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Ein unheimlicher Fund im Kamin und ein treusorgender Familienvater, der spurlos verschwindet - Privatagent Wise muss sich ranhalten, wenn er den Fall zum Abschluss bringen will. Krimi im klassischen englischen Stil aus den 19zwanziger Jahren.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2016
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M. W. Sophar
Dunkle Taten
Detektiv-Roman
idb
ISBN 9783961501137
Eine merkwürdige Entdeckung
»Justus Wise, Privat-Agent, vom Hofe und einem hohen Adel protegiert und viel in Anspruch genommen.«
(Haben Sie das? Dann fahren wir in Briefform fort: –)
»Sehr geehrter Herr (oder gnädige Frau):
Haben Sie ein Geheimnis? Gibt es etwas in Ihrem Leben, von dem Sie wünschen, daß es Ihre Gattin (oder Ihr Gatte), Ihr Vater oder Ihre Mutter oder Ihr liebster Freund nicht erfahren? Haben Sie vielleicht in einem schwachen Augenblick eine Handlung begangen, deren Folgen oder auch schon die Furcht, daß sie ans Tageslicht gezogen werden könnte, einen Schatten auf Ihre Existenz werfen und Ihnen das Leben zur Last machen können? Haben Sie vergeblich versucht, gegen diese Furcht anzukämpfen, haben Sie auch vergebliche Anstrengungen gemacht, sich dieser Angst ganz zu entschlagen oder sich durch das Eingeständnis Ihres Vergehens zu erleichtern? Und nachdem sich herausstellte, daß Ihnen keiner dieser Auswege möglich gewesen, sind Sie da nicht in die Qualen der Verzweiflung zurückgesunken? Gehen Sie dann zu Justus Wise, 142, Berkland Straße, SW., zweiter Stock. –«
»(Sie ändern das besser in vierten Stock! Daß es nahe unterm Dach ist. wird nichts schaden. Also weiter:)«
»Schellen Sie zweimal und treten Sie ein. Haben Sie einen offenen oder unbekannten Feind, der Ihnen das Leben verbittert, empfingen Sie einen anonymen Brief, befürchten Sie, daß jemand, der Ihnen nahesteht und Ihnen teuer ist, Sie hintergeht, haben Sie irgendwelche Sorgen oder leiden Freunde von Ihnen unter Sorgen? Dann ziehen Sie Justus Wise zu Rate. Wollen Sie sich mit Ihren Gläubigern verständigen? Taten Sie unter dem Druck der Verhältnisse etwas, was jene besser nicht sogleich erfahren? Brauchen Sie Geld für ein neues Unternehmen, ohne daß Sie sich an Ihre gewohnten Hilfsquellen wenden möchten? Sind Sie einem Erpresser in die Hände gefallen? Kurz gesagt, befinden Sie sich in irgend einer Schwierigkeit und bedürfen Sie zu welchem Zwecke immer eines Vertrauensmannes, so gehen Sie zu Justus Wise. Er ist ein Gentleman von Geburt und Empfindung und, mag eine Angelegenheit noch so heikel sein, die Verhandlungen mögen noch so großer Geschicklichkeit und Erfahrung (Justus Wise stehen langjährige Erfahrungen zur Seite), noch so strenger Verschwiegenheit und noch so viel an Takt und Umsicht bedürfen (Justus Wise haben Hof und Hochadel ihr Vertrauen geschenkt), Sie können wirklich nichts besseres tun, als Justus Wise aufzusuchen. Wenn etwas zu machen ist, so macht es Justus Wise. Mögen die Dinge auch noch so dunkel ausschauen, die Verwicklung unlösbar erscheinen, die Gefahr noch so gewaltig drohen, Erfahrung und Geschicklichkeit, wie sie Justus Wise besitzt (laut Ausweis seiner Zeugnisse), finden einen Ausweg, wo es Ihnen in Ihrer Angst unmöglich dünkt, daß es überhaupt noch einen Ausweg gibt.«
»Wir wollen zunächst tausend Exemplare hiervon hinausgehen lassen. Ich werde Ihnen die Adressen geben. Sie müssen das Rundschreiben selbst austragen, das stellt sich billiger als die Postbeförderung. Ich denke, das muß ziehen. Es muß ziehen. Unser Inserat hatte keinen Erfolg, weil es nicht klar genug war. Ich bin aber überzeugt, das hier muß Erfolg haben, Dark.«
»Und wenn nicht, Herr Wise?«
»Wenn nicht, Dark? Wenn nicht, nun dann werde ich mir etwas anderes ausdenken. Der Wirt hat uns erlaubt, hier auf vierzehn Tage hinauf zu ziehen. Das ist keine allzugroße Gefälligkeit, denn es ist ihm trotz seiner Bemühungen ja nicht gelungen, diese Zimmer anderweitig zu vermieten. Nachdem die zwei Wochen verstrichen sind, dauert es mindestens noch acht Tage länger, bis er uns los wird. Und in drei Wochen kann sich vielerlei ereignen. Es ist hier übrigens verzweifelt kalt, Dark. Können Sie nicht nebenan einheizen? Es ist doch noch ein Rest Kohlen vorhanden?«
Während sein Angestellter seinem Wunsche entsprach, nahm Justus Wise das soeben von ihm diktierte Rundschreiben zur Hand und las es mit offensichtlicher Befriedigung noch einmal durch. –
Wise war ein Mann von mittlerer Größe, etwa fünfundvierzig Jahre alt und sehr sorgfältig gekleidet. alles glänzte an ihm, vom Hut hinab bis zu den blank gewichsten Stiefeln, selbst sein schwarzer langer Schnurrbart und seine Zähne, die künstlich waren, blendeten fast mit ihrem Weiß das Auge. Seine Nase hatte etwas von einem Habicht-Haken und seine sehr scharfen, ruhelos umherschweifenden Augen, die alles zu durchforschen schienen, konnten auch den allgemeinen angenehmen Eindruck nicht abschwächen, den man von ihm empfing und der sogleich das Gefühl erweckte, daß ihn das Schicksal wohl glimpflicher hätte behandeln können.
»Wenn dieses Rundschreiben an sämtliche Mitglieder des Carlton- und des Athenaeum-Clubs geht, so könnte es den Beginn eines glücklichen Unternehmens bedeuten«, sagte sich der Agent, indem er das Papier mit seinem spitzen Zeigefinger berührte, »aber das kann ich für den Augenblick gar nicht durchführen. Ich muß mir einige Adressen heraussuchen und dem Zufall vertrauen, wenn der mir nur zu etwas Kleingeld oder dem ersten Kunden rasch verhelfen möchte. Pfui! Was ist denn mit dem Feuer los?«
In seine Zukunftsgedanken vertieft, hatte Wise gar nicht bemerkt, wie sich das Nebenzimmer allmählich mit Rauch füllte, bis ihn das Eindringen einer besonders dicken und schweren Rauchwolke veranlaßte, sich nach der Ursache umzusehen.
»Was machen Sie denn mit dem Feuer?« fragte er beim Betreten des kärglich möblierten Zimmers sehr erbost. Der Schreiber, ein stramm gewachsener Mann, dem man seinen früheren Soldatenstand ansah, beugte sich über das Kamingitter und hustete heftig.
»Ich kann es mir gar nicht erklären, wie das zugeht«, meinte der Diensteifrige. »Vielleicht ist hier lange Zeit nicht geheizt worden oder das Rohr muß verstopft sein. Der Rauch zieht nicht gut ab.«
»Gut abziehen!« spottete der Agent zwischen zwei Hustenanfällen. »Er zieht überhaupt nicht ab. Ich werde mich beim Hauswirt darüber beschweren – später. Der Schornstein ist sicherlich verstopft. Sehen Sie doch 'mal hinauf, Dark. Können Sie nichts entdecken?«
Gehorsam krümmte und wandte sich der Schreiber, um in den Schornstein hinauf zu blicken.
»Da steckt was, glaube ich«, sagte er nach einer Minute.
»Natürlich, da muß was stecken. Können Sie es nicht herausholen? Was ist es denn?«
Dark machte einen neuen Versuch, sich um die Eisenstange durchzuwinden, des Feuers und Rauches gar nicht achtend. Dann aber zog er den Kopf rasch zurück. Sein Gesicht war leichenblaß.
»Nun, was ist es?«
»Es sieht aus, Herr Wise – es sieht wie ein Paar Stiefel aus.«
»Ein Paar Stiefel. Na, ziehen Sie sie doch heraus!« Und da Dark zauderte, wiederholte der Agent seinen Befehl in schärferem Tone.
Dark legte wie entschuldigend die Finger auf den Mund, bückte sich nieder und blickte nochmals in den Schornstein hinauf. »Ich glaube, wir löschen erst das Feuer, ehe wir die Stiefel hinunter ziehen«, meinte er.
Wise starrte ihn an.
»Das Feuer löschen? Wozu das? Um ein Paar Stiefel hinunter zu ziehen?«
»Ja, Herr Wise. Ich glaube – ich glaube, es steckt was darin.«
Der Agent sah dem anderen in das blasse Gesicht und wechselte dann selbst rasch die Farbe.
»Großer Gott! Sie wollen doch nicht sagen, daß ein Körper im Schornstein hängt?!«
Dark nickte und feuchtete sich die Lippen. Beide sahen sich niedergeschlagen an. ohne daß einer ein Wort zu sprechen wagte.
Wise faßte sich zuerst.
»Holen Sie mal rasch etwas Wasser, Dark, draußen an der Treppe hängt ein Feuereimer. Was es auch sein mag, wir müssen es doch hinunterschaffen. Aber, daß es ein Körper ist, kann ich doch nicht glauben. Sie irren sich. Wie sollte so was wohl möglich sein?«
Trotzdem trat er an die entgegengesetzte Seite des Zimmers, während Dark das Wasser holte, und betrachtete den Kamin mit scheuem Blick. Er zwirbelte nervös an seinem Schnurrbart.
Das Feuer war bald gelöscht, und nachdem der Rauch sich verzogen hatte, beugte sich Dark abermals, um den Schornstein zu durchforschen. Dann streckte er seinen kräftigen Arm aus und zerrte an einem Gegenstand, der den Blicken noch unsichtbar blieb.
»Jetzt kommt es«, sagte Dark plötzlich.
Wise sprang schnell einen Schritt zurück.
»O, du mein Himmel!« rief er. und während er noch sprach, glitt eine schwere Masse ins Zimmer hinunter.
Als sie auf dem Fußboden aufschlug, sprang auch Dark zurück: sein Brotherr flüchtete sich in die entfernteste Ecke.
Nach einer Weile traten sie dann aber beide wieder vor und besahen sich, was vor ihnen lag: Es war der mit Asche und Ruß bedeckte Leichnam eines Mannes.
Er mochte etwa fünfzig Jahre alt gewesen sein. Dem kostspieligen Anzug nach zu urteilen, war es ein stattlicher, wohlhabender Kaufmann aus der City. Die Gesichtszüge waren durchaus nicht entstellt, man hätte glauben können, daß er schlief.
Die beiden standen wie gelähmt vor der Leiche und schienen völlig ratlos.
»Das ist eine nette Bescherung.« sagte Wise endlich, ohne selbst zu wissen, was er sprach. »Ein Toter im Kamin! Was kann das zu bedeuten haben, Dark? Wie mag er hergekommen sein? Wer kann das sein?«
Dark hatte sich ebenfalls vom ersten Schrecken erholt und beschäftigte sich nun mit der Unempfindlichkeit eines alten Soldaten damit, den Leichnam zu untersuchen. Bei den Fragen des Agenten sah er empor.
»Was das zu bedeuten hat, – Mord!« antwortete er und sein erschreckter Blick begegnete den starren Augen des Agenten. »Sehen Sie sich diese Wunde am Hinterkopf an; es ist nur ein Schlag, der hat aber genügt. Gewiß, es kann sich nur um einen Mord handeln. Dann muß man den Toten in den Schornstein hinausgezogen haben.«
Bei dem Worte Mord wurde der Agent noch um einen Schatten bleicher und den Handbewegungen Darks mit den Blicken folgend, zog er sich von dem Leichnam noch weiter zurück.
»Mord!« rief er. »Gott im Himmel, das ist ja furchtbar, das ist ja entsetzlich, mein Geschäft wird vollständig ruiniert. Ein Ermordeter im Bureau eines Privatagenten? Was werden die Leute von mir denken? Zwar sind wir erst zwei Tage hier, aber – Dark, Sie sind Soldat gewesen, Sie müssen ja in solchen Dingen bewandert sein – wie lange ist er Ihrer Meinung nach schon tot?«
»Seit drei oder vier Tagen, möchte ich behaupten. Der Leichnam muh schon hier gewesen sein, als wir kamen.«
»Großer Gott! Wie gräßlich. Ich muß – ja. was soll ich denn eigentlich tun?«
»Soll ich Lärm schlagen. Herr Wise? Die Polizei benachrichtigen?«
»Die Polizei?«
Herr Justus Wise biß sich auf die Lippen und zauderte. Wahrscheinlich hatten sich im Laufe seiner lebenslangen Erfahrungen Dinge begeben, die ihn bestimmten, nicht allzu rasch die Aufmerksamkeit dieser »edlen« Körperschaft wieder einmal auf sich zu lenken. Nach einem Augenblick meinte er: »Wir wollen 'mal sehen. Ich muß mir das erst überlegen. Natürlich haben wir die Behörde in Kenntnis zu setzen, indes spielen dabei wenige Minuten Aufschub keine Rolle. Lassen Sie mich nachdenken.« Er zwang sich dazu, an den Toten noch einmal näher heran zu treten und betrachtete ihn genau. »Wer das wohl sein mag?« murmelte er vor sich hin. »Elegant gekleidet, jedenfalls jemand, dem es sehr gut erging; für einen umsichtigen, schlauen Menschen, wie ich es bin, kann sich die Sache schließlich noch als ein Glück erweisen, man muß nur den vernagelten Geschöpfen von Scotland Yard einen Vorsprung abgewinnen. Ja, ja, es kommt darauf an, ob wir herausfinden. wer es war.«
»Macht es Ihnen nichts aus, Dark, so könnten Sie doch 'mal – es wird ja kein Raubmord sein, – Allmächtiger, da ist jemand vor der Tür!«
Die Hand des Schreibers befand sich bereits in der Brusttasche des Toten, der Agent beugte sich voll Eifer darüber, als ein plötzliches Geräusch sie beide erstarren ließ. Ratlos sahen sie sich an.
Nun wiederholte sich das Geräusch und es konnte kein Zweifel mehr darüber sein, was es war: an die Außentür des zweiten Bureaus wurde stark geklopft.
Der erste Kunde
Von dem betäubenden Schrecken erholte sich der Agent zuerst, er reckte sich empor und zog den Schreiber von dem Toten fort.
»Schnell ins andere Zimmer«, flüsterte er ihm zu. »Tuen Sie so, als ob Sie die Außentür aufschlössen, während ich hier zuschließe.« Damit schob er den Schreiber ins zweite Zimmer und zog die Tür hinter sich zu, die er abschloß. Dann schwang er sich mit blitzartiger Geschwindigkeit an den Schreibtisch, nahm das Rundschreiben in die Hand und winkte Dark zu, den Fremden einzulassen, der immer lauter klopfte.
Dem Schreiber, der noch immer etwas verwirrt war, gelang es nicht so leicht, die Tür zu öffnen, dann trat indes nicht, wie sie beide in ihrer Erregung über das soeben Erlebte gefürchtet hatten, ein Schutzmann ein, sondern ein junger elegant gekleideter Herr.
Dieser warf einen raschen Blick auf die beiden im Zimmer anwesenden Leute und wandte sich dann zu dem Agenten:
»Sind Sie Herr Justus Wise?«
Der Gefragte betrachtete das hübsche Gesicht des Fremden mit den offen dreinschauenden Augen, dem kurzgeschnittenen braunen Haar und die breitschulterige Gestalt, wie die ganze vornehme Erscheinung, und indem er das nervöse Zwirbeln an seinem Schnurrbart einstellte. gewann er rasch seine Fassung wieder.
»Der erste Kunde.« sagte er sich, »die Folge meines Inserats.«
Die nächsten Worte des Fremden bestätigten die Richtigkeit seiner Vermutung.
»Ich komme hierauf«, erklärte der junge Herr. Der Agent verbeugte sich schweigend, er war immer noch zu aufgeregt, um zu sprechen »Ich las es im »Telegraph«. Er hatte seiner Westentasche den kleinen Zeitungsausschnitt entnommen. »Ich kam – ich dachte – die Wahrheit ist –« Er stockte und errötete leicht.
Wise lächelte ihn wohlwollend an und wies mit der Hand auf den einzigen Stuhl, der in dem Zimmer noch frei war.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr –«
»Millbank, Georg Millbank.«
»Danke, Herr Millbank. Sie kamen also auf mein Inserat? Ganz recht. Sie wollen meine Dienste in Anspruch nehmen, hoffentlich geniert Sie dieser Rauch nicht allzusehr. Wir haben – haben – mit dem Kamin in meinem Privatbureau eine kleine Schwierigkeit, weshalb ich es jetzt abschließen mußte, um den – den Rauch los zu werden, aber auch hier dringt er hinein. Wenn die Angelegenheit, die Sie mit mir besprechen wollen, jedoch sehr intimer Natur ist und Sie lieber sehen, daß mein Schreiber, der übrigens, wie ich Ihnen die Versicherung geben kann, ein durchaus vertrauenswürdiger Mensch ist, nicht hier im Zimmer bleibt, so soll er sich so lange auf dem Korridor aufhalten.«
Herr Millbank warf auf das breite biedere Gesicht des ehemaligen Soldaten einen raschen Blick und schüttelte dann den Kopf.
»Das ist durchaus nicht nötig. Machen Sie nur keine Umstände. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist zwar ganz diskret zu behandeln, doch kann Ihr Angestellter es ruhig hören. Ich gebe mich mit Ihrer Versicherung zufrieden, daß außer uns Dreien niemand weiter davon erfährt.«
Justus Wise verneigte sich mit stolzer Miene. »Diese Zusicherung gebe ich Ihnen hiermit.«
Trotzdem begann Georg Millbank noch nicht gleich mit seiner Erzählung, sondern blickte mit bekümmerter Miene zu Boden.
Erst nach einer Weile hob er den Kopf.
»Ich befinde mich in großer Sorge. Vielmehr ein – Freund von mir. Oder um ganz offen mit Ihnen zu sein, Herr Wise, es ist eine Freundin.«
»Das ist am besten so«, erklärte dieser und lächelte teilnahmsvoll. »Ich gebe meinen Auftraggebern allezeit den Rat, mir gegenüber ohne jeden Rückhalt zu sprechen, das führt auch, wie ich sagen darf, die schnellen Erfolge herbei, deren ich mich rühmen kann.«
Millbank nickte, zog die Schultern hoch, als ob er plötzlich zu einem Entschlusse gelangt sei, und begann seinen Bericht.
»Ich heiße Georg Millbank, wie ich Ihnen bereits sagte. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und habe eine bescheidene Rente. Seit einem Jahre, bis auf die letztvergangenen Wochen, bin ich mit einer jungen Dame verlobt, die ich von ganzem Herzen liebe und die –«
»Ihre Liebe natürlich erwidert.« warf Justus Wise ein.
Millbank errötete. »Ja. davon bin ich überzeugt. Trotzdem ist unsere Verlobung aufgehoben. Aber keineswegs von uns. Der Vater meiner Braut, Herr West, hat die Verlobung für aufgehoben erklärt.«
»Ah.« machte der Agent. »Der Vater? Und Sie haben ein festes Einkommen – Ihr Kapital?«
»Genügt für uns beide. Wir haben keinen Sinn für Extravaganzen.«
»Es liegt kein Grund vor – Sie sind der jungen Dame treu ergeben?«
»Durchaus. Sie brauchen gar nicht an alle möglichen Dinge zu denken, die sonst solchen Bruch veranlassen. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß der Entschluß des Herrn West in jeder Beziehung ganz unerklärlich bleibt, denn er hat unserer Verbindung nicht allein zugestimmt, sondern sie vordem geradezu gefördert.«
»O, Du meine Güte!« sagte Wise, da ihm im Augenblick nichts besseres einfiel, was er hätte erwidern können, zumal er sah, wie Millbank so erregt wurde, daß es ihm fast unmöglich war, fortzufahren. Selbst der ehemalige Soldat hatte sich genähert und betrachtete Millbank mit anteilvollen Mienen. »O, Du meine Güte!«
»Diese ungewöhnliche Wandlung im Benehmen von Herrn West bildet indes nur einen Teil einer weit gröberen unerklärlichen Veränderung in seinem ganzen Wesen«, sagte Millbank, nachdem er sich etwas erholt hatte. »Diese völlige Veränderung war so tief einschneidend, daß man es manchmal gar nicht für möglich hielt, dies sei der nämliche Mann, der bisher ein so zärtlicher Vater, ein so gütiger Freund gewesen war und der jetzt – und das bringt mich zu dem eigentlichen Grund, weshalb ich Sie ausgesucht habe – verschwunden ist.«
»Verschwunden? Gott im Himmel!«
»Ja, Herr West ist verschwunden. Seit vier Tagen fehlt seiner Tochter jeder Anhaltspunkt dafür, wo er sich befinden könnte. Sehr vorsichtig gehaltene Nachforschungen seitens Fräulein West und meinerseits bei seinen Freunden und Geschäftsverbindungen überzeugten uns, daß sie sämtlich ebenso wenig über ihn etwas wissen, wie wir selbst.«
Justus Wise strich sich den Schnurrbart. »Sie sagten, vorsichtig gehaltene Nachforschungen?«
Der junge Herr nickte. Wir glaubten, das sei nötig. Die mit der unerklärlichen Veränderung seines ganzen Wesens in Verbindung zu bringenden Umstände machten es uns unmöglich, darüber zu entscheiden, ob es nicht gerade in seinem Wunsche liegen mag, auf einige Zeit unbemerkt zu verschwinden.«
»Kann ich erfahren, was das eigentlich für Umstände sind?«
Millbank zauderte. »Es ist schwer, sie völlig zu erklären. Es handelt sich eben um eine Kette kleiner Ereignisse, die an sich unbedeutend sind, aber aneinander gereiht eine gewisse Bedeutung erlangen und die uns jenen Zweifel erregten. Eins dieser Ereignisse will ich Ihnen erzählen, obgleich ich nicht behaupten kann, daß es von besonderem Einfluß war. Einige Tage vor dem Verschwinden von Herrn West empfing er den Besuch eines Freundes, mit dem er geraume Zeit hinter verschlossenen Türen zusammen geblieben ist. Während dieser Unterredung entstand ein heftiger Streit, der damit endete, daß der Fremde das Haus unter wütenden Drohungen gegen Herrn West verließ.«
»Drohungen? So mag sein Verschwinden vielleicht mit jenem Streit unmittelbar zusammenhängen?«
»Höchst wahrscheinlich, doch nicht in der Weise, wie Sie meinen. Die Drohungen trugen nicht den Charakter persönlicher Gewalttätigkeit. Es ist wohl besser, ich erzähle Ihnen, wieso ich zu dieser Annahme komme. Das Zimmer, in dem Herr West mit dem Fremden sprach, ist durch Flügeltüren mit einem Zimmer verbunden, in welchem sich Fräulein West häufig aufzuhalten pflegt und wo sie sich auch befand, als der Fremde zu ihrem Vater hineingeführt wurde. Sie war etwas müde, legte sich auf einen Diwan und versank in einen leichten Schlaf. Es ist nun möglich, daß Herr West die Flügeltüren geöffnet und in das Zimmer hineingesehen hat, das nicht erleuchtet war, sodaß er seine Tochter nicht bemerkte. Nach einer Weile weckten sie die lauten Streitworte im Nebenzimmer und zwischen Schlafen und Wachen hörte sie wider Willen einen wesentlichen Teil des Wortwechsels – den Schluß namentlich. Ehe sie noch darüber entscheiden konnte, was sie zu tun habe, fand die Unterredung durch den plötzlichen Fortgang des Fremden ihr Ende.«
»Welche Drohungen hat dieser denn ausgesprochen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, selbst wenn ich wollte. Fräulein West hat selbst die ganze Bedeutung nicht erfaßt, indes meint sie, der Fremde sei der Ansicht gewesen, daß es in seiner Macht liege, Enthüllungen zu machen, die für Herrn West gefährlich wären, und daß Herr West –«
»Fürchten müsse, daß diese Enthüllungen gemacht würden?«
»Das ist mehr, als ich mich berechtigt fühle zu behaupten. Meine Stellung zu der Angelegenheit ist heikel und setzt mich in große Verlegenheit. Ich muß mich auf Sie verlassen, Herr Wise, das, was ich Ihnen mitteilen konnte, möglichst gut zu verwenden. Sie begreifen, Herr West ist ein vermögender, angesehener Mann und lediglich die Tatsache, daß wir uns nicht mehr zu raten wissen und daß Fräulein West unter dem Druck der letzten vier Tage zusammenzubrechen droht, ließ mich den Entschluß fassen, einen Fremden ins Vertrauen zu ziehen –«
»Sie konnten wirklich nichts besseres tun, als zu mir zu kommen«, unterbrach der Agent ihn. Mit starkem Selbstbewußtsein fuhr er fort: »Es ist Ihr Glück, daß Sie gerade mein kleines Inserat gesehen haben, das ich – hem – zuweilen in die Blätter bringe. Ich kann die Sorge, die Sie und die junge Dame haben, wohl begreifen und auch recht gut verstehen, daß Sie es vermeiden, sich den Geschäftsfreunden von Herrn West oder gar der Polizeibehörde anzuvertrauen.«
Er sah Millbank scharf ins Gesicht. »Der alte Herr scheint sich in eine zweifelhafte Sache eingelassen zu haben und will sich aus diesem Grunde eine Zeitlang von der Welt zurückziehen.« dachte er und war überzeugt, daß das Rot auf den Wangen seines Gegenüber durch die gleichen Gedanken hervorgerufen war. Laut sagte er: »Gestatten Sie mir zu wiederholen, Herr Millbank, daß ich ohne Eitelkeit behaupten kann, Sie hätten zu keinem geeigneteren Menschen für Ihre Angelegenheit kommen können als zu mir. Wir haben in diesem Bureau schon mit vielen Fällen von Verschwinden zu tun gehabt, die noch rätselhafter waren als der Ihrige, und ich darf sagen, sie sind sämtlich glücklich zur Lösung gebracht. So gehe ich auch mit vollem Vertrauen daran, Ihre Sache zu Ihrer Zufriedenheit zu erledigen. Sie müssen mir nur noch einige Fragen erlauben: Ihre Antworten bringt mein Schreiber zu Papier, natürlich ohne Beifügung von Namen; wir schreiben niemals die Namen hin, die behalten wir im Kopfe. Also was betreibt Herr West?.«
»Er besucht die Börse, und ist ein Großunternehmer. In den verschiedensten Gesellschaften gehört er zum Vorstand oder zum Aufsichtsrat.«
»Richtig, ich habe von ihm gehört. Wie alt mag er jetzt sein? Wie sieht er ungefähr aus?«
»Er wird etwa fünfzig Jahre alt sein. Er ist etwas stark, hat dunkles Haar und eine hohe Stirn. Er kleidet sich immer elegant und – aber ich bitte um Entschuldigung?«
Er hätte noch erstaunter sein können, denn bei seiner Schilderung des Verschwundenen war dem Schreiber die Feder geräuschvoll aus der Hand zu Boden gefallen und mit Augen, die aus dem Kopf zu treten drohten, die zitternde Linke an die Stirn geführt, starrte der Mann seinen Brotherrn an. Und dieser, dessen Gesicht sich allmählich mit einer Totenblässe überzog, dessen Hände bebten, kämpfte mit der Unmöglichkeit, für sein merkwürdiges Benehmen eine glaubhafte Erklärung zu finden. Dabei versuchte er, dem Schreiber verständlich zu machen, mit den Notizen weiter fortzufahren; seine wütenden Gebärden blieben wirkungslos und endlich kostete es ihn unsägliche Mühe, die Augen von der Tür des zweiten Zimmers abzuwenden. »Fünfzig, stark, mit dunklem Haar, ein vornehm gekleideter Geschäftsmann? Großer Gott! Nebenan –!«
Das waren wirklich kritische Augenblicke, aber nicht die ersten in seinem Leben! Der Privatagent Justus Wise war schon früher in manchen Nöten gewesen. Ob sich Glück oder Verderben auf ihn herabsenkte? Er war nicht der Mann, der auch die kleinste Gelegenheit sich entgehen ließ, das Glück an sich zu reißen, nur fürchtete er jetzt, daß, wenn nicht ein wahres Wunder geschehe, Dark in der nächsten Sekunde mit allem herausplatzen würde.
Er sprang vom Stuhl auf und stürzte zu Dark heran. »Entschuldigen Sie eine Minute, Herr Millbank, ich sehe, daß mein Schreiber unwohl wird. Es ist der Rauch, der arme Kerl hat mit dem Kamin seine Not gehabt. Nur einen Augenblick.« Damit packte er den erschütterten Dark beim Genick und schüttelte ihn heftig. Es kam Millbank so vor, als ob er den schwindlig gewordenen Menschen stützte, doch wenn Dark hätte reden können, wäre eine ganz andere Schilderung zu Tage gekommen. Aber wenn es sich auch um sein Leben gehandelt hätte, Dark konnte keinen Ton herausbringen. Die kräftigen nervösen Finger seines Gebieters hatten sich wie ein Eisenband um seine Luftröhre geschlossen und eine Sekunde lang fühlte er sich wie ein vom Zweig getrenntes totes Blatt hin und her geschwenkt. Dann lockerte sich der Griff und er konnte in das Stahlauge seines Brotherrn emporblicken. Er verstand den stummen Befehl; er raffte sich zusammen und machte sich wieder mit seiner Feder zu schaffen.
»Es geht bester.« sagte Wise kühl, »der Rauch hat es ihm angetan. Mir wurde auch nicht wohl. Verzeihen Sie die Unterbrechung, Herr Millbank. Wir können jetzt fortfahren. Sie sagten also, Herr West sei etwa fünfzig Jahre alt, etwas stark, habe dunkles Haar und kleide sich vornehm. Wir haben das alles notiert. Ich möchte noch wissen, Herr Millbank, ob Herr West viel Geld bei sich zu tragen pflegte und ob Sie sagen können, daß er einen besonders großen Betrag bei sich hatte, als er verschwand.«
»Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß er gerade eine größere Summe bei sich hatte. Für gewöhnlich trug er aber immer reichlich Gelder bei sich.«
Nun wanderten die Blicke des Agenten doch unwillkürlich nach der verhängnisvollen Tür und er unterdrückte einen Seufzer.
»Eine Frage möchte ich noch an Sie stellen, Herr Millbank. Herr West ist doch ein sehr reicher Mann. Könnte ihm nicht ein Unfall zugestoßen sein? Es ist natürlich nur eine Vermutung. –«
Der junge Mann fuhr erschreckt zusammen. »Sie glauben das doch nicht ernsthaft! Ich hoffe, daß ihm nichts passiert ist!«
Eine Sekunde lang begegneten sich die Blicke des Agenten mit denen seines Schreibers.
»Es ist meinerseits ja auch nur eine Vermutung.« entgegnete Wise. »In meiner Tätigkeit muß ich aber an alle Möglichkeiten denken. Sollte sich jedoch das Schlimmste wirklich ereignet haben, wer ist denn der gesetzmäßige Erbe?«
»Natürlich Fräulein West, denn sie ist das einzige Kind. Ich habe an so etwas noch gar nicht gedacht, das können Sie mir glauben. Herr Wise, und sicherlich hat sie – Fräulein West – das auch nicht. Wir machen uns beide nicht viel aus Geld. Ich habe genug, mehr als genug für unsere bescheidenen Ansprüche und, wie ich fürchte, bildet gerade die Geldfrage die Ursache unserer Trennung. Ach, es kann niemand glauben, wie gern ich auf jeden Nutzen in der Zukunft durch das Vermögen von Herrn West verzichten möchte, wie gern ich auf jeden Pfennig, den ich besitze, verzichten und mir durch Arbeit ein neues Leben schaffen würde, wenn Herr West uns nur sein Jawort zurückgeben wollte, das er uns in so unfaßbarer Weise wieder entzogen hat.«
Der Privatagent sah das blitzende Auge und das offene hübsche Gesicht des Sprechenden mit einer unwillkürlichen Bewunderung an und dachte, daß jener seine Worte sicherlich wahr machen würde. Dabei meinte er aber doch, wie töricht junge verliebte Menschen handeln! Er und sicherlich auch sie. Sonderbar! Indeß, ein so guter Kunde das Herrchen auch ist, jetzt muß ich ihn zunächst los werden. Es gilt in Ruhe zu überlegen, wofür ich mich zu entscheiden habe. Der unglückliche Mensch nebenan! Welch ein merkwürdiges Zusammentreffen. Wie unbeschreiblich glückliche, oder soll ich sagen, welch' seltsame Zufälle. Und dennoch ist die Situation recht heikel, ja, nicht ohne Gefahr, sodaß ich vorsichtig sein muß.
Und nachdem er sich dieses alles selbst gesagt hatte, wandte er sich wieder zu seinem Klienten.
»Ich glaube, Herr Millbank, daß ich Sie augenblicklich nicht weiter zu bemühen brauche. Sie dürfen sich völlig auf mich verlassen. Haben Sie keine Angst, Es ist ja nicht der erste Fall, den ich glücklich zu Ende geführt habe, wie meine Zeugnisse beweisen (Dark, geben Sie Herrn Millbank eine Abschrift meiner Dankzuschriften. nein, ich werde sie Ihnen mit der Post schicken, Herr Millbank)! – ich glaube, ich sehe jetzt schon Licht. Aber wie gesagt, jetzt brauchen Sie sich nicht mehr zu bemühen. Jedenfalls müssen Sie mir einen Tag Zeit lassen. Morgen – hm – ja morgen, um diese Zeit, denke ich bestimmt, in der Lage zu sein, Ihnen Mitteilungen zu machen –«
Die Züge Millbanks klärten sich auf.
»Glauben Sie wirklich, daß Sie schon so schnell –?«
Darks Augen waren voll Bewunderung auf seinen Chef gerichtet.
»Ja, ich meine ganz ernsthaft, Ihnen morgen um diese Zeit schon etwas Bestimmtes sagen zu können. Uns stehen Mittel und Wege zur Verfügung, die einem Außenstehenden ganz sonderbar erscheinen, in Wirklichkeit es aber nicht sind.«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, zu Ihnen gekommen zu sein«, sagte Millbank und erhob sich. »Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen. Fräulein West ist durch die Sache furchtbar angegriffen und das Bewußtsein schon, daß jemand für sie tätig ist, wird ihr ein großer Trost sein. Ich komme also morgen zu dieser Stunde wieder. Inzwischen, verzeihen Sie, ist es vielleicht Ihnen angenehm, daß ich – Sie werden Unkosten haben –«
Justus Wise betrachtete die Handbewegung seines Klienten mit sichtlicher Genugtuung.
»Gewiß, es entstehen Kosten. Herr Millbank. Und zwar nicht geringe – aber wenn es Ihnen nicht paßt –«
Millbank hatte bereits eine Banknote aus seinem Taschenbuche genommen – dem Agenten erstarb das Wort auf den Lippen.
»Sehr schön, wie es Ihnen beliebt.« sagte er dann und griff hastig nach der Note. »Zwanzig Pfund. Danke sehr! Ja. es ist ganz gut so. – Dark, schreiben Sie bitte Herrn Millbank eine Quittung aus über zwanzig Pfund Sterling a conto Auslagen erhalten. – Ich danke. Adieu, Herr Millbank. Also auf morgen, wie verabredet.«
Er winkte Dark, die Tür zu öffnen und komplimentierte den jungen Mann hinaus. Dann schloß er behutsam hinter sich ab und steckte Geld und Schlüssel in seine Tasche. Hierauf holte er tief Atem, ließ sich in einen Sessel nieder und richtete einen strengen Blick auf seinen Schreiber.
»Dark, ich glaube, Sie passen nicht für mich.«
Der Angeredete zog ein langes Gesicht. »Es tut mir leid, Herr Wise, daß Sie solcher Meinung sind. Ich diene Ihnen doch nach besten Kräften. Darf ich fragen, was Ihnen gerade besonders nicht an mir gefällt?«
Wise legte sein Gesicht in ernste Falten. »Besonders – nun Ihr Verhalten gerade jetzt überraschte und erschreckte mich. In einem höchst gefährlichen Augenblick ließ Sie Ihre Überlegung völlig im Stich. Mißverstehen Sie mich nicht – ich will nicht behaupten, daß die ganze Geschichte nicht sehr außergewöhnlich ist, aber darum handelt es sich nicht. Der Mensch, der in der Welt vorwärts will, Dark, muß auf jede Eventualität vorbereitet sein und in diesem Falle, das müssen Sie selbst zugeben, standen Sie im Begriff, völlig zu versagen. Wenn ich nicht meine – hm – Geistesgegenwart behalten hätte, ich weiß wirklich nicht, welche Torheit Sie begangen haben würden.«
Dark wurde purpurrot. »Ich bedaure wirklich, Herr Wise, aber es war doch sehr merkwürdig, daß der junge Herr gerade hierher kommen mußte, um sich nach demselben – oder einem anderen Vermißten zu erkundigen. wo wir eben –«
»Gewiß, aber es scheint, daß Sie nicht begreifen können, wie groß die Gefahr gewesen oder wie entsetzlich ungelegen für mich es sein mußte, wenn Millbank gerade in meinem Bureau, verstehen Sie wohl, bei mir die Leiche des Mannes vorgefunden haben würde, der sein Schwiegervater werden sollte.«
»Wirklich, es tut mir aufrichtig leid, daß ich –«
»Bei Errichtung eines Geschäftes, wie das meinige, einer Privatagentur«, fuhr Wise hochtrabend fort, »bedeutet ein erfolgreicher Fall oder ein guter Klient ungemein viel. Durch das unglaubliche Versagen Ihrer Selbstbeherrschung hätten Sie mich geradezu um die Früchte jahrelanger Mühe und Ausgaben bringen können.« (Während der sorgenvollen Monate, in denen Wise auf den verschiedensten Stockwerken des Gebäudes, in dem er sich befand, gehaust, hatte er sich in vier Unternehmungen höchst zweifelhafter Natur eingelassen und seine Ausgaben hatten darin bestanden, daß er seinem Schreiber zuweilen das Salair zahlte, seinem Wirt aber niemals). »Die außergewöhnliche Situation erheischt gründliche Überlegung und sorgfältiges Nachdenken, ich muß mich auf meine Erfahrung und mein Taktgefühl stützen. Wenn ich Sie nicht in dem richtigen Augenblicke zurückgehalten hätte, würde ich« – seine Hand tastete nach der Banknote in der Tasche – »hem, würde ich augenblicklich ganz anders gestellt sein. Jetzt mag sich die ganze Sache noch sehr günstig gestalten. – Herr Millbank ist ein sehr netter junger Mann.«
»Ja, Herr Wise, er scheint sehr nett zu sein.«
»Er hat eigenes Vermögen und Herr – der unglückliche West – besaß auch sehr viel, Dark.«
»Ja, Herr Wise.«
Mit einem ängstlichen Blick auf die Zwischentür meinte der Agent jetzt:
»Na, ich will Ihnen noch einmal verzeihen, Dark, aber so etwas darf nicht wieder vorkommen. Und nun, ich bin momentan sehr erregt – würden Sie wohl die Untersuchung der Leiche fortsetzen?«
»Pardon?«
»Es ist doch natürlich von der größten Wichtigkeit, zu sehen, welche Papiere und so weiter der Ermordete bei sich führt. Wir werden die Polizei so bald wie möglich in Kenntnis setzen müssen, aber ehe wir ihr die Angelegenheit übergeben, ist es ratsam, uns nach Tunlichkeit mit allem Wissenswerten auszurüsten.«
Dark wurde bleich.
»Wäre es nicht besser, Herr Wise, Sie kämen mit mir? Der Herr hat vielleicht hohe Wertstücke bei sich, nach denen man später fragen wird, und –«
Sie sahen sich beide ängstlich an und lauschten, als ob aus dem Nebenzimmer Geräusch kommen könnte.
»Ach, Du meine Güte!« sagte endlich Wise. »Sie bereiten mir aber eine Enttäuschung, Dark, ich werde – ich glaube, ich muß Ihnen noch mit einem guten Beispiel vorangehen. Ein alter Soldat wie Sie sollte doch mutiger sein. Da gibt es doch überhaupt nichts, wovor man sich fürchten könnte. Ein Toter! Kommen Sie nur.«
Herr Justus Wise schritt zur verschlossenen Tür. Unwillkürlich blieb er einen Augenblick davor stehen, beugte den Kopf und horchte am Schlüsselloch. Es blieb alles still und nun schloß er auf.
»Nein, vor einem Toten braucht man sich doch nicht zu fürchten.« wiederholte er, wie zu sich selbst, und öffnete die Tür.
Im Eingang blieben sie eine Sekunde stehen, sprangen aber dann mit einem Ausruf vorwärts und blickten sich verwundert an.
Denn der Leichnam war nicht mehr vorhanden.
Der verschwundene Leichnam
Wise lief im Zimmer umher, sah in den Kamin hinauf, durch welchen jetzt ein schwacher Schein des rauchigen Londoner Himmels drang, und wandte sich dann an seinen Schreiber, der ebenso ratlos und verwirrt dastand wie sein Herr.
»Was kann das bedeuten? Wohin – wohin mag nur die Leiche gekommen sein?«
Dark wußte auf diese Frage keine Antwort.
»Ja, fort ist sie«, das war alles, was er sagen konnte.
Diese Entgegnung verdroß Wise, der seiner Erregung doch auch irgendwie Luft machen mußte.
»Seien Sie nicht töricht, Dark. Daß die Leiche fort ist, sehe ich auch. Aber wohin – wie –«
Daß er nun von Dark gerade diese Auskunft forderte, war sicherlich nicht logisch, denn er konnte sie ja selbst nicht geben.
Der ehemalige Soldat runzelte die Stirn und wiederholte seine stupiden Worte: »Ja, sie ist fort! Es ist zu merkwürdig –«
»Gewiß, es ist merkwürdig«, schrie Wise ihn an. »Es ist auch geradezu verteufelt! Da bin ich nun in einem Augenblicke durch eine Reihenfolge der außergewöhnlichen Ereignisse, die geschickt ineinandergreifen, vor dem Aufbau eines Vermögens gestellt und eine Minute später wieder an den Abgrund des Ruins gelangt. Wie kann das nur zugehen? Wie ist das möglich?« Wütend zerrte er an seinem Schnurrbart und warf Dark so vorwurfsvolle Blicke zu, als verdächtigte er ihn, die Ursache der Katastrophe zu sein.
Aber das offene biedere Gesicht des Schreibers mußte ihn bald belehren, daß ein solcher Verdacht völlig unberechtigt war.
So blieben sie denn beide wie vor einem unlösbaren Rätsel stehen und besahen sich das Zimmer, als könne ihnen von irgendwo doch eine Erleuchtung kommen.
Im Zimmer gab es nun allerdings recht wenig zu sehen.
Die Bureau-Ausstattung von Justus Wise war niemals verschwenderisch gewesen und überdies hatte sich mancher hartherzige Hauswirt an einzelnen Teilen schadlos gehalten. So kam es, daß dieses zweite Bureau fast noch leerer war als das andere. Es enthielt nur einen einfachen tannenen, mit Wachstuch überzogenen Tisch, drei Stühle, einen Kalender und einen Teppich. Dieser war abgeschabt und von seinen einstigen Farben ließ sich nichts mehr erkennen, dagegen waren darauf in der Nähe des Kamins die Spuren von Asche und Ruß sichtbar, die mit dem Leichnam hinuntergefallen waren. Dem Kamin gegenüber lag ein Fenster und an dieser Seite des Zimmers befand sich noch eine zweite Tür.
Auf diese fiel endlich der Blick des Agenten; er trat an sie heran und untersuchte das Schloß.