsam war. Dann drückte sie sie. »Ich möchte, dass du weißt – aber eigentlich solltest du es längst wissen –, dass Hannah dich wirklich sehr lieb hat.«
Madisons Herz machte plötzlich Hüpfer. Sie spürte die Wärme von Emmys Hand, die sich um ihre schloss. Unerklärlicherweise hätte sie am liebsten geweint.
»Sie hat dich aufwachsen sehen.« Emmy lächelte. »Wir beide haben dich aufwachsen sehen. Wir lieben dich alle beide.«
Madison schluckte den Kloß in ihrem Hals. »Ja, gut.«
Sie zog ihre Hand fort und ließ Emmy einfach stehen mit ihrem Altweiber-Dutt, ihrem dämlichen Lächeln und ihrem blöden Sohn, der immer noch Zeichentrickfilme für Kinder guckte, obwohl er elf Jahre alt war.
Madison wartete, bis sie die Tribüne erreicht hatte, ehe sie sich mit dem Handrücken über die Nase wischte. Sie schaute noch einmal auf die Uhrzeit in ihrem Telefon. Die Panik setzte wieder ein. Cheyenne war jetzt einunddreißig Minuten zu spät dran. Hatte Madison etwas falsch verstanden? Wollten sie sich am Haus treffen?
Sie schüttelte den Kopf, nein, das stimmte nicht. Sie hatte nichts falsch verstanden. Sie waren den Plan Dutzende Male durchgegangen, sogar den Weg mit der Stoppuhr abgelaufen, dann hatten sie ihre Fahrräder genommen, weil es sicherer erschien, über die Nebenstraßen zu kurven, statt mitten durch die Stadt zu laufen, wo irgendein Wichtigtuer Cheyenne entdecken und ihr Alibi versauen konnte.
Madison konnte es kaum erwarten, Cheyenne zu erzählen, wie sie Emmy ins Gesicht gelogen hatte. Sie waren gar nicht beim SnoBall-Eisstand verabredet, sondern wollten sich unter der Eiche treffen, dann mit den Fahrrädern zu Cheyenne fahren, wo sie sich den Wagen von Cheyennes Dad ausleihen und etwas von seinem Scotch klauen würden, um eine Spritztour durch die Stadt zu unternehmen, während die ganzen Dummköpfe sich das Feuerwerk ansahen. Sie hatte so oft daran gedacht, dass es ihr fast schien, als wäre es bereits passiert: Wie Mr. Bakers brandneuer Jetta mit hundertfünfzig Sachen über die Strecke hinter der Main Street schoss und Madison mit ausgebreiteten Armen im offenen Schiebedach stand, während der Wind ihr Haar peitschte und Rihanna aus den Lautsprechern dröhnte.
Zwei Monate. Daran musste Madison in Wirklichkeit denken. Der Plan würde funktionieren. Sie würden tatsächlich von hier abhauen. Nur noch bis September mussten sie durchhalten, dann würden sie per Anhalter nach Atlanta fahren, in einer Suite im Ritz-Carlton wohnen und VIP-Tickets fürs Music Midtown-Festival bekommen, ein paar ältere Typen treffen, die mit ihnen in die angesagten Clubs gingen, und wahrscheinlich als Football-Spielerfrauen enden und in prächtigen Villen wohnen.
Das zumindest war Cheyennes Vorhersage, und genau wie damals in der Mittelschule nahm sie Madison mit auf die Tour. Was toll für Madison war. Sie war nie besonders beliebt gewesen, hatte nie richtig dazugehört, war immer zu streberhaft oder seltsam gewesen. Dann war Cheyennes Dad mit seiner Familie nach Clifton gezogen, um einen Job in der Fabrik anzunehmen, und Madisons Leben hatte sich total verändert. Bis dahin war sie nie in Schwierigkeiten gewesen, hatte nie Aufmerksamkeit erregt, nie Widerworte gegeben, nie Make-up getragen, war nie von einem Jungen auch nur geküsst worden.
Sie hätte ebenso gut tot sein können.
Erst Cheyenne hatte sie zum Leben erweckt. Sie wusste, wie man Spaß hatte und – trotz des Gelabers von Emmy – wie man damit durchkam. Cheyenne hatte Madison gezeigt, wie man einen Schmollmund zog, mit Kleinmädchenstimme sprach und sich dumm stellte, damit Männer sich als große, starke Beschützer fühlten, denn dann bekam man von ihnen alles, was man wollte.
Das war Cheyennes heimlicher Trick – sich an Männer heranzumachen.
Die Jungs in ihrem eigenen Alter waren nur Freaks und Dummköpfe. Sie wussten nicht, was sie wollten und wie man es bekam. Männer waren anders. Sie hörten dir zu. Sie lasen dir jeden Wunsch von den Augen ab, kauften dir Sachen, gaben dir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, sagten dir ständig, dass du hübsch warst, waren dankbar für dein Erscheinen und beschwerten sich nie, wenn du zu spät kamst oder schlecht gelaunt warst. Cheyenne behauptete, dass sogar der Sex besser war, aber Madison war sich da nicht so sicher. Sie hatte noch nie richtigen Sex gehabt, nur so Sachen mit der Hand gemacht, aber es war größtenteils langweilig und eklig und nicht so aufregend gewesen, wie Cheyenne es hinstellte.
»Komm schon, Shy«, flüsterte Madison. »Wo zum Teufel steckst du?«
Jemand rempelte sie an. Eine Schar Kinder in nassen Badesachen steuerte auf die Tische mit dem Essen zu. Sie starrte zum Himmel hinauf. Das Licht war verblasst, als hätte jemand die Sonne gedimmt, und plötzlich dämmerte es. Rauch stieg von den Grills auf, wo man Hotdogs und Hamburger gebrutzelt hatte. Die Damen der Kirchengemeinde räumten pappigen Kartoffelsalat und grünen Bohneneintopf fort und stellten stattdessen Cupcakes mit Sternwerfern auf. Madison ging vor die Tribüne, schaute über das Meer von Menschen, das sich bis zum See erstreckte, und hielt nach Cheyennes dunkler Igelfrisur Ausschau.
Aber sie entdeckte nur den steinalten Sheriff Gerald Clifton, der zu viel Platz auf einer Anzahl von Decken einnahm, die seine Frau bei Anbruch der Dämmerung ausgebreitet hatte, damit sie die besten Plätze haben würden. Genau in der Mitte der Wiese. Nicht zu nahe am See, nicht zu weit entfernt von den Dixi-Klos. Alle behandelten den Sheriff, als wäre er adlig, was vielleicht zutraf, da das gesamte County nach seinem x-ten Ururgroßvater benannt war. Emmy diente als Deputy unter ihm. Seine Frau unterrichtete an der Mittelschule, sein Sohn war Lehrer an der Highschool. Sein Bruder leitete die Fabrik, und seine zweihundert Jahre alte Schwester spielte die Orgel in der Baptistenkirche. Im ganzen County gab es Unmengen von Cliftons, Cousins und Großonkel und zu viele Tanten. Madisons Dad scherzte oft, dass alle Leute, die keine Cliftons waren, entweder für die Cliftons arbeiteten oder von ihnen verhaftet worden waren.
Ein bedrückender Gedanke verursachte Madison plötzlich Übelkeit.
Vielleicht hatte Emmys idiotischer Vortrag über den Wald und die Bäume einen konkreten Hintergrund gehabt.
Vielleicht war Cheyenne verhaftet worden. Vielleicht saß sie im Gefängnis.
Madison scannte erneut hektisch die Menschenmenge und entdeckte Emmy im Gespräch mit ihrem Mann. Es sah eher aus, als brüllte sie ihn an. Sie stieß den Zeigefinger in Jonahs Brust, als wollte sie ihn erstechen. Irgendwo hier war noch ein zweiter Cop. Madison drehte sich im Kreis, um den anderen Deputy ausfindig zu machen. Sie seufzte schwer, als sie Brett Temple unweit der langen Schlange vor den Klos entdeckte. Selbst sie konnte erkennen, dass er nicht viel taugte in seinem Job. Er spielte mit seinem breitkrempigen Hut, statt die Augen offen zu halten, ob es irgendwo Probleme gab. Madison sah einen leuchtend roten Streifen von Sonnenbrand in seinem Nacken.
Sie atmete noch einmal langsam aus, um sich zu beruhigen. Erneut studierte sie die Menschenmenge, diesmal auf der Suche nach Cheyenne. Immer noch keine Spur von ihr, aber Hannah ragte aus der Menge wie ein Präriehund. Sie hielt unter den Kids bei den Cupcakes Ausschau, wahrscheinlich auf der Suche nach Madison, damit sie ein perfektes Familienfoto schießen und auf Facebook posten konnte.
Madisons Mund verzog sich unwillkürlich zu einem höhnischen Grinsen, während sie sich hinter dem alten Mr. Singh vom Baumarkt versteckte. Hannah trug ein gestreiftes schulterfreies Sommerkleid, das von Schweiß durchnässt war. Ihre Nippel standen ab wie die Radiergummis oben an den Bleistiften, was Cheyenne sehr komisch gefunden hätte, weil Hannah immer sagte, dass Cheyenne zu viel von ihrem Körper zeigte.
Sie schaute auf ihr Handy. Neununddreißig Minuten Verspätung. Das dauerte viel zu lange. Cheyenne hatte behauptet, dass der Plan ungefährlich war, aber in Wirklichkeit war er sehr riskant. Man konnte sich nicht mit Leuten anlegen und erwarten, dass sie es einfach hinnahmen. Vor allem nicht die Art Leute, mit denen sie sich angelegt hatten.
Ohne nachzudenken, hielt Madison wieder nach Emmy Ausschau. Sie war nicht schwer zu finden in ihrer kackbraunen Uniform. Die Auseinandersetzung mit Jonah war beendet, und Emmy stieg den Hang herauf in Richtung Tribüne. Sie hielt den Kopf gesenkt, die breite Hutkrempe verbarg ihr Gesicht, und sie hatte die Fäuste geballt. Die Leute starrten sie an und tuschelten wegen des Streits mit Jonah.
So lief das in North Falls, alle steckten ihre Nase in deine Angelegenheiten. Weit und breit war niemand, der nicht Emmys gesamte Lebensgeschichte kannte, von ihrer Geburt über das Aufwachsen mit dem Trottel von älterem Bruder, dass sie die Schule beim Buchstabierwettbewerb des Staats vertreten, das College besucht, ihre große Liebe aus der Mittelschule geheiratet und einen Sohn zur Welt gebracht hatte, bis hin zu ihrem Job im Büro des Sheriffs und dass sie tatsächlich glaubte, ihr Versager-Ehemann könnte eines Tages ein berühmter Musiker sein, obwohl alle wussten, dass er seine Tage hauptsächlich kiffend auf der Couch in dem Haus verbrachte, das Emmy finanzierte.
Cheyenne sagte immer, Emmy sei zu hübsch, um ihr Leben als Polizistin zu verschwenden, aber es war einfach so, dass Emmy gut war in ihrem Job. Sie war anders als ihr Vater, der die Eltern in der Arbeit anrief, wenn er Kids irgendwo sah, wo sie seiner Ansicht nach nichts zu suchen hatten. Oder Brett Temple, der ein echtes Vergnügen darin fand, sich wie ein Arschloch zu benehmen. Emmy hatte Madison einmal erwischt, als sie eine Zigarette rauchte, und nur gesagt, sie solle sie ausmachen, und basta. Sie hatte sie weder bei Hannah verpfiffen noch bei ihrem Dad im Laden vorbeigeschaut, was einfach gewesen wäre, da er sich genau gegenüber vom Sheriffbüro befand.
Was bedeutete, dass man Emmy trauen konnte.
Madison wartete mit verschränkten Fingern, bis Emmy bei ihr vorbeikam. Sie versuchte sich eine Geschichte auszudenken. Etwas, das nahe an der Wahrheit war, aber nicht direkt die Wahrheit. Etwas, das sie von allen Schwierigkeiten erlösen würde, denn sie glaubte, dass sie vielleicht, oder besser: wahrscheinlich, in großen Schwierigkeiten steckten. Zumindest, was Cheyenne betraf, denn sie mochte bei vielen Sachen zu spät kommen, aber nie im Leben würde sie bei dieser Sache zu spät kommen. Sie hatten es geprobt, sie hatten alle Eventualitäten berücksichtigt. Die einzige Erklärung war, dass etwas Schlimmes passiert war.
Emmy blickte genau in dem Moment hoch, in dem Madison den Mund aufmachte.
»Nicht jetzt.« Emmy klang kurz angebunden. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihre Nase war rot, aber sicher nicht von der Sonne.
Madison blieb nichts anderes übrig, als sie vorbeizulassen. Sie folgte Emmy hinter die Tribüne und sah, wie sie auf eines der Klos zuging, darin verschwand und die Tür schloss.
»Scheiße«, murmelte Madison.
Und jetzt?
Sie sah Deputy Temple immer noch mit seinem Hut herumspielen. Er war der letzte Mensch, den sie um Hilfe bitten würde. Er war nicht nur ein Arschloch, sondern er war unglaublich gemein.
Madison sah wieder zum Himmel hinauf, als könnte sie dort die Antwort finden. Die Sonne war um ein paar weitere Watt dunkler geworden. Die Sterne erschienen als schwache Lichtpunkte. Sie blickte zu der alten Eiche. Dort war niemand. Sie ließ den Blick wieder über die Menge bis hinunter zum See schweifen. Schwimmer kamen aus dem Wasser, trockneten sich ab, eilten zu ihren Plätzen auf dem Hügel. Bald würde es stockfinster sein. Es herrschte eine Atmosphäre gespannter Vorfreude. Alle waren bereit für den Beginn des Feuerwerks.
Sie sah nach der Uhrzeit. Siebenundvierzig Minuten Verspätung. Cheyenne kam nicht mehr. Irgendwas war wohl ernsthaft schiefgegangen.
Madison musste nach ihr suchen.
Entschlossen stieg sie die Treppe zum Parkplatz hinauf. Das Licht reichte gerade noch, damit sie ihr Fahrrad fand. Sie holperte mit dem Rad über die Stufen nach oben, schob es dann über den Gehsteig und suchte den Parkplatz ab, für den Fall, dass Cheyenne einem Typen mit einer Schnapsflasche oder einem Joint über den Weg gelaufen war. Die Autos waren so dicht geparkt, dass sie mit dem Fahrrad nicht dazwischen durchkam, deshalb musste sie auf dem Gehweg parallel zur ersten Reihe bleiben.
Madison brauchte ihren eigenen Plan.
Sie würde ihr Rad über das gelbe Absperrband heben, das verhindern sollte, dass jemand auf den Sportplatz neben dem Parkplatz fuhr. Sie würde den Hügel bis zur Long Street hinunterfahren, dann links auf die Carver, dann quer über die große Freifläche mit dem Teich, um zu den Nebenstraßen zu gelangen. Das war exakt die gegenläufige Route zu der, die Cheyenne hätte nehmen sollen. Vielleicht hatte ihr Rad einen Platten. Vielleicht hatte sie etwas genommen und war so high, dass sie nur auf dem Rücken liegen und in den Himmel starren konnte.
Madison wollte gerade auf ihr Rad steigen, als sie das erste Knistern und Zischen hörte. Das Feuerwerk fing endlich an. Sie hatten es auf der anderen Seite des Sees aufgebaut, weit weg von den Leuten. Madison hörte ein leises Pfeifen und sah, wie sich eine einzelne grellweiße Linie in den Nachthimmel brannte, ehe sie zu tausend Stecknadeln zerbarst. Sie hörte Johlen und Applaus, während die Lichter wie kleine Schlangen zischelten und dann langsam erloschen.
Es gab eine kleine Pause. Dann ein weiteres Knistern, ein weiteres leises Pfeifen. Eine weitere Leuchtspur zerstob zu einer Kugel aus wirbelndem Blau und Weiß, den Farben des Schulmaskottchens. Die Menge jubelte, als ein dritter Feuerwerkskörper losging, dieser surrte laut, während er sich zu einem Smiley eindrehte.
Madison vergaß vorübergehend ihre Sorgen. Sie konnte nicht anders als staunen. Früher, als sie noch klein war, als ihre Mutter noch lebte, bevor Hannah in ihr Leben eingedrungen war, hatte die Familie jeden 4. Juli zusammen verbracht und das Feuerwerk angesehen, nur sie drei. Ihre Mutter packte immer einen kleinen Kuchen und Schokoladeneis für Madisons Geburtstag ein. Ihr Vater schwamm mit ihr im See. Wenn das Feuerwerk losging, legte er immer die Arme um Madison, damit sie keine Angst hatte. Dann sagte er den Namen eines jeden Feuerwerkskörpers laut auf: die Crossette, bei der Sterne in vier Teile zerbrachen und einander kreuzten. Das Diadem mit seinen Sternen im Zentrum. Der Ring mit seiner Halo-Form und den Smiley-Gesichtern. Der lange Zylinder einer Römerkerze oder die Torte mit fast tausend Schuss, die aus einer Kombination von einem halben Dutzend Römerkerzen bestand. Dann gab es die Blumen – Weidenblume und Pfingstrose und ihr Favorit, die Chrysantheme –, lauter farbenfrohe Explosionen, die einem den Atem rauben konnten.
Sie raubten ihr immer noch den Atem.
Madison fuhr sich über die Augen, wütend auf sich selbst, weil sie weinte. Sie hatte zu Hannah gesagt, sie sei zu alt für Feuerwerk, aber die Wahrheit war, dass sie es vermisste, wie ihr Vater den Arm um sie gelegt, sie an sich gezogen und ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. Jedes Aah und Ooh aus der Menge, jeder laute Knall, der in der Kehle vibrierte, erinnerten sie an all die Dinge, die verloren gegangen waren.
Sie war so gefangen in ihrer Traurigkeit, dass sie den Wagen kaum zur Kenntnis nahm, der auf den Parkplatz bog. Ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich angepasst hatten. Die Scheinwerfer waren aus, und sie sah nicht, wer am Steuer saß, als das Auto die erste Reihe entlangrollte. Es hielt nicht an. Kein Bremslicht leuchtete auf, als die Vorderreifen über den Randstein holperten und der Wagen durch das gelbe Band fuhr. Erst als eine weitere Feuerwerksexplosion den Sportplatz in all seiner grünen Pracht beleuchtete, begriff sie, was sie vor sich sah.
Cheyenne!
Endlich, Gott sei Dank! Jetzt war sie da.
Madisons erleichterter Ausruf verwandelte sich in ein verblüfftes Lachen. Cheyenne wollte mit dem kostbaren, brandneuen Jetta ihres Vaters über den Fußballplatz fahren. Sie hatte ihr auffälliges neonblaues Fahrrad im Kofferraum verstaut. Die Reflektoren an den Speichen funkelten wie Christbaumkerzen. Sie hatte den Kofferraumdeckel nicht ausreichend festgebunden. Er sprang auf, als der Hinterreifen auf den Randstein traf, und krachte dann so heftig auf das Fahrrad hinunter, dass Madison trotz des Knisterns einer verglimmenden gelben Pfingstrosen-Rakete das Metall knirschen hörte.
»Shy!« Madison spurtete neben ihrem Fahrrad hinter dem Wagen her. Sie sah die Bremslichter aufleuchten, als sich Cheyenne der Mitte des Fußballfelds näherte. Madison brachte es nicht über sich, noch ein Loch in die Absperrung zu reißen. Also trabte sie zu der Stelle hinunter, wo Cheyenne bereits die Absperrung durchbrochen hatte. Ihre Zähne klapperten, als sie das Rad über den Randstein stieß. Sie biss sich versehentlich in die Innenseite ihrer Wange, doch in ihrer Aufregung nahm sie den Schmerz kaum wahr.
Typisch Cheyenne. Sie hatte den Plan geändert, ohne Madison Bescheid zu sagen. Sie hatte beschlossen, den Jetta und den Scotch zu holen und sich dann mit ihr im Park zu treffen. Was sehr viel sinnvoller war. Darauf hätten sie auch gleich kommen können. Wozu den ganzen Weg zurückfahren, wenn Cheyenne auf dem Weg zum Park bei sich zu Hause vorbeischauen konnte?
Der Wagen hielt am Rand des Platzes, den Kühler auf eine Baumgruppe ausgerichtet. Madison hörte den Motor im Leerlauf arbeiten. Sie fing wieder zu weinen an, dieses Mal vor Erleichterung. Erst jetzt konnte sie sich eingestehen, welch schreckliche Angst sie gehabt hatte. Cheyenne hatte gesagt, der Plan würde problemlos funktionieren, aber nichts funktionierte je problemlos. Vor allem nicht, wenn Cheyenne beteiligt war. Sie ging häufig zu weit, Madison hatte es unzählige Male erlebt. Wenn sie bei einem Lehrer den Mund zu voll nahm. Den Direktor wütend machte, eine Verkäuferin anbrüllte oder bei sich zu Hause so laut herumschrie, dass ihre Mutter sie einmal, und wahrscheinlich nicht zum einzigen Mal, mit einer Ohrfeige zum Schweigen bringen musste.
»Shy!«, rief Madison wieder, aber ihre Stimme ging im Knattern einer Chrysanthemen-Rakete unter, die in leuchtendem Purpur, Grün und Weiß aufblühte.
Sie ließ ihr Fahrrad auf den Rasen fallen und rannte die letzten Meter. Das Schnellfeuer der Explosionen war so laut, dass sie den Widerhall in den Zähnen spürte. Der Stroboskopeffekt ließ jede Bewegung ruckartig wirken. Sie streckte die Hand aus und fand Halt am Hinterrad von Cheyennes Fahrrad. Die Kette war herausgesprungen, sie lag wie ein weggeworfenes Armband quer über den Speichen.
Die Nacht wurde schwarz.
Die Chrysanthemen-Rakete war erloschen. In der Stille konnte Madison ihren eigenen keuchenden Atem hören, bis das nächste tiefe Pfeifen ihn übertönte und ein lautes Surren ihre Trommelfelle erschütterte. Sie wandte sich dem See zu und sah zwei Leuchtspuren in das Schwarz des Himmels aufsteigen und sich in der Wasseroberfläche spiegeln. Dann überschlug sich das Knallen der Explosionen, und sie sah gewaltige Lichtranken zur Form zweier mächtiger Palmen herabstürzen.
Das Tosen der Menge verklang im Krachen, Knistern und Zischen.
Und da war noch ein Geräusch. Es war schwach, aber es war eindeutig da. Viele näher als die Menschenmenge. Beinahe näher als ihr eigener schwerer Atem.
Ein Wimmern.
Madison blickte in den Kofferraum des Wagens. Das grelle Licht der Feuerwerk-Palmen brachte alle Einzelheiten zutage. Den metallic blauen Rahmen des Fahrrads. Das verbogene Hinterrad. Die gerissene Kette. Die blaue Plane, mit der der Kofferraum ausgelegt war. Die gestraffte Wäscheleine, die sich vom Kofferraumdeckel spannte.
Der Ausdruck nackter Angst in Cheyennes Augen.
»Oh«, flüsterte Madison.
Das war nicht Mr. Bakers Jetta.
Am Himmel wurde es dunkel. Eine weitere Pause.
Madison war vorübergehend blind, aber sie sah immer noch Cheyenne in dem Kofferraum vor sich. Unter dem Fahrrad eingeklemmt. Die Augen weit aufgerissen. Voller Angst. Zum Überlegen blieb keine Zeit, Madison musste handeln. Sie zerrte das Rad heraus und warf es auf den Boden, dann packte sie Cheyenne am Arm und versuchte ihr aus dem Kofferraum zu helfen.
Ein weiteres tiefes Pfeifen. Eine weitere feurige Spur. Eine weitere Explosion grellen Lichts.
Madison erstarrte mit der Hand an Cheyennes Arm, als die Wahrheit in aller schrecklichen Farbigkeit offensichtlich wurde: leuchtend rote Schnittmale. Rostfarbenes getrocknetes Blut. Rosa Pünktchen im Weiß von Cheyennes Augäpfeln. Ihr Mund war mit Klebeband verschlossen. Ihre Nase sah aus, als wäre sie gebrochen. Ihr Shirt war zerrissen. Blut lief über ihre Brust und sammelte sich in ihrem BH. Sie war an den Handgelenken gefesselt. Ihre Beine waren angezogen, die Knöchel zusammengebunden. Sie schrie hinter dem Klebeband, wand sich, um sich zu befreien, drängte Madison, ihr bitte zu helfen.
Genau in diesem Moment kamen Madison Emmys Worte von vorhin wie ein Echo in Erinnerung.
Dass sie nicht den Wald vor lauter Bäumen übersehen sollte.
Dein Problem ist nicht Cheyenne, die gefesselt im Kofferraum liegt.
Sondern der Mann, der sie in den Kofferraum gelegt hat.
Die nächste Explosion war so laut, dass Madisons Zähne schmerzten. Sie spürte, wie ihr Kiefer starr wurde und ihre Muskeln sich zusammenzogen. Angst durchströmte ihren Körper. Das grelle Aufleuchten einer Chrysantheme setzte den Himmel in Brand.
Madison drehte sich um. Sie sah das Gesicht des Mannes, dann – Dunkelheit.
Emmy stieß die Tür der Dixi-Toilette auf und sog einen Mundvoll heißer, feuchter Luft ein. Ihr klingelten immer noch die Ohren von dem Feuerwerk, das mit Explosionen wie in einem Kriegsgebiet geendet hatte. Der Geruch von Schießpulver und Schwefel vermischte sich mit dem beißenden Gestank von Schweiß und schalem Alkohol, als die Feiernden nach und nach ihre Decken und Kühlboxen zusammenpackten, nach den Kindern riefen und sich zu erinnern versuchten, wo sie den Wagen geparkt hatten. Taschenlampen wurden hervorgeholt. Die Straßenbeleuchtung sprang an, erst auf den Parkplätzen unten bei der Sportanlage, dann bei dem Parkplatz oben auf dem Hügel. Dann gingen die Laternen hinter der Tribüne an, danach die unten am See. Schließlich änderte sich die Stimmung, als den Leuten bewusst wurde, dass der 4. Juli auf einen Mittwoch gefallen war, was bedeutete, dass sie alle morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen mussten.
»Nacht, Emmy«, rief eine Stimme.
»Mach’s gut«, sagte eine andere.
Emmy zwang sich zu einem Lächeln, als sie die Tür hinter sich zufallen ließ. Sich in einer mit Scheiße und Pisse gefüllten Plastikbox zu verstecken, die zwölf Stunden lang in der unbarmherzigen Sonne geschmort hatte, war nicht ihre beste Idee gewesen. Aber immer noch besser als der Einfall, Jonah Lang die simple Aufgabe zuzutrauen, auf ihr elfjähriges Kind aufzupassen.
»Ich kenne diesen Blick.« Brett Temple grinste und drehte seinen Hut in den Händen. Sein Nacken hatte die klassische Redneck-Bräune angenommen. »Was hat er jetzt wieder gemacht?«
»Er hat gesagt, er wird nicht Babysitter für Cole spielen.« Brett schaute verständnislos drein, deshalb buchstabierte sie es für ihn aus. »Man nennt es nicht Babysitting, wenn es das eigene Kind ist.«
»Echt nicht.« Vanna, Bretts selbstgefällig schwangere Frau mischte sich in die Unterhaltung. Ihr schweißfleckiges lila Kleid war über dem Bauch ausgeleiert wie ein Spannbettlaken in einem Bordell. »Du bist nicht so, nicht wahr, Baby?«
Brett sah auf Vanna hinunter und log, dass sich die Balken bogen. »Natürlich nicht, Schatz.«
Emmy musste den Blick abwenden, als sie sich küssten, und ließ den Blick stattdessen über die Menschenmenge wandern. Ein hartnäckiges Schuldgefühl plagte sie, weil sie Madison vorhin zurückgewiesen hatte. Das Mädchen hatte eindeutig mit ihr reden wollen. »Hat jemand von euch Madison Dalrymple gesehen?«
»Wer ist das?«, fragte Brett.
»Die Fette«, sagte Vanna.
Emmy biss die Zähne zusammen. »Sie ist nicht fett.«
»Na ja, jedenfalls würde sie niemand als dünn bezeichnen.« Vanna lachte und schaute Brett an wie ein verliebter Basset. »Madison treibt sich mit dieser unverschämten Göre herum, dieser Cheyenne Baker. Weißt du noch – das ist die, die du letzte Woche aufs Revier geschleift hast.«
»Cheyenne Baker.« Brett nickte. »Hat eine Tüte Schokopralinen geklaut. Hat sie allerdings weggeworfen, bevor ich sie zu fassen bekam.«
»Die kleine Psychopathin hat sie wahrscheinlich mit Fentanyl geimpft«, sagte Vanna prahlerisch. »Am besten, man steckt sie gleich ins Gefängnis, früher oder später landet sie sowieso dort.«
»Hey.« Emmy bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Sie ist noch ein Kind.«
»Ein Kind, bei dem das Böse bereits eingebrannt ist«, sagte Vanna. »Ich sage euch noch etwas: Hannah ist eine Heilige, weil sie sich mit Madison abgibt. Sie sollte sie auf eine dieser Schulen schicken, wo man die Kinder mitten in der Nacht aus dem Bett holt und in einer Wüste irgendwo in Utah absetzt. Um sie aus dem Dunstkreis finsterer Einflüsse zu holen.«
Emmy war wie vor den Kopf gestoßen von der beiläufig geäußerten Grausamkeit. »Hannah liebt Madison wie eine Tochter.«
»Genau deshalb sollte sie es tun. Liebevolle Strenge.« Vanna rieb ihren runden Bauch, als würde ihr Kind nie Schwierigkeiten machen. »Himmel, ich platze gleich. Emmy, waren Coles letzte Wochen für dich auch so anstrengend?«
»Eigentlich nicht. Ich habe mich großartig gefühlt.« Emmy fand, dass Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen, vier Löcher in den Zähnen und die Notwendigkeit, immer eine Ersatzhose dabeizuhaben, weil sie sich unweigerlich vollpisste, ein Kinderspiel dagegen waren, dass ihr während der Entbindung das Becken ausgerenkt wurde, dass sie zwei Liter Blut verloren und sich vor Schmerzen übergeben hatte. »Ich kann mich kaum daran erinnern.«
Vanna lächelte aufreizend selig. »Kinder sind ein Wunder Gottes.«
»Das ist wohl wahr.«
Brett wandte sich an Emmy. »Wo hast du diese Madison denn zuletzt gesehen? Ich kann dir helfen, sie zu suchen.«
»Nicht nötig.« Welches drängende Ereignis Madison auch in solche Verzweiflung gestürzt haben mochte, dass sie tatsächlich hatte reden wollen – es war inzwischen wahrscheinlich vorbei. »Ich nehme später mit ihr Kontakt auf.«
Brett musterte sie vorsichtig. Emmy reagierte mit einem Achselzucken, weil sie weder die Zeit noch die Ressourcen hatten, sich um eine Fünfzehnjährige zu kümmern, der etwas auf dem Herzen lag. Hunderte Leute brachen gleichzeitig auf, und es gab nur eine Straße, die zum Park führte. Oben auf dem Hügel drängten sich die Autos wie Ölsardinen. Die beiden kleinen Parkflächen bei den Baseballplätzen waren doppelt belegt. Wenn man die Hitze und den Alkohol dazurechnete, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass noch vor Ende ihrer Schicht jemand ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die Zeit, um herumzustehen und zu reden, war vorbei.
»Was ist dir lieber?«, fragte sie Brett. »Verkehrspolizist oder Schiedsrichter?«
Brett traf unter Stöhnen eine Entscheidung. »Verkehr. Als ich das letzte Mal Schiedsrichter war, habe ich eins auf die Schnauze bekommen.«
Vanna kniff ihn in die Wange. »Du hast es ihm aber anständig heimgezahlt, was, Baby?«
Emmy ignorierte den albernen Ton, mit dem Vanna ihn umschmeichelte. Die Frau war nur fünf Jahre jünger als Emmy, aber sie benahm sich immer noch wie ein Teenager. Das würde sich in einigen Monaten ändern, wenn sie ohne Schlaf auskommen musste und Brett Doppelschichten arbeitete, weil das Risiko, bei einer Verkehrskontrolle angeschossen zu werden, immer noch besser war, als ein schreiendes Baby auszuhalten.
»Funk mich an, wenn du mich brauchst«, sagte Emmy.
Sie setzte ihren Hut auf und spazierte gegen den Strom in die Menschenmenge, die sich schwankend den Hügel hinaufschob. Emmy studierte die Gesichter, versuchte sich ein Bild zu machen, wer zu viel getrunken hatte, wer Ärger machen würde, wer zu seinem Auto begleitet werden musste und wer nur genervt war, weil es so lange dauerte, um zum Parkplatz durchzukommen.
Dieser vorausblickende Teil der Polizeiarbeit war etwas, was sie einem auf der Akademie nicht beibringen konnten. Emmy war seit sechs Jahren im Job und hatte endlich den Instinkt einer Polizistin entwickelt. Manchmal wurde er durch unvermittelten Lärm oder sogar absolute Stille ausgelöst, aber die meiste Zeit war es nicht mehr als eine kaum wahrnehmbare Veränderung in der Luft, eine Art statische Aufladung, die sie auf ihrer Haut spürte und die ihr sagte, dass etwas Schlimmes bevorstand. Ihr Vater nannte es das Kribbeln, und Emmy dachte, dass ein Mann, der seit Eisenhowers Präsidentschaft als Sheriff gedient hatte, es nennen durfte, wie er wollte. Wenn Emmy die Straßen der Stadt wie ihre Westentasche kannte, dann kannte ihr Vater sie wie die Blutgefäße in seinem Körper.
Clifton County lag im südwestlichen Teil von Georgia und hatte an die zwanzigtausend Einwohner. Weniger als tausend von ihnen wohnten am Sitz des County in North Falls. Die größte der vier Städte war Verona, wo die Autozulieferfabrik beheimatet war. Ocmulgee war für seine Outletstores an der US19 bekannt, und in Clayville war eine der größten Berufsschulen im Staat, was die Fabrik mit gut ausgebildeten Arbeitskräften versorgte. Sowohl North Falls als auch Verona wurden vom Flint River begrenzt, der unterhalb des Flughafens von Atlanta entsprang und durch den südlichen Teil Georgias in den Panhandle, den »Pfannengriff« von Florida, floss, wo er schließlich in den Golf von Mexiko mündete.
Die drei größeren Städte hatten ihre eigenen Polizeikräfte, aber North Falls wurde vom Sheriffbüro mit seinem sechzehnköpfigen Personal mitversorgt, was sinnvoll war. Das Gericht lag in der Stadt. Deputys waren für das Gefängnis und für Gefangenentransporte zuständig. Sie stellten außerdem Kontaktbeamte für die Schulen, übernahmen Streifendienste, halfen bei Ermittlungen überall im County und überwachten öffentliche Veranstaltungen, und genau aus diesem Grund waren Emmy und Brett im Park.
Am Ufer des Flint River fand eine wesentlich größere Unabhängigkeitsfeier statt, aber North Falls hatte schon immer sein eigenes Ding gemacht. Hier saß das Geld. Hier lebten die Leute, die das County lenkten. In einer Region, in der Fremde verdächtig waren, hegte North Falls ein besonderes Misstrauen gegenüber allen, die nicht innerhalb der Stadtgrenzen des acht Quadratkilometer großen North Falls geboren und aufgewachsen waren.
Was der Grund dafür war, dass Emmy die meisten Gesichter kannte, die sie in der Menge sah. Vom Lebensmittelladen, vom Ortszentrum, vom Fitnessstudio, vom Diner, vom Friseursalon in Peggy Ingrams Untergeschoss. Manche lächelten, als sie Emmy sahen. Andere runzelten die Stirn. Und dann gab es die Wichtigtuer, die sie unverblümt anstarrten, weil sie den Streit mit Jonah mitbekommen hatten und auf noch mehr Klatsch aus waren.
Emmy schaute in ihr Handy, als hätte sie soeben eine wichtige Mitteilung erhalten. Das blöde Ding hatte seit einer Stunde in ihrer Tasche vibriert, aber sie hatte zum Glück nicht mitbekommen, was los war. Es gab sechs verpasste Anrufe ihrer verrückten Tante, die sich wahrscheinlich darüber beschweren wollte, dass irgendwelche Saufbrüder in ihrem Teich schwammen oder Herumtreiber die wilden Brombeeren stahlen, die an ihrem Zaun wuchsen.
Ihre Cousine Taybee hatte allen Cousinen eine Nachricht geschickt und vorgeschlagen, dass sie sich am Sonntag zu einem gemeinsamen Essen auf ihrer ausgedehnten Familienfarm trafen. Keine Männer erlaubt, hatte sie geschrieben, was dazu führte, dass ihr ein Cousin sofort umgekehrten Sexismus vorwarf. Drei Cousinen hatten den möglichen Streit umgangen und gefragt, was sie mitbringen sollten. Eine vierte hatte Emmy außerhalb der Gruppe geschrieben, sie würde nicht kommen, weil sie weiterhin nicht mit Taybee redete. Eine andere Cousine hatte, ebenfalls nichtöffentlich, ein alternatives Treffen in einem Restaurant vorgeschlagen, wo man bedient wurde und niemand kochen musste. Und dann hatte Taybee an Emmy geschrieben und sich erkundigt, ob sie von diesem alternativen Essen gehört habe.
Ein dicker Schweißtropfen fiel von ihrer Nasenspitze auf das Display.
Auf keinen Fall würde sie sich an dem Cousinen-Drama beteiligen, vor allem nicht bei Taybee, einer Furcht einflößend reichen Anwältin, die jede Diskussion anging, als würde sie einen Axtmörder ins Kreuzverhör nehmen. Emmy scrollte nach unten und fand eine Nachricht von Jonah. Er hatte als eine Art Friedensangebot ein Foto von Cole geschickt, der in eine mit Schokolade überzogene Waffel voll Eiskrem biss, was großartig war, weil sich jeder Elfjährige vor dem Schlafengehen dringend ein Pfund Zucker reinziehen sollte.
Emmy seufzte schwer. Sie brachte es nicht über sich, Jonah schon wieder an die Kehle zu gehen, deshalb schickte sie ein Smiley zurück und steckte ihr Handy in die Tasche. Sie war zum Arbeiten hier, nicht um sich den Kopf über ihre Ehe zu zerbrechen. Sie rückte ihren Ausrüstungsgürtel zurecht, der mit ihrer Waffe, Reservemunition, Pfefferspray, Funkgerät, Taschenlampe, Taser, Schlagstock, Multifunktionswerkzeug und Schlüsseln ungefähr einen Zentner wog. Dann nahm sie ihren Hut ab und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn.
Großer Gott, war das heiß.
Ihre Haut war klebrig. Ihr Haar pappte, als wäre es auf den Schädel gesprüht. Die kugelsichere Weste unter der Uniform hatte sich in das schwerste Sandpapier der Welt verwandelt, und der Bügel ihres BHs stach ihr in die Rippen. Und zu alledem hatte sie starke Kopfschmerzen. Sie hatte Madison ermahnt, Wasser zu trinken, aber ihren eigenen Rat nicht beherzigt.
Madison.
Es gab hier gar keinen SnoBall-Eisstand, und auch von Cheyenne war nichts zu sehen. Emmy hatte bei Hannah eine Art maßvolle Besorgnis wegen der beiden Mädchen wahrgenommen. Die beiden waren der Gegenstand vieler spätabendlicher Telefonate und Treffen im Garten der Cliftons. Madison war immer sehr leicht verführbar gewesen. Und Cheyenne war die Art Teenager, die das Leben interessant und aufregend machte. Emmy konnte die Verlockung nachvollziehen, die das Mädchen auf Madison ausübte. Sie selbst war in diesem Alter von allem und jedem zu Tode gelangweilt gewesen. Das war auch einer der Gründe, warum sie sich so heftig in Jonah verliebt hatte.
Und wohin hatte es sie gebracht?
»Em?« Hannah kam die Anhöhe herauf. Wie allen anderen setzte ihr die Hitze sichtlich zu, und sie wollte nur weg von hier. »Jonah, hm?«
Emmy verdrehte die Augen so stark, dass sie beinahe eine alternative Dimension sah. Hannah fragte nicht nach Einzelheiten. Sie teilten die tiefe Angst, mit einem enttäuschenden Mann verheiratet zu sein.
»Entschuldige.« Hannah drückte solidarisch Emmys Arm, ließ aber umgehend wieder los, weil es zu heiß war. »Hast du mit Madison gesprochen?« Hannah übte den Seiltanz zwischen mitfühlender Erwachsener und Stiefmonster seit fünf Jahren.
»Tut mir leid, ich habe es wirklich versucht.«
»Ich weiß es zu schätzen«, sagte Hannah. »Himmel noch mal, es ist schon komisch: Je gemeiner sie zu mir ist, umso mehr liebe ich sie.«
Emmy ging es genauso. Hannah war seit dem Kindergarten ihre beste Freundin. Sie hatten sich seitdem praktisch täglich gesehen oder gesprochen. Ihre Liebe zu Hannah hatte sich mühelos auf das komplizierte Mädchen übertragen, das Hannah liebte. »Wir waren nie so, oder?«
»Natürlich nicht, wir waren verdammt noch mal perfekt.« Hannah wies mit einem Kopfnicken zur Tribüne. »Was hatte Tinky-Winky zu sagen?«
Emmy prustete los. Vanna sah in ihrem lila Kleid ganz und gar wie ein Teletubby aus. »Babys sind ein Wunder Gottes.«
»Sie wird sich in die Hosen machen, wenn dieses Ding aus ihr herausbricht.«
Emmy presste die Lippen aufeinander, um nicht wieder loszuprusten.
»In zehn Jahren wird sie beim Einkaufen sein und heftig niesen, und die Gebärmutter wird ihr zwischen den Beinen rausploppen wie der Klöppel einer Glocke.«
»Das ist aber sehr realistisch formuliert.«
»Ist der Freundin meiner Tante Barb passiert.«
»Die mit dem Muttermal?«
»Verdammt, ich muss los.«
Emmy sah Hannah hinter ihrem Mann herrennen. Paul hatte den ganzen Tag getrunken, um sich darüber hinwegzutrösten, dass Madison ihren Geburtstag nicht mit der Familie feiern wollte. Der arme Kerl konnte kaum noch gerade gehen, vor allem nicht mit ihrem Zweijährigen im Schlepptau. Emmy brach das Herz vor Mitgefühl, als sie Hannahs beschämten Gesichtsausdruck sah.
»Emmy Lou?«
Der tiefe Bariton ihres Vaters drang durch das weiße Rauschen der Menge. Sie setzte ihren Hut wieder auf und ging in seine Richtung davon.
Emmy versuchte nicht zu viel darüber nachzudenken, dass seine Stimme neuerdings so kratzig klang. Gerald Clifton war im Januar vierundsiebzig geworden, und erschreckenderweise ließen die Kräfte ihres starken, tüchtigen Vaters plötzlich nach. Schlimme Knie. Schlimmer Rücken. Schlimme Arthritis in den Händen. Selbst sein Husten hatte sich von kurzen, schnellen Anfällen in ein andauerndes raues Knurren verwandelt.
Ihre Mutter war nicht viel besser dran. Myrna war vor vier Jahren zu einer Operation am offenen Herzen eiligst nach Atlanta gebracht worden. Sie vergaß ständig, wohin sie ihre Schlüssel gelegt hatte, wen sie anrufen musste, was in der Vorwoche bei ihrer Lieblingsserie im Fernsehen passiert war. Auch bei Emmys Bruder begann sich das Alter bemerkbar zu machen. Mit einundfünfzig verbrachte Tommy fast jedes Wochenende auf der Couch, schaute Golf im Fernsehen und kaufte sich bei eBay altmodische Hüte.
Womit Emmy wie üblich auf sich allein gestellt blieb. Sie war das, was man euphemistisch als Nachzügler bezeichnete. Tommy war bereits auf dem College gewesen, als sie zur Welt kam, und ihre Eltern hatten in der Zwischenzeit zwei weitere Kinder beerdigt, erst Henry, dann ein Jahr später Martha. Gerald war zu alt gewesen, um mit Emmy über den Spielplatz zu jagen, und Myrna zu eingefahren in ihrem täglichen Ablauf, um ihn noch zu irgendwelchen Aktivitäten mit der Kleinen zu motivieren. Sie waren die einzigen Eltern in Emmys Klasse gewesen, die die Bewerbung um ein Studiendarlehen mit dem Zeitpunkt koordinieren mussten, an dem sie ihre Versorgungsansprüche geltend machten.
Natürlich war Emmy der Altersunterschied immer bewusst gewesen, aber erst jetzt begriff sie dessen Auswirkungen. Sie erreichte die Blüte ihres Lebens etwa zu der Zeit, da alle in die andere Richtung rutschten. Selbst Tommys spleenige Frau Celia hatte angefangen kürzerzutreten. Sie war eine knallharte Vizerektorin, die die halbe Highschool managte, aber sie hatte Emmy letzte Woche erzählt, ihre Vorstellung vom Himmel bestehe darin, den ganzen Tag im Pyjama herumzulaufen und das Haus nur für einen Besuch im Schnellrestaurant zu verlassen.
»Emmy Lou.« Myrna tauchte wie aus dem Nichts auf. Ihre Miene war missbilligend, als sie Emmy den Zipfel einer Decke reichte, damit sie ihr beim Zusammenlegen half. »Hast du deinen Vater nicht rufen hören?«
»Nein, Mutter. Ich bin gerade ohne besonderen Grund auf ihn zugegangen.«
»Du bedienst dich eines höchst interessanten Tonfalls. Willst du das Gegenteil andeuten?«
»Das könnte man daraus folgern.« Emmy faltete die Decke zu Ende. Sie wusste genau, warum ihre Mutter ihr jetzt zusetzte. »Mach schon und sprich es aus. Ich weiß, dass du gesehen hast, was zwischen mir und Jonah gelaufen ist.«
»Ich habe es gesehen. Und davon gehört. Und dann noch mal davon gehört. Und noch einmal.« Myrna hob eine weitere Decke auf und schüttelte sie aus. »Ich werde nicht sagen, ich habe dich gewarnt.«
»Du bedienst dich eines höchst interessanten Tonfalls.«
»Aus dem du gerne folgern darfst, was ich sagen will.«
Emmy verteidigte Jonah reflexartig. »Bei seinem Auftritt in Macon gestern Abend ist es spät geworden. Er musste dem Veranstalter nachjagen, um sein Geld zu bekommen. Er ist erschöpft.«
»Du schaffst es immerhin, einen Vollzeitjob mit deinen Pflichten als Mutter in Einklang zu bringen.« Myrna zog die Ränder der Decke gerade. »Wohingegen es Jonah zu viel ist, mit seinem Sohn lange genug zu bleiben, damit der das Feuerwerk sehen kann.«
Die Waffel mit der Eiskrem … Jonah hatte sie in der Stadt gekauft. Emmy würde ihn umbringen. »Er sagte, dass er mit Cole zu den Wasserfällen hinauffährt, damit sie einen besseren Blick haben.«
»Ach, tatsächlich?«
Emmy konnte nicht mehr lügen. »Mom.«
Myrna seufzte schwer. Sie stapelte die Decken auf die fahrbare Kühlbox. Als sie wieder aufblickte, war ihr Gesichtsausdruck schon weniger vorwurfsvoll. »Ich habe zu Jonah gesagt, er soll Cole später vorbeibringen. Ich lege ihn dann ins Bett.«
»Danke.«
»Nie zu leiden, hieße, nie gesegnet worden zu sein.«
Emmy sah sie verständnislos an.
»Edgar Allan Poe«, sagte ihre Mutter, die Englischlehrerin. »Also, wohin ist dein Bruder verschwunden? Ich kann diese Kühlbox nicht allein den Hügel hinaufschleppen, und Celia rührt weiß Gott keinen Finger.«
Emmy hielt nicht nach Tommy Ausschau. Sie hielt nach ihrem Vater Ausschau und entdeckte Gerald mühelos. Er stand rund zehn Meter entfernt und überragte die Menge. Jemand sprach mit ihm. Oder versuchte es zumindest. Gerald Clifton sprach nur, wenn er fand, dass es sich lohnte, etwas zu sagen. Selbst zu Hause zog er es vor, Myrna das Schweigen ausfüllen zu lassen.
Sie nahm ihren Hut wieder ab, weil sie auf eine Brise vom See her hoffte, und sei sie noch so schwach. Ihr Telefon summte in der Tasche. Wahrscheinlich eine weitere Cousine, die um ein drittes Geheimessen bat, oder ihre verrückte Tante, die einen Waschbären wegen Landstreicherei anzeigen wollte.
Als Emmy sich ihrem Vater näherte, bemerkte sie, dass er den Mann, der genau vor ihm stand, gar nicht beachtete. Er sah Emmy an. Ihre Blicke trafen sich – etwas stimmte nicht. Sein Cop-Radar war sehr viel besser als ihrer, aber sie spürte es jetzt auch, diese Elektrizität in der Luft, bei der sich ihr die Nackenhaare aufstellten.
Das Kribbeln.
Emmy nannte es ein ungutes Gefühl. Sie hatte andere Cops von Ahnung, Instinkt oder, wenn es sich um eine Frau handelte, Intuition sprechen hören. Aber egal, wie man es bezeichnete: Es bedeutete, dass etwas Schlimmes entweder geschehen war oder unmittelbar bevorstand.
Sie marschierte durch eine Gruppe Nachzügler und schaltete das Funkmikro an ihrer Schulter ein. »Brett, hörst du mich?«
»Ich höre.« Bretts Stimme drang durch das statische Rauschen. »Ich bin auf der Long Street. Ein Lkw ist einem Toyota Prius ins Heck gefahren, und der Prius ist an einen Telefonmast gekracht. Die Straße ist in beide Richtungen gesperrt. Was gibt es?«
Emmy glaubte nicht, dass ein eine Viertelmeile entfernter Verkehrsunfall für ihr ungutes Gefühl verantwortlich war. »Kannst du …«, begann sie.
Gerald nahm ihr das Mikrofon sanft aus der Hand. Er hielt es vor seinen Mund und drückte den Sprechknopf. »Fordern Sie Unterstützung für den Unfall an. Wir treffen uns am oberen Parkplatz. Halten Sie die Augen offen. Verstanden?«
Nach erneutem statischem Rauschen antwortete Brett: »Ja, Boss.«
Gerald gab Emmy das Mikrofon zurück. Sie brauchten keine große Diskussion zu führen, denn man sprach nicht über ein ungutes Gefühl. Man überprüfte es, und wenn man sich geirrt hatte, war man erleichtert, aber wenn man richtiglag, hatte einen das Gefühl genau dorthin geführt, wo man zu sein hatte.
Emmy klemmte das Mikro wieder an ihre Schulter und folgte Gerald den Anstieg hinauf. Die Leute machten ihm Platz, aber nicht nur, weil er der Sheriff war. Ihr Vater war eins neunzig groß, mit mehr Gewicht um die Mitte, als gut für ihn war. Sein Atem ging schwer, bis sie die Tribüne passiert hatten und die betonierten Stufen hinaufstiegen. Emmy musste den Blick senken, damit sie ihm nicht versehentlich auf die Hacken trat. Er war nicht im Dienst, aber er hatte trotzdem die Ausstrahlung eines Polizisten, selbst in einem Paar alter Canvas-Sneaker mit kurzen schwarzen Socken, grauen Nylon-Shorts und einem ausgewaschenen schwarzen T-Shirt von einem Reba-McEntire-Konzert im Jahr 2005.
Gerald blieb nicht stehen, um zu verschnaufen, bis sie das obere Ende der Treppe erreicht hatten. Emmy ließ den Blick über den Parkplatz schweifen und drehte den Kopf synchron mit ihrem Vater hin und her. Autos standen kreuz und quer wie Zahnstocher, die man auf den Asphalt geworfen hatte. Sie sah Bremslichter leuchten, Leute, die sich aus Wagenfenstern beugten, gestikulierende Arme. Die Spannung war so stark, dass sie es in ihren Backenzähnen spürte.
Gerald sah zu ihr hinunter. »ISN?«
Emmy nickte. »Ja.«
Irgendwas stimmt nicht.
Gerald verließ den Gehsteig. Emmy folgte ihm die erste Parkreihe entlang, was mit den stehenden Fahrzeugen und den gereizten Fahrern einem Hindernisparcours glich. Sie horchte in sich hinein, bemühte sich, ihren Herzschlag gleichmäßig und ihre Gedanken klar zu halten. Bei Polizeiarbeit ging es um Wahrscheinlichkeiten, und die Wahrscheinlichkeit von etwas Entsetzlichem wie einer Massenschießerei war sehr gering. Vermutlich trafen sie eher auf einen weiteren Blechschaden oder eine Auseinandersetzung darüber, wer zuerst einfädeln durfte.
»Sheriff?« Sylvia Wrigley, die Herausgeberin der Lokalzeitung, hatte die Wagentür geöffnet. »Was ist los?«
Gerald streckte den Zeigefinger in die Höhe, um ihr zu bedeuten, dass er eine Minute brauchte, und schlängelte sich zwischen den Autos hindurch. Nicht lange, dann hatten sie das Problem entdeckt.
Emmy spürte, wie die Anspannung ihren Körper verließ, wie Wasser, das in einen Abfluss wirbelt.
Letzten Monat war der Zaun um den Fußballplatz abmontiert worden, damit ein frischer Rasen verlegt werden konnte. Man hatte mehrere Reihen gelbes Absperrband gespannt, um die Leute von dem neuen Rasen fernzuhalten, bis er angewachsen war, aber offenbar hatte der Fahrer eines roten Miata beschlossen, die Warnung zu ignorieren. Zumindest hatte er es versucht. Der tiefgelegte Sportwagen war wie bei einer Wippe auf der Betonumrandung hängen geblieben. Das Vorderteil ragte in die Luft wie der Bug der Titanic.
»Blödmann«, murmelte Emmy. Sie erkannte Lance Culpeppers Wagen. Er arbeitete als Schriftführer bei Gericht. Er hätte es besser wissen sollen.
Emmy sah zu ihrem Vater hinauf, aber Gerald war nicht an dem Miata interessiert. Er blickte auf den Sportplatz hinaus. Emmy kniff die Augen zusammen. Lance war nicht der erste Schlaumeier gewesen, der eine Abkürzung zur Hauptstraße nehmen wollte. Ein weißer Chevy Equinox stand in der Mitte des Feldes, seitwärts zum Parkplatz, alle vier Türen geschlossen, die Fenster hochgefahren, die Scheinwerfer ausgeschaltet.
Die Anspannung kehrte in ihren Körper zurück. Ihr Polizistengehirn spulte Worst-Case-Szenarien ab.
Amokläufer. Häusliche Gewalt. Ausraster im Verkehr. Erweiterter Selbstmord.
Emmy löste den Sicherheitsriemen über ihrer Glock. Sie nahm die schwere Taschenlampe vom Gürtel und stützte sie auf die Schulter. Die Reichweite der Parkplatzbeleuchtung endete kurz hinter dem Strafraum. Ihre Dienst-Maglite hatte vier große Batterien, die achthundert Lumen erzeugten, genug, um ihnen den Weg zum Mittelfeld auszuleuchten. Die Scheiben des SUV waren dunkel getönt. Aus der Ferne ließ sich nicht feststellen, wer darin saß.
Gerald deutete lautlos auf eine große Ölpfütze, die von dem Miata stammte, ehe er auf die Umrandung trat. Lance Culpepper breitete die Arme mit einem Achselzucken in Emmys Richtung aus, als sie in den Wagen schaute. Aus der Haltung, in der seine Frau Dervla mit verschränkten Armen neben ihm saß, konnte Emmy schließen, dass sie ihn vor dieser blöden Idee gewarnt hatte.
»Habt ihr sonst jemanden auf dem Platz gesehen?«, fragte sie die beiden.
Lance schüttelte den Kopf.
»Er war zu sehr damit beschäftigt, den Wagen zu schrotten«, ätzte Dervla.
»Bleibt hier«, wies Emmy die beiden an.
Sie hielt die Taschenlampe gesenkt, als sie den Platz betrat. Ein Reifen mit starkem Profil hatte das zerrissene Absperrband in den Boden gepresst. Erst kam ein Streifen Wiese, dann versanken ihre Füße in dem dichten neuen Gras. Die Rasenstücke waren noch nicht ganz zusammengewachsen, und das Spielfeld sah aus wie eine Patchworkdecke. Die Grashalme waren etwa sieben oder acht Zentimeter hoch. Es lag allerlei Müll herum: Kaugummipapierchen, eine Plastikgabel. Bis auf den riesigen weißen SUV war der Platz größtenteils unberührt.
Sie ging mehrere Schritte rechts hinter ihrem Vater und ermahnte sich einmal mehr, ruhig zu atmen. Vielleicht saß der Fahrer hinter dem Lenkrad und dachte über seine blödsinnige Entscheidung nach. Oder er wartete mit einer Waffe in der Hand auf die beiden Cops.
Emmy holte tief Luft, um sich zu beruhigen, hielt den Atem kurz in der Lunge und ließ ihn langsam wieder entweichen. Als sie näher kam, hörte sie den Motor laufen. Das Kennzeichen stammte aus Clifton County. Ein Aufkleber der Grundschule von North Falls pappte an der Stoßstange. Sie lauschte. Stimmen. Ein Mann und eine Frau hielten sich auf der anderen Seite des Fahrzeugs auf. Aufgebrachtes Flüstern. Anspannung. Zorn.
»Zeigen Sie sich«, rief Gerald.
Emmy vergaß zu atmen. Ihre Hand schloss sich um den Griff der Glock.
Das Paar kam um das Heck des Wagens.
Emmy ließ den Atem entweichen. Sie richtete ihre Taschenlampe auf die beiden Erwachsenen hinter dem Chevrolet. Ihre Hände waren leer, ihre Mienen angespannt. Hugo und Angela Sanders hatten eindeutig eine hitzige Diskussion geführt, bevor Gerald sie gestört hatte. Emmy sah Tyler, ihren sechsjährigen Sohn, in seinem Kindersitz auf der Rückbank schlafen. Sie hatten den Motor wegen der Klimaanlage laufen lassen. An der Seite des Wagens verunzierte ein langer Kratzer den Lack. Die Stoßstange hing teilweise herab, der linke Kotflügel war gesprungen. Emmys erster Gedanke war, dass dies ein merkwürdiger Ort für einen Unfall mit Fahrerflucht war. Dann ließ sie die Taschenlampe über den Boden wandern.
»Ich habe es nicht gesehen«, sagte Hugo zu Gerald. »Es ist nicht meine Schuld.«
Emmy blieb vor Schreck das Herz stehen. Ein Fahrrad steckte unter dem rechten Hinterrad des SUV. Sie ging auf die Knie und suchte fieberhaft nach einer Person unter dem Fahrzeug.
Sie suchte vor dem Wagen, dahinter, daneben.
Sie entdeckte niemanden, aber sie erkannte das Fahrrad. Der türkisfarbene Rahmen war mit rosa und gelben Gänseblümchen bemalt. Reflektierende Knöpfe steckten an den Speichen, am Lenker war ein pastellgelber Korb befestigt. Der weiße Ledersattel war ebenfalls mit Gänseblümchen geschmückt. Emmy hatte das Rad unzählige Male vor Hannahs Haus gesehen, wo es die Einfahrt blockierte oder am Geländer der Veranda lehnte und die Farbe absplittern ließ. Es gehörte Madison Dalrymple. Derselben Madison, mit der Emmy vorhin unter der Eiche zu reden versucht hatte. Derselben Madison, die sie vor einer knappen Stunde weggescheucht hatte.
»Hugo.« Emmy hatte weiche Knie, als sie aufstand. Das ungute Gefühl hatte sich in ein Alarmsignal verwandelt. »Kennen Sie Madison Dalrymple?«
»Nein.« Hugo zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Was hat das mit …«
»Ist das etwa ihr Fahrrad?«, fragte Angela. »Wo sind ihre Eltern? Wir haben den Wagen erst seit einer Woche. Wollen wir hoffen, dass Paul sich die Reparatur eher leisten kann als wir.«
»Ist das Ihr Ernst?« Lance Culpepper hatte beschlossen, Emmys Anordnung zu ignorieren. »Wieso soll das Pauls Schuld sein? Sie sind doch diejenigen, die mitten durch den Fußballplatz gefahren sind.«
»Genau wie Sie.« Hugo blickte mit finsterer Miene auf den Miata. »Jedenfalls fast.«
»Ich bin Ihnen gefolgt«, sagte Lance. »Haben Sie das gelbe Absperrband nicht gesehen?«
»Es war schon zerrissen«, erwiderte Hugo. »Wollen Sie etwa behaupten, ich hätte etwas sehen müssen, was Sie nicht sehen konnten?«
»Großer Gott, Lance, wieso gehen Sie nicht zu Ihrem Spielzeugauto zurück?«
»Wieso hören Sie nicht auf, den Namen des Herrn zu missbrauchen?«
»Sagen Sie meiner Frau nicht, was sie tun soll.«
»Es reicht!«, brüllte Emmy laut genug, um sie alle zum Schweigen zu bringen. »Lance, gehen Sie zu Ihrem Wagen zurück und bleiben Sie dort. Hugo, wollen Sie einen Strafzettel, weil sie verbotswidrig auf den Platz gefahren sind? Angela, schauen Sie nach Tyler.«
Emmy vergewisserte sich, dass sie sich zerstreuten, ehe sie ihren Vater wieder ansah. Gerald hatte sie alle komplett ausgeblendet. Er starrte mit einem harten Gesichtsausdruck auf das Fahrrad. Als Kind hatte Emmy das steinerne Schweigen ihres Vaters irrtümlich für Missbilligung gehalten. Jetzt verstand sie, dass er über ein Problem nachgrübelte.
»Dieses Fahrrad bedeutet Freiheit für Madison«, sagte sie. »Sie ist fünfzehn. Sie kann nicht Auto fahren. Sie würde es nicht einfach mitten auf dem Platz liegen lassen.«
Er drehte sich zum Parkplatz um und richtete den Blick auf den Boden.
Emmy folgte seiner Sichtlinie. Er verfolgte den Weg zurück, den der SUV genommen hatte. Bei diesem frischen Rasen hätten die Reifen genauso gut durch Lehm fahren können. Der Reifenabdruck war wie eine Karte zu lesen.
»Dad?«, fragte sie.
Gerald begann auf den Parkplatz zuzulaufen. Emmy folgte ihm und achtete darauf, nicht auf die Reifenspuren zu treten. Sie waren erst einige Meter gegangen, als ihr Vater fragte: »Was übersehen wir noch?«
Emmy drehte sich wieder zu dem SUV um. In der Ferne sah sie einen Abschleppwagen zu der Unfallstelle fahren. Die Autoschlange wurde auf der Long Street angehalten. Hatte Madison versucht, eine Abkürzung über das Fußballfeld zu nehmen, und ihr Fahrrad dann aus irgendeinem Grund liegen lassen?
»Der Chevy hat zuerst das Vorderrad des Fahrrads erfasst, also zeigte es in Richtung Westen.«
»Zu groß. Denk kleiner.«
Sie merkte, wie ihre Gedanken wieder rotierten. Emmy musste sich in Erinnerung rufen, dass Gerald sie nicht testete, sondern ihr etwas beibrachte. Wenn ihr Vater bei etwas hervorstach, dann war es zuhören. Sie ging im Geist noch mal zu der Szene bei dem SUV zurück. Die gehässige Streiterei zwischen Lance, Hugo und Angela. Die Antwort traf sie wie ein Blitz. »Hugo sagte, das Absperrband war bereits zerrissen, als er auf das Feld fuhr.«
»Genau.«
»Wenn er die Wahrheit gesagt hat, dann war also ein anderes Fahrzeug vor ihm über das Spielfeld gefahren, wahrscheinlich während des Feuerwerks, da weder Hugo noch Lance etwas von einem Auto sagten, das vor ihnen fuhr.«
»Genau.«
Emmy richtete ihre Taschenlampe auf den Miata und machte mühelos die tiefen Abdrücke der breiten Reifen von Hugos SUV ausfindig. Das hatte sie übersehen. Es gab eine Schattenspur entlang der Abdrücke, eine Spur, die von einem Satz kleinerer Reifen stammte.
»Hugo hat die Wahrheit gesagt«, sagte Emmy. »Ein anderer Wagen ist vor ihm durch das Absperrband gefahren.«
»Eine Limousine«, sagte Gerald. »Weniger Gewicht.«