Dunkle Ufer - Sage Dawkins - E-Book
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Dunkle Ufer E-Book

Sage Dawkins

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Beschreibung

Ein Serienkiller versetzt London in Angst. Blutleere Frauenkörper werden Marmorstatuen gleich im Flussbett gefunden. Die junge Kunsthistorikerin Julia macht eine verblüffende Entdeckung: Der Täter stellt mit den Leichen Szenen aus antiken Kunstwerken nach.

Inspector Stephen Lang verpflichtet die junge Frau daraufhin, ihn und sein Team auf der Suche nach dem Serienmörder zu beraten. Schon bald hat Julia einen schrecklichen Verdacht, wer hinter den Morden stecken könnte. Zunächst ist sie unsicher, ob sie dem Inspector davon erzählen soll - doch dann bringt der Killer ihre Freundin in seine Gewalt ...

Dunkel, faszinierend und ungeheuer spannend - ein Buch, das dir den Atem raubt!

Das sagen die Leserinnen und Leser in der Lesejury:

»Ein Buch, dass durch durch eine atmosphärische Dunkelheit den Leser in den Abgrund zieht.« (Coribookprincess)

» Ein von Anfang an rasanter, jedoch in Teilen sehr beklemmender Thriller, den ich nicht weglegen konnte.« (Magnolia)

» Ein düsterer und stellenweise brutaler Thriller, der vor allem auf psychologische Spannung setzt. Vielschichtig, atmosphärisch dicht und packend bis zum Schluss.« (AnnieHall)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



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Seitenzahl: 515

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839EpilogNachwortDanksagung

Über dieses Buch

Ein Serienkiller treibt in London sein Unwesen. Die Gezeiten der Themse decken seine morbide Kunst auf: Blutleere Frauenkörper werden Marmorstatuen gleich im Flussbett gefunden. Die junge Kunsthistorikerin Julia macht eine verblüffende Entdeckung: Der Täter stellt mit den Leichen Szenen aus antiken Kunstwerken nach. Inspector Stephen Lang verpflichtet die junge Frau daraufhin, ihn und sein Team auf der Suche nach dem Serienmörder weiter zu beraten. Schon bald hat Julia einen schrecklichen Verdacht, wer hinter den Morden stecken könnte. Zunächst ist sie unsicher, ob sie dem Inspector von ihrem Verdacht erzählen soll – doch dann bringt der Killer ihre Freundin in seine Gewalt …

Über die Autorin

Sage Dawkins machte sich gleich zu Beginn ihrer Autorenkarriere einen Namen als Spezialistin für die dunklen Seiten der menschlichen Natur. Als Studentin der deutschen und englischen Literatur und mit viel Berufserfahrung im internationalen Management war sie geradezu prädestiniert dafür, düstere Thriller und Krimis zu erschaffen. Folgerichtig kündigte sie ihren sicheren und gut bezahlten Job, um ein Studium zur Drehbuchautorin zu absolvieren. Seither ängstigt sie mit großer Freude und einer unverwechselbaren Autorenstimme alle, die es wagen, ihre Filme zu sehen oder ihre Geschichten zu lesen.

Sage Dawkins

DUNKLE UFER

Thriller

beTHRILLED

 

Originalausgabe

 

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

 

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

 

 

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung von Motiven © shutterstock sangsiripech | nienora | PachetoKZ | INJParin

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-5976-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

 

Für Jules & Gabriel

PROLOG

Uferschlamm saugt schmatzend an seinen Gummistiefeln, während er, die Schaufensterpuppe unter dem Arm, Richtung Brücke stapft. Ihre weißen Glieder fangen den Widerschein der Uferbeleuchtung ein, leuchten im nächtlichen Dunkel. Den Klappspaten in der Linken, beschleunigt er seine Schritte, bis ihn die Finsternis unter der Brückenkonstruktion verschluckt. Behutsam legt er den Körper ab. Mit Blick auf den Wasserverlauf sucht er die berechnete Stelle und hebt eine Mulde im Flussbett aus. Ihr nackter Leib gleitet in die Vertiefung, wirkt seltsam lebendig in der Pose, in der er ihn hat erstarren lassen. Die matten Augen stieren wie überrascht in die Ferne.

»Die Welt dreht sich weiter. Steht nicht still, wie du es erwartet hast«, murmelt er und streift ihr das Haar aus dem Gesicht. »Gestorben, lange bevor der ewige Henker dich ereilte … Tote sollten nicht unter den Lebenden wandeln.«

Er kniet sich hin und richtet ihr leichenstarres Genick nach oben aus. »So wie das Böse des einen das Böse aller ist, die es nicht verhindern. So steht der, der die Wahrheit erkennt, in ihrer Pflicht und kann sich ihr nicht entziehen, ohne einen Preis dafür zu zahlen.«

Er erhebt sich, prüft sein Werk.

»Der Tod steht dir gut. Alle Falschheit, alle Boshaftigkeit hat er getilgt. Die Reste werden die schwarzen Fluten der Themse verschlingen, dir das geben, wonach du dein Leben lang gelechzt hast: Schönheit, Berühmtheit, Bewunderung.«

1

Stephen Lang, der Leiter der Sondereinheit, stand auf der Uferböschung und ließ das gespenstische Déjà-vu über sich ergehen. Besser hätte ein Edgar Allan Poe den Schauplatz nicht gestaltet. Einer toten Vene gleich lag der breite Strom versteckt unter Frühnebel. Einzig das Rauschen der Themse ließ erahnen, wie weit die Ebbe den Fluss vom Ufer gezogen hatte. Stephens Kopf dröhnte, Schatten unter seinen Augen zeugten von zahlreichen schlaflosen Nächten und Überstunden.

Die Szenerie lag friedlich schlummernd vor ihm. Friedlich, wären da nicht die blauen Lichtreflexe gewesen, die sich im weißen Flaum des Nebels fingen, regelrecht von ihm absorbiert wurden und das seltsame Stillleben zu unwirklichem Leben erweckten. Sichtlich ermattet stand Stephen oberhalb des Tatorts und verfolgte die Arbeit der Spurensicherung. Die Ermittler in seiner Einheit wussten, was zu tun war, besondere Anweisungen vor Ort waren nicht nötig. Der üblichen Vorgehensweise entsprechend, blockierten mehrere Polizeifahrzeuge lautlos die Zugänge zum Ufer. Beamte schwärmten nach allen Seiten aus und versuchten, das Unmögliche zu schaffen, unwegsames Gelände zu sichern, den offenen Tatort am Ufer vor neugierigen Blicken zu schützen. Kommunikation erfolgte, wenn überhaupt, verhalten über Walkie-Talkie. Alles geschah in höchstmöglicher Stille und Diskretion.

Wind fegte durch Stephens dunkelblondes Haar. Sein Blick glitt hinunter zur Uferböschung. Die Ebbe hatte den Körper der Frau zur Hälfte aus dem Schlick herausgewaschen, ließ ihn alabastern im dunklen Schlamm unter den Lampen der Forensiker erstrahlen. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, sie wäre inmitten eines Tanzsprungs in der Luft hängen geblieben. Der Schnappschuss eines irischen Stepptanzes. Lichtexplosionen, kurz und in schneller Folge, tauchten den Tatort von oben in blendendes Weiß, brannten in seinen müden Augen.

»Was zum Teufel …« Stephen wirbelte herum, blinzelte, suchte nach dem Verursacher. Eine Gestalt hechtete über die Brücke in Richtung der Häuserreihen. »Verdammte Scheiße!« Paparazzi. Die Erkenntnis setzte seine Gehirnwindungen unter Strom. Er war augenblicklich hellwach. »Tom! Mark!«

Die Polizisten in Zivil hatten längst reagiert, sprinteten zur Brücke, auf der der Fliehende gestanden hatte. Stephens Magen krampfte, wie oft in letzter Zeit. Mittlerweile fühlte es sich an, als würde ihm ein Boxer seine Faust durch den Bauch bis zum Rückgrat rammen. Die Ermittlungen gestalteten sich schwierig genug, auch ohne Behinderung durch sensationsgeiles Pack.

Hoffentlich erwischen sie den Bastard.

Bildberichte in der Skandalpresse bedeuteten noch mehr Druck von oben.

Vielleicht wird das Foto ja nichts, der Auslöser wurde zum Glück nur einmal betätigt.

Stephen drehte sich wieder dem Tatort zu. Mehr konnte er im Augenblick ohnehin nicht tun.

Knöcheltief steckte Hobbs, der Gerichtsmediziner, mit dem Team der Spurensicherung im Ufermatsch. Konzentriert sicherten sie Beweismittel, maßen, schossen Fotos, schrieben Notizen. Ungeachtet der Hektik über ihnen arbeiteten sie mit der notwendigen Sorgfalt und Muße. Stephen sehnte sich nach den Zeiten, als er ähnlich ausgeglichen seiner Arbeit nachging. Seitdem waren zwei Monate vergangen, dennoch schien es ihm wie eine Ewigkeit. Die bedachten Bewegungen der Gestalten in den weißen Overalls besänftigten die Unruhe, die in ihm brodelte, erinnerten ihn an seinen einst unumstößlichen Glauben, dass jeder Fall durch fundierte Polizeiarbeit gelöst werden konnte. Just in diesem Moment sah Hobbs hoch, winkte ihn zu sich herunter. Fröstelnd und leise fluchend stieg Stephen die steile Böschung hinab.

Der renovierungsbedürftige Coffeeshop am anderen Themseufer war fast leer, als Julia ihn betrat. Das Café war kein cooler Londoner Geheimtipp, hatte tagsüber allerdings regen Publikumsverkehr, vor allem durch Touristen, die die City und die Uferpromenade der Themse zu Fuß erkundeten.

Ron, ein schlaksiger Student mit Ziegenbärtchen, wischte roboterhaft den Boden, dessen Oberfläche dank der Maserung immer gleich aussah. Er grummelte Julia irgendetwas zu, als sie an ihm vorbeiging. Sie grüßte zurück.

In den sechs Wochen seit ihrem Umzug war sie zum einzigen Stammgast des Lokals aufgerückt, die zahlreichen Teilzeitkräfte kannten sogar ihre Vorlieben, was Kaffee und Snacks anging.

Um diese Zeit bevölkerten nur vereinzelte Nachtschwärmer den Raum. Wärmten sich an heißen Getränken und würgten verbilligte Sandwiches vom Vorabend hinunter. Sie wirkten müde, wollten nach durchzechter Nacht nüchtern werden, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Kaum jemand sprach, einzig das sporadische Rattern des Kaffeeautomaten durchbrach die Stille. Die Flachbildschirme im Gästebereich zeigten alle dasselbe Musikvideo. Evanescence, eine ihrer Lieblingsbands. Harte Gitarrenklänge vibrierten aus den Lautsprechern, während die feenhafte Gestalt der Sängerin von der Spitze eines Hochhauses rückwärts in die Tiefe stürzte und nach dem ausgestreckten Arm eines Mannes auf dem Fenstersims griff. Die Bilder erfüllten sie mit einem undefinierbaren Gefühl, eine Botschaft, nur an sie gerichtet, antworteten auf etwas tief in ihrem Unterbewusstsein.

Ihr Tisch am Fenster zur Themse war ebenso frei wie der Rest der Sitzgelegenheiten im hinteren Bereich des Cafés. Julia nahm Platz. Der Cappuccino vor ihr dampfte stärker als sonst, denn der Raum war kalt, noch kälter als gewöhnlich. Offenbar hatte die Heizung im Laufe der Nacht versagt. Ihre steifen Finger umschlossen den wärmenden Porzellanbecher. Sie nippte vorsichtig an dem Getränk, genoss das Gefühl, als die schmerzhaft heiße Flüssigkeit ihren Gaumen streifte, sich in ihren Magen ergoss. Hitze durchzog bei jedem Schluck ihren durchfrorenen Körper, während sie in Gedanken den kommenden Tag plante. Etwas auf der Sitzbank zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das Rot der abgenutzten Kunstledersitze war über die Zeit nachgedunkelt, das Material an einigen Kanten aufgesprungen. Brandlöcher zierten die Sitze des Nichtrauchercafés. Seltsam, dass ihr das jetzt erst auffiel. Oder auch nicht, kannte sie doch die Ablenkungsmechanismen ihres eigenen Gehirns. Auf dem Tisch vor ihr stand ein zusätzlicher Coffee2go-Isolierbecher im hauseigenen Design, daneben, wie eine Drohung, ein ungeöffnetes Kuvert, dessen Inhalt wie ein Damoklesschwert über ihrer Zukunft hing. Sie nahm einen langen Schluck, als müsste sie sich Mut antrinken. Dann sah sie hinaus.

Die schmierige Glasfront ließ sie die Welt außerhalb des Cafés nur schemenhaft erkennen. Erste Anzeichen des baldigen Sonnenaufgangs verfärbten die nächtliche Skyline mit einem Hauch schmutzigen Lichts, zu mehr reichte es nicht. Die aufkommende Dämmerung hing schwer über der Stadt. Während der Herbst- und Wintermonate schien es manchmal, als würde es niemals Tag werden. Schneematsch sammelte sich auf der Außenseite des Panoramafensters, verband sich zu Rinnsalen, die stockend zu Boden flossen. Julias Blick folgte den Schlieren auf dem Glas, wanderte hinunter zum verborgenen Fluss. Versunken in Gedanken spielten ihre Hände nervös mit dem Kuvert.

Die Eingangstür quietschte widerwillig, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dramatisch betrat eine Rothaarige das Café. Ihr Designermantel schwang auf und gab den Blick auf das bauchnabeltiefe Dekolleté eines grünen Overalls im Stile der Siebziger frei. Für diese Uhrzeit eindeutig overdressed, posierte sie am Eingang, als wäre es ein Laufsteg. Julia fror beim Anblick ihrer Aufmachung und musste sofort an alte James-Bond-Filme und an Austin Powers denken. Anmutig schüttelte der Rotschopf den frisch gefallenen Schnee aus kupfernen Locken, doch ein bewunderndes Publikum war noch nicht vorhanden, kaum jemand bemerkte sie überhaupt. Entnervt sah sie sich im Raum um. Ein einstudiertes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie den Gesuchten im vorderen Bereich entdeckte. Mit schwingenden Hüften trat die Frau an einen der Tische an der Fensterfront zur Straße.

»Oh, Baby, ich dachte schon, du hättest mich versetzt!«

Ihr aufgesetztes Jauchzen hallte durch den Raum, als sie sich zu dem Mann gesellte, sodass selbst die halb eingenickten Nachteulen für einen Moment aufgeschreckt zu ihnen herübersahen.

Amüsiert beobachtete Julia die Szene. Sie hatte ihn nicht hereinkommen sehen, eigentlich die Hälfte der Gäste im Raum nicht. Die letzten zehn Minuten hatte sie sich mit dem zerknitterten Kuvert beschäftigt und es fast aufgerissen, aber dann ungeöffnet vor sich auf den Tisch gelegt. Normalerweise interessierte sie sich nicht für fremde Menschen, verschwendete nicht einen Gedanken an sie. Diese beiden erweckten jedoch ihre Aufmerksamkeit und waren eine willkommene Ablenkung von gewissen Dingen.

Braunes Haar, ein sportlicher Rücken waren alles, was Julia von dem Mann sah. Seine Stimme war angenehm tief, die Haltung souverän, das Lachen warm und authentisch. Ganz Gentleman, ließ er die Rothaarige gewähren, als ihre schwer beringten Finger scheinbar zaghaft in sein dichtes Haupthaar fuhren. Er flüsterte ihr etwas zu. Sie kicherte übertrieben laut, damit auch alle im Raum es hören konnten, spielte die Verlegene. Ihre Gesten und häufigen Berührungen wirkten durchdacht. Man musste kein Spezialist im Lesen von Körpersprache sein, um zu erkennen, welches Ziel sie verfolgte. Auch nicht, dass sie keine Skrupel hatte, alles zu tun, um es zu erreichen.

Julias Lippen formten ein spöttisches Lächeln. Männer. Manche sind zu dumm, um dies zu durchschauen, andere zu eitel, um sich daran zu stören. Die Szene erinnerte sie an eine der vielen Dokumentationen über das Tierreich, die sie spätabends mit Jinx und Gem sah, wenn sie nicht schlafen konnte. Es war fast so, als würde sie eine unterentwickelte Spezies beim Paarungsspiel beobachten. Hormone. Gab es überhaupt etwas Gefährlicheres auf diesem Planeten? Machten sie doch aus klugen, scheinbar zivilisierten Humanoiden grölende Neandertaler, die nur das eine Ziel hatten, zu kopulieren und auf Teufel komm raus die eigenen Gene zu verteilen.

Die Mühle des Kaffeeautomaten dröhnte nun ständig, der Laden füllte sich zunehmend. Julia sah auf ihr Handgelenk: halb sieben. Es war später, als sie dachte. Den restlichen Inhalt ihrer Tasse leerte sie mit einem großen Schluck. Ihre Art von gesunder »Ernährung«, sie lebte fast ausschließlich von Koffein.

Die Sachen vom Tisch flogen mit einem Armschwung in ihre mit Büchern vollgestopfte Collegetasche. Sie nahm einen kleinen Regenschirm aus dem Seitenfach, warf sich den breiten Schultergurt der Tasche über Kopf auf die linke Schulter und stellte den Mantelkragen hoch. Kälte und Wind konnte sie ertragen, nicht aber Schneematsch im Nacken. Von allem gab es draußen mittlerweile mehr als reichlich.

Abschließend schnappte sie sich den Coffee2go vom Tisch und steuerte auf den Ausgang zu. Das zerknitterte Kuvert blieb auf der Sitzbank liegen. Sie hatte fast das Café durchquert, als sie innehielt. Einen bitteren Zug um die Mundwinkel, drehte sie sich um, lief zurück und stopfte es in die Tasche. Jetzt musste sie sich sputen. Bei dem Matschwetter würde sie das letzte Stück zur Arbeit mit der U-Bahn fahren.

Ihr Coffee2go wogte schwer in ihrer Linken. In der Rechten hielt sie den halb geöffneten Schirm, bereit, ihn mit einem Knopfdruck aufzuspannen, sobald sie die Tür aufstieß. Mit dem Rücken drückte sie gegen die Glastür, als es in den Tiefen ihrer Tasche zu summen anfing. Gedämpft erklang das Crescendo der Carmina Burana.

Der ungewöhnliche Klingelton ließ den Begleiter der Rothaarigen aufhorchen und zog seine Aufmerksamkeit auf Julia. Etwas zu lang ruhte sein Blick auf ihr, während sie mit der Tür kämpfte. Unterdessen redete die Rothaarige unbeirrt weiter auf ihn ein, ohne zu bemerken, dass sein Interesse in diesem Moment einer anderen galt.

Julia überlegte, wie sie ihr Handy herausfischen konnte. Es musste wichtig sein. Nicht viele Menschen hatten ihre Nummer. Wenn überhaupt, konnte man sie an den Fingern einer Hand abzählen. Sie blickte nach draußen. Der Schneematsch fiel dicht an dicht, bildete einen im Wind schwankenden nassen Vorhang. Die U-Bahn würde nicht auf sie warten, der Anrufer schon. Sie schob sich rückwärts nach draußen.

Die Scharniere der in die Jahre gekommenen Holztür sangen ein metallisches Willkommen, als Julia sie aufschloss und ihren Arbeitsraum betrat. Der knarzende Klang war Musik in ihren Ohren wie der Gruß eines guten, alten Freundes. Mit Mühe hatte sie zu Anfang ihrer Anstellung den Hausmeister daran hindern können, die Tür auszurichten, zu ölen oder – schlimmer noch – auszutauschen. Mittlerweile hatte er davon abgelassen, sah sie nur manchmal kopfschüttelnd an, als wäre sie nicht von dieser Welt. Ein Blick, den sie zur Genüge kannte und der ihr immer ein Schmunzeln entlockte.

Die Kollegen hielten sie ohnehin für seltsam. Freiwillig hatte sie sich das Büro bei den ausgemusterten und eingelagerten Museumsstücken in unmittelbarer Nähe der Kellergewölbe ausgesucht. Sie arbeitete vorwiegend dort, obwohl sie auch einen Arbeitsplatz im modernen Anbau des Museumskomplexes hatte. Allerdings gab es da für ihren Geschmack nicht genug Ruhe, um gewissenhaft arbeiten zu können. Der Kaffeeklatsch in der Mitarbeiterküche, die ständigen Fragen nach dem Privatleben, all das wollte sie sich ersparen. Gelegentlich nutzte sie ihn für Besprechungen mit Kollegen und Externen, denn sie wollte in ihrem unterirdischen Reich von niemandem gestört werden.

Julia stellte den Isolierbecher mitsamt Inhalt sicher auf dem massiven Bürotisch ab und legte die schwere Tasche daneben. Die Wärme des Raumes schmolz die letzten Schneekristalle in ihren Haaren. Sie rubbelte die überschüssige Feuchtigkeit aus den Strähnen, packte ihren regenschweren Herbstmantel auf einen Bügel und hängte ihn an die Tür. Zufrieden machte sie es sich in ihrem bescheidenen Reich bequem.

Das großzügige Büro im Museumskeller wirkte kleiner, als es in Wirklichkeit war. Jahrhunderte waren hier eingesperrt, der Atem der Geschichte hing greifbar im Raum, roch staubig, nach gealterten Büchern, Ölfarbe und Holz. Die Einrichtung bestand aus einem Sammelsurium von Relikten vergangener Zeiten. Abgenutzte Büromöbel aus den Vierzigerjahren, robuste, festgeschraubte Wandschränke, die sich unter der Last von Fachbüchern in toten und scheintoten Sprachen bogen. Antike Gemälde lehnten sorgfältig verpackt an den Wänden, warteten darauf, restauriert zu werden. Eine Staffelei mit Beistelltisch stand daneben. Leistungsfähige Tageslichtlampen spendeten in diesem Bereich angenehmes Licht. An der Wand gegenüber der Tür ruhte ihr mächtiger alter Schreibtisch mit aufgeräumter Oberfläche. Das grasgrüne Haustelefon mit Wählscheibe aus den Sechzigerjahren stand inmitten des hochmodernen Computer-Arbeitsplatzes, daneben war eine zusätzliche Notebook-Station angeschlossen. Die Menge an Unterlagen und Kram im Büro wäre erdrückend gewesen, hätte Julia nicht peinlich genau Ordnung gehalten. Alles war penibel und alphabetisch sortiert, nach System und Arbeitsweise geordnet. Die einzige freie Fläche im Raum war die eindrucksvolle weiße Tafel, die unschuldig leuchtend die Hälfte der Hauptwand zur Linken des Schreibtisches vereinnahmte. Darunter im Eck hatte ein wohlgenutzter Ohrensessel seinen Platz gefunden, Hauspantoffeln lagen auf einem zierlichen Teppich vor ihm. Zur Rechten des Tisches stapelten sich dicke Ordner an der Wand entlang. Über ihnen mühte sich blasses Tageslicht vergeblich durch die vergitterte Milchglasscheibe eines winzigen Kellerfensters. Kein Mensch verirrte sich freiwillig hier herunter, und das war Julia mehr als recht so.

Der Stapel an Unterlagen schwankte, als Mark beim Betreten des Raumes eine weitere Mappe auf ihm ablegte.

»Die Streifenpolizisten befragen Anwohner, Restaurantpersonal und Obdachlose, aber das kann dauern. Wir werden nachts noch mal hinmüssen.« Er rollte seinen Bürostuhl zu den Männern an den Tisch mit dem großen Bildschirm und nahm Platz: »Und, gibt’s bei euch was Neues?«

»Nichts.« Stephens Blick klebte an den Monitoren. Beim Anblick der pixeligen Aufnahme zogen sich seine Augenbrauen zusammen, Stirnfalten gruben sich tiefer in die Lederhaut. Die Schwarz-Weiß-Videos der Tatortumgebung gaben nichts Verwertbares her, genau wie bei den letzten Malen.

»Ist das wirklich alles, was ihr aus dem Bildmaterial rausholen könnt?« Seine Frage richtete sich an die zwei Spezialisten, die die Videodateien der Überwachungskameras bearbeiteten.

»Es gibt nichts, was wir schärfer herauskitzeln könnten.« Der junge Mann klang gelassen, trotz Stephens forderndem Tonfall: »Die Auflösung auf die Entfernung ist nicht ausreichend, ebenso ist der Nebel nicht gerade hilfreich. Was wir hier haben, ist lediglich eine Lichtschwankung, ein Schatten, von dem ich nicht einmal glaube, dass es ein Mensch ist.«

»Der Mistkerl weiß genau, wo sich die Kameras befinden und wie er ihnen ausweichen kann. Er kann die Leichen schließlich nicht in den Themseschlamm teleportieren.« Tom sprach aus, was alle dachten.

»Welche Möglichkeiten gibt es noch, wenn wir das Offensichtliche ausschließen? Er ist kein Geist, auch wenn er keine Spuren hinterlässt.« Stephen warf die Frage in den Raum.

Marks breiter Rücken drückte die Stuhllehne nach hinten, er kreuzte die muskulösen Arme vor der Brust: »Wir sollten die Zeugen gründlicher durchleuchten. Vielleicht hat einer Dreck am Stecken, ohne dass er dafür verurteilt wurde.«

Stephen nickte. »Gut. Mach das, Mark. Tom, wir müssen in Erwägung ziehen, dass der Mörder von der Flussseite mit einem Boot gekommen sein könnte. Kontaktiere die Ansprechpartner von Marine Watch und Operation Kraken, vielleicht ist letzte Nacht jemandem etwas aufgefallen.«

»Geht klar.«

»Wir müssen prüfen, ob die Brücken mit Kameras Richtung Fluss ausgerüstet sind und …« Das Öffnen der Tür unterbrach Stephen mitten im Satz. Alle Köpfe drehten sich zu den Neuankömmlingen um. Ein ausgedörrter Frauenkörper stolzierte herein. Philippa Devyle, Mediensprecherin der Metropolitan Police. Ihr strenger Bob unterstrich wie das konservative Kostüm den verbissenen Ausdruck um ihre Mundwinkel. Hinter seinem »Zerberus«, wie der Polizeipräsident sie wohlwollend nannte, erschien der kräftige Leib des Leiters von Scotland Yard und füllte den Raum, den sie für ihn schuf. Philippa verlor keine Zeit. Zügig durchschritt sie das Büro und zeigte mit einer Handbewegung in Richtung Videospezialisten: »Gentlemen, verlassen Sie den Raum.«

Die jungen Beamten sprangen von ihren Stühlen und eilten ohne Rücksprache oder Blickkontakt mit Stephen hinaus. Dieser fluchte innerlich. Nicht weil die beiden vor dem Zerberus flohen, sondern weil ihr Kommen und Commissioner Coopers Ausdruck nichts Gutes verhießen.

»Guten Tag, Gentlemen!« James Cooper keuchte die Worte. Das puterrote Gesicht ließ auf Bluthochdruck schließen. Etwas schien ihm noch mehr Sorgen zu machen als sonst. Philippa und Cooper nahmen gegenüber dem Trio Platz. Ihr Rücken war kerzengerade, er saß zusammengesackt da, kämpfte mit der Krawatte, als würde die sich langsam um seinen stämmigen Hals zusammenziehen. Der Zerberus kam mit steinerner Miene ohne Umwege auf den Punkt.

»Wir sind von allen landesweiten Fernsehsendern angesprochen worden. Sie haben von einer anonymen Quelle Bildmaterial gekauft, das unser neuestes Opfer zeigt. Dieses werden sie heute der Öffentlichkeit präsentieren, mit unserem Kommentar oder ohne!«

Stephens Unterkiefer schob sich nach vorne. Der Paparazzi von heute früh.

»Verdammt!« Mark saugte die Luft zwischen den Zähnen ein und massierte die Faust, als würde er sie für einen Kampf aufwärmen. Seine Fingerknöchel knackten. Ihm war der Skandalparasit in einer Seitengasse entwischt.

Devyle reichte jedem der drei ein Dokument.

»Sie sind Teil der Pressekonferenz heute Mittag. Lesen sie sich das Drehbuch sorgfältig durch. Wir wünschen keine Spontanität, keine Meinungsäußerung, keine Vermutungen Ihrerseits. Halten Sie sich an das Skript! Auf nicht gelistete Fragen antworten ausschließlich der Polizeipräsident und ich.«

Mittag. Die Zeit war verflogen. So wie immer, wenn Julia an der Staffelei stand, was in letzter Zeit öfter als sonst der Fall war. Nicht, dass es sie störte. Im Gegenteil, Restauration war eines ihrer Steckenpferde, eine der wenigen Formen der Entspannung. Die Konzentration auf das Mischen der perfekten Farbnuance und die Führung des Pinsels ließen sie in diesen wunderbaren Zustand des Nichtdenkens gleiten. Die letzten Ausstellungen hatten eine unzureichende Zahl von Besuchern angelockt. Solange die Museumsleitung nicht entschieden hatte, welches Thema als Nächstes die Massen begeistern sollte, gab es genügend alte Kunstwerke, die einer liebevollen Überholung bedurften.

Hoch konzentriert hielt sie den Atem an, zog präzise die letzten Pinselstriche auf einem Bildnis der Madonna nach. Möglicherweise war es Einbildung, aber ihre Pinselführung wurde dadurch ruhiger, flüssiger.

Fertig. Geräuschvoll atmete sie aus, machte einen Schritt zurück, um ihr Werk besser beurteilen zu können. Perfekt. Die Farben entsprachen dem Original, waren nun einen Tick intensiver, die Konturen schärfer als vor der Restauration. Abgesehen davon hatte es sich nicht verändert.

Julia ließ zu, dass das seltene Gefühl der Zufriedenheit sie berauschte. Wenn es etwas gab, worauf sie stolz war, so war es ihre Sensibilität für die Kunstwerke vergangener Epochen. Ihr Talent, die Motivation des Künstlers zu verstehen, ihn zu ehren, indem sie seine Bilder so authentisch wie nur möglich für die Nachwelt erhielt.

Ohne hinzusehen, griff ihre Hand zielsicher nach dem Kaffeebecher auf dem Beistelltisch. Sie verbrachte so viel Zeit in diesem Raum, sie hätte ihre Arbeit mit verbundenen Augen machen können. Den kalten Inhalt kippte sie hinunter, setzte den Becher zurück auf die mit Farbklecksen übersäte Titelseite der gestrigen Zeitung. Die riesige Schlagzeile schrie: Noch eine Tote in der Themse gefunden!

Sie fuhr zusammen, als das grüne Telefon auf ihrem Tisch schrillte. Zum Glück arbeitete sie nicht mehr am Gemälde. Vielleicht war es doch an der Zeit, das lieb gewonnene Monstrum durch einen Apparat mit verstellbarer Lautstärke zu ersetzen. Das Klingeln hielt penetrant an. Das nächste Mal würde sie den Stecker ziehen, bevor sie mit der Arbeit anfing. Julia nahm den Hörer ab.

»Martyn am Apparat.«

»Miss Martyn, ich weiß, wir sollen Sie bei den Restaurationsarbeiten nicht stören«, nuschelte Freddie, einer der Sicherheitsleute vom Eingang, mit weinerlicher Stimme, »aber eine Miss Ella möchte Sie sehen – und sie ist ziemlich hartnäckig.«

Im Hintergrund schrillte eine ihr gut bekannte Frauenstimme. »Jules! Komm raus zum Spielen!«

Freddie ignorierte sie hörbar genervt, stotterte in den Apparat: »Es tut mir leid, Miss Martyn, sie will partout nicht gehen, und sie stört die Öffentlichkeit, ich meine, den Betrieb. Darf ich … soll ich sie zu Ihnen runterschicken?«

Julia konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Das war typisch Ella, keine Hemmungen, öffentlich eine Szene zu machen, sich und andere zu blamieren.

»Um Gottes willen, Freddie, nein. Bitte sagen Sie der Lady, ich bin in einer Minute bei ihr.«

Die Geräuschkulisse war anstrengend, eine Kakofonie aus Geschirrklappern, Fernsehansagen und Tischgesprächen. Das hippe Restaurant in der Nähe von Ellas Büro war ganz in Glas gehalten. Voller Flachbildschirme, die Sitzplätze eng und unbequem, dafür aber enorm stylish, brummte es um die Mittagszeit. Anzugtragende Yuppies verfolgten Wirtschaftsnachrichten über die zahlreichen Monitore. Assistentinnen in knappen Business-Outfits knabberten an ihren Salatblättern, tauschten den letzten Firmentratsch aus.

Julia und Ella hatten einen hohen Zweiertisch am Fenster ergattert, der abseits des Trubels schien. Ella balancierte ihren sportlichen Hintern auf dem unbequemen Sitzhocker. Sie biss genüsslich und kein bisschen ladylike in ihr mit gegrilltem Gemüse überladenes vegetarisches Sandwich, sodass ihr der Saft an den Mundwinkeln herunterlief. Die versnobten Blicke der Mädels vom Nachbartisch ignorierte sie, wischte mit einem schwelgerischen »Mmmh« demonstrativ die Soße weg und leckte sie von den langen Fingern. Julia beobachtete die Szene amüsiert und stocherte in ihrem veganen Curry. Das Essen war fantastisch, aber ihr Magen war warme Speisen um die Mittagszeit nicht gewohnt. Sie würde es sich für später einpacken lassen.

»Wann wirst du endlich erwachsen? Den armen Freddie so zu ärgern. Er macht doch nur seinen Job.« Julias Versuch, ernsthaft zu klingen, wurde vom Gesichtsausdruck ihrer Freundin sabotiert. Ella verdrehte die Augen, grinste wie eine Katze, die eben eine Maus verschluckt hat. Die Naturlocken ihres rotblonden Bobs sprangen bei jeder Bewegung auf und ab, selbst beim Kauen und Schlucken. Sie murmelte mit vollem Mund.

»Den Sicherheitsfuzzi?«

Ella beugte sich Richtung Tisch, nahm den Trinkhalm zwischen die Lippen und schlürfte geräuschvoll von ihrem Orangensaft. Die Mundwinkel um die vollen Lippen formten ein fieses Grinsen, die blauen Augen funkelten entzückt, und die Sommersprossen taten ein Übriges. Den Ausdruck kannte Julia zur Genüge. Pippi Langstrumpf in Erwachsen. Ellas Humor war ansteckend. Es war schwer, sich ihrem Charme zu entziehen, selbst wenn man – so wie sie – alle ihre Tricks kannte. Ella hätte ihren Beruf nicht besser wählen können. Eventmanagerin, PR-Fachfrau einer der führenden Agenturen der City. Sie war erfolgreich, schön, gebildet und extrovertiert wie so viele andere auch. Den entscheidenden Wettbewerbsvorteil brachte ihr nicht das Vermögen ihres Vaters, von dem sie sich ausdrücklich distanziert hatte. Es war ihre erfrischende Natürlichkeit und kompromisslose Ehrlichkeit. Überraschenderweise machte das Ella zu einem gefragten Exoten in einer sonst eher heuchlerischen Branche.

Seit Internatszeiten waren sie beide ein eingeschworenes Team. Damals war Julia überglücklich gewesen, endlich von zu Hause wegzukommen. Ella hingegen litt darunter, dass ihre junge Stiefmutter das ungeliebte Pummelchen aus dem Weg haben wollte und es deshalb schnellstmöglich ins Internat abschob. Sie standen sich zur Seite, als die Welt um sie herum zerbrach und niemand sonst es merkte. Das schweißte zusammen. Schwestern im Geiste, obgleich wie Yin und Yang. Spöttische Spitznamen, die sich die angesagten Schülerinnen des Mädcheninternats für sie erdacht hatten. Julia, die Düstere, kühl und nachdenklich, und Ella, die die Pubertät in einen Sonnenschein verwandelte, eine Frohnatur, mit der über Nacht alle befreundet sein wollten.

»Ich glaube, er nannte dich Psychotante.« Julia imitierte wenig erfolgreich Ellas fieses Grinsen, spöttelte: »Es fielen auch Worte wie gemeingefährlich, oder war es irre?«

»Also damit kann ich leben. Außerdem war es der einzige Weg, dich aus deinem staubigen Kellerverlies herauszulocken. Ich habe dich heute früh schon dreimal auf dem Handy angerufen.«

Schuldbewusst blickte Julia auf ihr iPhone. Sie hatte es den ganzen Morgen in der Tasche vergessen, erst jetzt fiel ihr wieder der Anruf im Coffeeshop ein.

»Ich sollte wohl öfter mal meine Mailbox abrufen, sonst nimmt dich das Sicherheitsteam das nächste Mal noch fest bei dem Aufsehen, das du erregst.«

»Hmmm, das wäre ganz nach meinem Geschmack.« Sie zwinkerte Julia verschwörerisch zu, schob den Rest ihres Sandwiches in den Mund und mümmelte. »Solange es nicht dieser komische Freddie ist.« Sie schluckte den Bissen herunter und fragte kokett: »Wann hat noch mal der athletische Kollege Dienst?«

Julia wusste genau, auf wen Ella anspielte, zog aber scheinbar unwissend die Augenbrauen hoch.

»Mike? Sam? Henry?«

Ella ignorierte die Hänselei und säuselte übertrieben: »Der dürfte mir jederzeit Handschellen anlegen«, um dann trotzig anzuschließen: »Warum hat der eigentlich nie Schicht, wenn ich vorbeikomme?«

Julia verdrehte die Augen.

»Also man könnte meinen, du wärst ein Kerl, so oft, wie du an Sex denkst beziehungsweise davon sprichst.«

»Hey, ich bin Single, weder tot noch verheiratet. Und jünger werden wir beide nicht. Es wäre doch eine Schande, dies hier zu vergeuden!« Ellas Hände folgten theatralisch ihrer weiblichen Körperform. Sarkasmus und Hohn in ihrer Stimme waren subtil, aber gut hörbar. Beide prusteten los vor Lachen.

»Kindskopf! Werde endlich erwachsen.« Julias Rat klang halbherzig. Ella hatte das Talent, mit einem Schlag ihre ganze Ernsthaftigkeit ins Wanken zu bringen, sie zu kindischen Albernheiten zu bewegen. Eine bessere Medizin gegen Trübsal gab es nicht, zumindest nicht für die Zeit, die man mit ihr verbrachte. Trotzdem war ihre Freundin alles andere als oberflächlich. Sie konnte jede Situation mit intelligentem Witz entschärfen, immer etwas Positives im Negativen finden. Eine Eigenschaft, um die Julia sie schon immer beneidet hatte.

Nachrichtenfetzen übertönten die Gespräche im Raum. Eilmeldungen flackerten über die Fernsehmonitore und zogen Julias Blick magnetisch an. Schlagartig schalteten alle Bildschirme auf denselben Nachrichtenkanal.

»Heute Morgen wurde ein drittes Opfer nahe der London Bridge gefunden …«

Die Kamera zoomte auf ein Foto. Julia vergaß zu atmen, starrte gebannt auf den Fernseher. Ellas Stimme und der Lärm des Restaurants klangen plötzlich weit entfernt. Schön, makellos, weiß leuchtend lag der nackte Körper einer Frau im dunklen Schlamm des Flusses. Positioniert wie eine Marmorskulptur neigte sich der Kopf leicht nach oben, die leere Hand schien etwas zu präsentieren. Oder bildete sie sich das nur ein? Der Farbkontrast ließ den Körper noch plastischer, das Bild noch surrealer wirken, als würde sich die Figur jeden Moment bewegen.

Die Liveschaltung sprang zur Pressekonferenz der Metropolitan Police. Eine hungrige Reportermeute drängte sich unter einem Meer von Mikrofonen vor den Stufen des Scotland-Yard-Gebäudes. Ein Dutzend Uniformierte und Polizisten in Zivil stand hinter dem Polizeipräsidenten. Souverän ignorierte der die Zwischenrufe, sprach betont glaubwürdig.

»Wir können ihnen versichern, dass die Fälle in den kompetenten Händen von Detective Chief Inspector Stephen Lang und seiner CID-Einheit liegen. Einem Team aus Spezialisten, das die beeindruckende Aufklärungsquote von hundert Prozent aufweisen kann. Meine Damen und Herren, wir rechnen mit einer baldigen Aufklärung …«

Ellas Stimme schien näher zu kommen und löste Julia aus ihrem Bann.

»… und übrigens, Jules, die Vernissage ist diese Woche. Du hast versprochen, mich zu begleiten. Hey, hörst du mir überhaupt zu?«

Ellas Blick folgt dem Julias zum Fernsehbericht.

»Oh, das ist ja so was von krank.«

Angewidert drehte sie sich zu ihrer Freundin, schnipste genervt mit den Fingern vor ihrer Nase.

»Erde an Julia, hallo!«

»Wie? Tut mir leid.«

»Sag mir bitte nicht, Leichen sind interessanter als eines der seltenen Mittagessen mit deiner besten Freundin!«

»Natürlich nicht.« Julias Pupillen waren geweitet, ihr undeutbarer Blick schweifte wieder zur Reportage. »Aber irgendwie kommt mir das bekannt vor, als hätte ich es schon mal gesehen. Außerdem ist es das erste Foto eines Opfers. Das macht die Morde real.«

Ein Schatten von Kummer huschte über Ellas Gesicht. Da war sie wieder, glühte in den Tiefen der Augen ihrer Freundin: Julias morbide Faszination für den Tod. Ihre Vorliebe für die mystisch romantische Verklärung des menschlichen Endes in Literatur und Kunst. Ella kannte diese Themen, waren sie doch gemeinsam durch die trostlosen Untiefen der Pubertät gewandert, nach dem Sinn des Lebens forschend. Stirnrunzelnd analysierte sie das Gesicht ihrer Freundin. Julia war noch immer auf der Suche, während Ella sich damit abgefunden hatte, dass das Leben geschah, ohne tieferen Sinn oder Zweck. Für sie reichte das aus, doch offenbar sehnte sich ihre Freundin immer noch nach der Essenz des Seins, was auch immer das sein mochte. Trotzdem machte Ella ihre fehlende Begeisterung für das Leben Sorge. Wie sollte sie jemals wirklich glücklich im Hier und Jetzt werden? Das, was Julia suchte, war Illusion, Utopie. Ella überspielte den bekümmerten Ton in ihrer Stimme.

»Wenn wir schon von Realitäten sprechen, meine Liebe: Wann soll ich dich am Freitag abholen?«

Julia seufzte. Zu oft hatte sie in letzter Zeit ihre Verabredungen abgesagt. Aber eine Vernissage mit neureichen »Kunstliebhabern«? Allein die Vorstellung schmerzte, lieber hätte sie sich ein paar Zähne ohne Betäubung ziehen lassen.

»Kann ich mich irgendwie drücken, ohne dass du sauer wirst?« Sie fühlte sich schuldig, aber einen Versuch, sich herauszuwinden, war es allemal wert: »Ich muss noch die ganzen Umzugskisten auspacken. Eigentlich hatte ich es für dieses Wochenende geplant.«

Ellas Blick war wohlwollend, aber unerbittlich.

»Keine Chance, dieses Mal nicht.«

Julia resignierte halbherzig. Ellas Gesellschaft tat ihr gut, das wusste sie, besonders zu dieser Jahreszeit. Etwas Ablenkung würde vielleicht nicht schaden.

»Die Langweiler, die wir dort treffen, kannst du ja ignorieren, Jules. Nase hoch und durch, so wie alle anderen auch. Ich muss nur ein paar Geschäftspartnern Hallo sagen, dann können wir Party machen. Außerdem werden fantastische Bilder aus Privatsammlungen ausgestellt sein. Das willst du dir doch nicht entgehen lassen?«

Ella hatte recht. Auf solchen Events waren sowieso alle mit sich selbst beschäftigt. Jemand wie sie konnte da leicht untertauchen. Sie würde unsichtbar bleiben und die Kunst genießen.

»Na dann, um siebzehn Uhr am Museum. Ich werde die Tage ein paar Überstunden machen, dann sollte es klargehen.«

2

Im Besprechungsraum der in die Jahre gekommenen Polizeistation im Herzen der Stadt rumorte es. Beamte der Sonderkommission und Uniformierte standen dicht gedrängt, lehnten an den Wänden um die besetzten Sitzplätze in der Mitte. Nachmittagssonne schien golden durch die hohen Fenster auf glanzlose Augen, erschöpfte Gesichter. Stephen stand vorne, wartete darauf, dass der Letzte den Raum betrat. Arme verschränkt, die Schultern hängend, schien er von seinen 1,83 Metern zehn Zentimeter eingebüßt zu haben. Hinter ihm leuchtete ein breites Whiteboard, dahinter ein weiteres, komplett beschriftet mit Notizen in allen Farben. Seine dunkelblauen Augen blickten ernst. Er befestigte das Foto eines neuen Opfers am Board, direkt neben drei älteren. Sie zeigten verschiedene Typen von Frauen, junge und weniger junge, wunderschön hergerichtet, in unterschiedlichen Posen, kunstvoll, wie Marmorskulpturen im Flussschlamm positioniert.

Schwerfällig drehte er sich zu seinen Leuten um, sein Kopf dröhnte von zu wenig Schlaf und zu viel Kaffee. Die choreografierte Pressekonferenz hatte ihm den Rest gegeben. Coopers politische Ambitionen hatten schon früher Ermittlungen erschwert, doch in diesem Fall konnte ihnen sein Ehrgeiz allen den Hals brechen. Müde ergriff er eine der vielen Tageszeitungen, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen, hob sie herausfordernd.

»Sie haben jetzt nicht nur Fotos, sie haben ihm sogar einen Namen gegeben. Sie nennen ihn den Themse-Vampir!«

Seine Stimme war matt, unterdrückte Wut im Ausdruck. Er nahm sich Zeit, ließ den Blick über die Gesichter seines Teams schweifen.

»Kann mir bitte jemand – irgendjemand – sagen, wie zum Teufel die herausgefunden haben, dass die Körper der Opfer ausgeblutet wurden?«

Er schleuderte die Zeitung über den Schreibtisch vor sich, sodass sie Unterlagen mit sich zu Boden riss. Im selben Moment bereute er es. Die Stille im Raum hallte hinter seiner Stirn wider. Keiner im Raum wagte zu atmen. Solche unkontrollierten Handlungen sahen ihm gar nicht ähnlich. Er war der Ruhepol der Abteilung. Besonnenes, analytisches Vorgehen unter Druck, so hatte er Karriere gemacht. Die entsetzten, teils verlegenen Blicke einiger jüngerer Kollegen machten ihm deutlich, wie sehr er nicht mehr er selbst war. Die Älteren blickten ähnlich grimmig und frustriert wie er, wussten, was in ihm vorging. Es half nichts, jemand hatte die Information an die Presse verkauft. Jemand aus dem inneren Kreis, doch das war nun nicht mehr von Belang. Es gab Wichtigeres.

»Wenn ihr dachtet, dass wir bisher unter Druck von oben gestanden haben, dann freut euch: Dem war nicht so.« Seine Worte wurden bedrohlicher, als er weitersprach. »Der Bürgermeister hängt uns jetzt auch im Nacken. Das letzte Opfer, das nun nackt die Titelseiten aller Zeitungen ziert, war die Ehefrau seines Chefbankers. Die beste Freundin seiner Frau.«

Er atmete volltönig ein.

»Sollte das die Presse erfahren, werden Köpfe rollen, darauf könnt ihr euch verlassen!« Stephen beugte sich über den Tisch, fischte ein Dokument aus den Unterlagen und legte es obenauf: »Ach ja, keine freien Tage mehr, kein Urlaub, bis der Killer gefasst ist. Anweisung von ganz oben, bedankt euch dort.«

Die fassungslosen Gesichter der Anwesenden sprachen Bände, die Einstimmung hatte gesessen. Stephen war zufrieden. Nun konnte das Meeting beginnen.

22:35 Uhr. Julia zog die schwere Bürotür hinter sich zu. Dem Quietschen folgte ein dumpfer Knall, als sie ins Schloss fiel. Zeitgleich flackerten die Neonröhren des Ganges auf. Die Lichter gingen bei Bewegung an, schalteten sich wieder ab, sobald man den nächsten Bewegungsmelder aktivierte. Sie schnürte den Mantel enger, machte sich auf den Weg durch das leere Museum. Der Steinboden des langen Korridors warf ihre Schritte in die Tiefen der Archive im Kellergewölbe, diese antworteten verzögert. Sie war die Letzte, doch das störte sie nicht. Die Arbeit war ihr Leben. Ihre Berufung, das Einzige, was sie im Gleichgewicht hielt. Beinahe so, wie ihre Mutter es ihr immer wieder eingeprügelt hatte: ora et labora. Nur den ersten Teil hatte sie nie richtig verinnerlichen können.

Das Zwielicht hinter ihr gebar Chimären, die sie verfolgten, zu greifen suchten. Trugbilder, die sich im Lichtkegel der Lampen auflösten. Julia sah nichts Bedrohliches in ihnen, im Gegenteil, sie waren so wie sie, Schattengeschöpfe, die abseits der Menschen und ihrer Welt existierten. Und das war auch gut so, denn das Einzige, was man wirklich fürchten musste, war der Mensch, die Lektion hatte Julia schon in frühester Kindheit gelernt.

Die Notbeleuchtung wies ihr den Weg, begleitet nur vom gelegentlichen Surren der Überwachungskameras, die sie beobachteten. Sie winkte im Vorbeigehen. Ja, dies war der sicherste Ort überhaupt.

Der Raum der Sicherheitszentrale strahlte wie ein Leuchtturm im dunklen Eingangsbereich des Museums. Jetzt, da niemand außer der Nachtschicht da war, standen die Türen weit offen. Flackernde Überwachungsmonitore bedeckten eine ganze Wand. Oliver, ein Mann mit silbergrauem Bürstenhaarschnitt, saß konzentriert davor, überwachte mit Argusaugen die verschiedenen Abteilungen, suchte nach Unregelmäßigkeiten und verdächtigen Aktivitäten, auch wenn es schon seit Jahren keine mehr gegeben hatte. Für einen Mann Ende fünfzig war er außergewöhnlich fit, seine Haltung wirkte militärisch. Vier weitere Uniformierte, ein bunter Haufen im Alter zwischen dreißig und sechzig, saßen am Tisch in der Mitte des Raumes, warfen mit ausladenden Gesten und Gelächter Karten auf einen Stapel in der Mitte.

»Scheiß Rauchmelder. Verdammtes Rauchverbot. Ich könnte töten für ’ne Kippe«, knurrte John Lewis, ein dürrer Mann mit schütterem Haupthaar, dessen gelbliche Lederhaut seinen Zigarettenkonsum widerspiegelte. Er stopfte sich eine Handvoll Nikotinkaugummis zwischen die bräunlichen Zahnreihen. Sein Gegenüber, Mike, ein muskulöser Hüne, biss kopfschüttelnd von seinem Sandwich ab, nahm einen Schluck Wasser und spülte ihn grinsend hinunter: »Alter, du solltest dir was Ordentliches zwischen die Kiemen schieben, die Mumien in der Ägyptologie-Abteilung sehen ja bald frischer aus als du.«

Die Männer lachten, allen voran John selbst, bis er sich hustend an den noch harten Kaugummis verschluckte.

»Pass bloß auf, Grünschnabel, so gut wie ich durch das Nikotin konserviert bin, überlebe ich euch Gesundheitsfanatiker allemal«, krächzte er zurück.

»Gesundheitsfanatiker, aye?«

Grölendes Gelächter machte sich breit.

Nur einer hielt sich abseits, stand stumm mit dem Rücken am Türrahmen gelehnt. Freddie drehte sich kurz zu den fünf Männern im Raum um. Der untersetzte Körper bewegte sich dabei nicht, nur der Blick, der abschätzig über das Grüppchen schweifte, sich dann wieder dem Museumsfoyer zuwendete. Er war nicht wirklich Teil der Gang, wollte es auch gar nicht sein.

Er wartete auf sie.

Schnelle Schritte hallten von den Wänden. Julia sprang bereits die Treppen des Eingangsbereiches hinunter, direkt auf den großen Steinbogen des Haupttores zu, winkte nur kurz in Richtung Sicherheitsteam.

»Gute Nacht, Jungs.«

»Nacht, Miss Martyn«, schallte es zurück.

Einzig Freddie blieb stumm, die hängenden Wangen leuchteten fiebrig, blähten sich von Worten, die sich herauskämpfen wollten. Als sie vorbeieilte, versagte seine Stimme, lediglich die fleischige Unterlippe zitterte nervös. Julia lächelte in seine Richtung, als sie die Haupttür zu Füßen der Treppe erreichte, und deutete an, dass sie hinauswollte. Er nickte hektisch und deaktivierte den Alarm. Mit Mühe zwang er die Mundwinkel nach oben, winkte noch. Doch sie war schon draußen und sah seinen enttäuschten Blick nicht, als sie in die Nacht hinauseilte.

Die bodentiefen Fenster der Hochparterre-Wohnung des viktorianischen Reihenhauses in der Warwick Street strahlten einsam im Dunkeln. Stephen lehnte am Rahmen der Terrassentür, in der Hand eine heiße Tasse Tee. Die Bodenheizung arbeitete auf Hochtouren, doch die hohen Wohnzimmerdecken schluckten jegliche Wärme. Gedankenverloren blickte er auf den nächtlichen Park, der sich an seinen Patio-Garten anschloss. Gepflegter Rasen, alter Baumbestand, mit etwas Fantasie konnte man sich einreden, nicht in einer Millionenmetropole zu leben. Es erinnerte an zu Hause. Störend drängte sich ein toter Frauenkörper in seine Gedanken. Er nahm einen Schluck, kehrte in den Raum zurück. Cooper hatte Erwartungen geweckt, den Fokus auf ihn und sein Team gelenkt. Dank ihm saßen ihnen jetzt die Medien und die Öffentlichkeit im Nacken und würden jede Aktion mit der Lupe verfolgen. Sie würden die Gejagten sein, bis der Killer gefasst war. Und wenn etwas schiefging, würde er sie, ohne mit der Wimper zu zucken, der Presse zum Fraß vorwerfen. Ächzend sackte er auf die Couch. Die Befragung möglicher Zeugen dauerte noch an. Er konnte nichts tun. Wie in den letzten Wochen auch, wollte sich das süße Gefühl der Schwere, das den Schlaf ankündigte, nicht einstellen, egal was er tat. Das MacBook auf dem Tisch zwitscherte. Stephens Puls beschleunigte sich. Neue Spuren. Hobbs machte oft Nachtschichten, so wie er. In der Mailbox blinkte eine neue Mail.

Mein lieber Junge, ich hoffe, du schläfst schon, und ich störe dich nicht. Bitte mach dir jetzt keine Sorgen. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass Vater gestürzt ist und sich den Knöchel gebrochen hat. Alles ist gut, wir sind eben aus dem Krankenhaus zurück. Er ist im Wald spazieren gegangen, wie so oft in letzter Zeit, und hat vergessen, dass er kein Jungspund mehr ist. Du kennst ihn ja. Er lässt sich nichts sagen, so wie du auch. Wir haben dich heute in den Nachrichten gesehen und machen uns Sorgen. Bitte pass auf dich auf! Wir würden uns sehr freuen, wenn du Zeit fändest, uns in den nächsten Wochen zu besuchen. Wir lieben dich, Mom

Kummer strömte aus den unscheinbaren Zeilen, verstärkte den Druck auf seiner Brust. Er kannte seine Mutter. Spazieren gegangen? Vater war wieder aus dem Haus entwischt. Herumgeirrt. Ein Knöchelbruch war keine Lappalie. Sie fühlte sich hilflos, so wie er. Duldsam, wie sie war, würde sie es nie in Worte fassen, sich nie beschweren. Stephens Hand ging zum Telefon, er drückte die Kurzwahl.

»Hallo, Mom!«

Big Ben. Der Klang der Glocken schwebte gedämpft über die Themse-Oberfläche. Julia zählte elf Schläge, als sie die Brücke erreichte. Die City vibrierte vor Leben, nachts mehr noch als tagsüber. Wortfetzen in den verschiedensten Sprachen flimmerten durch die Luft. Touristen und Einheimische. Herausgeputzt und für die Jahreszeit viel zu leicht bekleidet, begierig darauf, sich ins Londoner Nachtleben zu stürzen, fluteten sie an ihr vorbei. Manche nur gut gelaunt, andere schon mehr als angeheitert.

Gezielt ignorierte Julia den Strom der Feierwütigen, hastete über die Brücke und hielt sich nah am Geländer, um Zusammenstöße zu vermeiden. Solche Begegnungen machten sie nervös, auch wenn die meisten Menschen ihr keine Beachtung schenkten. Ungeachtet dessen vermied sie Augenkontakt, um nicht angesprochen zu werden, richtete stattdessen den Blick auf den Fluss und die Reflexionen der Lichter, die über die dunkle Oberfläche tanzten. Das half. In ihrem Kopf verebbte der Lärm der Straße, sie blendete alles aus, bis sie nur noch das rhythmische Rauschen der Wellen hörte. Ihre Züge wurden weich, ein Lächeln entspannte ihr Gesicht. Sie verschwand in der Dunkelheit der mittelalterlichen Seitenstraße.

Die schwere Eingangstür ihrer Wohnung öffnete sich lautlos, nachdem sie sich mit Pin und Fingerabdruck Zutritt verschafft hatte. Der großflächige Wohnraum vor ihr lag im Halbdunkel, und dabei beließ sie es auch. Licht hätte nur in ihren Augen geschmerzt. Die Außenwand im siebten Stock war gläsern, gab einen Ausblick auf den Fluss und die Lichter der Stadt. Julia steuerte um die vollen Umzugskisten herum, die im Raum verteilt standen und sich gegen die nächtliche Skyline als dunkle Schatten abhoben.

Bleierne Schwere durchzog ihre Glieder. Vorsichtig streckte sie die Schulterblätter, der Dehnung folgte ein schmerzhafter Krampf. Ihre Tasche glitt zu Boden, ihr Mantel folgte zwei Meter weiter. Seufzend schleppte sie sich zur Wand mit dem modernen Kamin, drückte den Rücken fest an die polierte Betonstruktur, schloss die Augen und flüsterte: Die Wirbelsäule strebt zum Himmel, der Brustkorb öffnet sich, die Schultern entspannen, spüre deinen Atem …

Ganz langsam glitt sie nach unten in den Schneidersitz. Ein kleiner Schatten löste sich von der Couch, schlich zu ihr, sprang in ihren Schoß und fing zu schnurren an, ein zweiter gesellte sich dazu. Sanft glitten Julias Finger über seidiges, warmes Fell. Wohlgefühl machte sich in ihr breit.

3

Lachend und lärmend drängen sich Menschenmassen durch die Gassen des Szeneviertels. Polizeisirenen heulen in der Ferne, mischen sich unter die schnellen Beats aus den Eingangsbereichen der Clubs. Die Melodie der nächtlichen City. Bis zum Morgengrauen wird sie nicht verebben.

Nächte wie diese sind unberechenbar. Sie machen leichtsinnig, verleiten Menschen dazu, gefährliche Dinge zu tun. Schwitzend, stöhnend gieren sie nach der Befriedigung ihrer Gelüste oder suchen nach Wegen, ihr erbärmliches Leben zu vergessen. Ich kann in ihren Augen erkennen, zu welcher Gattung sie gehören. Ob ich will oder nicht, sie sprechen zu mir, verlangen, dass ich sie erhöre.

Sie gehört zur ersten Gattung. Noch. Mit den Jahren wechseln Kreaturen wie sie in die letztere. Ihre überteuerte Aufmachung ist alles andere als vorteilhaft, doch sie ist überzeugt, die Schönste von allen zu sein. Sie hängt an meinem Arm wie eine Klette, trägt Schuhe, die nicht zum Laufen gemacht wurden. Ihre Beine, dürre Zweige, ragen wie Fremdkörper aus der fetten Pelzwolke, die ihren Oberkörper umhüllt. Darauf sitzt der kindliche Kopf, überschminkt, gebotoxt, die tausend Pfund teure Frisur erinnert an die Wellen der Siebziger.

Sie nennt mich ihren Lebensretter. Haucht mir ins Ohr, ich hätte sie vor einer öden Nacht gerettet. Ihrem Tonfall nach ist so etwas schlimmer als der Tod. Frauen wie sie gieren nach Drama, brauchen das Gefühl, dass die Welt sich einzig um sie dreht. Nichts anderes sind sie bereit zu akzeptieren.

Noch während wir das Haus betreten, gleitet sie aus der neonfarbenen Nerzjacke, drückt den Körper lasziv an die Wand des unmöblierten Eingangsbereiches. Der Designerfetzen, der dabei zum Vorschein kommt, ist mehr Negligé als Kleid. Den Kopf gesenkt, blickt sie verführerisch zu mir auf.

Vorhersehbar. Die Vorstellung kenne ich schon. Gleich wird sie mir die teuren Brüste entgegenstrecken, die aufgepumpten Lippen werden sich öffnen, mir wortlos nie da gewesene Lust versprechen.

»Ich habe heute Abend nur auf dich gewartet.«

Geflüsterte Lügen zwischen künstlichen Seufzern. Auch das kenne ich schon. Als ob ich nicht wüsste, wer du bist. Jeder kennt dich, Mädchen, du füllst die Klatschspalten aller Zeitungen. Als wählerisch bist du nicht verschrien.

»Einen echten Kerl, der ein besonderes Mädchen wie mich zu würdigen weiß.«

Sie spricht betont langsam. Ihre Kleinmädchenstimme schmerzt in meinen Ohren, unnatürlich hoch trieft sie vor gespielter Unschuld und Zweideutigkeit. Ich habe nie verstanden, was andere Männer daran finden. Es gibt nichts Armseligeres als erwachsene Frauen, die auf kindlich machen, einfältig kichern, die Stimme verstellen. Wenn überhaupt, könnte so etwas nur einen Pädophilen aufgeilen.

Sie hat es eilig, ergreift die Initiative. Ihre Finger kriechen unter mein Hemd, gleiten über meine Brust tiefer zu meinem Schritt, während sie mir tief in die Augen sieht. Die Lippen einladend geöffnet, lässt sie mich wissen, dass sie eine geübte Schwanzlutscherin ist. Ich ergreife ihre Handgelenke, drücke sie über ihren Kopf an die Wand. Sie soll nicht merken, dass sie mich nicht erregt. Noch nicht. Bald wird sie mit ihrer echten Stimme zu mir sprechen.

Betteln. Schreien. Flehen.

Auch das kenne ich schon.

4

Innere Reflexion. Stille. Stephen kämpfte gegen das Verlangen zu atmen, gegen die Stimme im Kopf, die ihm einredete, dass er es nicht schaffen würde. Der Urinstinkt siegte letztendlich, und er stieß sich von den blauen Porzellanfliesen des Poolbodens nach oben. Prustend durchbrach er die Oberfläche, atmete tief ein. Einige wenige Kraulbewegungen, und er saß am Beckenrand. Um körperlich zu ermüden, war er etliche Bahnen mit Tempo geschwommen. Es sollte ihn von seinen Sorgen ablenken. Aber er schaffte es trotzdem nicht, gedanklich abzutauchen und zur Ruhe zu kommen, so wie früher, als er minutenlang in stiller Meditation am Beckenboden saß. Kein Wunder. Freediving setzt körperliche und mentale Entspannung voraus. Wieso nur hatte er geglaubt, er würde diese in seinem abgewrackten Zustand mit nur einem Tauchgang erreichen?

Müde lehnte er den trainierten Oberkörper zurück. Er stützte sich auf und genoss den Ausblick auf das türkisblaue Wasser, das wie ein flüssiger Edelstein im Dunkel des leeren Penthouse-Schwimmbads leuchtete und sich durch die Glaskuppel gegen die Skyline der City abhob. Das Sportstudio mit eigenem Wellnessbereich und olympischen Pool hatte rund um die Uhr geöffnet. Trotzdem machten nur wenige von dem Angebot Gebrauch, pumpten mitten in der Nacht zwar ihre Muskeln, doch niemand außer ihm nutzte das Schwimmbad. Ein Hauch von Ruhe erfasste ihn, strich wie eine sanfte Brise durch seinen ermatteten Geist. Wenigstens etwas. Vielleicht schaffte er es sogar, einige Augenblicke zu schlafen, bevor der neue Tag anbrach.

Verirrte Sonnenstrahlen brachen durch die Fensterfront, streichelten Julias schlafendes Gesicht. Zusammengekauert auf dem Sofa, trug sie noch die Kleidung vom Vortag. Ihr träumender Körper zuckte.

Das kleine Mädchen war nicht älter als sieben. Verzweifelt bemühte sie sich, hoch an die Meeresoberfläche zu gelangen, ruderte mit schlaksigen Armen wild um sich, schwamm um ihr Leben. Weit über ihr brach sich das Sonnenlicht im Wasser in ein Kaleidoskop an Farben, in der Mitte tanzte der Schatten eines Bootes. Zum Greifen nah. Mit letzter Kraft griff sie nach oben, doch der Wasserstrudel zog ihren kleinen Körper wieder nach unten. Hör auf, kämpfen bringt nichts, flüsterte das Wasser, umfing sie sanft, hielt sie kraftvoll. Ihr Körper entspannte sich. Das Blau des Meeres wurde dunkler, je tiefer sie sank. Aufsteigende Luftbläschen glitzerten wie Millionen von silbernen Sternen am Nachthimmel.

Ihre Zahl wurde immer weniger.

Stille. Ihr Blick war immer noch zur Wasseroberfläche gerichtet, doch die Angst war weg, löste sich immer mehr auf, je weiter sie hinuntersank. Ein seltsamer Frieden herrschte in der Tiefe, erfüllte ihr Herz, wärmte ihre Seele. Das Wasser hielt sie schützend, murmelte: Du bist sicher hier. Ein Gefühl, das sie bis dahin nicht gekannt hatte, überkam sie. Samtige Geborgenheit hielt sie umfangen, wiegte sie schützend in ihren Wellen, so wie eine Mutter ihr Kind in den Armen hält, um es zu trösten. Ihr Geist schwand, bis …

Eine Hand fuhr brutal durch die Dunkelheit, griff in die Tiefe, packte zu und zerrte sie unbarmherzig nach oben zur Oberfläche. Weit weg, kaum hörbar vernahm sie, wie eine Stimme schrie: »Julia, mein Gott, Jules!«

Ein stummer Schrei riss Julias Oberkörper von der Couch hoch. Die Augen weit aufgerissen, ertrinkend, schnappte sie nach Luft. Besorgt sprang ihr Kater auf die Lehne, maunzte ängstlich, ein weiteres Fellbündel folgte ihm. Bernsteinfarbene und grüne Augenpaare blickten beunruhigt in ihr Innerstes. Julias Herz raste, bis zum Hals spürte sie ihr Blut pochen. Es rauschte schmerzhaft in ihren Ohren, ihrem Kopf, so wie immer, wenn sie aus diesem Albtraum aufschrak.

Das Schlimmste war das Erwachen mit dem Auftauchen aus dem Wasser und die schmerzliche Leere, die der Traum hinterließ. Ganz so, als hätte sie etwas Lebenswichtiges in der Tiefe gelassen. Jedes Mal streifte sie ein Hauch davon, und je mehr sie diese Empfindung zu fassen suchte, desto schneller verblasste sie nach dem Wachwerden. Sie sehnte sich nach dem Gefühl der Geborgenheit und verzweifelte jedes Mal daran. Tränen rannen ihr über die Wangen. Schluchzend strich sie dem Kater durch den grauen Pelz und versuchte mehr sich als ihn zu beruhigen.

»Keine Sorge, Jinx. Es war nur ein Traum, nur ein blöder Albtraum.«

Als würde er verstehen, drückte er das Köpfchen an ihre Brust, strich schnurrend ihren Hals entlang. Gem legte sich flach auf das Couchkissen, sah Julia nur voller Mitgefühl an, hielt aber verängstigt Abstand zu ihr. Das war auch besser so, das zierliche dreibeinige Geschöpf nahm alle ihre Emotionen ungefiltert auf.

Julias Herzschlag beruhigte sich langsam. Da war er also wieder. Der Albtraum, der sie seit Jahren heimsuchte, immer dann, wenn etwas in der Luft lag. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Sie atmete durch, sah blinzelnd zum Fenster.

Es war schon hell.

Verdammt!

Es war schon hell!

Verschlafen, sie hatte tatsächlich verschlafen. Julia sprang wie von der Tarantel gestochen vom Sofa.

Wind riss an ihr, schubste sie, zerzauste ihr Haar, hüllte sie in Wolken aus Nieselregen. Ihren verbogenen Regenschirm in der Hand, rannte Julia über die Brücke. In geduckter Haltung hastete sie in den Coffeeshop, direkt bis zum Schalter. Ihre Freude darüber zerschlug sich jäh. Genau das hatte ihr heute noch gefehlt, Luke, der entspannteste Barista der Welt, hatte Schicht. Wenigstens musste sie nicht Schlange stehen. Julia holte ihre mitgebrachten Isolierbecher zum Auffüllen aus der Tasche und reichte sie ihm. Er nickte ihr gutmütig zu und hob fragend die Augenbrauen.

»Wie immer?«

»Wie immer.«

Sie suchte in ihrem Geldbeutel, zählte das Kleingeld ab und legte es passend mit Trinkgeld auf die Theke. Das würde ihr wertvolle Zeit erkaufen. Aschbraune Strähnen regennassen Haares sprangen aus ihrem Pferdeschwanz, der Pony war zerzaust, das Gesicht fahl. Sie atmete tief durch. Eine Minute mehr oder weniger, jetzt konnte sie sowieso nichts mehr ändern. Die Zubereitung des Kaffees dauerte, doch sie vermied es tunlichst, Luke durch eindringliche Blicke zu nerven. Erfahrungsgemäß würde er sonst noch langsamer werden. Stattdessen schweifte ihr Blick durch den Raum.

Die Klientel war nicht die übliche, die sie sonst früh am Morgen antraf. Hektische Menschen in Anzügen holten sich Muntermacher auf dem Weg zur Arbeit, an den Tischen saßen sorglose Touristen. Sie schmökerten in Stadtplänen und stärkten sich für einen anstrengenden Tag.

Ihr Blick blieb an einer jungen Blonden hängen. Irgendwie passte sie nicht in den Laden, insbesondere nicht um diese Uhrzeit. Zu jung, zu sportlich, zu gesund. Rosige Wangen, vor allem aber zu wach und zu gut gelaunt. Australierin, vielleicht auch Südafrikanerin. Das Mädchen alberte herum, feixte, griff den Arm ihres Begleiters. Sie saßen in einer Nische. Julia konnte den Mann nicht sehen, doch das tiefe Timbre seines Lachens ließ sie für eine Sekunde aufhorchen, bevor Lukes sonore Stimme sie aus ihren Gedanken riss.

»Zwei Bio-Soja-Cappuccino mit dreifach Espressoschuss und ein veganer Bio-Möhrenkuchen. Sonst noch was?«

»Nein. Nein, danke. Das ist alles.«

Sie ergriff ihre Papiertüte und eilte hinaus.

5

Triste Wolken blähten sich über dem Morgenhimmel. Einer Schildkröte gleich zog er den Hals so weit wie möglich in den Rippenkragen seiner dunklen Uniformjacke, bis er den Wind nicht mehr spürte. Die Schicht war lang gewesen, und trotz der lähmenden Mattheit entschied er sich für ein Frühstück vor dem Heimweg. Etwas Herzhaftes, dazu ein Tee, sonst würde er nicht einschlafen können. Die Hände in den Hosentaschen schlurfte er Richtung Soho. Unabhängig von Jahres-, Tages- oder Nachtzeit tummelten sich dort Touristen wie Einheimische, und einige Lokale hatten ihre Öffnungszeiten der Klientel angepasst.

Das Fast-Food-Restaurant im Stil einer italienischen Taverne leuchtete heimelig. Ein Schwall des wohligen Duftes von frisch gebrühtem Kaffee und gebackenen Brötchen schwappte nach draußen, umhüllte ihn, als er die Tür zum Restaurant öffnete. Drinnen war es warm. Er nahm am Fenster Platz und zog die Jacke aus. Die Kellnerin begann gerade ihre Schicht, freundlich, aber mit schlaftrunkenen Augen kam sie an seinen Tisch.

»Guten Morgen! Was darf ich Ihnen bringen?«

Die Menükarte in den Händen überflog er die Speisenfolge. Am liebsten hätte er ein blutiges Steak geordert, aber das gab es erst ab Mittag: »Rührei, mit Speck. Viel Speck! Kaffee, Toast. Das wär’s fürs Erste.«

»Kommt sofort.«

Sie lächelte fade, automatisch, verschwand dann Richtung Küche. Sein Blick folgte ihr. Das Make-up konnte ihre Falten nicht verbergen. Sie war schlank und sah abgearbeitet aus. Ihr Alter schätzte er auf Mitte vierzig. Kein angenehmes Leben, wenn man in dem Alter noch kellnern musste. Doch selbst sie hatte ihn angesehen wie die meisten Frauen. So, als würden sie durch ihn hindurchsehen, als würden sie ihn als Person, als Mann, gar nicht wahrnehmen. Dabei konnte eine in ihrem Alter noch froh sein, überhaupt einen wie ihn abzukriegen. Ihr Desinteresse versetzte ihm einen Stich, auch wenn er sie nicht attraktiv fand. Er selbst war nicht hässlich. Wenn überhaupt, nur durchschnittlich.

Kein Interesse. Trotz der Uniform. Eigentlich hatte er sich mehr davon erhofft. Hieß es nicht, alle Frauen standen auf Kerle in Uniform? Aus diesem Grund hatte er den Job angenommen, und deshalb zog er sich nicht um, wenn er nach Hause ging. Etwas mehr Respekt, einen anerkennenden Blick, vielleicht sogar einen kleinen Flirt hätte er schon erwartet. Noch während er darüber grübelte, brachte sie sein Frühstück an den Tisch.

»Guten Appetit.«

»Danke.«

Ranzig glänzend hingen glasig dicke Speckschwarten in der Eiermasse. Gierig spießte er mit der Gabel eine auf, stopfte sie sich in den Mund.

Mühevoll drängte sich Julia durch die Menschenmengen in der U-Bahn-Station, hastete die Treppe hoch und kämpfte gegen aufsteigende Übelkeit. Gedränge, Lärm, ungewollte Nähe. So kurz vor den Geschäftszeiten war der morgendliche Berufsverkehr unerträglich. Angriffslust lag wie Giftgas in der Luft. Der verzweifelte Versuch, sich ohne Körperkontakt durchzumogeln, scheiterte kläglich. Ihr Körper glühte vor Unbehagen, der Stresspegel war am Anschlag. Das war exakt der Grund, warum sie sonst so früh zur Arbeit kam – das unbeschwerte Ankommen ohne solche Begegnungen.

Auf der Straße angelangt, wich Julia in letzter Sekunde einem vorbeistürmenden Geschäftsmann aus und schlängelte sich seitlich zwischen den nachfolgenden Personen durch. Schützend hielt sie ihre Papiertüte mit Café und Snack vor der Brust und bahnte sich das letzte Stück ihres Weges zum Museum. Das Ziel war fast erreicht. Weithin sichtbar thronten römische Säulen majestätisch zu beiden Seiten des Haupteingangs. Der zarte Schweißfilm auf ihrer Haut reagierte mit der kalten Außentemperatur. Sie fröstelte, als sie den Hals streckte, um zu sehen, wie sie am schnellsten zur Museumstreppe kommen konnte. Rechts stand Jacks antiquierter Zeitungsstand. Die Menschentraube davor wirkte statischer, leichter zu durchqueren. Sie hastete am Stand vorbei.

Bis zum Museumseingang waren es nur noch wenige menschenleere Stufen. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich abrupt um und lief zurück zum Zeitungsstand.

»Entschuldigen Sie bitte!« Sie drückte sich durch nörgelnde Geschäftsleute zum Verkaufsbereich. »Tut mir wirklich entsetzlich leid.«

Diese höchste Form der Unhöflichkeit war sonst nicht ihre Art, aber jetzt musste es sein.

Jacks Auslage war wie immer werbewirksam dekoriert. Die Zeitungen mit den reißerischsten Schlagzeilen und größten Fotos plakatierten großflächig alle Oberflächen. Ähnlich wie bei einem Unfall konnte man nicht wegsehen, auch wenn man wollte. Heute präsentierten sämtliche Medien nur einen einzigen Aufmacher, den »Themse-Vampir«. Bilder der bisherigen Opfer zierten Cover und ganze Doppelseiten. Grelle Schlagzeilen wetteiferten mit geschmacklosen Details, überschlugen sich mit wilden Spekulationen.

Julia stellte ihren Proviant auf der Theke ab und griff sich Exemplare aller auf der Verkaufstheke liegenden Tageszeitungen. Dann schob sie Jack einen Schein zu und presste mit der einen Hand den Stapel an die Brust, mit der anderen nahm sie ihren Kaffee und den Kuchen. Grinsend setzte er zu einem seiner üblichen Sprüche an, doch sie war schon verschwunden, jagte bereits die Stufen zum Museumseingang hoch. Beide Hände voll, den Kopf gesenkt, stürmte Julia durch den Eingang, hoffte, so unbemerkt wie möglich in ihrem Büro verschwinden zu können. Eine jugendliche Stimme vereitelte ihr Vorhaben.

»Miss Martyn! Bitte warten Sie!«

Mike vom Sicherheitsteam. Sie stoppte schuldbewusst, drehte sich um. Er nahm die paar Meter, die sie trennten, mit einem kurzen Sprint. Erleichterung darüber, sie noch erreicht zu haben, blitzte in seinem offenen Lächeln.

»Morgen, Mike.«

»Guten Morgen, Miss Martyn. Entschuldigen Sie den Überfall, aber Direktor Cramer möchte Sie umgehend sprechen. Er sagte, es sei sehr dringend.«

Das erste Mal in fünf Jahren kam sie etwas später zur Arbeit, und ausgerechnet heute wurde sie zum Rapport gerufen. Mike blickte sie erwartungsvoll an, wartete auf Antwort. Julia mochte ihn. Er strahlte eine angenehme Stärke aus, nahm seine Arbeit ernst und machte sie gern, so wie sie selbst. Trotz seiner athletischen Figur und seiner Jugend war er einer der verantwortungsbewusstesten und bodenständigsten Jungs der Museums-Security.

»Danke, ich werde mich gleich bei ihm melden.«

Mike nickte zufrieden und ging zurück zur Eingangskontrolle. Julia blickte ihm nachdenklich nach, während der Satz noch in ihrem Kopf nachhallte. … umgehend, sehr dringend … Keine weiteren Erläuterungen. Sehr geheimnisvoll, nicht besonders vertrauenserweckend und so gar nicht Cramers Art. So wie der Tag begonnen hatte, verhieß er nichts Gutes. Sie würde sich bei Direktor Cramer melden, sobald sie in ihrem Büro gewesen war.