20,99 €
Ein Dorf in der französischen Schweiz der frühen sechziger Jahre. In den Felsen und am Teich im Wald spielen Jungs Abenteuer- und Soldatenspiele. Die Kriegserzählungen ihrer Väter und Grossväter beflügeln ihre Phantasie und erfüllen die erinnerungsschweren Orte mit Faszination und Schauer. Ihre Entdeckerlust führt sie auch zu den geheimnisvollen »Tschinggen«, den italienischen Saisonarbeitern in der Barackensiedlung unweit des Dorfes, über die in der Molkerei Schauergeschichten erzählt werden. Doch fast ebenso suspekt ist der Dorfgemeinschaft die junge Myriam, deren Mutter sich in der Stadt prostituiert. Das Waisenhaus platziert das zwölfjährige Mädchen bei den meistbietenden Bauern, wo es schamlos ausgenutzt und sexuell belästigt wird. Als ein mysteriöser Mord das Dorf erschüttert, geraten auch die Jugendlichen in den Sog von Fremdenhass und moralischem Dünkel, dem die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit zum Opfer zu fallen droht. Der Roman verführt in eine poetische Welt voller Spannung und kindlicher Phantasie, er erzählt von der Adoleszenz in einer von Ausgrenzung und Angst geprägten Dorfgemeinschaft und entwirft ein authentisches Bild der ländlichen Schweiz in der Nachkriegszeit. Für seinen Roman wurde Jean-François Haas 2013 mit dem Prix Lettres frontière ausgezeichnet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 482
Veröffentlichungsjahr: 2015
Der Autor
Jean-François Haas, geboren 1952, lebt im Kanton Freiburg und arbeitete als Lehrer. 2007 wandte er sich dem Schreiben zu. Sein erster Roman, Dans la gueule de la baleine guerre, wurde mit dem Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt der Autor den Kulturpreis des Staates Freiburg. Dunkler Weg zum Teich ist sein erster Roman in deutscher Übersetzung.
Die Übersetzerin
Hilde Fieguth, geboren 1944 in Schwabach (Mittelfranken), lebt seit 1983 in Freiburg i.Ü. Langjährige Beschäftigung mit meist literaturbezogener Malerei, daneben 1991–1998 Leitung einer Kunstgalerie. Seit 2000 freie Literaturübersetzerin; sie übertrug vor allem Werke von S. Corinna Bille und, zusammen mit Rolf Fieguth, von Maurice Chappaz ins Deutsche.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und dem Amt für Kultur des Kantons Freiburg für die Unterstützung.
Titel der französischen Originalausgabe:
Le chemin sauvage
Copyright © 2012 by Editions du Seuil
E-Book-Ausgabe 2015
Copyright © der deutschen Übersetzung
2015 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Neeser & Müller, Basel
Coverfoto: studio mm, Paris
www.lenos.ch
ISBN 978 3 85787 936 4
Für Dominique,
Christine, Jean-Baptiste und Mathieu
Für Patrick Cardinaux
Für Christiane und Yves Breton
Ai fratelli Germano, Italo e Paolo Secchini
A Carmela e Vincenzo Paolillo
– I loro nomi ne rievocano
tanti altri …
»Entrai per lo cammino alto e silvestro.«
Dante. Inferno, II
»In diesem Land kennt man den Krieg nicht. […] Ich dachte: ein friedliches, sauberes Land, mitfühlende Menschen, hochherzig, stets bereit, den anderen zu helfen.«
Yvette Z’Graggen. Matthias Berg.
Aus dem Französischen von Markus Hediger
»Der Schrei eines Hasen und aus und vorbei
Das ist kein Hase, da schlachten sie im Wald ein Kind.
Und das Herz geöffnet von dem Schrei
Krampft sich vor Mitleid zusammen.«
Gennadij Gor. Blockade.
Aus dem Russischen von Peter Urban
»Einmal habe ich ganz aus der Nähe einen dieser dicken Maikäfer betrachtet, die das Menschengeschlecht so unerbittlich zum Tod verurteilt. Ich habe ihn sogar in die Hand genommen. Seine gezähnten Beine kratzten mir die Haut, als er zappelnd zu fliehen versuchte. Ich gab ihm die Freiheit und schaute zu, wie er schwerfällig davonflog. Jetzt, da ich seine Bekanntschaft gemacht hatte, fürchtete ich, seine Jäger würden ihn erwischen, er würde umkommen unter schrecklichen Qualen, mit Benzin übergossen und lebendigen Leibes gebraten, zusammen mit seinen unglücklichen Artgenossen.
Es ist schrecklich, als Maikäfer auf einer von Menschen bewohnten Erde geboren zu werden.«
Alice Rivaz. L’Alphabet du matin
»[…] das schwarze Wasser des Schweigens schliesst sich, wird glatt, das Zittern lässt nach, und wir beginnen wieder, in unserem Traum zu leben, an der furchtbaren Schwelle zum Wachsein.«
Héctor Bianciotti. La busca del jardín
Mein Urgrossvater, an jenem 1. Februar 1871 ein blutjunger Schweizer Soldat, eingesetzt bei Les Verrières an der Grenze zu Frankreich, hatte einen sterbenden jungen französischen Soldaten in die Arme genommen (»man kann ihn ja nicht im Schnee krepieren lassen wie ein Tier«), einen von den 87847 gewissenhaft gezählten Männern, die seit fünf Uhr morgens ihre Waffen, Trommeln, roten Käppis in verschlammten Löchern und Schneewehen am Wegrand niederlegten, zu Füssen von warm angezogenen, gutgenährten Kriegern, die vom Schrecken des Krieges nicht berührt waren, und das sollte nun drei Tage lang so weitergehen für diese Soldaten in Lumpen, eine schlafwandelnde Truppe, sprachlos, benommen, ausgehungert, frierend, erstarrt, hier und da von krapproten Flecken gezeichnet in der fahlen Kälte, eine Truppe, die einmal die Ostarmee gewesen war, hastig zusammengestellt während der völligen Auflösung, um noch einmal zu kämpfen, und die jetzt zerrann in einem langen chaotischen Strom, durcheinandergewürfelt, mutlos, verzweifelt (und manche liessen sich sogar – ich meine sie in mir zu spüren – in den Schnee fallen, um zu sterben), nachdem sie auf Befehl von General Bourbaki vergeblich in einem vollkommen zerrütteten, zerstörten, besiegten Land gekämpft hatten, erfolgreich zwar durch den Sieg bei Villersexel, aber wozu?, einen Sieg für einen einzigen Tag (wie die Remission in einem Körper, in dem der Tod überall voranschreitet), ehe sie geschlagen wurden und schliesslich bei der jungen Schweizerischen Eidgenossenschaft um Asyl bitten mussten, woraufhin diese, indem sie ihre Spitäler, Kirchen und Scheunen für die im Schnee zerfallende, zersprengte, gescheiterte Armee öffnete, ihr Bild von einer humanitären Insel im Herzen Europas feierlich erschuf. Und wenn wir uns im Familienkreis an diese Geschichte erinnerten, sagte meine Mutter zum Abschluss jeweils: »Und er hat ihm die Augen geschlossen«, was mich dann immer wunderte: Hat man wirklich die Augen offen, wenn man tot ist? Es stimmte jedoch, denn als ich einmal gleich nach dem Aufstehen unsere alte Katze tot in ihrem Schlafkarton fand, da waren ihre Augen weit offen, die schwarzen Pupillen, die mich nicht mehr sahen, erweitert, erstarrt in einer unseren armseligen Augen unzugänglichen Ferne (ich mochte noch so weinen …), einer unendlichen Abwesenheit, einem Anderswo, in dem ich sie nie mehr antreffen würde.
Bei allen Toten jedoch, die ich gesehen habe (und auch bei meinem grossen Bruder, gestorben mit elf Jahren, als ich gerade neun werden sollte, zweieinhalb Jahre sind wir auseinander), waren die Augen geschlossen, wenn wir zum Beten zu ihnen in die Häuser gingen, wo ihre Familien sie zwei, manchmal auch drei Tage bei sich in der guten Stube beliessen, wie um sie noch eine Weile in ihrem plötzlich völlig durcheinandergebrachten Alltagsleben bei sich zu halten, für die Zeit der fassungslosen Tränen, für die Zeit, in der man mit der Hand über die wächserne, kalte Stirn streicht, die Zeit für einen Kuss auf die Wange oder auf den von nun an geschlossenen Mund, gefangen in der eisigen Stille eines unüberwindlichen Winters, ehe man sie dann der Zeit der anderen übergab, mit dem Schliessen des Sarges, dem Gerüttel des vom weissen Pferd gezogenen Leichenwagens, den Gesängen und dem Weihrauch in der Kirche, dem Kollern der Erde, die von den Schaufeln auf den Holzdeckel fiel und unten im Grab widerhallte. Die armen Toten, die uns so arm hinterliessen, hatten die Augen geschlossen, wenn man sie sah, und ich glaubte, dass so der Tod war: die Augen geschlossen haben und die Nacht sehen, für immer die Nacht, und jetzt, da meine Augen geschlossen waren, versank ich in einer Nacht, in der ich steckenzubleiben, unterzugehen glaubte, dann wieder wie mit Flügeln in die Höhe stieg, während die Nacht sich immer weiter ausbreitete, immer tiefer wurde.
Tot? Aber das Licht berührte mit einem Hauch sanft meine Augen, einem blendend mohnroten Flimmern. Versuchte, mir die Lider ein wenig zu öffnen. Wie es meine Mutter eines Morgens gemacht hatte (das kam mir jetzt wieder in den Sinn): Am Abend davor war ich eingeschlafen mit dem Gefühl, Sand in den Augen zu haben. Und die Nacht und der Schlaf hatten mir, ohne dass ich es merkte, die Lider zugenäht (Augen müssen sich jedoch öffnen, die Flügel bewegen, bis ganz hinauf, bis ganz in die Breite, bis in die fernste Ferne von allem, was Licht und Nacht hergeben): Meine Augen sind geschlossen, ganz fest geschlossen, sie stossen an die Dunkelheit, ihre Flügel hemmt die erstickende Hand der Dunkelheit, es ist jedoch schon Morgen. Ein Morgen in panischer Angst, in einer Falle. »Mama, ich bin blind, ich bin blind«, ausserstande, meine Lider zu öffnen, eins ans andere geklebt mit einer Art eitriger Kruste. Meine Mutter strich mir mit Kamillenabsud über die Augen, und nach und nach lösten sich meine Lider wieder voneinander, hin zu einem trüben Tageslicht, wie durch schmutzige, schmierige Fensterscheiben. Genau das lebte jetzt wieder in mir auf, wie ich ausgestreckt dalag, während das Licht, das über meine Augen wehte, die sich immer noch nicht öffnen konnten, die blinzelten, um sich zu öffnen, aber der Tod in ihnen ist noch schwer, während das Licht sie nach und nach löste. Ein Licht wie ein plätschernder Fluss, gurrend, gluckernd, flüsternd, murmelnd, als erwachten die Vögel inmitten der Kiesel, die er mit seidenem Gelächter vor sich herrollte, als erhöben sie sich flatternd und singend zum Flug, ein Licht, das Hauch und Murmeln des Windes war, und in diesem Hauch und in diesem Murmeln war bereits Milde, Versprechen, Frühling, aber auch noch Kälte.
Meine Augen konnten sich nun wieder öffnen; langsam stand ich auf; eine Kruste aus Erde, Schlamm, Kies und Wurzeln riss, brach auf, fiel von mir ab, und ich sah ihr zu, wie sie sich von mir löste, und mein Körper rührte sich, belebte sich wieder; nur die Explosion der Granate, die mich neben dem in einer Flussbiegung entstandenen Teich verschüttet hatte, klang in der Nacht und Kälte meiner Knochen noch nach. Langsam stand ich auf, packte, umklammerte den Stamm eines jungen, krummen Kirschbaums, seine rissige, wie gegeisselte und zerritzte Rinde schnitt mir in die Handflächen, und ich erhob die Augen, nun ganz befreit, zu den noch schwarzen, nackten Zweigen, an einigen waren schon Blüten aufgegangen, die das tiefe Blau des Himmels mit Sternen übersäten, und der Himmel drehte sich über mir, als ob ich, während ich mich hochzog, nie mehr aufhören sollte, mich hochzuziehen und hochzusteigen, hochzusteigen …
Da schoss spritzend eine Salve ganz nah in den Teich und warf mich auf den Bauch; ich wusste nicht, wie mir geschah, und doch sah ich, ganz unwirklich über mich gebeugt und meine Wange streichelnd, ein Büschel welker, fahler, umgeknickter Gräser, aus dem frische grüne Triebe sprossen, und ich sah die sandige schwarze Erde, an die mein Herz schlug. Am liebsten hätte ich mich in sie hineingegraben, in ihr Schutz gesucht. Sollte ich bis zum Teich kriechen? Mich in sein Wasser gleiten lassen, ein grünliches, undurchsichtiges Wasser von trüber Schlammfarbe, in dem hier und da Blasen zerplatzten, ein träumendes, melancholisches, schlafwandlerisches Wasser, eingeschlafen über seinen Albträumen, als wenn lebendige »Sachen«, irgendwelche haarigen Algen, auf einmal unter ihm atmeten, aufgingen wie Münder oder wie Blumen, zuschnappten, ansaugten, schluckten, verdauten? Und meine Augen suchten und entdeckten unter dem Widerschein von Wolken und Himmel gleichsam ein Jüngstes Gericht von Schatten, dunklen Anwesenheiten, die dahintreibend warteten, die gleichzeitig hochstiegen und niedersanken, sich mischten, miteinander verknüpften und kämpften und sich auffrassen. Da hielt mich eine Angst zurück, und ich blieb in meinem Erdversteck neben diesem welken Gras, in dem der Frühling wiedererstand, drückte mich an diese Erde, die sich, was bereits zu spüren war, nun von Tag zu Tag erwärmte – und auf einmal brachen einen Moment lang die Wolken auf, oben und auf der Wasserfläche des Teiches. Schwarz geworden wie eine Blendung unter dem Licht. Mich ihm nähern, es trotzdem wagen. Mich seinen Lichtflügelschlägen nähern, die mir jetzt lachend entgegenkamen, getragen vom Flimmern des Windes. Lichtflügelschläge, denen mein Herz entgegenschlug, Flügelschläge, die Wind und Licht waren, hinuntergestiegen in die Tiefen und die Trübnis des Wassers, in seine Undurchsichtigkeit, seine dunklen Träume wie Leben und Tod … Noch undurchdringlicher als die Nacht … Dieses Lachen von Licht und Wind rannte mir entgegen … Rannte, um im Sand zu sterben … Einmal war ich zum Teich gekommen, zu seinem Licht, das ich nicht verstand, mit meinem toten Bruder in mir, mit den Tränen meines Vaters in mir, mit meinem Bruder in mir, als wenn ich ihn trüge und auf meinen ausgestreckten Armen darböte … Diese Begegnung mit dem sandigen Licht, dem sterbenden Licht, das im Sand verging …
Da ergriff ein Schrei das Schilf, die Weiden, die Birken, den Kirschbaum, den Sandsteinfelsen, die Bäume, die ihn bekrönten: die lange schwarze Prozession der bussfertigen Föhren, die den Winter durchschritten hatte, die grauen Lumpen der Buchen, wie mit Edelsteinen geschmückt von den ersten sich gerade öffnenden Blättern, als ob die Sonne in ihnen wüchse, und hier und da die weisse Blütenpracht der Wildkirschen und Schwarzdornsträucher, als hätte es noch einmal, vielleicht ein allerletztes Mal, in der Nacht geschneit; wie ein sich ins Gras duckender Hase wagte ich den Kopf hochzuheben: Wo war der Feind? Eine neue Salve wühlte den Teich auf, spuckte weisse Schaumkrönchen. Und bald darauf tauchte ein unbekannter Junge vor mir auf, wahrscheinlich in meinem Alter, ich wurde in jenem Jahr bald zwölf. Lachend warf er noch eine Handvoll Kies ins Wasser, dann:
»Amerikaner?«
»Natürlich«, warf ich mich in die Brust. »Pass auf, hier ist alles voller Japsen. Schau …« Und ich zeigte hinter mir auf die Kiesel am Fluss, wo ein Landungsboot aus immer noch offenem Maul mich mit meinen Kameraden ausgespien hatte. »Sie haben alle abgeschossen, die mit mir gelandet waren.« Dann zeigte ich hinter seinen Rücken: »Dort – ihre Maschinengewehrnester und ihre Kanonen, einen nach dem anderen haben sie uns niedergemäht. Aber du bist auch davongekommen? Wo ist dein Landungsboot?«
Seine Antwort verdarb mir mein Spiel, liess es wie ein Kartenhaus einstürzen. »Ich bin Italiener … echter Italiener, Italiener aus Italien … Man nennt mich Antoine, aber in Wirklichkeit heisse ich Antonio … Meinetwegen kannst du mich Tonio nennen … Aber die Amerikaner haben Italien überfallen, also bist du mein Gefangener …«
Als er sich jedoch auf einen kahlen, glatten, grauseidenen, von der Sonne beschienenen Baumstamm setzte, den der Fluss einmal hier angeschwemmt hatte, verbot er mir nicht, mich neben ihn zu setzen, und ich durfte ihn ausfragen. Nein, er war nicht mit den Italienern gekommen, die die Staumauer bauten und in dem Barackenlager in der Nähe des Dorfes wohnten. »Diese Baracken wurden im Krieg gebaut«, fing ich an …
… Im Krieg war sein Vater Soldat gewesen, er hatte zu den Kampfschwimmern gehört, in einer Nacht, in der er mit einem Kameraden auf einer Art Torpedo ritt, tauchten wir mit ihm in das Mittelmeer hinab, dann schwammen wir, überquerten Unterwassersperren, brachten unsere Minen an einem englischen Zerstörer an, schalteten den Zeitzünder ein … Wir waren weit entfernt schon wieder aufgetaucht, als das Schiff explodierte, in Brand geriet, kenterte und unterging. »Gut, du bist nicht mehr mein Gefangener«, und nun drangen wir im Winter nach Russland ein, wo sein Vater auch gekämpft hatte, als Panzerkommandant, unser Regiment war von den Russen angegriffen worden, wir krochen durch den Schnee, blieben in einem Graben stecken, wir sahen, wie sich der Leichnam eines unserer Kameraden in der Nacht aufrichtete, »weisst du, das war wegen der Kälte«, hatte sein Vater gesagt, »die Leichen wurden hart wie Stein; manchmal führte dieses Steifwerden dazu, dass ein Körper sich bewegte und sogar aufrichtete«, wir kämpften gegen die T-34, ihre Ketten vernichteten unsere Stellungen, wir wurden gefangen genommen, wir assen tote Kameraden, um nicht zu verhungern, denn der Hunger suchte uns in jedem Moment heim; ich wusste nichts von diesem Krieg, von dem er weiter erzählte: »Mein Vater wurde zwei Jahre später entlassen; als er daheim angekommen war, hat ihn niemand erkannt. Jahrelang hat er sich in seinem Zimmer eingesperrt, bis zu meiner Geburt. Da hat er wieder zu arbeiten begonnen. Für mich. Aber wegen seiner Arbeit muss er ständig auf Reisen.«
Dann verteidigten wir noch unseren Panzerbrecherposten und starteten einen Gegenangriff, der die Russen zum Rückzug zwang, aber die rosige Kälte des Spätnachmittags (es waren die ersten Apriltage) veranlasste uns endlich zum Heimgehen. Wir liessen den Fluss, den Kiesstrand und, inmitten des Schilfes, den Teich, der sich in der Flussbiegung gebildet hatte, hinter uns, wir stiegen durch die Bresche aus Erde und Bäumen, die die Felswand spaltete und oben zerklüftete, hinauf, langten auf dem Weg oben an, wo ich mein Velo nahm und es an der Lenkstange schob, um weiterhin mit Tonio unter den Bäumen gehen zu können, auf einer Seite der Wald, der Abgrund des Steilufers auf der anderen; wir gingen zwischen den zwei Spurrillen, die von den Traktoren in den Weg gegraben worden waren, der unser Dorf durch Waldpartien hindurch mit den freien Feldern verband. Unsere Schritte raschelten in den Herbstblättern, die nun in den lauen Frühlingswinden auf dem Boden trockneten. Wir machten uns ein Spiel daraus, so laut wie möglich zu rascheln, indem wir unsere Füsse die Spurrillen entlangschleiften, in die der Wind ganze Haufen von Blättern gefegt hatte, die brüchig geworden waren und knackten; der Wald selbst machte mit bei unserem Spiel, das Blättergeknister fand sein Echo in den Bäumen, in die langsam ein blauer Schatten vordrang … Ein Echo? Ein Schreck fuhr mir in die Glieder, ich liess ihn mir aber nicht anmerken. Und wenn das andere Schritte waren? … Ja, wenn ein anderer, unsichtbar zwischen den Bäumen, da ginge und uns verfolgen wollte …
Unsere Füsse zerwühlten und zerdrückten und vermischten in diesem Moment gerade braune Blätter, hellbraun, fast rotbraun, vermengt mit dunkleren rotbraunen Eicheln, unter einer grossen Eiche, die um sich herum eine Leere geschaffen hatte, riesig und krumm war wie ein Grollen, ein finsterer Donner, schwer, rau, eine Wut, für immer hierhergesetzt in langer Verrenkung zwischen Himmel und Erde und vom Winter für eine Zeitlang nackt und bloss gemacht. »Hier hat sich ein russischer Soldat, ein Kosak, aufgehängt.« Ich erzählte Tonio nun von den Baracken weiter vorn, an denen wir bald vorbeikommen würden und die bei Kriegsbeginn gebaut worden waren, um die Internierten aufzunehmen, die französischen Soldaten vom Juni 1940 und die Polen, dann eine Zeitlang Juden, dann auch Italiener und gegen Kriegsende Russen. Mein Vater hatte es mir erzählt, er war auf Grenzwache am Rhein, auf der anderen Seite waren die Deutschen: Wenn sie angegriffen hätten, wäre mein Vater unter den ersten Opfern gewesen, und ich schaute ihn an und erzählte es mit dem Stolz eines Heldensohnes: »Die Russen waren in Gefangenenlagern in Deutschland, sie hungerten, die Nazis behandelten sie wie Tiere, und Stalin verachtete sie als Feiglinge, als Verräter, die nicht bis zuletzt gekämpft hatten. Als Deutschlands Zusammenbruch einsetzte, versuchten viele die Flucht über den Rhein, unsere Nachtpatrouillen entdeckten sie nackt, vor Kälte zitternd, im Gebüsch, so mager, so mager … Ich frage mich, wie vielen die Kraft gefehlt hat, bis an unser Ufer zu schwimmen. Von den Fluten weggetrieben. Das war vielleicht besser als das, was folgte. Ich habe sie nach meiner Entlassung hier wieder angetroffen: in diese Baracken gezwängt. Ich war gerade zur Zeit der Heuernte entlassen worden und hatte keine Arbeit, ich verpflichtete mich bei einem Bauern, der auch Russen bei sich arbeiten liess. Einer von ihnen wollte deutsch mit uns reden: Stalin … Wir Russen, Kriegsgefangenen … Stalin töten … alle … mich … diesen (und er zeigte auf einen seiner Kameraden) … (dann auf einen anderen) auch diesen … ta-ta-ta-ta-ta (als wenn er ein Maschinengewehr hielte) ta-ta-ta-ta-ta … kaputt … alle kaputt … Das wiederholte er immer wieder, wenn wir unter Bäumen eine kleine Pause machten, um neun Uhr und um vier Uhr und im Bauernhof beim Mittag- und beim Nachtessen, ehe er ins Lager zurückkehrte. Ich weiss nicht, ob er sich mit diesen ständigen Wiederholungen etwas von uns erhoffte, vielleicht dass wir ihnen Unterschlupf bieten oder bei unseren Behörden vorsprechen und uns für sie einsetzen würden.« In diesem Lager gab es eine einzeln stehende Zitterpappel, bei der mein Vater immer anhielt, wenn wir auf unserem Spaziergang vorbeikamen. »Hier war es; jedes Mal wenn ich an diesem Baum vorbeikomme« – seine Blätter flüsterten, wisperten unaufhörlich bei jedem Windhauch –, »glaube ich sie noch zu hören«, und er sprach die Worte des russischen Soldaten nach: »Stalin … Kriegsgefangenen … ta-ta-ta-ta-ta- … ta-ta-ta-ta-ta … kaputt … alle … kaputt …« Ich fand, mein Vater wiederholte sich ein wenig, aber er fügte hinzu: »Es ist, als ob der Baum noch daran denken und mich jedes Mal daran erinnern würde. Im August hatte der Bauer sie wieder angestellt, diesmal für die Ernte, die auf manchen Feldern noch mit der Sense gemacht wurde; eines Tages sind sie nicht mehr gekommen, sie hatten gehört, dass man sie in ein paar Tagen nach Hause zurückschicken würde. Am Abend bin ich zu den Baracken gegangen, ich wollte sie wiedersehen, noch einmal mit ihnen sprechen; es hiess, woanders habe es Probleme mit den russischen Internierten gegeben, ein Offizier habe sogar den Befehl erteilt, auf sie zu schiessen, aber nicht bei diesen hier. Sie standen gruppenweise da, Schattengruppen, die nichts erwarteten, Schweigegruppen, bewacht von Soldaten und Hunden, und ich hätte einer dieser Wachsoldaten sein können: ich hatte die gleiche Uniform getragen …« Damals verstand ich noch nicht, was mein Vater damit sagen wollte.
In jener Nacht war es einem Internierten gelungen, sich einen Strick zu beschaffen und nach dem Abendappell aus dem Lager zu türmen. Er ging bis zu dieser Eiche hier. Die Luft um uns roch noch nach Schnee, der zwar schon seit Tagen verschwunden war, aber sein kalter Hauch hielt sich noch unter den Bäumen; ich sagte zu Tonio: »Das war im August«, und während ich sprach, roch es für mich nach Brombeersträuchern und der dunklen Süsse ihrer Beeren und nach sauren Holundertrauben und nach den Pilzen, die mir mein Vater immer nach einem Gewitter unter Blättern und im Moos zeigte. Ob der Mann auf seinem Weg hierher die Sommerhitze gespürt hatte, oder hatte er gefroren? Wir gingen um den Baum herum, suchten nach einem Griff, wie er es bestimmt auch gemacht hatte, zögerten: der vielleicht? Beim Zertreten und Zerknittern der Blätter versuchte ich zu hören, ob die Bäume in der Umgebung ein Echo zurückwarfen, ähnlich dem, das mich vor kurzem beunruhigt hatte: nichts. Tonio zeigte mir auf der Höhe unserer Gesichter einen Aststummel am Stamm, dann noch andere, weiter oben; jemand hatte vor langer Zeit die noch ganz junge Eiche beschnitten. Wenn man sich an diesen Stummeln festhielt und mit dem Fuss abstützte, konnte man die unteren Äste erreichen, verkrümmte Arme, riesig, unmenschlich, und Tonio holte Schwung. »Los, komm nach!« Ich schaute ihn an, als dränge er in einen fremden Garten ein; und trotzdem schwang ich mich auch hinauf und fand mich bald mit klopfendem Herzen an den Stamm gedrückt. Ein Toter hatte die Gesten gemacht, die wir nun machten; dieser Baum gehörte ihm. »Tonio, klettern wir wieder hinunter!« Aber er schaute mich lachend an und ergriff den dicksten Ast. »Hat er sich an dem hier aufgehängt?«, und er hängte sich selbst mit beiden Händen daran. »Ich bin der Erhängte!«, er liess den Kopf ein wenig schief vornüberfallen, ein wenig zur Seite gedreht, dann verdrehte er die Augen, wie man sagt, ich sah nur noch das Weisse, gleichzeitig hing ihm die Zunge aus dem Mund. »Das ist nicht gut, komm runter!«, und ich klammerte mich an den Stamm, aber da liess er sich schon fallen und wälzte sich in den Blättern … Wie konnte er mit dem Tod spielen? Mir liess der Tod keine Ruhe: Mein toter Bruder hatte bei uns zu Hause in einem Sarg gelegen, mein Bruder, der zwei Jahre älter war als ich, den ich im Spital besucht hatte und der eines Tages zurückgebracht worden war, kaltes Wachs in einem Sarg, kaltes Wachs unter meinen Lippen, kaltes Wachs, auf dem die Tränen meiner Mutter ohnmächtig glänzten, sanft berührt vom Licht der brennenden Nachtlampe. Nein, heute nicht! Schnell stiess ich mich vom Stamm ab und sprang hinunter zu Tonio. Er war schon aufgestanden, warf mehrere Handvoll Blätter vermischt mit Eicheln auf mich, lachte und tanzte und sprang herum, aber ich konnte nicht richtig lachen.
Er hörte auf. »Woran denkst du?«
Ich sagte ihm, dass ich an diesen Gefangenen dachte, den man erhängt gefunden hatte. An die anderen Gefangenen. Sie waren einige Tage später morgens gegen neun Uhr abgeführt worden. Sie hatten vom Lager bis zum Bahnhof gehen müssen, sie waren durchs Dorf gekommen. Und während ich das Tonio erzählte, hörte ich noch meinen Vater:
»Manche weinten sogar … alle diese Männer hatten darauf gehofft, Asyl zu bekommen … ich weiss nicht, ob sie wegen dem weinten, was sie erwartete, oder wegen dem, was wir ihnen antaten.«
»Aber warum konnten sie nicht bleiben?«, fragte ich, unfähig zu verstehen. »Wir hätten sie behalten müssen, denn Stalin wollte sie doch töten.«
»Stalin hatte wohl eine Amnestie verkündet. Das jedenfalls hat man uns gesagt. Aber diese Männer glaubten nicht daran.«
»Und was ist aus ihnen geworden?«
»Das hat man nie erfahren.«
Diese Männer, die durchs Dorf gehen, diese Kolonne von Männern, die im Sommerlicht weinen, das um neun Uhr morgens noch frisch ist, wie eine letzte Liebkosung vor dem Gewicht des Tages, vor der Hitze, die wie ein weisser Mühlstein auf diesen ausgestossenen Männern lasten wird, bewacht von bewaffneten Soldaten und Wolfshunden.
In meinem Kopf, der vollgepfropft war mit Familiengeschichten und der Erinnerung an das Schwarzweissbild in meinem Geschichtsbuch, das einen Ausschnitt des Luzerner Panoramas zeigte, marschierte mir an einem Morgen Anfang Februar 1871 eine andere Kolonne Soldaten entgegen, und das wollte ich Tonio noch erzählen. Endlich einer, der bei meinen Geschichten mitmachen würde! Es gab zwar schon Rémi, natürlich, aber der hörte mir mit dem Blick eines treuen Hundes zu, und die Bücher, die ich ihm lieh, las er nicht; trotzdem hatte er mir zum Geburtstag diese im Schnee marschierende Soldatenkolonne gezeichnet, die wir die Bourbakis nannten, doch Tonio stiess mich an: »Los, nimm dein Velo, wir müssen heim.« Er wohnte in der Mühle. Ja, beim Müller, der war sein Onkel und Pate, der Bruder seiner Mutter. »Weisst du, meine Mutter ist ganz allein; mein Vater ist weg, er baut Staudämme; aber er ist kein Hilfsarbeiter, nein, auch kein Maurer. Er ist Ingenieur. Schau!«, und er holte aus seiner Tasche eine aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Fotografie, die den Assuan-Staudamm im Bau zeigte. »Hier ist mein Vater«; man sah eine Gruppe Männer, die einen Bauplan des Staudamms studierten, alle so winzig, dass man unmöglich ein Gesicht erkennen konnte, aber Tonio gelang es wohl mit dem Herzen. »Er baut den grössten Staudamm der Welt.«
Wieder raschelten die durcheinandergewirbelten und zerknitterten Blätter unter unseren Füssen; ich schob mein Velo. Und bald hatte ich das Gefühl, dass sich zwischen den Bäumen etwas in der Luft bewegte. Dass, ja, dieses Mal war ich mir sicher, jemand da ging und uns folgte, dass wir ihn nur nicht sehen konnten, weil er sich hinter den Baumstämmen und Sträuchern versteckte. Oder vielmehr, und diese Frage hätte ich gern abgewehrt, ein Unsichtbarer? Endlich überwand ich meine Angst: »Hörst du?«, sagte ich zu Tonio. »Die Blätter … Als ob jemand hinter den Buchen dort durch die Blätter geht.« Wir gingen langsamer, meinten, dass wir dann besser hören könnten. Dann machte mir Tonio ein Zeichen, wir blieben stehen. Nichts. Und trotzdem, es war, als wenn ein Etwas da wäre, kein Keuchen, kein Herzklopfen, nicht einmal ein Atmen, aber ein Etwas. Ganz bestimmt ein Etwas. Wir brachten kein Wort mehr heraus. Ich dachte an den Kosaken, der sich erhängt hatte. War er dieses Etwas? Ich wagte nicht zu denken: »ein Wiedergänger«, aber schon sah ich, ohne zu wissen, wie sie wohl ausschauen könnte, sah ich, fühlte ich mit meinen Augen eine dieser Seelen, die aus der Erde steigen, ich sah sie umherirren im letzten Licht, das vom Weg verschwand und zwischen die Bäume zurückströmte, dort erlosch, schwächer wurde im letzten Schein des Himmels, und sah sie in den nackten Zweigen baumeln und in dem Laub über uns immer grösser werden. War das, was wir da hörten, etwa der Soldat, dessen Tod Tonio lachend nachgeäfft hatte? Ich hielt mich einen Moment an dem Gedanken fest, dass Geister auf welken Blättern kein Gewicht haben, dass sie ja nichts wiegen. Was aber dann? Vielleicht ein Tier? Eine Art Tier? Wölfe gibt es hier seit mindestens hundert Jahren keine mehr. Aber ein Tier, das kein wirkliches Tier wäre, eine Art Wut und Hunger in Tiergestalt, das plötzlich zwischen den Bäumen und Dornenranken auftauchte und sich uns quer in den Weg stellte. Tonio seinerseits schien ernst zu sein. Er flüsterte mir zu: »Machen wir es wie die Indianer.« Wie kamen wir auf die Idee, dass die Indianer lautlos gingen, indem sie langsam das Knie hochhoben und dann ganz leise den Fuss aufsetzten, ein bisschen wie in Zeitlupe?
Aber die Stille um uns herum war wieder da; eine Stille, die mir auf der Brust lag, schwer darin klopfte mit ihrem ganzen schwarzen Gewicht und bei jedem Schritt noch schwerer klopfte, bis es ein stechender Schmerz wurde, der in die Adern ausstrahlte. Wieder schaute ich Tonio an; ich sah in seinen Augen, dass wir beide dasselbe erwarteten, dass die Schritte unter den Bäumen wieder anfingen. Etwas weiter weg am Waldrand standen die Baracken der russischen Kriegsgefangenen, die von den Soldaten und Hunden abgeführt und Stalin, und das bedeutete dem Tod, ausgeliefert worden waren, kaputt … alle … ta-ta-ta-ta-ta; nach dem Krieg wurden die Baracken für Ferienlager genutzt: zuerst für Kinder, die den Krieg erlebt hatten, sogar für deutsche Kinder, dann für Kinder, die für einige Sommerwochen von armen Kirchgemeinden in Grossstädten geschickt worden waren, oder für Gruppen von Wölflingen und Pfadfindern. Jetzt waren es die Baracken für die Maurer an der Staumauer, fast alle Italiener.
»Die haben Wolfsaugen«, hatte ich eine Dame über diese Männer sagen hören, die mir manchmal auf dem Weg oder im Dorf begegneten, die ich nach dem Willen meines Vaters und meiner Mutter grüsste und aus deren zunächst stummem Erstaunen ein »bondschorn« und ein Lächeln geworden waren. Das war in der Metzgerei, und die Dame fuhr fort: »Jedenfalls habe ich meinen Töchtern gesagt, sie sollen dort nicht spazieren gehen.« Mein kleiner Bruder fragte: »Könnten sie die denn fressen, so wie das Rotkäppchen?« Die Damen lachten, und der Metzger mit seiner lauten Stimme und seinem breiten Lachen sagte: »So was Ähnliches könnte es wohl sein«, darauf mein kleiner Bruder: »Warum lacht ihr dann?«, und der Metzger und die Damen lachten noch lauter, aber auch ich verstand nicht, weshalb. Die Dame sagte noch: »Die sind wie die Russen, diese Italiener, wilde Tiere, die nur an Schmutziges denken.«
»Aber warum erlaubt man ihnen nicht, mit ihren Familien zu kommen? Das sind keine Wölfe, wie Sie sagen, die sind einsam, einsam und traurig«, sagte Mama.
»Und wo wollen Sie diese Familien unterbringen? Obendrein müsste man die Schule für ihre Rasselbande vergrössern«, setzte die Dame hinzu.
»Wir zahlen auch so schon genug Steuern!«, trumpfte der Metzger auf. »Ihnen auch noch die Schule bezahlen!«
»Kommt nicht in Frage«, beharrte die Dame. »Dass sie zum Arbeiten kommen, in Ordnung, aber sie sollen sich auch mit dem Arbeiten zufriedengeben, sich gut benehmen und dann wieder nach Hause gehen. Wir bezahlen sie, fertig. Es geht schon genug Geld dafür drauf. Wenn es ihnen nicht gefällt, brauchen sie gar nicht zu kommen! Wir haben sie nicht gerufen.«
»Doch, wir haben sie geholt«, widersprach Mama; dann drehte sie sich um, nahm ihr Fleisch, mein kleiner Bruder und ich warteten noch, dass uns der Metzger ein Scheibchen Wurst gab, dann gingen wir hinaus. Aber als draussen mein kleiner Bruder weiterbohrte und verstehen wollte, sagte sie: »Ihr braucht euch nicht zu fürchten, die Italiener sind Menschen wie wir. Und die da ist eine dumme Kuh!« Mein kleiner Bruder und ich schauten uns stumm an, normalerweise sprach Mama nicht so von jemandem. Sie musste wirklich wütend sein. Dann murmelte sie, immer noch im Zusammenhang mit der Dame: »Da geht jemand jeden Sonntag in die Messe und sagt dann so was …« Mama ging auch jeden Sonntag in die Messe, und seit meiner Erstkommunion begleitete ich sie.
Wenn Mama sich aber täuschte? Wenn sich diese einsamen und traurigen Italiener wirklich in Wölfe verwandelten? Tonio legt seine Hand auf meinen Arm: »Die Schritte, hörst du?« Die weitergehen. Die aufhören. Ich flüstere: »Es ist dort hinter den Bäumen.« Wir hoben Steine und Holzstücke auf und warfen sie ins Gebüsch, sie prallten an den Stämmen der Buchen und Tannen ab. Aber nichts bewegte sich. Nicht einmal ein Tier oder ein Vogel schreckte auf. Nur die Stille der Luft, die noch kühler wurde.
Als wir aber weitergingen, fing es wieder an, uns zu folgen. »Vielleicht ist es nur ein Hund«, sagte Tonio, »ein ausgesetzter Hund, es gibt Menschen, die ihre Hunde aussetzen oder wegjagen. Ein ausgesetzter, verstossener Hund, der geliebt werden möchte, aber gleichzeitig Angst hat, der schon zu viele Schläge bekommen hat.« Auch er versuchte sich durch Reden und Vermuten zu beruhigen. Als wenn Reden genügte. Ich dachte immer mehr an einen dieser Italiener, und wenn ich auch hörte, wie meine Mutter wiederholte: »Die Italiener sind Menschen wie wir«, so suchte ich doch nach Wolfsaugen, Augen, brennend vor Hunger und Wildheit, ich suchte danach, sie zwischen den Bäumen brennen zu sehen, einen Italiener, der uns ausgespäht hätte und auf den richtigen Moment wartete. Und vielleicht sind es ja mehrere? »Aber Tonio, du bist doch Italiener, du brauchst ja nur italienisch mit ihnen zu sprechen.« Und wir wären gerettet.
Im Übrigen waren wir nun aus dem Wald hinausgekommen; rechts von uns waren einige Fenster in den Baracken trotz des Abendlichts schon erleuchtet. Auf drei zwischen den Pfosten am Wegrand gespannten Leinen hing ärmliche Wäsche: Unterhosen, Latzhosen, grosse Taschentücher, Jacken, Hemden, Unterhemden. Weder Frauen- noch Kinderkleider. Laken, graubraune Armee-Wolldecken, was suchten die hier? Und plötzlich ein Schatten, der auftaucht, der die Decken auseinanderschlägt: hohlwangig, unrasiert, Wolfsaugen, ja, Wolfsaugen, glühende schwarze Kohlen, eine Einsamkeit von brennender, unendlicher Schwärze. Ein junges Gesicht, eine verbrauchte Jugend. Und bald erschienen andere Schatten, andere Gesichter. »Tonio, los, das ist der Moment, mit ihnen zu reden, zeig’s ihnen, worauf wartest du?« Aber Tonio sagte nichts.
»Guten Tag!«
Ich legte mich in diese Worte hinein, schrie sie fast, verwundert über mich selbst, als ob mir meine Mutter einen Stoss gegeben hätte, »Wolfsaugen, die dumme Kuh!«, und der Mann, der junge Mann mit der schweren, verbrauchten Jugend, dessen schwarze Augen, dessen brennende Augen sein ganzes Gesicht verzehrten, schaute mich lange an, dann zeigte er mir den blauen, goldenen, blassrosa Himmel, »Guten… Abend«, und er lächelte mich an, »Es ist Abend«, und die anderen sagten: »Guten… Abend, guten… Abend«, und zwei, drei lachten… Und dann war da einer, der Älteste, sogar noch älter als mein Vater, der fünfzig war, und ich weiss noch, dass er einen Ehering trug, und der reichte uns eine Handvoll Haselnüsse: »Mein dort…«– »Nein, das Haus«, verbesserte ein anderer; und ein Dritter sagte: »Esst«, und schnitt uns von einer Salami ab, von der er gerade selbst ass, ein Stück, das mir sogleich wie Feuer im Mund brannte: Das war es, das war die Falle, sie haben uns vergiftet, doch der Jüngste lachte über meine Grimasse. »Nicht gut, das, zu scharf, « Aber der Geschmack wurde nun milder, erschloss sich, das Scharfe war wunderbar warm in meinem Mund, und als der andere mir anbot: »Noch eins«, nickte ich, und um mich herum lachten sie, doch Tonio wollte nichts mehr. Und dann bekam jeder von uns noch eine Blutorange. Wie die an Weihnachten. In meinem Kopf drehte es sich vor Staunen und Glück.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!