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Dies ist die Geschichte von Sacha – erzählt aus der Perspektive seines Vaters. Es ist die Chronik einer persönlichen Krise, die bereits vor der Corona-Pandemie beginnt und sich während des ersten Lockdowns verschärft. Was Experten lange Zeit als normale ›Begleiterscheinungen‹ dieses Alters abtun, entpuppt sich zunehmend als komplexes und undurchsichtiges Netz unterschiedlicher Ursachen. Verstärkt durch seinen Cannabis-Konsum und die damit einhergehenden Persönlichkeitsveränderungen rutscht Sacha immer tiefer in eine Depression. Aus dem anfänglich rauen Wind entsteht ein heftiger Sturm, der ihn mitreisst und zu verschlingen droht. Angstzustände, Paranoia, Selbstverletzungen und Suizidgedanken dominieren den Alltag des knapp Volljährigen und belasten sein Umfeld. Zeitweise durch ihre Angst gelähmt, aber stets getragen von ihrer tiefen Liebe und dem Glauben an ihren Sohn, suchen seine Eltern unermüdlich nach neuen Lösungen. Und dennoch wird bald klar: Sacha kann unmöglich zu Hause bleiben. Es beginnt eine fast zwei Jahre dauernde, durch zahlreiche Rückschläge geprägte Odyssee. Sacha durchlebt seine schwierigste Lebensphase: vom betreuten Wohnen auf die Strasse, von der offenen und geschlossenen Psychiatrie bis hin zu persönlichen Coachings – mit einer einzigen Konstante: seinem Cannabiskonsum, der seine inneren Stürme weiter toben lässt. Erst als er erkennt, dass er selbst grundlegend etwas ändern muss und nach Frankreich zu gehen beschliesst, wendet sich sein Leben. »Durch Stürme zur Stille« ist die bewegende väterliche Mitschrift der Reise eines jungen Menschen durch heftigste Stürme zurück zu sich selbst.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dirk Kreis
Durch Stürme zur Stille
Dirk Kreis
Durch Stürme zur Stille
Die Reise eines jungen Mannes zu sich selbst
© 2025 Dirk Kreis
Lektorat von: Elke Burkart | textschliff.ch | CH-8610 Uster
Coverdesign von: Dirk Kreis
Satz & Layout von: Elke Burkart | textschliff.ch | CH-8610 Uster Herausgegeben von: Tredition | https://tredition.com/
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected] tredition GmbH
Abteilung "Impressumservice"
Heinz-Beusen-Stieg 5
22926 Ahrensburg
»Inmitten des Sturms kann eine Seele ihre wahre Stärke finden, aber erst in der Stille erkennt sie ihren Frieden.«
VORWORT
Dieses Buch widme ich all jenen, die mit einer ähnlichen Situation konfrontiert waren oder es noch immer sind. Es soll den vielen – und ich betone bewusst vielen – besorgten Eltern Mut machen, Hoffnung schenken und Zuversicht vermitteln. Es ist auch für diejenigen geschrieben, die offen und ehrlich über die Probleme ihrer Kinder sprechen, ohne sie zu beschönigen oder zu verharmlosen. Es ist ein Dankeschön an jene, die zuhören können und mit aufrichtiger Anteilnahme reagieren. Und damit meine ich auch alle, die ihre Erfahrung des Elternseins wirklich tief empfinden.
Ebenso widme ich dieses Buch unserem Sohn Sacha, der sich in einer tiefen Krise befand und mutig seinen Weg zurück ins Leben angetreten hat. Manchmal bedarf es eines Perspektivenwechsels, einer Veränderung und neuer Impulse, um eine andere Einstellung zu bestimmten Dingen zu entwickeln und im besten Fall sogar einen Richtungswechsel herbeizuführen.
Ich fühlte mich oft und in vielen später beschriebenen Situationen allein, hilflos, verloren oder auch im Stich gelassen. Es gab Momente, in denen kaum noch Hoffnung bestand – und dennoch waren wir nicht allein. Auf unserem Weg sind uns Menschen begegnet, die sich unermüdlich und manchmal sogar fast selbstlos für in Not geratene engagieren und für sie kämpfen, damit sich deren Lage allmählich verbessern kann. Diesen Menschen, die sich unter anderem auch für unseren Sohn eingesetzt haben, sind wir zutiefst dankbar. Auf der anderen Seite begegneten wir allerdings auch Personen, deren Beruf uns zunächst annehmen liess, sie würden sich aus ihrem Selbstverständnis heraus ebenso für andere engagieren, was leider nicht immer der Fall war. Ihr Vorgehen war im Gegenteil oft stark durch die tägliche Routine, eine schwer zu erklärende Gleichgültigkeit sowie einen grossen Mangel an Empathie gekennzeichnet – was ich so nie erwartet hätte. Manchmal liessen sich hinter ihrem Handeln gar ausschliesslich eigene persönliche Interessen wie Geld oder Reputation vermuten. Enttäuschend.
Dieses Buch ist mein Erfahrungsbericht und beleuchtet die Geschehnisse aus meiner persönlichen Perspektive. Weder möchte ich Dinge beschönigen, noch strebe ich danach, bestimmte Institutionen oder gar Einzelpersonen an den Pranger zu stellen. Ganz im Gegenteil: das Buch zielt darauf ab, gewisse Aspekte und Herangehensweisen aus meiner Sicht zu hinterfragen oder zu beleuchten – nicht mehr und nicht weniger.
Daher sind zwar alle in den Erzählungen genannten Institutionen und Personen real existent, ihre Namen wurden jedoch aus Gründen der Diskretion geändert, um jegliche Identifikation zu vermeiden. Dies gilt gleichermassen für sämtliche Ortsangaben. Bewusst habe ich das Buch nicht unter meinem eigenen Namen verfasst. Nicht, weil es mir an Mut mangelt, sondern um unseren Sohn zu schützen.
Nicht zuletzt soll dieses Buch direkt und indirekt Betroffenen zeigen, dass ein Sturm, so heftig und unbarmherzig er auch sein mag, sich meist früher oder später wieder legt und zum Schluss nicht das Ende stehen muss, sondern auch eine gereifte Rückkehr zu sich selbst stattfinden kann.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
VORWORT
CORONA IST AN ALLEM SCHULD!
EIN STURM ZIEHT AUF - WENN DU IHN BEMERKST, IST ES BEREITS ZU SPÄT
EIN BLICK ETWAS WEITER ZURÜCK
»BIN ICH NUR DAZU DA, UM DAS ZU TUN, WAS IHR MIR SAGT?«
»ER IST VOLLJÄHRIG UND KANN SO VIEL KIFFEN UND SAUFEN, WIE ER WILL!«
ZUHAUSE BLEIBEN IST KEINE LÖSUNG – KEIN ZUHAUSE MANCHMAL SCHON
PSYCHIATRIE – RETTUNG ODER ABGRUND?
»WENN DU NICHT AUF DICH AUFPASST, MACHT DIES VATER STAAT FÜR DICH!«
GESPRÄCHE
EIN SCHRITT NACH VORNE – ZWEI SCHRITTE ZURÜCK
»HÖRT DAS DENN NIE MEHR AUF?«
WIEDER ZUHAUSE – ABER WIE WEITER?
BRIDGE BUILDERS – LETZTE CHANCE?
ABSCHIED - OVER THE HILLS AND ›FARAWAY‹
MARIA, HUBERT UND BRIEFE AUS FRANKREICH
KNAPP AM TOD VORBEI
DIEGO UND SEINE HEILIGEN PFANNEN
PAOLO, JULIA UND DIE PARTY, AUF DER SACHA NICHT BLEIBEN WOLLTE
ENDSTATION DOPPELMORAL
DAS LETZTE KAPITEL
EPILOG
Cover
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Urheberrechte
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CORONA IST AN ALLEM SCHULD!
Es begann alles sehr schleichend, wie bei einem Geschwür, das sich langsam und unbemerkt unaufhaltsam in jeder Zelle eines Körpers ausbreitet. Dadurch wurde auch jede spätere Intervention, um es aufzuhalten, egal in welcher Form oder Intensität, sofort im Keim erstickt.
Sachas Probleme begannen grösstenteils während der Corona-Pandemie. Es war ein schleichender Prozess, eine herannahende Bedrohung, die unser gesamtes Familienleben heftig durchschüttelte und uns keine Chance liess, rechtzeitig Einfluss darauf zu nehmen. Diese unsichtbare Gefahr, die wir nicht wahrnahmen, und die uns langsam zu verschlingen begann, bevor wir uns überhaupt wehren konnten. Die ersten Anzeichen der Veränderungen unterschieden sich nicht von jenen, die wir aus Erzählungen anderer Paare mit gleichaltrigen Teenagern kannten.
Als der Bundesrat am 16. März 2020 die ausserordentliche Lage aufgrund der Corona-Pandemie ausrief und unter anderem die Schliessung der Schulen anordnete, wurde dies von vielen Schülern zunächst sehr freudig und euphorisch aufgenommen. Sie vermuteten darin primär zusätzliche freie Zeit beziehungsweise längere Ferien. Doch bald darauf folgten Kontaktsperren und zahlreiche weitere Massnahmen, die das soziale Miteinander stark einschränkten. Zu den Herausforderungen in Bezug auf die Infrastruktur gesellten sich plötzlich weitere grosse Hürden, welche auch die Grenzen der Erziehung unweigerlich nach aussen verschoben.
In solchen Situationen erweist es sich als wertvoll, wenn heranwachsende Jugendliche bereits über eine entwickelte Selbstdisziplin verfügen, welche elterliche Eingriffe nur im Notfall erfordern. Mit anderen Worten: es wäre hilfreich, wenn sie sich der Konsequenzen ihres Handelns bewusst sind und angemessen abwägen können, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen haben werden. Allerdings ist dies nicht allen in diesem Alter schon gegeben. Hier tendieren Erziehungsberechtigte dazu, einzugreifen und - manchmal auch gegen das Kind - zu kämpfen.
Es ist leicht, Beispiele dafür zu finden, wie Jugendliche, auch aus vollkommen intakten Familienverhältnissen, in eine Krise schlittern und danach nur schwer oder im schlimmsten Fall überhaupt nicht mehr eigenständig herausfinden können. Wie es auch Beispiele dafür gibt, wie Kinder unter widrigsten Umständen aufwachsen und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, zu beeindruckenden Persönlichkeiten heranreifen und teilweise zu wahren ›Überfliegern‹ werden.
Die ersten Konflikte zwischen Sacha und vor allem seiner Mutter sowie später auch mir steigerten sich von der Schulschliessung an allmählich immer mehr. Die gewohnte tägliche Tagesstruktur war von einem Moment auf den anderen nicht mehr existent. Nun drehten sich plötzlich die meisten Auseinandersetzungen vorwiegend um Themen wie das Aufstehen am Morgen oder die Teilnahme am Fernunterricht oder schlicht und einfach um die Ordnung im Zimmer. Die Lautstärke und Aggressivität beim Spielen an der Konsole nahmen zu. Das sind Konflikte, die beim ersten Hinhören nicht anders klingen als in anderen Familien auch. Doch bei Sacha kam es schon damals zum einen oder anderen heftigen Wutausbruch, der einmal zum Beispiel in einem völlig zerstörten Laptop gipfelte. Es schien, als wäre durch die vom Bund verhängten Massnahmen auch eine gewisse Form von Anarchie ausgerufen worden, wobei diese in unserem Familienverbund anscheinend lediglich von Sacha so gelebt wurde.
Viele Faktoren ausserhalb der Familie können die Entwicklungen sowohl positiv als auch auf tragische Weise beeinflussen, manchmal leider sogar mit einem traurigen Ende. Die Krise rund um Sacha bot mir ausreichend Gelegenheit dazu, viele Aspekte genauer zu betrachten und tiefer in diese Bereiche einzudringen. Eine bedeutsame, wenn auch mitunter ernüchternde Erkenntnis war unter anderem die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft viele Eltern die Erfolge ihrer Kinder als ihren ›eigenen Verdienst‹ ansehen oder es zumindest unterschwellig so darstellen. Persönlich halte ich es für bedenklich, wenn Eltern die Zeugnisse, Berufsabschlüsse, Medaillen und Pokale ihrer Kinder in den Beiträgen oder Statusmeldungen ihrer sozialen Medien teilen, als ob dies ihre eigenen Errungenschaften wären. Darf man auf die Leistungen anderer überhaupt stolz sein?
Es gibt sicherlich Eltern, die angesichts solcher Meldungen meinen, selbst ›versagt‹ zu haben, wenn ihr eigenes Kind strauchelt. Dem ist aber mit Sicherheit nicht so. Natürlich habe ich mir selbst die Frage meiner Mitschuld gestellt. Dies ist eine naheliegende Fragestellung, welche ich für mich aber schnell mit einem klaren »Nein« beantworten konnte.
Wenn wir anderen gegenüber offen von unseren eigenen Schwierigkeiten berichteten, kam es tatsächlich vor, dass wir anstelle einer eigentlich erwarteten Reaktion wie »Oh, das tut mir leid für euch« Aussagen hörten wie: »Unsere Tochter hat gerade die Matura mit Bestnote abgeschlossen und wird bald an die Universität gehen.« Solche Reaktionen konnte ich rational nicht einordnen. Vielleicht sollten wir in unserer Erziehung wieder eher dahin zurückkehren, zu sagen: »Darauf kannst Du stolz sein.« Und mit dem »Du« das Kind anzusprechen, anstatt sich selbst zu meinen. Um dessen Leistungen geht es ja schliesslich.
In Bezug auf mich und meine Erfahrungen mit Sacha sowie die Ereignisse, die später im Buch beschrieben sind, kann ich sagen, dass ich mich zu keiner Zeit für ihn geschämt habe oder von ihm enttäuscht war – mit einer einzigen Ausnahme.
Schliesslich traf Sacha alle Entscheidungen selbst, auch wenn einige davon fatale Folgen hatten. Meine Rolle als Vater habe ich immer darin gesehen, für ihn da zu sein, wenn er mich brauchte. Natürlich traf ich auch Entscheidungen an seiner Stelle, wenn er dies, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr konnte. Dabei bewegte ich mich jedoch bereits innerhalb unserer gesellschaftlich gut etablierten »Helikopter-Erziehungsmentalität« – auf einem schmalen Grat mit ausreichend Potenzial, meist eher zu viel als zu wenig einzugreifen. Auf die Ereignisse zurückblickend muss ich mir selbst eingestehen, vermutlich ebenfalls eher zu viel als zu wenig interveniert zu haben. Oder mit manchmal wirklich schlechtem Timing.
Schlussfolgernd möchte ich aber betonen – und dies gilt für alle Eltern mit ähnlichen Erfahrungen –, dass wir nicht die Fehler bei uns selbst suchen sollten. Elternschaft ist, im Gegensatz zu fast allem anderen, etwas, das man im Leben kaum vollständig erlernen kann. All meine Erkenntnisse ebenso wie mein Glaube und Vertrauen in Sacha, seine Krise zu überwinden und gestärkt ins Leben zurückzukehren, haben mich dazu bewogen, seine – und damit auch unsere – Geschichte aus meiner eigenen Perspektive zu erzählen und aufzuschreiben.
Die Auswirkungen und Konsequenzen der Pandemie sind bis heute weit von einer Aufarbeitung entfernt und haben teils tiefe Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen. Dies nicht nur bei unseren Jugendlichen, die einen Grossteil ihrer Pubertät während dieser Zeitspanne erlebt haben, sondern auch bei vielen anderen Menschen, die diese Zeit ebenfalls in eine erhebliche Krise gestürzt hat. Dennoch wäre es falsch, Corona die alleinige Schuld an Sachas Entwicklungen zu geben. Aus meiner Sicht war die Pandemie nur der Auslöser und der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Denn letztlich waren die Probleme schon vorher da. Sie schlummerten lediglich unter einem dicken Panzer, der sich schützend darübergelegt hatte. Die Zeit rund um Corona hat diese jedoch zusätzlich verstärkt und schliesslich an die Oberfläche gebracht. Es war wie ein Streichholz, das das Pulverfass zur Explosion brachte – oder der Flügelschlag einer Libelle, der einen Sturm entfachte. Doch was wäre wohl passiert, wenn Sacha dies erst mit dreissig widerfahren wäre?
EIN STURM ZIEHT AUF - WENN DU IHN BEMERKST, IST ES BEREITS ZU SPÄT
Es war mittlerweile Sommer 2020 und der Bundesrat hatte die meisten Massnahmen vorübergehend gelockert oder ganz aufgehoben, auch wegen der bevorstehenden Ferien. Wir hatten geplant, gemeinsam zwei Wochen Familienurlaub in der Schweiz zu verbringen. Allerdings hatte das Wort »gemeinsam« seine Bedeutung längst verloren. Sacha schaffte es kaum, zeitig aufzustehen und am Frühstück teilzunehmen. Schon damals war es ein ständiges Bemühen oder vielmehr ein hoffnungsloser Kampf um wirklich gemeinsame Momente. Rückblickend war es bereits zu dieser Zeit sehr schwierig.
Wenn ich nun nachträglich alle vergangenen Entwicklungen über den langen Zeitraum betrachte, stelle ich fasziniert fest, wie sich meine persönlichen Empfindungen durch die teilweise intensiven Erfahrungen laufend der nächsthöheren Eskalationsstufe angepasst haben. Die bereits bekannten unangenehmen Gefühle aus früheren Vorfällen wurden sofort relativiert, sobald ein aktuelles Ereignis das vorangegangene in Sachen Schwere in den Schatten stellte. Ich bin mir nicht sicher, ob dies eine normale Reaktion auf unangenehme Erfahrungen ist, oder ob es sich um eine natürliche Schutzreaktion handelt, die Menschen entwickeln, um kontinuierlich mit immer neuen, noch schlimmeren Ereignissen umgehen zu können. Insbesondere, wenn es um Eltern und ihre emotionalen Bindungen zu ihren Kindern geht.
Noch komplexer wird die Situation, wenn diese sowieso schon herausfordernden Jugendlichen das Erwachsenenalter erreichen und deshalb gesetzlich befugt sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und auch rechtlich durchsetzen, egal wie irrational sie aus Sicht der Eltern getroffen wurden. Natürlich ist das im Grunde gut so und stellt kein grösseres Problem dar – solange sich die jungen Erwachsenen der Tragweite ihrer teils auch schlechten Entscheidungen bewusst sind und mögliche Konsequenzen selbst tragen. Doch es kann zu einer gewaltigen und mitunter riesigen Hürde – einer unüberwindbaren Mauer – werden, wenn Eltern genau in dem Moment die Kontrolle verlieren, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. Darauf werde ich jedoch in einem späteren Kapitel ausführlicher eingehen.
Nach unserer Rückkehr aus dem schwierigen Familienurlaub stand noch ein Kurzaufenthalt von vier Tagen bevor, der schon lange von meiner Frau, ihrer Schwester und deren Kindern sowie Sacha geplant gewesen war. Etwa eine Woche nach unserer Heimkehr entbrannte zuhause eine längere Diskussion, die schliesslich in einem Streit mit vielen Tränen endete. Während eines ausgedehnten Spaziergangs gestand uns Sacha aus dem Nichts, dass er kein Mensch sei, der Wert auf enge Beziehungen legen würde, und dass ihm alle emotionalen Verbindungen, einschliesslich der familiären, nicht besonders wichtig wären. Seine Äusserungen erschütterten uns ziemlich und schockierten uns teilweise, da unsere Wahrnehmung bisher eine völlig andere war.
Dennoch war die Frage zunächst noch offen, ob er an dem geplanten Kurztrip teilnehmen würde. Nach langem Abwägen entschied er sich schliesslich dafür, was mich offen gestanden aufgrund der letzten Entwicklungen wirklich erstaunte. Weniger erstaunlich war allerdings, dass auch dieser Kurzaufenthalt nicht besser verlief als der gemeinsame Familienurlaub. Sacha schottete sich mehr und mehr ab und sprach kaum ein Wort, nicht mal mit seinem Cousin, den er eigentlich sehr mochte.
Zwar beteiligte er sich an einem der Ausflüge zum Seestrandbad, verunfallte dort jedoch beinahe bei einem seiner riskanten Sprünge vom Sprungbrett. Seine Risikobereitschaft war uns auch früher nicht verborgen geblieben, doch erwies sie sich in dieser Zeit als besonders heikel. Sie entwickelte sich zunehmend zu einer unberechenbaren Variable in der bereits komplexen Gleichung unserer Situation.
Die restlichen Sommerferien verbrachte Sacha trotz des schönen Wetters hauptsächlich in seinem abgedunkelten Zimmer oder im ausgebauten Keller. Sein jüngerer Bruder Matti hingegen war ständig unterwegs – offensichtlich aber auch, um sich der Unruhe zuhause zu entziehen. Er genoss mit seinen Freunden die nach dem Lockdown zurückgewonnene Freiheit.
Matti und Sacha unterscheiden sich grundlegend voneinander, sowohl in ihren Fähigkeiten als auch in ihren charakterlichen Eigenschaften. Was bei Brüdern nichts Ungewöhnliches ist und auch nicht wertend gemeint ist. Trotz ihrer individuellen Verschiedenheit haben sie sich immer sehr gut verstanden, abgesehen von ihrer frühen Kindheit, als sie sich erst aneinander gewöhnen mussten. In dieser Zeit kam es gelegentlich zu Auseinandersetzungen und Streit, was bei Geschwistern jedoch nicht unüblich ist, das gehört bei jeder Beziehung einfach dazu – Nähe erzeugt Reibung.
Die Sommerferien waren inzwischen vorüber, und Sacha besuchte wieder seine Berufsschule. Seine Leistungen waren auf einem sehr guten Niveau, sodass es keinen Grund zur Besorgnis gab. Allerdings stellte sich täglich die Frage, ob Sacha morgens rechtzeitig aufstehen, und falls ja, er überhaupt zur Schule gehen würde. Diese Sorge betraf vor allem meine Frau Lena, die aufgrund der fast täglichen heftigen Diskussionen und Streitgespräche immer stärker in die Schusslinie eines zunehmend unkontrollierbaren Teenagers geriet. Zu dieser Zeit war ich oft früh bei der Arbeit oder bagatellisierte das Problem, was sich, im Nachhinein betrachtet, als grössten Irrtum beziehungsweise Fehler meinerseits herausstellte.
Bereits zu dieser Zeit schlich sich Sacha nämlich offenbar regelmässig nachts durch die Tür im Keller nach draussen, ohne dass wir oder unser aufmerksamer Hund Mogli davon etwas mitbekamen. Wie er uns später erzählte, war er damals nachts gelegentlich auch länger unterwegs, sodass wir uns erst dann auch andere begleitende Entwicklungen und Veränderungen seiner Persönlichkeit erklären konnten, die wir sehr wohl wahrnahmen.
Es war bereits Herbst 2020, und Sacha, nun siebzehn, verbrachte zunehmend auch nach dem Unterricht Zeit mit seiner Schul-Clique. Nebenbei hielt er sich regelmässig im Fitnessstudio auf, um zu trainieren, spielte weiterhin Fussball im Verein und war bereits im dritten Semester seines angestrebten Berufsschulabschlusses. Seine schulischen Leistungen unterstrichen nach wie vor seine Position als guter Schüler. Die Ausbildung verlief für ihn bis zu diesem Zeitpunkt nahezu reibungslos. Unsere täglichen Streitereien wurden zur Normalität, und Sacha zog sich vermehrt noch stärker zurück als zuvor. Im selben Mass wie die Tage nun kürzer wurden, eskalierten die Streitsituationen zunehmend und mündeten oft in weiteren Auseinandersetzungen zwischen Lena und mir. Hätten wir damals bereits das volle Ausmass Sachas innerer Veränderungen erkannt, wären unsere Eingriffe und Reaktionen wahrscheinlich von Anfang an anders verlaufen. An Lena nagte bereits damals ein ungutes, doch zutreffendes Bauchgefühl, dass hier mehr im Gange war, als es den Anschein hatte. Darüber hinaus hätte uns seine noch nicht erlangte Volljährigkeit mehr Spielraum für gezielte Interventionen geboten.
Leider war es aber auch so, dass die zahlreichen Fachexperten, die wir in dieser Situation konsultierten, schnell geneigt waren, sämtliche Vorfälle auf das Alter und die aktuelle Lebensphase zu schieben, in der sich Sacha befand. »Er durchlebt gerade die Pubertät, solche Dinge sind vollkommen normal«, war einer jener wiederkehrenden Sätze, die wir zu hören bekamen, und die ich schliesslich auch für mich persönlich angenommen hatte. Es wurde zur Standarderklärung für alles, was es zu erklären galt. Doch die Realität war wesentlich komplexer. Es war schon lange ein kräftiger Wind, der wehte und einen tiefgreifenden und langanhaltenden Sturm ankündigte.
Denn Sacha war zunehmend aggressiv und widerspenstig. Sein sozialer Rückzug verstärkte sich zusehends. Lena erörterte sein Verhalten vermehrt während ihrer Psychotherapiesitzungen. Sie hatte die Therapeutin ursprünglich hilfesuchend konsultiert, um mit ihren sich verstärkenden Angstzuständen besser umzugehen, die sie nicht mehr kontrollieren konnte. In den Sitzungen kamen dann vermehrt Fragen zurück wie: »Könnte Ihr Sohn Drogen konsumieren oder Alkohol trinken?« Die Psychotherapeutin erkannte Muster, die ihr bekannt waren. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten wir diese Fragen ehrlich verneinen, schliesslich gab es hierfür keine Anzeichen. Als Vater war ich zudem überzeugt, dass ich solche Dinge rechtzeitig bemerkt hätte oder künftig bemerken würde. Ein Trugschluss, wie ich später ernüchtert feststellen musste. Andere Anzeichen, wie sein exzessiver Kaugummikonsum, schienen mir zudem belanglos. Die ganze Situation sollte sich jedoch bald drastisch ändern.
An einem kalten Herbstabend kehrte Sacha von seinem Fussballtraining zurück, schleuderte seine Sportausrüstung in die Ecke und erklärte, er werde den Fussballsport nun aufgeben. »Das ist sowieso alles nur Unsinn«, konstatierte er resigniert. Ohne ein weiteres Wort begab er sich auf sein Zimmer, entfernte sämtliche Poster, Schals und Trikots seiner Lieblingsmannschaft und verstaute sie gleichgültig und lieblos in einer Ecke. Dadurch verloren die Wände seines Zimmers das letzte bisschen Leben.
Lena und ich waren gezwungen, tagtäglich an vorderster Front seiner zunehmenden geistigen Verwahrlosung beizuwohnen. Jeder Tag brachte neue Eigenheiten hervor, begleitet von immer wieder überraschenden, unerwarteten Macken sowie neuen Verhaltensweisen. Sacha war dabei, alle Konstanten, die ihm einst Freude bereitet hatten, zu eliminieren.
Seine anhaltende Energielosigkeit führte im Oktober 2020 dazu, dass wir seinen Kinderarzt mit ihm aufsuchten. Ein überfälliger Impftermin seines Bruders Matti bot uns die Gelegenheit dazu, dies ohne allzu viel Aufhebens und weitere Diskussionen zu erledigen. Wir vermuteten, dass Sacha möglicherweise unter den langanhaltenden Auswirkungen von COVID litt, da er ständig müde und abgeschlagen wirkte. Während wir im Wartezimmer sassen, spielte ich kurz mit dem Gedanken, sein Blut auch auf illegale Substanzen untersuchen zu lassen, was ich aber schnell wieder verwarf. Mein Vertrauen in ihn war zu diesem Zeitpunkt wohl noch stark genug. Und so beging ich den grossen Fehler, nicht auf mein Bauchgefühl zu hören. Ich folgte meinen väterlichen Gefühlen, die mir einflüsterten, Kontrolle wäre niederträchtiger Verrat. Die Untersuchung ergab keine auffälligen Ergebnisse, ausser einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel, was im Nachhinein aufgrund seines damaligen Lebensstils nicht besonders verwundert. Es gab auch keinerlei Anzeichen für eine bereits überstandene COVID-Erkrankung, und so tappten wir weiter im Dunkeln. Wenn man an einem Kirschenbaum nach Äpfeln und Birnen sucht, findet man ja auch keine.
Das Jahr neigte sich dem Ende zu, und Weihnachten gestaltete sich äusserst herausfordernd. Die Stimmung zuhause war höchst angespannt. Sacha verliess am Wochenende kaum noch sein Bett, und wenn doch, dann erst sehr spät. Danach zog er sich in den ausgebauten Keller zurück und vertiefte sich in sein Konsolenspiel. Seine Wutausbrüche nahmen immer neue, kaum mehr kontrollierbare Dimensionen an. Hätten wir in einer Mietwohnung gewohnt, wären die Beschwerden der Nachbarn vermutlich stündlich eingegangen. Lena zog sich verständlicherweise häufig ins Obergeschoss unseres Hauses zurück, um vor den unüberhörbaren, nicht mehr kontrollierbaren Wut- und Gewalteskapaden zu fliehen. Im Zweifel griff sie zu einem stärkeren Beruhigungsmittel, um schlafend die tobenden Stürme weiter unten nicht mitzubekommen. Gelegentlich half auch eine Netflix-Serie, um der kaum noch erträglichen Realität zumindest für kurze Momente zu entfliehen.
Psychologische Hilfe verweigerte Sacha nach wie vor. Es bedurfte vieler weiterer Vorfälle, um zumindest ein Minimum an Einsicht von ihm zu erhalten. Wobei es sich eher um einen Kompromiss handelte, um vorerst weitere tiefgreifende Konsequenzen abzuwenden. Ich arbeitete mittlerweile schon länger von zuhause aus. Die Umstände der Corona-Pandemie sowie die grosszügige Haltung meines Arbeitgebers hatten mir diese Möglichkeit eröffnet. Meinen direkten Vorgesetzten hatte ich über unsere aktuelle Situation bereits ins Vertrauen gezogen. Er reagierte wirklich empathisch, was mich sehr erleichterte. Seine einfühlsame Reaktion vermittelte mir psychische Sicherheit, was mich beruhigte. Er sagte nicht viel, und wenn – für mein Gefühl – stets das Richtige. Mittlerweile hatte Sacha sein 18. Lebensjahr vollendet. Die Feierlichkeit zu seiner Volljährigkeit gestaltete sich durch die angespannte familiäre Situation sehr emotionslos und wirkte eher ritualisiert – was für einen solchen Meilenstein ungewöhnlich war. Ich hätte mir für diesen wichtigen Tag etwas anderes gewünscht.
Als der Frühling kam, hatte sich sein Zustand nicht wirklich verbessert, im Gegenteil, er verschlechterte sich kontinuierlich. Mit einer Ausnahme: inzwischen befand sich Sacha in einem solchen Dilemma, dass er sogar eine psychologische Betreuung nicht mehr ablehnte. Sein ganzes Auftreten, auch sein äusserliches Erscheinungsbild, passte sich immer stärker seinem inneren Zustand an. Der anfängliche Zweckoptimismus war der harten Realität des Alltags gewichen. Sein Allgemeinzustand schlug sich mittlerweile auch in seinen schulischen Noten nieder. Sacha fand dafür aber viele Gründe ausserhalb seines Handelns und Tuns. Mal waren es die Lehrpersonen, mal die unnötigen Regeln und Vorschriften, jedoch niemals sein eigenes Verhalten oder seine Entscheidungen.
Da er keine Motivation aufbringen konnte, eigenständig nach einem Psychotherapeuten zu suchen, wählte er einen aus unseren drei Vorschlägen. Seine Wahl fiel auf einen Herrn Dr. Raute. Der Einbezug seiner Auswahlkriterien, ›Hauptsache Mann‹ und ›Praxis nicht zu weit von zuhause entfernt‹, passte dann allerdings wieder zu seiner Verfassung. Es folgten einige Therapiesitzungen. Über den Fortschritt oder Zustand erhielten wir jedoch keine klare Auskunft, da Herr Dr. Raute ja Sacha vertrat, der inzwischen ausserdem volljährig war. Im März 2021 hatten wir eine erste Familiensitzung. Herr Dr. Raute nannte diese eine ›Systemsitzung‹ und positionierte sich bei unserer Zusammenkunft zu viert symbolisch an der Seite von Sacha. Uns bat er gegenüber Platz zu nehmen. Es wirkte auf mich wie ein Gerichtsverfahren. Anwalt vertritt Angeklagten, Kläger sitzen auf der anderen Seite. Allerdings verfehlte dieses Vorgehen aus unserer Sicht seine Wirkung. Im Gegenteil, es mutete eher skurril an und trug nichts zur Besserung der aktuellen Situation bei.
Im Rahmen der Sitzung besprachen wir unter anderem die Möglichkeit, ob die Einnahme eines Antidepressivums Sacha nicht eventuell unterstützen könnte. Diese Option blieb vorerst unbeantwortet im Raum stehen und wurde Sacha im Rahmen ihrer nächsten Sitzung zu zweit erneut vorgeschlagen. Und er nahm an. Am Ende dieser Sitzung erhielt er eine Packung des Antidepressivums, mit der Anweisung, dieses eigenverantwortlich täglich einzunehmen, was uns angesichts seiner aktuell chaotischen Verfassung als geradezu absurd erschien. Was der Therapeut zu diesem Zeitpunkt zudem nicht bemerkt hatte, dass sich Sacha jeweils auf dem Weg zu den Sitzungen ordentlich bekiffte.
Sacha stellte ausserdem immer absurdere Forderungen. Beispielsweise seine Ausbildung nur zu beenden, wenn er als Kompromiss den Konsum von Cannabis nicht einstellen müsse. An diesem Punkt fragte ich mich noch, ob das nicht die beste Lösung wäre. Ich konnte die Tragweite und die Folgen des Konsums damals noch nicht abschätzen. Zusätzlich plante er für seine Sommerferien 2021 einen längeren Ausflug mit seinen Klassenkameraden nach Amsterdam. Skurril erschien uns, dass Herr Dr. Raute dies selbst in der damaligen Situation, und obwohl er mittlerweile um seinen Konsum wusste, für diskussionswürdig hielt. »Eine solche Kulturreise könnte doch durchaus wertvoll sein«, war seine psychologisch fundierte Meinung dazu. Zudem kommentierte er unsere Aussage, wonach praktisch alle Menschen morgens aufstehen müssten, um einer Tätigkeit nachzugehen, damit, dass man dies »durchaus auch philosophisch hinterfragen könne«. Sicherlich hätte man das hinterfragen können, seine Statements unterstützten aber Sacha in seinen radikalen Ansätzen. In den folgenden zwei bis drei Wochen verschlechterte sich Sachas Zustand zunehmend, bis er sich eingestehen musste, dass ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik unumgänglich war. Herr Dr. Raute schlug ihm zwei sehr frei zugängliche, offene Kliniken vor. Sacha entschied sich für eine nahegelegene Klinik, bei welcher ein Eintritt in nächster Zeit wahrscheinlich war.
Wir begleiteten ihn am Tag des Aufnahmegespräches, weil er sich dies ausdrücklich gewünscht hatte. Vor der Befragung erkundigte sich der aufnehmende Psychologe nochmals, ob er das so wolle, weil er ja bereits volljährig war. Nachdem er den Eintrittsfragebogen ausgefüllt hatte, wurden wir also zu dritt in ein separates Besprechungszimmer gebeten. Es begann mit den üblichen Fragen zum schulischen Werdegang und dem bisherigen Verlauf seiner Krankheitsgeschichte. Alle Fragen bezüglich eines allfälligen Drogenkonsums verneinte er mit Ausnahme von Cannabis deutlich. Am Ende des Gesprächs wurde uns mitgeteilt, dass die Wartezeit für den Eintritt in die Klinik zwischen zwei und vier Wochen betragen würde. Wir verabschiedeten uns höflich und verliessen die Klinik.
Insgeheim hofften wir sehr, dass der Eintritt so rasch wie möglich stattfinden konnte. Sacha ging parallel noch immer zur Schule, wenn auch mit Mühe. Wir merkten ihm an, wieviel Anstrengung ihn dies kostete. Etwa drei Wochen später, im April, erhielten wir das geplante Eintrittsdatum. Es sollte kurz nach Ostern sein. Ein Osterfest, das uns dieses Mal unendlich lang erschien.
Am Tag des Eintritts fuhren Sacha und ich zur nahegelegenen Klinik. Bei unserer Verabschiedung hatte ich Schwierigkeiten, meine Emotionen zu kontrollieren. Dennoch versuchte ich mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen, um der Notwendigkeit des Eintritts Nachdruck zu verleihen und ihm Stärke zu vermitteln. Während der Fahrt zurück nach Hause überkam mich tiefe Traurigkeit. Ich weinte, vermutlich zum ersten Mal seit Beginn der ganzen Geschichte. Es ist schwer zu ertragen, sein ›Kind‹ in eine psychiatrische Einrichtung zu bringen. Dennoch war ich zunächst auch erleichtert, zu wissen, dass er nun unter der Aufsicht professioneller Helfer stand.
Sacha war bis zum Zeitpunkt des Klinikeintrittes im normalen Schulbetrieb. Dr. Hanke hatte uns empfohlen, die bestehenden Tagesstrukturen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, da ein Wegfall voraussichtlich zu einer weiteren Destabilisierung führen könnte. Sein geplanter Klinikaufenthalt fiel zeitlich passend auf die Schulferien. Aufgrund seines weiterhin akzeptablen Notenschnitts stand einer Rückkehr in die Schule nichts im Wege, soweit hatte uns die Schulleitung vorab informiert.
Die Klinikregeln besagten, dass Sacha sich für Spaziergänge und Besuche ausserhalb des Klinikgeländes frei bewegen durfte, solange diese nicht während des regulären Tagesprogramms und der Therapiesitzungen stattfanden. Die einzige Bedingung war das Abmelden beim Verlassen des Gebäudes und das Zurückmelden bei seiner Rückkehr. Andernfalls würde bei einem längeren, unbekannten Fernbleiben eines Patienten, das eine bestimmte Zeitspanne überschritt, eine Polizeifahndung ausgelöst werden. Schon als uns diese Regel beim Eintritt erläutert wurde, hatte ich die schlimme Vorahnung, dass dies für ihn problematisch werden könnte. Ich kannte ihn nur zu gut, und mein Bauchgefühl sollte sich auch hier als richtig erweisen.
Bereits am zweiten Tag nach seinem Eintritt erreichte mich seine erste Nachricht: »Komme hier mit der ganzen Umgebung nicht klar.« Er beschrieb nächtliche Schreie, Schläge an die Wand und Ähnliches. Am Abend folgte eine weitere Textnachricht. Lena und ich waren gerade für einen kurzen Tapetenwechsel in die Umgebung von Thun gefahren und sassen beim Abendessen. Die Nachricht kam, wie so oft, unangekündigt und mit leicht panischem Unterton: »Können wir telefonieren? Ich muss weg von hier, kann hier nicht schlafen.« Ich antwortete: »Wir können morgen um 17 Uhr telefonieren, wenn wir zurück sind. Jetzt geht es gerade nicht.« Wir hatten Sacha vorher über unseren Ausflug informiert. Aber wie so oft war für ihn nur sein eigenes Universum von Bedeutung, und in diesem stand stets er im Zentrum. Allerdings gab es dafür auch andere Gründe, die wir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht kannten oder wahrnehmen konnten.
Sacha liess nicht nach. Am nächsten Morgen folgten weitere Nachrichten: »Können wir jetzt sprechen?« Ich antwortete kurz: »Um 17 Uhr, wie gestern ausgemacht.« Danach herrschte Funkstille, was mir ein ungutes Gefühl bereitete, da ich um Sachas Unberechenbarkeit wusste. ›No news are good news‹ galt bei uns nicht. Nach dem Frühstück brachen wir Richtung Heimat auf. Pünktlich um fünf rief ich Sacha in der Klinik an. Seine Stimme klang aufgewühlt: »Ich kann hier nicht bleiben. Würdet Ihr mich bei einem frühzeitigen Austritt unterstützen?«
Ich überlegte einen Moment und antwortete schliesslich: »Es wäre besser, wenn wir das persönlich vor Ort besprechen. Ich komme morgen vorbei, dann können wir reden.« Meine Absicht war es, Zeit zu gewinnen, doch ich spürte, wie die Stimmung während des Gesprächs kippte und merklich abkühlte. Mir wurde bewusst, dass ich am Telefon wenig bewirken konnte. Sacha liess seiner Enttäuschung deutlich Luft, und das Telefongespräch endete abrupt.
Da er bereits volljährig war, hätte er die Klinik jederzeit aus freiem Willen frühzeitig verlassen können. Diese rechtliche Möglichkeit war ihm allerdings nicht bewusst und offenbarte zugleich seine Unreife in solchen Dingen. Er war noch nicht an dem Punkt in seiner Entwicklung angelangt, so weit zu denken, und zog es vor, solche Dinge mit seinen bekannten Mustern und auf seine Weise zu regeln – so wie damals, als er noch klein war und einfach seinen Koffer packte, um von zuhause auszuziehen.
Es dauerte keine halbe Stunde bis Textnachrichten in immer kürzeren Intervallen auf unseren Telefonen eingingen, sowohl bei Lena als auch bei mir. Erst viel später wurde mir klar, welche Tragweite diese Verbindung über WhatsApp hatte. Es fühlte sich teilweise wie eine verlängerte Nabelschnur an, die man nicht einfach durchtrennen konnte. Wir wollten uns zu diesem Zeitpunkt auch nicht vollständig aus dieser Verbindung lösen, damit wir zumindest eine letzte Kommunikationsmöglichkeit hatten, falls Situationen eskalieren und erneut ausser Kontrolle geraten sollten.
Dann folgten Beleidigungen und Vorwürfe. Es lag mir fern, darauf einzugehen, und ich antwortete: »Du hast Dein primäres Ziel erreicht. Es tut mir weh, aber ich habe Dich trotzdem lieb.« Mit dieser Rückmeldung hatte Sacha wahrscheinlich nicht gerechnet. Ich setzte auf Deeskalation, obwohl ich innerlich aufgewühlt war. Stille trat wieder ein. Wie gelähmt sassen Lena und ich im Wohnzimmer und warteten auf ein weiteres Lebenszeichen von Sacha. Das aufdringliche Klingeln unseres Festnetzanschlusses rüttelte uns gegen 22 Uhr wieder wach. Die Polizei?
»Hier spricht die Klinik: Herr Kreis, Ihr Sohn ist nicht mehr in seinem Zimmer. Hat er sich bei Ihnen gemeldet?« »Ja, wir waren kurz in Kontakt. Er hat offenbar Probleme mit seinem Aufenthalt bei Ihnen in der Klinik und ist unterwegs«, antwortete ich und versuchte damit vorerst eine Polizeifahndung zu verhindern. Ich kannte ja die Regeln, die Sacha bei Klinikeintritt erörtert worden waren. Nur waren sie anscheinend mir bewusster als ihm. Radio, Fernsehen, Fahndung – Bilder gingen mir durch den Kopf. » Wir versuchen gerade, ihn zu lokalisieren. Sobald wir mehr wissen, melden wir uns wieder. Bitte unternehmen Sie in Bezug auf die Polizei vorerst nichts. Er steht mit uns in Kontakt.« Ich versuchte zu beschwichtigen, und es entsprach zumindest teilweise der Wahrheit.
Es war mittlerweile 23:30 Uhr. Wortwörtlich aus dem Nichts folgten weitere Nachrichten. »Ich bin gerade auf der Anhöhe hinter dem Schwall.« Erleichtert antwortete ich: »Ich hole Dich mit dem Auto.« »Nein, ich brauche jetzt Zeit für mich«, erwiderte er. Seine Antwort ignorierend fuhr ich los. Im Auto sitzend, an der Strasse, die er nehmen musste, um nach Hause zurückzukehren, harrte ich aus. Ich kam mir vor wie ein Privatermittler, der einen Nebenbuhler überwacht, um ihn zu überführen.
Was ich allerdings nicht wusste, war, dass Sacha uns bezüglich seines Standortes angelogen hatte. Denn er war genau in der entgegengesetzten Richtung unterwegs und zwischenzeitlich sogar bereits nach Hause zurückgekehrt. Beim Lesen von Lenas Textnachricht überkam mich offen gestanden mehr Erleichterung als Wut.
Nach Hause zurückgekehrt, fand ich Sacha bereits mit Lena im Wohnzimmer sitzend vor. Er hatte lediglich seinen Rucksack dabei, in dem sich zwei oder drei noch unberührte Weinflaschen befanden. Er öffnete sich uns gegenüber und versprach, wieder zu seinem alten ›Ich‹ zurückkehren zu wollen, zu einem Leben mit Sport und frei von jeglichen Substanzen.
Wir informierten die Klinik, dass soweit alles in Ordnung war, und vereinbarten einen Termin für den nächsten Tag, um Sachas persönliche Sachen abzuholen. Tags darauf folgte nach dieser kurzen Nacht ein ebenfalls kurzes Abschlussgespräch in der Klinik mit dem verantwortlichen Stationsarzt. Auf den Alkoholkonsum angesprochen, meinte er, dass dies eine für ihn neue Erkenntnis sei und man darauf achten sollte. Diese Worte sollten schon bald bedeutender werden als uns in diesem Moment bewusst war. Der Konsum im Allgemeinen, ganz egal welcher Substanzen, war nur der sichtbare Teil des Problems. Viel komplexer waren hingegen die darunterliegenden Ursachen sowie die Verhaltensmuster, auf die Sacha immer wieder zurückgriff, um seine unerwünschten Gefühlszustände und Gedanken zu kontrollieren oder manchmal einfach auch nur zeitweilig zu betäuben. Für ihn war der Substanz-Konsum die einzige Strategie, die funktionierte, um vorübergehend Linderung in seiner konfusen und nicht kontrollierbaren Gefühlswelt zu finden. Die langfristigen Folgen waren ihm dabei absolut egal.
Dass der Klinikaufenthalt jedoch ebenfalls nur die Spitze des Eisberges sein würde, auf den die Titanic ungebremst zusteuerte, hätten wir uns damals nie vorstellen können. Der geplante Neustart zuhause erwies sich in der Folge als naiver Fehler. Zwar erlebten wir im Vergleich zur Zeit davor zwei bis drei etwas ruhigere Wochen. Trotz dieser ›Erholungsphase‹ zogen jedoch ab dem Augenblick, als die Schule wieder begann, erneut dunkle Wolken am Horizont auf, die ein gewaltiges Unwetter ankündigten. Und mit jedem Tag, an dem sich dunklere Wolken näherten, kehrten Sachas alte Muster nach und nach zurück, begleitet von Streitereien, die nicht an Heftigkeit verloren, sondern an Intensität zunahmen.
Es war an einem Wochenende, als Lena aufgeregt zu mir ins Dachgeschoss eilte. Sacha hatte sich im Keller bei einem seiner ›Trainings‹ am Boxsack die Hände komplett blutig geschlagen. Obwohl er Boxhandschuhe besass, schlug er bewusst wie ein Irrer und mit blossen Händen auf den Boxsack ein, als stünde sein grösster Feind vor ihm und bedrohte sein Leben. Dabei traf er gezielt die Metallnieten, die den Boxsack an bestimmten Stellen zusammenhielten. Ein grosser Teil der Kellerwände sowie der Boden rund um den Boxsack war durch sein Blut verspritzt. Es war ein Bild des Grauens.