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„Wirst du wohl still sein. – Und zu niemandem ein Wort." Die Stimme ihres Peinigers ließ sie erschauern. Sein Blick flackerte. Er war noch nicht fertig mit ihr. Und das alles, weil Julie eine Einladung für ihren tadschikischen Geliebten brauchte. Als sie versucht, sich aus den Fängen des Psychopathen zu lösen und den Plan fasst, ihn anzuzeigen, ist es zu spät.
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Marlen Lie
DunklesRaunen
Psychothriller
Engelsdorfer VerlagLeipzig2025
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Angaben nach GPSR:
www.engelsdorfer-verlag.de
Engelsdorfer Verlag Inh. Tino Hemmann
Schongauerstraße 25
04328 Leipzig
E-Mail: [email protected]
Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären also rein zufällig und unbeabsichtigt.
Copyright (2025) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titelbild The way © NAL [Adobe Stock]
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Julie blickte auf den staubigen Tischläufer mit den nachgedunkelten braunroten Kreuzstichen auf der Ablage neben dem Kopierer. Wie viele Seufzer und Sorgen der Stoff wohl schon eingefangen hatte von den Menschen, die darauf warteten, aufgerufen zu werden und dem Beamten der Ausländerbehörde ihr Anliegen kundzutun.
Auch sie hatte bereits neulich hier gesessen, um das Besucherantragsformular für Faruk abzuholen. Julie stand auf und schlich den schmucklosen, grau gestrichenen Gang auf und ab. Kein Bild prangte an der Wand. Die einzige Zier stellte der Tischläufer dar.
Diese pochenden Kopfschmerzen. Die Atmosphäre hier trug nicht gerade dazu bei, sich wohlzufühlen. Beinahe hätte sie sich zu Hause an dem heißen Tee verbrüht, den sie heruntergestürzt hatte, um nicht zu spät zu kommen. Doch jetzt dauerte das hier.
Der Sachbearbeiter, der ihr vor kurzem das Besucherantragsformular ausgehändigt hatte, hatte mit ihr für den nächsten Termin 9:30 Uhr ausgemacht. Sie wartete nun schon eine geschlagene Stunde. Sollte sie einfach gehen? Aber dann müsste sie wieder Anlauf nehmen und noch einmal auf dieses Amt. Das wäre viel aufwändiger, als wenn sie sich jetzt etwas in Geduld fasste. Sie sollte sich besser wieder setzen und ein bisschen meditieren.
Als sie gerade die Augen geschlossen hatte, ging eine Tür leicht knarrend. Julie blinzelte. Die kleine, pummelige Frau mit dem schwarzen Kopftuch, die zuvor neben ihr gesessen hatte, kam ihr entgegen. Was sah die verändert aus. Kein verschmitztes Lächeln mehr, dafür hatte sie rote, verheulte Augen. Oh je, das konnte ja lustig werden. Na, dem werd’ ich’s zeigen. Mit mir macht der das nicht.
Julie betrat nach kurzem Klopfen den schmucklosen leeren Raum und blieb verdutzt stehen. Vor ihr stand nicht der Sachbearbeiter von neulich, sondern ein anderer Mann, groß, schlank, in einem anthrazitfarbenen Maßanzug. Die graumelierten Haare bildeten einen eklatanten Kontrast zu seinem eher jungen Gesicht. Seine Hände waren schmal und gepflegt. Sie hätte sie gerne noch länger betrachtet, doch stach ihr ein klobiger, schwarzer Siegelring mit weißen Kreuzen an seinem kleinen Finger ins Auge. Ihr stockte der Atem, als sie darauf starrte. Sie sah schnell weg. Doch schien er ihren Blick bemerkt zu haben, da er kurz seine Augenbrauen zusammenzog.
Ein schwarzer Siegelring … Julie fror plötzlich. Der passte überhaupt nicht zu diesem zartgliedrigen sensibel wirkenden Mann.
Sie wischte den Gedanken schnell weg, als er ihr die Hand reichte und sich leicht vor ihr verbeugte.
»Frau Belova, darf ich mich vorstellen, Justus Schmid. Ich leite diese Behörde. Schön, Sie kennenzulernen. Mein Kollege hat mir Ihr Anliegen unterbreitet, und da er erkrankt ist, dachte ich, ich kümmere mich darum, damit Sie nicht so lange auf den Besuch Ihres Cousins warten müssen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Der Leiter der Behörde nahm sich ihres Antrags an. Und wie zuvorkommend er war. Das hatte sie nicht erwartet. Es handelte sich doch bloß um einen Besucherantrag für einen Verwandten. Oder steckte bei dieser Liebenswürdigkeit vielleicht mehr dahinter?
Jetzt wies ihr dieser schöne Mann den Weg in den Nebenraum und forderte sie lächelnd auf, sich in den schneeweißen Lederschalensessel zu setzen, der vor einer weißen Schreibtischlandschaft zu schweben schien. Nicht ein Staubkorn war darauf zu sehen.
Justus Schmid machte es sich in einem schwarzen Lederohrensessel bequem. Ein ebenfalls schwarzer Lederordner lag direkt vor ihm. Daneben befand sich ein zugeklappter Apple-Laptop in Weiß. Ein ‹Big Mac›, dachte Julie.
Schmid schlug den Ordner auf und blätterte aufmerksam darin. So hatte sie noch einmal ausreichend Gelegenheit, diesen außergewöhnlichen Mann zu betrachten. Eine kleine kahle Stelle unter seiner fein geschwungenen rechten Augenbraue verlieh seinem Gesicht einen markanten Ausdruck, sie stammte vielleicht von einer Narbe. Er räusperte sich leise und unterbrach sein Blättern. Lächelnd hob er den Kopf und betrachtete Julie mit einem seltsamen Flackern seiner gelbbraunen Augen.
»Ihre Mutter ist Sängerin. Wie interessant.«
»Ja, Opernchorsängerin.«
Julie hatte sich gestrafft. Sie war stolz auf ihre Mutter. Obwohl Mama des Öfteren kurz davor gewesen war, das Gesangsstudium abzubrechen, hatte sie es trotz erschwerter Umstände durchgezogen, mit zwei kleinen Kindern und einem Mann, der völlig in seiner Malerei aufging und sich kaum um die Familie kümmerte.
»Wunderbar. Ich liebe Opern, aber auch moderne Musik, eigentlich alle Arten von Musik, wenn sie gut ist«, hörte sie jetzt Schmid sagen. »Und ich bin ein Fan von Max Richter, der die Grenzen zwischen der klassischen und der elektronischen Musik so wunderbar verwischt.«
Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Sie mochte die Musik von Max Richter auch sehr. – Da traf sie in diesem überaus nüchternen Amt doch tatsächlich auf einen Musikliebhaber, der auch noch einen ähnlichen Musikgeschmack wie sie hatte. Er war schon etwas ungewöhnlich in seiner Art. Alles andere als ein Bürohengst. Aber was hatte sie für Vorurteile. Sie sollte sich zusammennehmen.
»Ja, ich auch«, antwortete Julie freundlich.
Justus Schmid räusperte sich erneut. »Haben Sie den Antrag dabei?« Seine Stimme klang etwas heiser, sie wirkte gedämpfter als am Anfang. – Der wechselte aber schnell das Thema. War ihm der Gesprächsverlauf peinlich?
Sie nickte und zog das Formular aus der Tasche. Oh je, es war ganz verknittert. Hoffentlich stößt er sich nicht am Aussehen.
Doch ihre Sorge war unnötig. Er nahm den Antrag lächelnd entgegen. Dabei wirkten seine Augen noch intensiver, beinahe mystisch. Julie fröstelte. Sie hatte plötzlich Gänsehaut.
Obwohl Schmid konzentriert auf das Formular geblickt hatte, schien ihm Julies Erschauern nicht entgangen zu sein.
»Ist Ihnen kalt? – Entschuldigen Sie! Ich schaffe gleich Abhilfe.«
Er stand auf, ging zum Heizkörper und drehte am Thermostat. In seinen eleganten schwarzen Schuhen glitt er über den dunkelgrauen Laminatboden zu einem schwarzen Sideboard, auf dem eine überdimensionale Kaffeemaschine thronte. Das alles musste die Stadtverwaltung ein Vermögen gekostet haben.
»Frau Belova, möchten Sie einen Kaffee? Oder vielleicht einen Espresso?«
»Oh ja, gerne.« Der konnte sie aus der Müdigkeit retten. Letzte Nacht hatte sie nicht besonders gut geschlafen, weil ihr Faruk immer wieder durch den Kopf gegangen war.
Justus Schmid räusperte sich leise. Oh je, er hatte etwas gesagt und sie war mit ihren Gedanken woanders. »Ich hätte gerne einen Espresso, bitte.« Sie bemühte sich zu lächeln.
»Aber natürlich. Sehr gerne.«
Er bediente die Kaffeemaschine. Ein würziges Aroma durchzog den Raum, vermischt mit dem Geruch nach seinem Parfum. Eine exquisite Mischung. Doch kurz davor, durch diese Duftmelange, die sie vollkommen umhüllte und die sie in sich aufnahm, von ihm beeindruckt zu sein, wurde sie von dem Anblick seines Siegelrings wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt.
Was es wohl mit diesem Ring auf sich hatte? Der war etwas Besonderes. Aber das hatte sie nicht zu interessieren. Sie war im Ausländeramt und wollte lediglich den Besucherantrag für Faruk abgeben. Mehr nicht. Sie nahm einen großen Schluck Espresso, den ihr Justus Schmid schwungvoll serviert hatte.
Er lehnte sich zurück und schloss für ein paar Sekunden genüsslich die Augen, als er an seinem Kaffee nippte. Dann richtete er den Blick auf Julie. Dieser Blick – so durchdringend. Sie fröstelte erneut.
Schließlich wendete er sich wieder dem Antrag zu und blätterte ihn langsam durch. Er las, stutzte ein paar Mal und las dann weiter.
»Sie studieren also Psychologie?«
Seine Stimme klang plötzlich anders. Etwas härter. Oder bildete sie sich das nur ein? Kamen jetzt die üblichen Vorbehalte gegenüber Psychologen, die sie ab und an zu hören bekam? Wenn er sie aus der Ruhe bringen wollte, musste er sich schon etwas anderes einfallen lassen. Sie versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht ganz.
Er blickte sie mit leicht gerunzelter Stirn an. »Sie müssen sich schon etwas gedulden.«
»Ich bin … verabredet.«
»Nun, wenn Sie verabredet sind und jetzt keine Zeit haben, würde ich Sie gerne noch einmal einbestellen.« Seine Augen hatten sich verengt. Die Stimme klang kalt und schroff.
Sie musste einlenken. »Ein bisschen Zeit habe ich noch. – Kann ich Ihnen irgendwie … behilflich sein?«
»Nein, danke. Das scheint nicht nötig zu sein. Dennoch ist es vonnöten« – wie der sich ausdrückte –, »dass Sie bleiben, bis ich mit der Durchsicht fertig bin.«
»Okay«, murmelte Julie leise und nahm den letzten Schluck Espresso.
»Das Porträt Ihres Cousins ist ziemlich undeutlich. Haben Sie vielleicht ein Passfoto von ihm? Dann könnte ich es hinzufügen.« Die Stimme war unverändert.
Hm? Das Porträt auf dem Antrag ist ziemlich deutlich. Faruk hatte zwar zusammen mit dem Antrag zwei Passfotos geschickt, aber die hatte sie zu Hause gelassen, weil sie diese für sich behalten wollte. Und außerdem hatte sie keine Lust, hier noch einmal aufzuschlagen, auch wenn der Amtsleiter Musik liebte.
Es war bestimmt nur eine Provokation. Der sollte sich mal nicht so haben.
»Ich denke nicht.«
»Na ja, wollen wir mal ein Auge zudrücken.«
Jetzt lächelte er sie an, und sein Gesichtsausdruck war völlig verändert. Irgendwie … sinnlich. Diese Augen, helles Bernstein. – Wieso saß er vor ihr? In diesem Amt? Er wirkte fehl am Platz.
»Ich denke, Sie können davon ausgehen, dass die Einladung zeitnah bei Ihnen eintrifft.« Er stand auf und gab Julie, die im Gehen begriffen war, die Hand. »Dankeschön. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
Was für ein fester Händedruck – und der Blick. Julie durchliefen erneut Schauer.
Vor seinem Büro atmete sie erst einmal tief durch. Sie war ohnehin die letzte. Niemand beobachtete sie. Nachdenklich nahm sie die Stufen und schritt nach draußen. Brausender Verkehr unter kahlen Bäumen umgab sie. Sie zog ihre Daunenjacke fest um sich.
Der brechend volle Bus erreichte die Haltestelle gerade als sie dort ankam. Mit Mühe ergatterte Julie einen Platz, wo sie einigermaßen ungestört zu sein hoffte. Sie brauchte Ruhe, um ihre wirren Gedanken zu ordnen und die Szene Revue passieren zu lassen.
Mit seinem Aussehen wirkte Justus Schmid wie ein Mann von Welt. Sie konnte ihn sich gut als Musiker, als Dirigenten vorstellen. Wenn sie von dem letzten Ausdruck seiner Augen ausging … sie hielt die Luft kurz an … schien er auch ziemlich sinnlich zu sein. Sie sah jetzt seine Hände vor sich. Wenn diese Klavier spielten oder streichelten…
Himmel, stopp, was war mit ihr los? Sie sollte mal wieder auf den Boden der Realität kommen. Wie weit war es eigentlich noch bis zu ihrer Haltestelle? Sie blickte kurz aus dem Fenster. Der Bus hatte gerade die Schillerstraße angefahren. Sie hatte noch etwas Zeit.
Was würde sie als nächstes zu Hause tun? Sie konnte nicht bei dem Gedanken bleiben, sondern schweifte gleich wieder zu diesem Schmid ab. Was war eigentlich mit seinen Manieren? Die Haltung ihr gegenüber hatte sich von äußerst interessiert zu eher abweisend schroff verändert, als er las, dass sie Psychologie studierte. Und er legte den Schalter völlig um, als sie ihm mitteilte, dass sie noch eine Verabredung hatte. Und nicht zu vergessen: Die kleine Frau vor ihr war mit verheulten Augen aus seinem Büro gekommen. Aber vielleicht hatte das auch gar nichts mit ihm zu tun. Sie sollte mal nicht so misstrauisch sein. In dubio pro reo. Das war auch ihre Devise.
Sie erreichte das zweistöckige Backsteingebäude, in dem sie zusammen mit Anne eine Etage bewohnte. Mit einer Melodie von Debussy-Rameau auf den Lippen nahm sie die Stufen zu ihrer Wohnung, als ein männliches Räuspern sie stutzen ließ.
Ihr Vater stand vor der Wohnungstür. Was macht der denn hier? Er hatte sich schon lange nicht mehr bei ihr gemeldet. Das letzte Mal, als sie ihn angerufen hatte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, war er ziemlich kurz angebunden gewesen.
Der wollte jetzt bestimmt einen Kaffee. Hatte sie überhaupt einen zu Hause? Oder wollte er ihr zum ersten Preis beim Wettbewerb »Komposition und Vortrag« gratulieren? Das war allerdings schon vor zwei Wochen gewesen.
»Salam, Baba.« Langsam ging sie auf ihn zu und streckte die Arme aus. Doch sie griff ins Leere. – Ihr Vater war zurückgewichen.
Es folgte ein knappes »Salam«. Das war alles.
Es gab keine Umarmung, keine Gratulation. Ein leises Ziehen machte sich in ihrer Kehle breit. Doch da erblickte sie ein kleines Päckchen, das die Tasche seines Jacketts ausbeulte. Hatte er ein Geschenk für sie mitgebracht? Dann wusste er bestimmt etwas von ihrem Preis.
»Baba, dann komm rein«!, forderte sie ihn auf. »Ich mach uns erst einmal einen Kaffee.«
Als sie die Tür aufsperrte, fragte ihr Vater: »Wo ist Anne?«
»Anne? … Ich weiß nicht.«
»Heute ist Donnerstag. Da ist sie doch normalerweise nicht im Fotostudio. Oder hat sich das geändert?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Dieses Interesse an Anne. Sollte er ihr gegenüber etwa wieder schwach geworden sein?
Ihn ablenken. Sofort ihn ablenken, damit er diese Gedanken vergaß.
»Hast du nicht etwas vergessen?« Sie deutete auf das Päckchen in seiner Jackentasche.
Für einen Moment stutzte er, dann räusperte er sich und meinte mit heiserer Stimme, indem er das Päckchen hervorzog und auf den Tisch vor sich legte: »Das ist für Anne. Am besten gebe ich es ihr selbst.«
Das saß. Julie ließ Kaffee Kaffee sein. Sie schwankte kurz, dann setzte sie sich auf den erstbesten Stuhl. Wenn das mit Anne wieder anfing und sie nachgab, dann hätten sie erneut Schlamassel. Mit Anne weiter zusammenzuwohnen, konnte sie dann vergessen.
»Du hast doch gesagt, du machst Kaffee?« Dieser Tonfall. Hatte sie überhaupt noch Lust, Kaffee zu machen? – Doch, ja, sie brauchte einen.
Sie holte tief Luft. Als sie aufstand, stand er ihr im Weg. Sie quetschte sich an ihm vorbei. Sollte er den Kaffee doch im Stehen trinken. Sie würde ihn nicht auffordern, sich zu setzen.
»Ich fahre gleich zu Anne ins Studio. Da werde ich sie sicher treffen.«
Dann brauchte er auch keinen Kaffee zu trinken. Sie setzte sich wieder.
»Was ist? – Hast du den Kaffee vergessen?«
Julie schwieg. Schließlich atmete sie tief durch und stand auf: »Nein, Baba, ich hab ihn nicht vergessen. Aber ich habe keine Lust, dir Kaffee zu machen, nur damit du ihn schnell herunterstürzt und dann zu Anne eilst. Ich habe mich gefreut, als ich dich hier sah, und ich dachte, du kommst meinetwegen. Aber da habe ich mich getäuscht. Ich wollte endlich das Kriegsbeil begraben, aber jetzt sehe ich keinen Anlass mehr dazu.« Sie schluckte und drehte sich weg von ihm. Nur keine Schwäche zeigen.
»Julie, was sagst du da? Kriegsbeil begraben? Von meiner Seite gab es nie Krieg. Ich habe dich und auch die anderen bloß nicht verstanden. Ich habe nicht verstanden, was ihr gegen die Beziehung zu Anne habt.«
»‹Gegen die Beziehung zu Anne habt?› Was? – Wieso ‹habt›? Seid ihr wieder zusammen?« Julie war laut geworden.
»Nein, nicht direkt, aber…«
»Wie bitte? Anne hatte dir doch klar gemacht, dass sie nichts mehr von dir will. Ihr hattet euch einvernehmlich getrennt.«
»Ja, das schon. Aber ich glaube, das war aus einer Laune von ihr heraus.« »Verdammt noch mal, das war keine Laune. Sie hat viel nachgedacht, und es hat ihr sehr leid getan, dass sie keine Rücksicht auf uns, deine Familie genommen hat.«
Er schwieg. Dann räusperte er sich erneut. »Ihr versteht mich nicht. Habt mich noch nie verstanden.«
Pah, jetzt kam die Selbstmitleidstour. Julie ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich möchte, dass du jetzt gehst.«
»Julie. Du bist meine Tochter. Ich habe dich geliebt. Ich tu es noch immer. So kannst du nicht mit mir umgehen.«
Mich geliebt? Sie fuhr sich durchs Haar. »Baba, das glaube ich dir nicht. Du hast nur Philippe geliebt. Er war alles für dich. Wir anderen waren dir nur lästig. Wir waren dir einfach nur im Weg.«
»Was redest du da? – Du hast alles von mir gekriegt.«
»Vielleicht materiell. Ja, das mag sein. Aber Liebe? Davon spürte und spüre ich nichts. Wie ich mich danach gesehnt habe. Wäre Mama nicht…«
»Das siehst du falsch, das war nicht so.«
»Nein, das war so. Spiel das nicht wieder herunter!«
Er ging zum Fenster und wieder zurück. »Julie, ich kann jetzt nicht weiter mit dir diskutieren.«
»Du kannst nicht oder du willst nicht? – Es ist wohl besser so. – Ich kann deine Zuneigung nicht erzwingen.«
Sie drehte sich weg. Sie sollte sich zusammenreißen. Aber es ging nicht. Tränen standen ihr in den Augen.
»Julie, bitte. Ich … ich.« Seine Stimme war leiser geworden. Er verstummte.
Julie wandte sich ihm wieder zu. Sein Gesichtsausdruck war irgendwie anders. Die Falten tiefer. Er sah zerknirscht aus. Sie kannte diese Miene von seinen Auseinandersetzungen mit Philippe, die ihn immer ziemlich getroffen hatten.
Julie ging schweigend zur Kaffeemaschine. Sie würde jetzt doch Kaffee machen. Nach einer Weile erklang Babas brüchige Stimme: »Weißt du … Anne … das mit Anne…«
»Ich möchte nichts davon hören. Es war schlimm genug.«
Julie reichte ihm die Kaffeetasse. Sie fuhr fort: »Wir haben alle darunter gelitten. Und waren froh, dass ihr einen Schlussstrich darunter gezogen hattet. – Außerdem hat Anne jetzt eine Beziehung. – Und wie es aussieht, ist es etwas festes.«
Das saß. Er setzte die Tasse, aus der er gerade trinken wollte, mit Schwung auf die Untertasse, so dass der Kaffee über den Rand schwappte. Aber es ging nicht anders. Sie musste ihm reinen Wein einschenken.
Seine fahle Gesichtshaut war noch fahler geworden. Sie war wohl zu brutal zu ihm gewesen. Ein Häufchen Elend stand ihr gegenüber. Er konnte einem ja leid tun.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich rauche?«, fragte er mit belegter Stimme und setzte sich auf den nächsten Stuhl. Julie schüttelte den Kopf.
Er fragte. Das war sie nicht gewöhnt von ihm. Du lieber Himmel, Anne … diese Frau machte ihn ganz durcheinander. Am liebsten hätte sie gesagt: ‹Baba, no woman, no cry.› Aber das wäre ziemlich abgedroschen und alles andere als hilfreich gewesen.
Ihr Vater zog an seiner Zigarette und verschluckte sich. Das war ja nicht mehr auszuhalten.
Julie nahm ihren Mut zusammen, atmete tief durch und setzte sich neben ihn. »Baba, schlag dir Anne aus dem Kopf! Sie ist vergeben. Tu etwas für dich! Fahr ein bisschen weg! Mach Urlaub!«
Ihr Vater saß vornübergebeugt und schwieg. Er wirkte wie ein geprügelter Hund.
Eine lange Zeit sagte keiner von beiden etwas.
Als er fertig geraucht hatte, stand er langsam auf.
»Ich danke dir für den Kaffee. Und…« Er stockte und blickte auf das Päckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag.
»Soll ich Anne dein Geschenk geben?«, ergänzte Julie.
Er nickte. Dann sagte er leise: »Wenn es dir nichts ausmacht.«
»Es ist okay.«
Sollte sie ihm jetzt von ihrem Preis erzählen? Ob ihn das interessierte? Sie könnte es doch mal versuchen.
Sie begleitete ihn zur Tür und bemerkte beiläufig: »Übrigens, ich habe den Wettbewerb in Komposition und Vortrag gewonnen.«
»Was? Das ist ja fantastisch, Julie, azizam. Du bist einfach genial. Ja, du bist meine Tochter. Ich freue mich. Es ist wunderbar.« Er umarmte sie. »Herzlichen Glückwunsch. Ich überlege mir etwas für dich, azize man. Ich bin so stolz auf dich.«
Nachdem sie sich mit »choda hafiz« und einem kurzen Winken voneinander verabschiedet hatten, ging sie langsam in die Küche zurück. Sie dachte über das Verhalten ihres Vaters nach. Es war von kühl und unnahbar bis hin zu bittend, fast flehend und schließlich stolz. Zum Schluss waren sie sich etwas nähergekommen, wie schon seit langem nicht mehr.
Justus Schmid hatte das Briefing der Abteilungsleiter zügig hinter sich gebracht. Er hatte keine Lust, sich mit ihnen über die Verschärfungen des Aufenthaltsrechts zu streiten, die einigen in dieser Runde sauer aufstießen.
Er atmete auf, als er seine Bürotür wieder hinter sich zugezogen hatte, lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. War da nicht ein leichter Duft nach Vanille? Der Duft von Julie Belova? Er blinzelte. Was für ein Blödsinn.
Seufzend widmete er sich der Akte, die Frau Meinhard ihm hingelegt hatte, doch er blickte ins Leere. Nichts blieb in seinen Gedanken hängen. Hinzu kam ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte – ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. Unglaublich, dass er so etwas einmal fühlen würde. Er war kein Jugendlicher in den Sturm- und Drangzeiten mehr. Doch offensichtlich hatte es ihn erwischt.
Schmid ging seinen Terminkalender durch. Musste er nicht noch etwas für die kommende Woche vorbereiten? Er müsste die Akte Lopez noch durchgehen. Ach, Quatsch. Wozu hatte er die Meinhard? Seine Sekretärin konnte eine Zusammenfassung erstellen. Mit dieser brauchte er sich heute nicht mehr zu beschäftigen. Auch machte es keinen Sinn, hier zu sitzen und verkrampft zu versuchen, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Da konnte er sich besser zu Hause mit einem Video ablenken.
Als er auf seine erst vor kurzem bezogene Villa zuschritt – zwei ineinander verschachtelte schneeweiße Gebäude mit vollständig verglasten Fassadenflächen – konnte er den Anblick nicht wie sonst auf sich wirken lassen. Zu sehr lenkte ihn dieses neue Gefühl ab.
Auf den Videofilm konnte er sich ebenfalls nicht konzentrieren. Am besten holte er das Lauftraining nach, zu dem er am Morgen nicht gekommen war. Er zog seine Jogginghose an. Mit zusammengebissenen Zähnen betrat er das Laufband und stellte die Geschwindigkeit auf höchste Stufe.
Als er nach einer Stunde durchgeschwitzt die Dusche aufsuchte, geisterte Julie Belova immer noch in seinem Kopf herum. Er ging zu Bett und gab sich seiner Phantasie hin. Mit ihren langen, schlanken Fingern strich die Tadschikin sanft über seine Lenden. Dann lag sie stöhnend, mit lustverhangenem Blick unter ihm. Wie sollte er das aushalten? Schließlich verschaffte er sich Erleichterung.
Eines war klar: Er musste sie unbedingt bald wieder treffen. Er nahm den Gesetzestext vom Nachttisch und befasste sich mit den erst vor kurzem in kraftgetretenen Ergänzungen zum Ausländerrecht. Wunderbar, sie waren verschärft worden. Es wurde ja auch Zeit, die Hungertuchnager bei sich bietender Gelegenheit auszuweisen.
Doch konnte er sich auch durch solche Gedanken nur kurz von der Tadschikin ablenken, und an Einschlafen war erst recht nicht zu denken. Schließlich stand er auf, trank ein Glas Wasser und ging auf und ab. Er würde sie gleich am nächsten Tag unter dem Vorwand in sein Büro einbestellen, er sei bei einer erneuten Prüfung der Vorschriften zu dem Ergebnis gekommen, das Foto ihres Cousins sei nicht scharf genug. Das Innenministerium habe angesichts jüngster Ereignisse seine Auflagen verschärft; sie musste ihm kurzfristig ein schärferes Foto vorbeibringen.
Gegebenenfalls würde er dann noch weitere Auskünfte benötigen. Vielleicht war der Cousin mehr als nur ein Verwandter, er konnte ihr Verlobter sein. Soweit er wusste, gehörte Tadschikistan zu den Ländern, in denen die Eheschließung zwischen den Kindern von Geschwistern nichts Außergewöhnliches war.
Um sechs Uhr schlief er schließlich ein und wachte nach einer Stunde wie gerädert auf. Dieser Zustand war völlig neu für ihn. Sonst war er immer Herr der Lage.
Er stand auf und ging zur Schublade, in der er eine Schachtel Zigaretten gebunkert hatte. Für außergewöhnliche Fälle. Für Fälle, in denen er Gefahr lief, die Contenance zu verlieren.
Er zündete sich eine Zigarette an. Was waren die stark. Und wie die schmeckten – eine Zumutung für seine Mundschleimhäute. Nachdem er den Glimmstängel auf einem Teller ausgedrückt hatte, ging er mit einem Liter Mineralwasser und einem Smoothie aus Banane, Hanfsamen und Spinat in den Fitnessraum und absolvierte sein Lauftraining. Dieses Mal reichte eine Stunde nicht. Er hängte noch 30 Minuten daran, um die Kontrolle über sich zu gewinnen und sich nicht zum Affen zu machen. Wichtig war, die Situation zu lenken, koste es, was es wolle. Ziehen in der Brust hin oder her. Es wäre doch gelacht, wenn er dieses Gefühls nicht Herr werden würde.
Dann nahm er sein Handy und tippte auf die Nummer von Julie Belova. Er hatte ihre Nummer gespeichert, als seine Sekretärin ihm die Akte vorgelegt hatte. Das machte er immer bei Kundinnen, in deren Unterlagen es etwas gab, was ihn interessierte. Meistens war es das Foto. Doch bei Julie kam noch etwas anderes hinzu. Es wehte ihn geradezu an.
Sprach man nicht von Schwingungen? Stopp jetzt. Das war doch ausgemachter Blödsinn. Kopfschüttelnd suchte er mit dem Handy den Balkon auf und atmete tief durch. Julie Belova ging nicht ans Telefon. Er würde sich im Amt mit ihr verbinden lassen. Das machte einen wichtigeren und seriöseren Eindruck.
Nachdem er geduscht hatte, betrachtete er sich im Spiegel. Wow, was war er attraktiv. Er konnte verstehen, dass die Frauen ihm hinterherliefen. Auch diese hochnäsige Tadschikin würde, nein, musste einfach anbeißen, da konnte sie sich noch so spröde geben.
Endlich war er ruhiger geworden. Er nahm etwas geräucherten Lachs, Kaviar, Toast und eine Avocado zu sich.
Als er das Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, holte er seine schwarze Lederjacke, in der er eine besondere Erotik ausstrahlte, aus dem Ankleideraum und hängte sie in die Garderobe als Vorbereitung für seinen nächsten Auftritt.
Er schritt den Flur zur Wohnungstür entlang und blickte vor Verlassen des Hauses vorsichtshalber auf den Monitor seiner Überwachungsanlage. Da bewegte sich doch jemand. Carmen Lopez. Er zog die Stirn in Falten. War die schon wieder da. Aber die würde nicht aufs Grundstück kommen. Er hatte das Schloss austauschen lassen.
Jede ihrer Bewegungen verfolgend setzte er sich in den Sessel vor dem Monitor. Nachdem die Lopez mehrmals am Gartentor gerüttelt hatte, schickte sie sich an, darüberzuklettern, und versuchte, in High Heels auf den Torvorsprung zu steigen. Sie rutschte ab und taumelte zurück auf das Pflaster des Torvorplatzes. Er zoomte sie heran. Ihr Gesicht. Das musste er genauer studieren.
Die Augen waren halb geschlossen und der Mund verzerrt. Sein Atem ging schneller. Er stellte den Ton ein. »Aua, au.« Wie spannend. Das geschah ihr recht. Sie wandte sich ab. Er zoomte den Hintergrund heran. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu ihrem popeligen Fiat zu humpeln und einzusteigen.
Eigentlich schade. Er hätte ihr gerne noch ein bisschen ins Gesicht geblickt. Aber wieso fuhr die nicht los? Sie wartete wohl auf ihn. Da hatte sie aber Pech. Er würde das Grundstück auf der Rückseite seiner Villa verlassen.
Passend zum Kamelhaarmantel wählte er seine Aktentasche und prüfte sein Aussehen im Spiegel. Der Anblick besänftigte ihn. An seinem Dodge angekommen spürte er den Impuls, vorsichtig über den metallicgrauen Lack zu streichen. War er verrückt? Wenn ihn jemand beobachtete. Er musste ganz lässig tun, als sei der Wagen nichts Besonderes. Aber er stellte nun einmal etwas Außergewöhnliches dar. Etwas, was er genoss, und wenn er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, mit Hingabe. Ein Traum. Dieses Schnurren des Motors.
Auf dem Weg zu seinem Büro ging er noch einmal in Gedanken die Causa Carmen Lopez durch. Er hatte sie ad acta gelegt. Sie war ausgereizt. Nichts mehr. Nada. Keinen Gedanken würde er mehr an sie verschwenden. Das wäre vertane Zeit. Und seine Zeit war kostbar. Er hatte sich geschworen, sie nur mit besonderen Reizen zu füllen.
Es war Freitag und das Amt fast verwaist, doch seine Sekretärin musste ihre Fehlzeiten ausgleichen. Gleich beim Betreten ihres Büros rief er ihr zu: »Rufen Sie Frau Belova an und verbinden Sie mich mit ihr! Ich sende Ihnen die Nummer gleich…«
»Ja, natürlich, Herr Schmid. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein. Rufen Sie nur diese Nummer an! Das genügt.«
»Okay.« - »Herr Schmid. Ich verbinde.«
Ein etwas zögerliches »Julie Belova« erklang.
Die Stimme. Er schwitzte. »Frau Belova. Guten Morgen. Entschuldigen Sie! Ich hoffe, ich störe nicht.« -
»Guten Morgen.«
Er wollte ihr keine Zeit geben, nachzudenken und sein Verhalten vielleicht seltsam zu finden.
»Frau Belova, ich habe das Foto Ihres Cousins auf dem Antrag noch einmal angesehen. Auch wenn ich gerne Gnade vor Recht ergehen lassen möchte, es ist zu unscharf. Es tut mir leid. Ich brauche ein schärferes.«
»Okay, ich schau nach.«
»Das wäre prima. Wenn Sie wollen, können Sie heute noch vorbeikommen. Sagen wir um 14 Uhr?«
»Hm … Wenn ich kein anderes Foto finde, melde ich mich noch mal bei Ihnen.«
»Okay. Ansonsten bleibt es bei heute Nachmittag.«
Das klappte ja wie am Schnürchen. Schmid lächelte zufrieden. Was für ein Tag. Er würde jetzt erst einmal alles ruhig angehen lassen und sich später auf sie vorbereiten.
Nach dem Telefonat mit Schmid legte Julie ihr Handy aus der Hand. Was sollte das? Schmid hätte doch seine Sekretärin beauftragen können, ihr das mitzuteilen. Sie stand auf und ging hin und her. Komisch. Irgendwie war das nicht normal. Ein eigenartiger Typ. Sie würde nicht zu ihm gehen. Am besten erledigte das ihr Vater. Es ging schließlich um den Sohn seines Bruders.
Sie öffnete die Schublade mit ihren persönlichen Sachen und nahm ganz behutsam die beiden Fotos heraus, die Faruk dem Antrag beigefügt hatte. Hoffentlich klappte es damit, und er konnte bald einreisen. Ein Foto würde sie behalten.
Sie hielt es wie wertvolles, zerbrechliches Glas in der Hand und fuhr mit ihrem Finger über seinen fein geschwungenen Mund, der durch einen Dreitagebart besonders sinnlich wirkte. Ein Prickeln durchzog sie. Es wurde Zeit, wieder zu spüren, wie sehr er sie begehrte. Er hatte es ihr schon einmal gezeigt – in Tadschikistan, ausgerechnet im verschwiegenen Hinterhof einer russisch-orthodoxen Kirche.
Doch es hatte nicht viel gefehlt, und sie wären entdeckt worden, als ein Pulk Frauen schwatzend an ihnen vorbeirauschte. Faruk hatte ihr Gesicht behutsam in seine Hände genommen und ihren Mund geküsst.
Julie schluckte, Tränen traten ihr in die Augen. Sie nahm ihr Handy und rief ihren Vater an.
»Firuz Belova.«
»Salam. Che touri?«
»Salam Julie. Bad nissam … Che touri?« Seine Stimme klang zögernd.
»Mersi, chubam.«
»Gut, dass du anrufst. Hast du … hast du das Geschenk…?«
Fing er schon wieder damit an? »Nein. Ich habe Anne noch nicht gesehen. Aber ich gebe ihr dein Geschenk, sobald sie nach Hause kommt.«
»Okay, vergiss es nicht!«
Julie atmete tief durch. »Ich habe eine Bitte. Justus Schmid, der Leiter der Ausländerbehörde hat mich angerufen … Er braucht ein schärferes Foto von Faruk. – Könntest du … könntest du vielleicht eins bei Herrn Schmid abgeben? Heute Nachmittag um 14 Uhr? Ich habe ganz vergessen, dass meine Nachhilfeschülerin kommt.«
»Ich wollte eigentlich zum Steuerberater. Kannst du den Termin bei diesem, wie heißt er…?«
»Schmid, Justus Schmid. – Ich glaub nicht, dass er begeistert ist, wenn ich den Termin verschiebe. Er hat schon beim letzten Termin so komisch reagiert.«
»Was ist mit deinem Bruder?«
»Du weißt, dass ich Philippe nicht gerne frage. Er wird es außerdem sowieso ablehnen.«
»Warum?«
Sie spürte einen Druck in der Kehle. Das gab es doch nicht. Er schnallte es wohl nie, dass sie nicht die besten Freunde waren.
»Kannst du zu Justus Schmid gehen oder nicht?«
»Kannst du der Nachhilfeschülerin nicht absagen?«
»Das geht nicht. Die braucht die Stunde dringend.«
Der Druck in Julies Hals wurde stärker. Mann … ihr wurde heiß. Sie ging in ihrem Zimmer auf und ab. Sollte sie doch zu Justus Schmid…? Würde er sich nicht ärgern, wenn sie ihren Vater schickte?
»Okay, ich gehe hin. – Bring mir das Foto vorbei!«
»Mach ich. Bist du im Atelier?«
»Ja.«
»Ich mach mich gleich auf den Weg. Bis dann.«
»Chodahafiz.« Sie beendete das Telefonat.
Ihr Blick schweifte über die kahlen Linden vor ihrem Zimmer. Sie war nicht so erleichtert, wie sie erwartet hatte. Schließlich drehte sie sich energisch um, ging in die Küche und machte sich einen starken Kaffee. Gedankenverloren nahm sie die beiden Fotos von Faruk, legte eins davon in die Schublade zurück und steckte das andere mit einem Kuvert in ihre Handtasche.
Am Atelier ihres Vaters angekommen, stieg sie mit Schwung vom Fahrrad. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen. Mit seiner holzumrahmten Glasfassade und dem Walmdach bis zum Boden sah das Atelier einladend aus. Ihre Mutter hatte ihm damals geholfen, es zu finden. Sie hatte sich sogar überwunden und war allein mit dem Auto in verschiedene Gärtnereien gefahren, um den Garten mit Zwergkiefern, Rot-Ahorn und Felsenbirne zu gestalten.
Hätte sie gewusst, dass es nicht nur als Atelier diente, sondern auch als Ort, an dem er sich mit seinen Amouren ungestört vergnügen würde, hätte sie bestimmt keinen Schritt auf dieses Grundstück gesetzt. Mama war ihm nach 25 Jahren Ehe lästig geworden, und dann war eine Liebelei nach der anderen gefolgt.
Wie die Felsenbirne ihre Zweige von sich streckte. Irgendwie symbolisierte sie ihren Vater, der seine Arme nach Frauen reckte. Er hatte kein Glück mit ihnen – bis auf Anne hatten es alle auf sein Geld und Renommee abgesehen.
Als sie das Atelier betrat, musste sie ihren Vater erst einmal suchen. Schließlich fand sie ihn im Obergeschoss auf einem Teppich liegend. Er schlief.
Da konnte sie sich in Ruhe umsehen. Alles hatte er mit bemalten Leinwänden vollgestellt. Von einem Bild leuchtete ihr Annes grellroter Pony entgegen. Bis auf das Kopftuch war sie nackt. Ein Auge war geschlossen, als wäre es verklebt. Das andere riesengroß. Eiskalt starrte es Julie an. Sie bekam Gänsehaut. Hatte er so die Trennung von ihr aufgearbeitet?
Sie beugte sich zu ihrem leise schnarchenden Vater. »Baba, ich bin da.«
Als er sich nicht bewegte, versuchte sie es noch einmal, diesmal mit etwas Nachdruck. »Hallo, ich wollte dir das Foto vorbeibringen.«
Ihr Vater blinzelte. »Was … was ist los? Ich … ich bin eingeschlafen. Ich habe die Nacht schlecht geschlafen.«
»Oh, tut mir leid.«
Sie stutzte etwas, als sie das Foto auf den Glastisch legte. Da lag eine Tablettenschachtel mit einem Beruhigungsmittel, das auch ihre Mutter eingenommen hatte, nachdem sie von der Affäre ihres Vaters mit Anne erfahren hatte. Nahm ihr Vater das, um besser über die Trennung von Anne hinwegzukommen? - Sollte sie ihn fragen? Nein, besser wäre es, sie fragte ihn ein anderes Mal. Außerdem war sie nicht seine Therapeutin.
»Ich habe dir auch eine Einladung zu dem Benefizkonzert mitgebracht, bei dem ich mit Eduard Wollny auftrete.«
»Okay«, murmelte er und schloss die Augen.
»Ist es nicht besser, du stellst deinen Handywecker? Sonst verschläfst du den Termin bei der Ausländerbehörde noch.«
Ihr Vater blinzelte. »Okay. Stellst du ihn bitte?«
»Ja, gut. Ich stelle ihn auf 12:30 Uhr.«
»So früh?«
»Heute ist Freitag. Da arbeiten die normalerweise bloß bis Mittag. Justus Schmid scheint eine Ausnahme zu machen, da er mich für 14 Uhr einbestellt hat.«
»Wenn du meinst. – Kannst du mich jetzt bitte schlafen lassen?«
»Ja, okay.«
Mit geschlossenen Augen drehte er sich auf die Seite.
Sie blickte ihn aufmerksam an. Sein einstmals dichtes blauschwarzes Haar war grau und schütter geworden, und an seinem Hinterkopf zeichnete sich eine kahle Stelle ab. Außerdem hatte er, ehemals schlank und rank, einen Bauch angesetzt.
Seinen Charme und seine Großzügigkeit Frauen gegenüber hatte er behalten, wenn sie Annes Worten Glauben schenken konnte. Sie hatte ihm bestimmt gut getan, aber Julie hatte nicht mitansehen können, wie Mama unter Annes Beziehung zu Baba gelitten hatte. Es war für Julie so, als ob nicht ihre Mutter von Baba verlassen worden wäre, sondern sie selbst. Und alles, was sie in ihrem Leben an Vernachlässigung durch ihn erfahren hatte, war wieder hochgekommen.
Zu Hause widmete sie sich ihrem Handy. Vielleicht hatte Faruk ein Lebenszeichen hinterlassen. Wenigstens ein klitzekleines Zeichen, mehr wollte sie nicht. Aber sie fand nichts von ihm.
Wie lange war er noch fern jeder Stadt in der Wildnis unterwegs? Hoffentlich passte er auf sich auf. Die Verhaltensbeobachtung von Schakalen war nicht ungefährlich. Vereinzelt unterbrachen Bären ihren Winterschlaf und verließen ihre Höhle, um zum Beispiel Wurzeln zu fressen. Kam ein Mensch zu nahe, fühlten sie sich bedroht und griffen ihn an.
Na ja, der Job war typisch für ihn, den kleinen Adrenalinjunkie. So liebte er es auch, mit seiner Enduro-Maschine unwegsames Gelände unsicher zu machen. Bei diesen Gedanken wurde ihr schummrig. Hoffentlich klappte es mit der Einladung bald.
Schmid blickte sich um. War alles sauber und an Ort und Stelle, wie es sein musste? Vor der Kaffeemaschine gab es einen Fleck. Und in der Ecke hatte eine Spinne ihr Spiel getrieben. So ein Saustall. Hatte die Putzfrau das denn nicht gesehen? Er musste unbedingt der Sekretärin den Auftrag geben, sie noch schnell kommen zu lassen, ehe er die Tadschikin empfing.
Und wie sah er aus? Schmid ging in seinen Toilettenraum und betrachtete sich vor dem Ganzkörperspiegel, den mehrere LED-Lampen beleuchteten.
Er fuhr sich genüsslich durchs Haar. Julie Belova würde nicht mehr aus dem Schwärmen herauskommen. Er war gespannt, wie dieser Termin, der fast schon ein Date war, ablief.
Er hatte sein Lieblingsparfum, das er sich für Carmen Lopez angeschafft hatte, noch da. Bei ihr war das rausgeschmissenes Geld gewesen, wie er bald hatte einsehen müssen. Bei der Tadschikin war es etwas anderes. Diese feingliedrige, vornehme junge Frau mit ihren Reh-Augen. Er hätte gerne mehr über ihre Herkunft gewusst. So wie sie sich gab, schien sie großen Wert auf Anstand und Lebensart zu legen.
Nun, er würde einen solch mächtigen Eindruck bei ihr hinterlassen, dass sie ihre guten Manieren vergaß, Tag und Nacht von ihm träumte und sich nach Sex mit ihm verzehrte. Auf allen Vieren vor ihm kriechend. Und in diversen anderen besonderen Stellungen. Sein Puls ging schneller.
Er zupfte an seinem Hemdkragen. Hätte er eine Krawatte umbinden sollen? – Das war viel zu bieder. Lieber etwas rasierte Haut hervorschauen lassen.
Er blickte auf die Uhr: 12:50 Uhr. Es war noch Zeit genug. Die Putzfrau musste kommen und alles in Ordnung bringen, sonst konnte er sich nicht konzentrieren.
Er rief seine Sekretärin an. »Frau Meinhard, schicken Sie mir die Putzfrau!«
»Tut mir leid, Herr Schmid, aber sie ist nicht da.«
»Wie – die ist nicht da? Dann schicken sie mir eine andere.«
»Die Vertretung ist beschäftigt.«
»Ist beschäftigt? Was? Liebe Frau … was ist mit Ihnen los?«
Das war ja der Gipfel. So ging die mit ihm um? Die war doch sonst nicht so. Fraß ihm aus der Hand. Und heute so ein Gezicke. Na ja, er würde mal ein Auge zudrücken. Sie hatte Glück, dass er so gut drauf war.
»Da wäre noch die Frau Kruschenko. Sie putzt sonst nur im zweiten Stock.«
»Okay, dann schicken Sie mir die!«
Er nahm seinen Laptop und ging in den als Konferenzraum eingerichteten Nebenraum. Er wollte sich noch einmal in die Gesetzesbegründung vertiefen.
Doch eine Fliege, die ständig über seinen Bildschirm surrte, lenkte ihn ab. Das war doch zum Auswachsen. Er stand auf, rief die Putzfrau, die gerade in sein Büro gekommen war, und befahl ihr, die Fliege zu entfernen.
»Äh, Frau…«
»Guten Tag, Herr Schmid. Ich bin Frau Kruschenko. Wir hatten noch nie miteinander die Ehre.«
Was wollte dieses dreiste Weibsbild? – Es war wohl auch besser so, nichts mit dieser distanzlosen Person zu tun haben zu müssen. Wie die aussah. Diese blau aufgemalten Augenbrauen. Und die Barthaare. Widerlich.
Tief durchatmend drehte er sich weg, um den Würgereiz in den Griff zu bekommen. Zum Glück hatte er Erfolg.
Nach 20 Minuten ging er zurück in sein Büro, das jetzt frisch duftete. Eines musste man dieser impertinenten Putze lassen, sie hatte gründlich durchgelüftet und den Raumbefeuchter angestellt, sodass das Atmen angenehm war. Eine gute Raumatmosphäre – die halbe Miete. Sein Magen knurrte. Er würde Frau Meinhard bitten, ihm etwas vom Chinesen zu holen. Etwas Leichtes, gut Verdauliches, was nicht schläfrig machte.
Er nahm das Essen im Nebenraum ein, wo er ungestört war, nippte an seinem Espresso und überlegte, wie er die verbleibende Zeit am besten hinter sich bringen konnte. Zu Frau Meinhard gehen und mit ihr einen kleinen Plausch beginnen? Da würde das Wetter als Thema dran glauben müssen – so ziemlich das einfältigste, was man sich vorstellen konnte. Wie sich manche Menschen darüber ereifern konnten, war ihm ein Rätsel.
Am besten wäre es, er würde sich erst einmal die Beine vertreten und eine Zigarette rauchen. Und dann im Internet surfen und die neuesten Nachrichten durchlesen. So verging wenigstens die Zeit.
Als der Handywecker klingelte, griff Firuz Belova schlaftrunken neben sich ins Leere. Sein Smartphone lag zu weit weg. Ächzend stand er auf. Er fühlte sich alt. So steif. Sein Rücken schmerzte. Vielleicht sollte er sich das nächste Mal auf die Ottomane legen. Aber er liebte es, sich auf dem Boden auszuruhen, da er sich dadurch erdverbunden fühlte.
Er klaubte Jeans und Pullover auf und schlich in die Dusche. Dass er zu diesem Schmid musste, passte ihm gar nicht. Der sollte sich mal nicht so aufspielen von wegen schärferem Foto.
Als er fertig geduscht hatte, rasierte er sich und entfernte seine Nasenhaare. Noch nicht wirklich wach, stieg er barfuß die Holztreppe in das Erdgeschoss hinab und machte sich in der kleinen Küchenzeile einen Espresso. Dann nahm er die Tasse und die Zigarettenschachtel und setzte sich mit nackten Füßen auf die Terrasse. Obwohl ein kalter Wind blies, blieb er sitzen und blickte auf die hohen Pappeln im Nachbargrundstück.
Zusammen mit seinem Garten bildeten sie ein Kleinod. Seinen Zufluchtsort. Er atmete tief durch. Hier konnte ihn keiner stressen, selbst die schönste Frau nicht. Und auch Anne nicht, von der er wieder geträumt hatte und die er immer noch liebte.
Bei dem Gedanken an sie spürte er ein Kribbeln wie von Tausenden Ameisen, die sich einen Weg über seinen Körper bahnten. Allerdings hatte sein Traum mit Annes spöttischem Gelächter geendet, das er zum Schluss ihrer Beziehung immer wieder gehört hatte und das so schmerzte. Auch jetzt.
Dass das alles so enden musste. Hätte Julie nicht verrückt gespielt, wäre er immer noch mit Anne zusammen.
Schließlich stand er auf und ging ins Atelier zurück.
Wo war das Foto von Faruk? – Wie sollte er das in dem Verhau bloß finden? Früher hatte Isabel wenigstens sein Atelier aufgeräumt. Aber jetzt kümmerte sie sich überhaupt nicht mehr um ihn. Nur immer um Sammy, den sie verzogen hatte. Dadurch war er jetzt so durchgeknallt.
Sie hatte zu ihm gesagt: ‹Dein Sohn ist Autist und braucht daher besondere Aufmerksamkeit.› Wie sie sich angeschrien und gegenseitig Vorwürfe gemacht hatten; Sammy war regelmäßig ausgerastet. Es war so schlimm, dass er ihn in die Psychiatrie gefahren hatte, was ihm die Familie nicht verziehen hatte.
Wie die sich aufgeregt hatten. Am Schlimmsten war Philippe gewesen, der ihn als unfähigen Vater beschimpft hatte. Würde er ihn nicht so lieben, hätte er schon längst mit ihm gebrochen. Aber er war sein ältester Sohn, und er war stolz auf ihn. Auf seine männliche Art, wie er sich gab, und seine Intelligenz, die er von ihm hatte.
Hätte Isabel in der Schwangerschaft besser aufgepasst, wäre es nicht zu der Frühgeburt gekommen, und auch Sammy wäre heute ein interessanter Mann, ebenso klug und talentiert wie sein Vater. Aber so war nichts anzufangen mit ihm, überhaupt nichts. Er war ein Kretin und blieb ein Kretin. Daran war nichts zu rütteln.
Wo konnte Julie nur das Foto hingelegt haben? Er würde sie anrufen, ehe er hier wertvolle Zeit vertat. Doch sie hatte ihr Handy ausgeschaltet. Also musste er weitersuchen – eine Zumutung. Er hatte Wichtigeres zu tun, als hier rumzusuchen.
Er wollte sein neues Bild auf die Leinwand bannen. Eine Skizze dazu hatte er bereits gestern angefertigt. Die Szene mit den Kränen, die wie schwarze Galgen in den Himmel ragten. Daran würde die Sünde baumeln. Aufgedunsene Körper, die vor Wollust geborsten waren, sodass die Innereien herausquollen.
Nach der Zeit mit Anne gab es für ihn nur destruktive Szenen, verwendete er dunkle Töne, schwarz, braunschwarz, ocker. Bei den Körpern würde er aber ein Orange mit Pink wählen und ein Grauweiß, das war für die, die schon länger am Galgen baumelten, die fahl geworden waren, eventuell noch ein Grau-Oliv für die Verwesung. Er hatte den Geruch nach verfaultem Fleisch in der Nase.
Da er sich dieser Empfindung nicht weiter hingeben und sie auf die Leinwand übertragen konnte, zog er eine weitere Zigarette aus der angeknüllten Schachtel und zündete sie an. Schließlich kam ihm der Gedanke, vielleicht hatte Julie das Foto ins Obergeschoss gelegt. Tatsächlich. Da lag es auf dem kleinen Tisch vor der Ottomane. Neben einem Plakat mit goldenen Lettern auf dunkelblauem Untergrund. Er las: HERZLICHE EINLADUNG ZUM BENEFIZKONZERT. Unter der Angabe von Ort und Datum waren Julie und ein junger Mann zu sehen.
Wann fand das Konzert statt? Am 15.– Da war er auf eine Vernissage eingeladen. Die konnte er sich nicht entgehen lassen. Er musste unbedingt hingehen, um weitere Connections zu knüpfen. Geld und Adel waren vertreten. – Wie abhängig er vom Kunstbetrieb war.
Seufzend wandte er sich ab und ging zurück ins Erdgeschoss. Da er nicht wusste, wo er seinen Kamm gelassen hatte, fuhr er sich mit den Fingern durch sein Haar. Das musste reichen. Er steckte sich eine Gauloise an, nahm den Autoschlüssel und stieg in seine Rostlaube, ein uralter Renault Twingo.
Wie Anne beim Anblick seines Autos immer ihr Stupsnäschen gerümpft hatte. Sie war nur flotte Sportwagen gewohnt. Dieses Auto hatte sie gehasst, er aber liebte es. Er kam sich so richtig dekadent darin vor. Viel Benzin war nicht mehr im Tank, aber den Hinweg würde er schon schaffen.
Zum Glück gab es jede Menge Parkplatz vor dem monsterartigen Gebäude. Wie hieß der Typ gleich wieder? Er blickte auf die Visitenkarte. Schmid. Justus Schmid. Leiter der Ausländerbehörde. Dann würde er den mal kennenlernen.
Er hatte schon gehört, dass manche Einladungen aus fadenscheinigen Gründen nicht erstellt worden waren. Und wenn man Beschwerde einlegte, war er nicht zu sprechen. Diesmal hatte er immerhin einen Gesprächstermin vergeben – offenbar ein gutes Zeichen. Zwar ein Termin für Julie, aber trotzdem. Dabei handelte es sich nur um das Nachreichen eines besseren Fotos. Seit wann kümmerte sich der Chef der Ausländerbehörde um einen einzelnen Besucherantrag? Irgendwie war das seltsam.
Gedankenverloren stand Firuz Belova vor der Bürotür, als diese sich öffnete. Um ein Haar wäre er mit einem gutaussehenden Mann zusammengestoßen. Oho. Bei Frauen hätte man ‹Schnittchen› gesagt. Aber das passte für diesen Mann natürlich nicht. Gab es einen entsprechenden Ausdruck für einem den Kopf verdrehenden jungen Mann? Ein Adonis? Wie alt er wohl war – Ende Zwanzig?
»Zu wem möchten Sie?«, riss er Firuz aus den Gedanken.
»Mein Name ist Firuz Belova. Ich wollte gerne zu Herrn Schmid, Justus Schmid.«
»Da sind Sie richtig. Gestatten, Justus Schmid. Und Sie sind der Vater von Julie Belova, nehme ich an.« Er räusperte sich kurz. »Nun – ich hatte mit Ihrer Tochter gerechnet.«
Der war ja nicht gerade höflich. »Es tut meiner Tochter leid. Ich soll Sie von ihr grüßen.« Das hatte sie zwar nicht gesagt, aber das war sicher angebracht. »Ihr ist ein wichtiger Termin dazwischengekommen.«
Au wei, der machte ja eine Miene. Und diese Augen. Interessant, ein dunkles Gelb, fast wie Ocker. Irgendwie raubtierartig, bei Menschen äußerst selten, zumindest in Deutschland.
Die schwarzen Augenbrauen, die er zusammenzog. Das ging einem durch und durch. Jetzt schaute er auch noch auf seine Armbanduhr. Eine Omega in Gelbgold. Woher hatte er so viel Kohle – als Beamter einer Behörde? Und dieses Geräusper. Der wirkte ja alles andere als angenehm. Ob er sich ärgerte, dass Julie nicht gekommen war? Es sah fast so aus. Der sollte sich mal nicht so anstellen.
»Treten Sie näher! Viel Zeit habe ich allerdings nicht.« Dass er ihn nicht gleich rausschmiss, grenzte an ein Wunder.
Mit den Worten »nach Ihnen« ließ Schmid ihm den Vortritt in sein Büro.
Nicht schlecht. Ziemlich außergewöhnlich. Seit wann statteten Beamte ihre Büros so exklusiv aus? Aber etwas steril wirkte es schon. Ein Farbkleks an der Wand würde einiges ändern.
»Ah, Sie sehen sich um?« Jetzt lächelte er sogar, wirkte nicht mehr ganz so unsympathisch. Das Ocker seiner Augen hatte sich in Bernstein verwandelt. Interessant. Noch nie hatte er so eine Intensität des Farbwechsels der Augen wahrgenommen.
Es fiel ihm nicht gerade leicht, seinen Blick von Schmid weg auf seine Hosentasche zu wenden und ihm das Foto von Faruk zu geben.
»Nun, das sieht doch schon mal wesentlich besser aus als das, was im Antrag abgedruckt ist«, äußerte sich Schmid zufrieden.
Firuz betrachtete ihn erneut. Der gäbe ein interessantes Modell ab. Ob er ihn fragen sollte? Nein. In dieser offiziellen Atmosphäre wäre das unpassend. Aber er konnte ihn in ein Café einladen und ihm dort sein Interesse bekunden.
Schmid war plötzlich verstummt. Hatte er ihm eine Frage gestellt? Firuz Belova beeilte sich zu fragen: »Entschuldigung. Ich habe gerade über Ihre Aussage von vorhin nachgedacht. – Das heißt im Klartext, das Foto passt? Das freut mich. Da können wir ja sicher bald mit der Einreise meines Neffen rechnen, wenn es in der deutschen Botschaft schnell geht.«
»Aber natürlich, Herr Belova. Unsererseits steht dem nichts mehr entgegen. Hoffen wir mal, dass die Botschaft keine Mucken macht. Aber erfahrungsgemäß wird es glatt gehen. Ihre Tochter wird die Einladung in den nächsten Tagen per Post erhalten.«
»Prima. Dann bedanke ich mich schon mal.«
Schmid stand lässig auf und reichte ihm die Hand. Fester Händedruck, ein interessanter Mann. Auch wenn dieser am Anfang rumgezickt hatte, nahm er sich vor, ihn bald persönlich zu treffen.
Der Tag ihres Auftritts war gekommen. Julie hatte die letzten Tage viel Zeit an ihrem Flügel verbracht und mit Eduard, dem Countertenor, den sie begleitete, das Konzert vorbereitet. Als sie zuletzt zusammen geübt hatten, hatte sie sich verspielt, und Eduard hatte zu spät eingesetzt – keine guten Voraussetzungen für eine reibungslose Vorstellung.
Doch sie musste diese Gedanken sofort stoppen. War sie verrückt, diese Negativität zuzulassen? So beschwor sie ein Scheitern doch geradezu herauf.
Sie blickte auf die Uhr. Es war noch Zeit genug von ihrer Aufregung herunterzukommen und sich positiv einzustimmen. Julie stand zögernd vor ihrem antiken Kleiderschrank und überlegte, was sie passend zur Stimmung, die die Musik ausdrückte, anziehen sollte. Da würde etwas Romantisches passen.
Aber brauchte sie das eigentlich? Faruk hatte öfter gesagt: Julie, du siehst immer romantisch aus, egal ob und was du trägst. Und sie war errötet. Ihr wurde warm. »Ja eschkeman, wärest du da, würde ich für dich spielen, und ich hätte nichts, aber auch gar nichts an, kein Fitzelchen«, sprach sie halblaut vor sich hin. Sie schwitzte.
Neulich hatte sie sich doch überlegt, ihren grauen Samtanzug und darunter die weinrote Seidenbluse anzuziehen. Das würde passen. Sie trug hellen Puder auf, der ihr Gesicht noch vornehmer erscheinen ließ und tauschte die Brille mit der violetten Fassung gegen die mit der schwarzen. Die Kombination ‹vornehm› und ‹romantisch› hatte etwas Prickelndes an sich.
Auch bei Eduard kam diese verheißungsvolle Verbindung an. Er trat am Eingang des Foyers von einem Fuß auf den anderen und lächelte sie etwas errötend an. Sein beiger Anzug spannte. Und die Hose war viel zu kurz. Doch sie würde sich davon nicht irritieren lassen.
»Hallo, Eduard. Durchatmen und nicht vergessen, du hast das letzte Mal einfach brillant gesungen! Und das klappt heute auch wieder.«
Er wurde zusehends ruhiger, seine Haltung gerader.
»Schülie.« Oh – Sammy war da. Wie schön.
Kaum hatte sich Julie umgedreht, lief ihr er ihr auch schon in die Arme. Doch so schnell er zu ihr gelaufen kam, so schnell schien er kurz darauf das Weite suchen zu wollen. Zum Glück stellte sich Mama in den Weg.
»Sammy, bitte. Wir wollen doch Julie zuhören.«
»Schülie zuhören, hm.« Wie ein Kreisel drehte er sich um die eigene Achse. Ihre Mutter fuhr sich nervös durch das Haar. Das machte sie immer, wenn sie nicht mehr weiter wusste.
»Warte, Mama, ich nehme Sammy mit rein!«
»Danke.«
Eigentlich musste sie sich auf das Konzert konzentrieren. Aber da kam Philippe, und sie atmete erleichtert durch, als sie ihn sah. Der hatte seinen kleinen Bruder immer im Griff.
»Sammy, kommst du mit mir? Schau, da gibt es Pizza!« Mit diesen Worten ging er mit ihm ans Buffet.
Julie winkte kurz ihrer Mutter zu, drehte sich zu Eduard um, und hakte sich bei ihm unter. Es fühlte sich gut an, mit ihm durch den sich füllenden Saal zur Bühne zu schreiten.
Allem Anschein nach machte sie Eduards Aussehen wett. Manche Blicke des Publikums, die auf ihr ruhten, wirkten wohlwollend.
Auf der Bühne angekommen rauschte es in ihren Ohren. Was für ein fulminanter Applaus. Julie schloss kurz die Augen. Der Beifall vibrierte in ihr. Das war genau der Auftakt, der ihr ungeheure Kräfte verlieh. Die Blicke des Publikums ließen ihr Herz schneller schlagen, und sie saugte die Erwartungen förmlich auf. Adrenalin breitete sich in ihrem Körper aus und ließ sie andächtig den Flügel betrachten. Doch plötzlich, wie von einer magischen Kraft gelenkt, blickte sie auf und kurz in den Konzertraum.
Ihr Atem stockte. In der zweiten Reihe saß Justus Schmid. Wie kam denn der hierher? –
Sie griff in die Tasten, Hitzewallungen stiegen in ihr hoch. Lass dich nicht beirren, sagte sie sich, während ihr Anschlag immer kraftvoller und sie im weiteren Konzertverlauf immer sicherer wurde.
Doch dann hörte sie: »Timme laut. Schülie gehen! Timme laut.« Oh Gott, Sammy. Er wurde lauter und lauter, zusammen mit Eduard. Konzentrier dich. Ruhig. Verdammt. Sammy laut und Schmid anwesend. Konzentrier dich. Sie atmete durch. – Glück gehabt. Die erste schwierige Passage hatte sie souverän gespielt. Sie hatte es doch noch drauf.
»Timme … Timme laut.« Sammys Rufe wurden gedämpfter. Wahrscheinlich verließen sie gerade den Saal. Er schien Probleme mit Eduards Falsettstimme zu haben. Die war etwas außergewöhnlich, aber gerade das machte das Renaissance-Stück originell. Sie war gewissermaßen das Sahnehäubchen. Aber für Sammy war es Folter.
Sie musste die Zähne zusammenbeißen. Da musste sie durch. Sie würde es schaffen. Da, die nächste Stelle, die sie immer wieder hatte üben müssen. Auch diese saß. Gott sei Dank. Das war jetzt ein Klacks. Und die nächste … die letzte schwere.
Geschafft. Sie gab wirklich alles. Das Stück dauerte nicht mehr lang. Dann musste sie sich um Sammy kümmern.
Als sie nach dem Schlussakkord aufstehen wollte, hatte sie das Gefühl, sich nicht bewegen zu können. Ihre Beine waren Bleiklötze. Sie musste doch zu Sammy. Erst als Eduard, der kurz hinter der Bühne verschwunden war, auf sie zukam, schaffte sie es schließlich, aufzustehen und mit ihm gemeinsam dem fulminanten Applaus zu lauschen, ehe sie durch die Seitentür in den Saal ging.
Wo war Sammy? Suchend blickte sie sich um.
