Dies ist kein Liebeslied - Karen Duve - E-Book

Dies ist kein Liebeslied E-Book

Karen Duve

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Beschreibung

Eine junge Frau ist auf dem Weg nach London, um eine unerwiderte Jugendliebe ein letztes Mal zu treffen. Im Gepäck hat sie sechs Kassetten, die von sechs Jungen für sie aufgenommen wurden. Ein missglückter Liebesversuch pro Kassette. Und sie erinnert sich: an Tellerauge, ihren Sandkastenfreund, an ihre Zeit als größtes und dickstes Kind der Klasse und das Froschhospital. An die Demütigungen in der Schule, das qualvolle Familienleben mit dem Nichts von Mutter, dem mit Selbstmord drohenden Vater, der Oma, die nicht alle Tassen im Schrank hat und ihrem Bruder, der allabendlich sein Geld küsst. Und an die Schrecken der Diätversuche, den impotenten ersten Freund mit den moosig-pelzigen Zähnen, den ersten Job in der Hundeleinenfabrik, den gescheiterten Therapieversuch, die wilde Zeit als Punk ...

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Seitenzahl: 382

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Karen Duve

Dies ist kein Liebeslied

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Karen Duve

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Widmung

Mit sieben Jahren schwor ...

Dank

Inhaltsverzeichnis

Was folgt, ist frei erfunden.

Orte und Handlungen haben nur wenig mit tatsächlichen Orten und Vorkommnissen zu tun.

Bücher und Filme werden schlampig zitiert.

Und Ihr seid alle nicht gemeint.

Inhaltsverzeichnis

Für den armen Heinrich.

Inhaltsverzeichnis

Mit sieben Jahren schwor ich, niemals zu lieben. Mit achtzehn tat ich es trotzdem. Es war genauso schlimm, wie ich befürchtet hatte. Es war demütigend, schmerzhaft und völlig außerhalb meiner Kontrolle. Ich wurde nicht wiedergeliebt; es gab nichts, was ich tun konnte, um das zu ändern, und bei dem Versuch, selbst nicht mehr zu lieben, wurde ich beinahe verrückt. Wenn man erkennt, dass man den Verstand verliert, ist es das Klügste, die Sache für sich zu behalten und geistige Gesundheit vorzutäuschen, indem man sich wie alle anderen benimmt. Alle anderen hatten Freunde und Sex, sie hatten Berufe, gingen auf Partys und Reisen, und freuten sich fünf Tage lang aufs Wochenende. Also ging ich ebenfalls mit Männern ins Bett und mit Frauen in Bars, scheiterte in diversen Jobs, langweilte mich auf Festen und woanders und schnitzte mir sonntags mit einem Kartoffelschälmesser Muster in die Oberarme. Unterdessen wurde der FC Bayern München achtmal deutscher Meister. Alle Leute, die ich kannte, kauften sich Uhren mit Digitalanzeige und vertauschten ihre Schlaghosen gegen knöchelenge Jeans oder Karottenhosen. Der Iran erklärte die USA zum großen Satan, und MTV startete sein Programm mit ›Video killed the Radio Star‹ von den Buggles. Englische Soldaten marschierten auf den Falklandinseln ein und sowjetische in Afghanistan und amerikanische auf Grenada. Alle Leute, die ich kannte, tauschten ihre Digitaluhren wieder gegen normale Uhren mit Zeiger und Zifferblatt und kauften sich Walkmen. Der Atomreaktor Nr. 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl verteilte seine Spaltprodukte über ganz Europa, und es wurde empfohlen, zwanzig Jahre lang keine Waldpilze mehr zu essen, und zwei Jahre lang aß man tatsächlich weniger Pilze. Die Sowjetunion zog sich wieder aus Afghanistan zurück, und der Kalte Krieg ging vorüber; und als schon längst kein Mensch mehr daran geglaubt hatte, fiel die Berliner Mauer. Die Models wurden immer berühmter und immer dünner, die Computer kleiner und das Ozonloch größer, und die Jogger trabten im Sommer nur noch in den frühen Morgen- und späten Abendstunden, und der Mann, den ich liebte, zog nach London. Es gab den Golf-, den Balkan- und den Tschetschenienkrieg, und Amerika intervenierte in Somalia. In Uganda und Liberia und Georgien brachen Bürgerkriege aus, und Aserbaidschan kämpfte gegen Armenien. Und die Schlager handelten weiterhin von der Liebe. Und Männer und Frauen setzten weiterhin Kinder in die Welt und gingen zu Eheberatern und Therapeuten und ließen sich scheiden. Was auch um mich herum geschah, nie hatte ich das Gefühl, irgendetwas davon hätte mit mir zu tun. Die ganze Zeit über hielt ich gewissermaßen den Atem an und wartete auf meinen Einsatz, wartete auf die entscheidenden Worte, die fallen mussten, damit ich hinter dem Vorhang hervor auf die Bühne treten und mitspielen konnte. Aber das Leben ging weiter und weiter, die Worte fielen nicht, und die Jahre sammelten sich an wie Dreck und Laub in einer Regenrinne. Eines Tages, genauer gesagt am Donnerstag, den 20. Juni 1996, beschloss ich, dass die Sache ein Ende haben müsste, ein schlimmes oder eines, das ich mir nicht vorstellen konnte. Und ich ging in ein Reisebüro und kaufte mir einen Flugschein nach London, wie sich andere Leute einen Strick kaufen.

 

• • •

 

Jetzt sitze ich also in diesem Flugzeug. Am Fenster. Den Platz am Gang hat ein junger Mann in einem auffälligen hellblauen Anzug. Er blättert in einem Gratisexemplar der ›Woche‹. Glücklicherweise ist der Sessel zwischen uns frei geblieben, vielleicht haben aber auch die Stewardessen dafür gesorgt. Inzwischen wiege ich nämlich hundertsiebzehn Kilogramm, und meine in Khakistoff verpackten Oberschenkel sickern unter den Armstützen hindurch auf das Nebenpolster. Da könnte jetzt sowieso niemand mehr sitzen. Ich hasse meine Beine. Ich wünschte, ich hätte andere. Es wäre viel leichter, jemanden zu besuchen, den man liebt und der einen nicht liebt, wenn man dünne Beine hätte. Nicht, dass ich glaube, derjenige würde dann plötzlich seine Gefühle für mich ändern, aber mit dünnen Beinen könnte ich es leichter ertragen, nicht geliebt zu werden. Eine weibliche Lautsprecherstimme – unterstützt von der Pantomime einer Stewardess – erklärt, dass man im unwahrscheinlichen Fall eines plötzlichen Druckverlusts die Sauerstoffmaske so zu sich heranziehen und zuerst über die eigene Nase und den eigenen Mund stülpen soll, bevor man seinen ungeschickteren Mitreisenden dabei hilft, das Gummiband über die Ohren zu kriegen. Die elegante Frau schräg vor mir zeigt ihrer eleganten Tochter ein Foto in der ›Vogue‹. Die Frau trägt eine altrosa Kostümjacke und dazu ein grünes Chiffontuch, das ihr bestimmt eine Farbberaterin aufgeschwatzt hat. Ihre blonden Haare sind aberwitzig asymmetrisch geschnitten, die Seite links vom Scheitel reicht knapp übers Ohr und die andere Seite bis zum Kinn. Die lange Seite fällt ihr natürlich ständig vor die Augen, sodass sie sie beim Lesen mit dem Zeigefinger zurückschieben muss. Die gazellenhafte Tochter beugt sich über die Zeitschrift. Hinter mir unterhalten sich lautstark drei Männer über Paul Gascoigne. Ich wette, sie sind unterwegs zum Halbfinalspiel der Fußballeuropameisterschaft in London, England gegen Deutschland. Es ist die Art Männer, die ich am allermeisten verabscheue, die Art, die vor dem Fernseher mit verzerrtem Gesicht »Schieß doch! Schiiiieß!« brüllt. Paul Gascoigne hingegen mag ich. Er erinnert mich an das Springpferd Meteor. Auch Meteor war für einen Spitzensportler erstaunlich übergewichtig, langsam und undiszipliniert, und steckte sie dennoch alle in die Tasche. Die Fußballfreunde hinter mir sagen wieder etwas Gemeines über Gascoigne. Dann lachen sie in blöder Einigkeit und bekommen deswegen nicht mit, wo die Schwimmwesten versteckt sind und wie man am schnellsten die Notausgänge erreicht. Im unwahrscheinlichen Fall einer Notwasserung auf dem Ärmelkanal werden sie in die falsche Richtung rennen, über die elegante Frau und ihre Tochter hinwegtrampeln, sich ineinander verknäulen und alles blockieren, während ich – eingeklemmt an meinem Fensterplatz – zusehen muss, wie das Wasser außen an der Scheibe unaufhaltsam steigt.

Wir rollen zur Startbahn, leise Musik kommt aus der Decke, Melodiefetzen, die sofort in diversen Maschinengeräuschen wieder untergehen. Schwer zu bestimmen, was sie da abspielen, aber jedenfalls ist es nicht die Art von Musik, die man als Letztes hören möchte, bevor man bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt. Das passende Lied wäre ›No Milk Today‹ von Herman’s Hermits. Todtraurig legen die Hermits los, steigern sich, während die Tragfläche Feuer fängt, zu melancholischer Aufgeregtheit; und mitten in der heftigsten Verzweiflung – mit Geige und allem – setzt plötzlich das sinnlos hoffnungsvolle Gebimmel einer Glocke ein.

Es hört sich vielleicht nicht so an, aber eigentlich fliege ich gern. Ich halte es für ein unverschämtes Glück, am Ende eines Jahrhunderts zu leben, das lauter Wundermaschinen hervorgebracht hat. Kein Mensch in meinem Kulturkreis beneidet mich groß um mein Flugticket oder meinen alten Quelle-Fernseher. Aber ein König der Ottonen hätte doch sein halbes Königreich dafür gegeben, an meiner Stelle sitzen zu können.

Auf der Projektionswand erscheint eine grün-blaue Landkarte. Ein kleines weißes Flugzeug bewegt sich ruckartig eine gestrichelte Linie entlang, die von Hamburg (rot) nach London (ebenfalls rot) führt. Die Musikfetzen reißen ganz ab. Stattdessen meldet sich jetzt der Kapitän über Lautsprecher. Er heißt Hermann Kahr oder Tahr, und bevor Herr K. uns einen angenehmen Flug wünscht, erwähnt er die günstigen Windverhältnisse und sagt, dass die Temperatur hier in Hamburg achtzehn Grad beträgt. Was er genau sagt, ist: »Die Temperatur hier in Hamburg beträgt zurzeit achtzehn Grad Celsius – gefühlte Temperatur sechzehn Grad.«

Das hat er wahrscheinlich aus dem Fernsehen, diese neue Idiotenmasche, die Temperatur in gemessene und gefühlte zu unterteilen. Als würden alle das Gleiche fühlen und das aufs Grad Celsius genau. Man könnte diese Unterteilung auch prima auf andere Bereiche übertragen: statistische Gefahr mit diesem Flugzeug abzustürzen: eins zu zehn Millionen; gefühlte Gefahr: eins zu zwanzig. Die statistische Gefahr errechnet sich aus der bisherigen Unfallquote dieser Airline, dem Sicherheitsstandard der Flughäfen Hamburg-Fuhlsbüttel und London-Heathrow und dem Umstand, dass wir über Wasser fliegen müssen.

Die gefühlte Gefahr errechnet sich aus meinen Bedenken gegen den Sinn dieser Reise, einem allgemeinen Misstrauen gegen das Schicksal und aus den Filmen, die ich gesehen habe. Während das Flugzeug dröhnend Schubkraft sammelt, lasse ich mir meine Lieblingsszene aus ›Alive‹ durch den Kopf gehen. ›Alive‹ ist die Verfilmung eines echten Flugzeugunglücks, bei dem eine Rugbymannschaft aus Uruguay in den Anden abstürzte. Einige Spieler überlebten und mussten in eisiger Kälte siebzig Tage lang über die Runden kommen, bevor sie gefunden wurden. Zum Schluss schabten sie mit Glasscherben Fleisch aus den gefrorenen Leichen ihrer Mitreisenden und aßen es. Im Film macht sich einer der Überlebenden auf, um Hilfe zu holen, und bittet die Zurückbleibenden, seine tote Mutter als Letzte anzuschneiden. An diese Szene denke ich jetzt aber nicht, sondern an eine frühere, in der das Flugzeug gegen einen Berg prallt und in der Mitte auseinanderbricht. Das vordere Rumpfstück saust ohne Flügel weiterhin durch die Luft, und statt der Motoren ist plötzlich nur noch zischender, jaulender Fahrtwind zu hören. Erstarrt klammern sich die angeschnallten Passagiere an ihre Sitze, ihre Gesichtshaut flattert, Lippen legen Zahnfleisch bloß, hinter den Passagieren klafft dieses riesige Loch, das unsachgemäß verstaute Handgepäck trudelt durch die Luft, und die letzten Sitzreihen werden eine nach der anderen durch den Sog herausgerissen, und gefühlte und tatsächliche Gefahr sind vollkommen deckungsgleich.

 

Wir rasen die Startbahn entlang. Demonstrativ liest der hellblaue junge Mann neben mir im Wirtschaftsteil seiner Zeitung. Mich als Vielflieger beeindruckt das alles nicht, will er damit sagen. Wahrscheinlich beeindruckt es ihn tatsächlich nicht mehr, den Armseligen. Der Boden bleibt zurück. Wir fliegen. Wir fliegen tatsächlich. Achtundzwanzig Prozent aller Flugunfälle ereignen sich während des Steigflugs.

 

• • •

 

Mein erster Freund hieß Axel Vollauf. Axel war blond und dünn und hatte große, runde, stets weit aufgerissene Augen, so als hätte er einmal ein Massaker oder einen Meteoriteneinschlag mit ansehen müssen, und seitdem diesen Gesichtsausdruck beibehalten. Unsere Liebe war heiter und unspektakulär. Wir besuchten dieselbe Klasse und gingen morgens Hand in Hand zur Schule. Axel in seinem braunen Anorak und von der Verkehrswacht mit einer gelben Pudelmütze ausgerüstet, ich in einer dunkelblauen Clubjacke mit einem gestickten Wappen auf der Brusttasche. In das Wappen war der erste Buchstabe meines Namens integriert: ein verschnörkeltes A – für Anne. Das Kopftuch der Verkehrswacht hatte ich bereits einen Tag nach der Einschulung verloren. Wir trafen und trennten uns jedes Mal an derselben Straßenkreuzung, und verabredeten uns dort für den Nachmittag, den wir unter einem Rhododendronstrauch im Garten meiner Eltern verbrachten. Auf diesem vermoosten und von Sonne und Schatten gefleckten Stück Erde hatte ich ein Krankenhaus für Tiere eingerichtet. Anfangs hatte ich es allein geführt, war Ärztin und Pflegepersonal zugleich gewesen. Axel hatte bloß zugesehen. Dann wollte er auch Arzt sein, und als er Arzt war, verlangte er, dass ich einen meiner Berufe aufgeben müsste.

»Du kannst nicht Krankenschwester und Arzt sein«, sagte Axel und fixierte mich mit seinen großen Augen. Ich entschied, den Arztberuf hinzuwerfen, damit ich weiter die Schwesternhaube tragen konnte. An der Aufgabenverteilung änderte das nichts. Ich operierte, weil Axel sich davor ekelte, und Axel assistierte mir wie zuvor und pflegte den Moosteppich im Krankensaal. Die Betten bastelten wir aus orangen Zigarettenpackungen. Sie mussten immer wieder ersetzt werden, weil sie durch den nächtlichen Tau und die Feuchtigkeit der Patienten schnell aufweichten. Es waren Froschbetten. In Barnstedt gab es ungewöhnlich viele Frösche. Sie kamen von den nassen noch unbebauten Wiesen hinter den Gärten herauf und stürzten sich geradewegs in die nagelneuen Motormäher, mit denen unsere Nachbarn über ihre frisch angelegten Rasenflächen knatterten. Kein Haus in dieser Straße war älter als fünf Jahre. Die Leute bauten wie verrückt, schufen dauerhafte Sachwerte, legten Fundamente für ein glückliches Familienleben und hielten das Gras kurz. Sie verschuldeten sich und vertrauten darauf, dass es ihnen und der Wirtschaft auch weiterhin immer besser und besser gehen würde. Manchmal erzählte meine Mutter meinen Geschwistern und mir, wie die Nachbarn von gegenüber zwei Jahre lang mittags immer bloß eine Wurst gegessen hatten, um das Geld für ihren Hausbau zu sparen. Zwei Drittel der Wurst hatte Herr Lange gegessen und ein Drittel seine Frau. Wenn meine Mutter erst einmal von der geteilten Wurst angefangen hatte, kam sie unweigerlich auch noch darauf, wie unser Vater unser Haus gemauert hatte.

»Euer Vater hat jeden Stein von diesem Haus in seinen Händen gehabt – jeden einzelnen Stein«, sagte sie.

Wir waren das tüchtigste Volk der Welt. Deswegen hassten und beneideten uns die anderen Völker. Die Häuser, die wir bauten, hatten alle einen Jägerzaun, ein Quadrat aus Glasbausteinen neben der Haustür und auf der Rückseite ein Panoramafenster, an dem sich kleine Vögel das Genick brachen.

In meinem Spital gab es auch ein Bett für Vögel, eine Zigarrenkiste, die ich mit einem Taschentuch und einer Matratze aus einer Pralinenschachtel ausgepolstert hatte. Die Frösche schliefen auf Gras.

Die meisten Nachmittage verbrachten Axel und ich damit zu warten. Währenddessen horchten wir uns gegenseitig die Lungen ab, klopften uns mit dem Gummihammer auf die Knie und bereiteten die nächste Operation vor. Wir legten Plastikskalpell, Spielzeugspritze und Wattestäbchen auf eine Apfelsinenkiste, aber die einzigen Dinge, die wir tatsächlich brauchten – eine echte Schere und eine Rolle Tesafilm –, hielt ich bis zu ihrem Einsatz im Arztkoffer versteckt. Ich hatte sie meiner Mutter aus der Küchenschublade stehlen müssen, weil ich noch nicht allein mit einer spitzen Schere umgehen durfte und Tesafilm so teuer war. Auf der Terrasse lag mein Vater auf einer Gartenliege und schlief. Er hatte einen geheimnisvollen Beruf, dessen Zweck ich nicht verstand und für den es keinen richtigen Namen gab. In der Schule hatten wir erzählen sollen, was unsere Väter von Beruf waren, und ich hatte es nicht gewusst. Jedenfalls brauchte meiner immer nur bis zum frühen Nachmittag zu arbeiten. Wenn es das Wetter irgend zuließ, schnappte er sich dann seine Klappliege, packte sich hinter sein selbst gebautes Haus, rauchte Ernte 23, las das ›Hamburger Abendblatt‹ und schlief dabei ein, während die Sonne ihn immer brauner brannte. Er fing damit schon im März an, schlüpfte in Shorts, wenn andere Leute noch Handschuhe trugen, und er tat das an allen freundlichen Nachmittagen und Wochenenden, das ganze Frühjahr und den Sommer hindurch bis in den Herbst hinein. Er hatte einen leichten, unruhigen Schlaf. Mein Vater wartete wie wir auf das Geräusch eines Motormähers. Er hasste Rasenmäher mit Motor. Er hasste ihren Lärm. Als Erstes hörte man einen vergeblichen Startversuch, das kurze Knurren eines gleich wieder absaufenden Motors, oft noch einen zweiten und dritten Versuch, dann dröhnte es gleichmäßig herüber, und mein Vater sprang auf, tigerte seinen Jägerzaun entlang und witterte über Hecken, Koniferen und Rhododendren, wer ihm das jetzt wieder antat.

»Weigoni«, schnaubte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kommt von Weigonis. Es ist gar nicht erlaubt, während der Mittagsruhe zu mähen.«

Dann setzte ich meine Krankenschwesterhaube auf und schnappte den Arztkoffer. Axel nahm ein Strohkörbchen und folgte mir. Die meisten Gärten besaßen zu den unbebauten Wiesen hin keinen Zaun, und wir konnten ohne Schwierigkeiten zu den Nachbarn überwechseln. Herr Weigoni wusste schon, was wir wollten. Er nickte uns über seinen dröhnenden und rauchenden Mäher hinweg zu und machte eine einladende Handbewegung, die bedeutete, dass wir die gemähten Rasenstücke gern nach verletzten Fröschen absuchen konnten. Vor dem Rasenmäher hergehen und die Frösche retten, durften wir nicht. Herr Weigoni hatte Angst, dass wir mit den Füßen in die Messer geraten könnten. Axel hielt den Korb, und ich legte die Frösche hinein, Frösche ohne Arme und Beine und große dicke Biester, aus deren Bäuchen gräuliche Därme quollen und Arme und Beine ohne Frösche. Wir behandelten grundsätzlich alle Opfer, selbst die hoffnungslosen Fälle: geköpfte Frösche und Frösche, die in der Mitte durchtrennt waren. Wenn wir in den Garten meiner Eltern zurückkamen, war unser Korb bis oben hin voll, und Herr Weigoni mähte immer noch. Der Geruch von geschnittenem Gras und Benzin erfüllte die Luft. Mein Vater war inzwischen ins Haus geflüchtet, kam aber alle zehn Minuten heraus, um zu überprüfen, ob es endlich wieder still geworden war. Axel schüttete die Patienten auf die Apfelsinenkiste und zählte nach, wie viel Gliedmaßen wir gefunden hatten. Ich nahm zuerst die Bauchverletzungen. Sie bewegten sich nicht mehr und waren deswegen am einfachsten zu behandeln. Ich stopfte die Eingeweide zurück in die Bauchhöhle.

»Das könnte ich nie«, sagte Axel jedes Mal so angeekelt wie bewundernd, zog ein Stück Tesafilm von der Rolle ab und hielt es mir hin, damit ich es abschnitt. Ich klebte die Wunde zu und legte den Patienten in eines der orangen Betten. Die Stelle platzte sofort wieder auf und eine durchsichtige Flüssigkeit sickerte heraus. Auf der nassen Froschhaut hielt Tesafilm nicht gut. Ich drückte einen neuen Klebestreifen darüber, dann griff ich mir den nächsten Frosch. Die Arm- und Beinamputierten zappelten wie verrückt. Es gelang mir selten, die Gliedmaßen anzukleben, also legte ich die Patienten einfach so ins Bett. Sie wälzten sich sofort wieder heraus und humpelten mit ihren verbliebenen Beinen unter den Rhododendron. Wir verfolgten sie nicht weiter, legten ihnen bloß ihre abgehackten Beine, Hände und Füße unter den Busch, falls die Frösche sie sich später noch holen wollten. Das war der frustrierende Aspekt an unserem Spital: Bis zum nächsten Morgen hatten sich alle Patienten entweder aus dem Staub gemacht, oder sie waren tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals auch nur einen einzigen geheilt hätten.

 

Es war nicht nur mein Vater mit seinen Rasenmähern – jeder in meiner Familie konnte irgendetwas nicht ertragen. Meine Mutter hasste hohe Frauenstimmen. Genau genommen hasste sie wohl die Stimme meiner Großmutter, die im halb ausgebauten Dachgeschoss unseres Hauses wohnte. Aber das sagte sie nie so direkt. Sie sagte immer nur:

»Diese kreischenden Stimmen, ich kann diese kreischenden Frauenstimmen nicht ertragen. Wie soll man dabei arbeiten?«

Meine Oma konnte das Geräusch nicht ertragen, das die Männer machten, die nachts in ihr Dachstübchen eindrangen. Sie behauptete, dass jede Nacht Männer zu ihr heraufkämen. Diese Männer rissen ihr heimlich Haare aus und nahmen die Deckel von den Töpfen, um damit über die Wandkacheln ihrer Küche zu scheppern. Das Erstaunlichste an der ganzen Sache war vielleicht, dass meine Oma weder Töpfe noch Küche besaß. Sie kochte gar nicht selbst, sondern aß mit bei uns unten.

Meine ältere Schwester hasste Vogelgezwitscher. Wenn sie über ihren Hausaufgaben saß, die Flüsse und Hügelketten einer Landkarte verschiedenfarbig bemalte, oder was man sonst so als Viertklässler aufbekam, schleuderte sie plötzlich die Wachsstifte zu Boden und rief: »Die Vögel, die verdammten Vögel! Wie soll man da arbeiten? Sie schreien die ganze Zeit.« Außer Vogelgezwitscher hasste meine Schwester noch jedes Geräusch, das ich machte.

Ich selber kann es bis heute nicht aushalten, wenn jemand eine Tüte Backpulver drückt und reibt, bis sie knatscht, was mein Leben aber nicht großartig beeinträchtigt. Mein kleiner Bruder war das einzige Familienmitglied, das keinerlei Abneigungen gegen ein spezielles Geräusch hatte. Allerdings konnte er es nicht ertragen, Perlmuttknöpfe anzufassen. Meine Mutter musste immer sämtliche Knöpfe von seinen Pyjamas abschneiden und die knöpfbaren Stellen zunähen. Münzen dagegen liebte er sehr. Er besaß eine Spardose, die mein Vater von einer Tagung aus Finnland mitgebracht hatte. Ein kleiner durchsichtiger Globus aus Kunststoff, dessen Boden mit einem Schlüssel zu öffnen war, sodass mein Bruder die Münzen immer wieder herausschütteln und zählen konnte. Als er genügend gespart hatte, tauschte mein Vater ihm seine Münzen gegen ein blankes Markstück ein, das mein Bruder von nun an in einer Pappschachtel unter seinem Bett verwahrte. Er zog die Schachtel jeden Abend hervor, küsste und streichelte seine Mark und legte sie wieder in die Pappschachtel zurück.

 

Eines Abends kam ich nach einem langen und anstrengenden Nachmittag im Froschspital ins Kinderzimmer zurück, hängte meinen Arztkoffer an die Schneewittchen-Garderobe und sah, wie mein kleiner Bruder den Arm aus seinem Gitterbett steckte und nach der Schachtel mit dem Geldstück angelte. Er konnte sie nicht erreichen, weil meine Mutter den Boden gebohnert und die Schachtel dabei bis an die Wand geschoben hatte. Obwohl er schon fünf war, schlief er immer noch in einem Gitterbett. Er tobte so sehr im Schlaf, dass er sonst hinausgefallen wäre. Jetzt fing er an zu brüllen.

»Mein Geld, ich will mein Geld«, heulte er. Meine Schwester kam herein. Wir wohnten alle zusammen in diesem Zimmer, meine Schwester, mein Bruder und ich. Meine Schwester legte sich auf den Boden, stieß sich mit den Händen ab und schlitterte unter sein Bett. Sie trug ein rot kariertes Kleid, das meine Mutter aus dem gleichen Stoff genäht hatte wie meines und das auf dem gebohnerten Linoleum gut rutschte. Als sie wieder auftauchte, stemmte sie den Oberkörper hoch und reichte meinem Bruder die Schachtel. Er nahm sein Markstück heraus, streichelte es und polierte es dann mit einem Ende seines Kissens. Meine Schwester blieb auf dem Boden, schob und zog sich mit den Händen vorwärts und glitt auf dem Bauch durch das ganze Zimmer. »Ich bin ein Krokodil«, sagte sie. »Passt bloß auf! Ein schnelles, gefährliches Krokodil.«

Mit Schwung tauchte sie unter mein Bett. Wir schliefen in einem Etagenbett, sie oben, ich darunter, wo ich vor dem Einschlafen gegen einen Matratzenschoner voller Eskimo-, Indianer-, Neger- und Chinesenkinder blickte. Ich hörte meine Schwester rumoren, dann stieß sie sich mit den Füßen von der Wand ab und sauste aus der Dunkelheit hervor, geradewegs vor meine Füße. In der Hand hielt sie den Schuhkarton, in dem ich meine Geheimnisse aufbewahrte. Und bevor ich sie daran hindern konnte, öffnete sie ihn und nahm ein Matchboxauto heraus.

»Wo hast du das her. Das hast du gestohlen.«

»Nein«, sagte ich, »das hat mir Holger Deshusses geschenkt.«

Holger Deshusses war ein Nachbarjunge. Niemand konnte den Nachnamen der Familie richtig aussprechen. Nicht einmal die Erwachsenen. Wir sagten alle »De-süß«. Es war enorm einfach gewesen, dieses Auto zu klauen. Baby-Eier-leicht, wie wir das damals auszudrücken pflegten. Das Matchboxauto war ein völlig unscheinbarer grauer Opel, den Holger Deshusses zusammen mit hunderttausendmillionen anderen Spielzeugautos in einer tapezierten Waschmitteltonne aufbewahrte. Als Holger mit meiner Schwester ins Badezimmer gegangen und ich allein in seinem Zimmer zurückgeblieben war, hatte ich den Opel in meine Unterhose gesteckt und mein Kleid darüber glatt gestrichen. Ich war nicht so dumm gewesen, etwas Auffälliges wie ein Polizei- oder Feuerwehrauto oder das Batmobil mit der ausklappbaren Kreissäge im Kühlergrill zu nehmen. Niemand hätte je bemerkt, dass der Opel fehlte.

»Du lügst«, sagte meine Schwester. »Morgen, in der Schule, gehe ich mit dir zu Holger Deshusses und frage ihn. Und wehe, du lügst!«

 

An diesem Abend konnte ich nicht gut einschlafen, und ich wachte am nächsten Morgen auch nicht gut auf. Sofort fiel mir die drohende Gegenüberstellung ein. Ich hoffte, meine Schwester hätte das Ganze über Nacht vergessen, und sah sie nicht an, während ich neben ihr im Badezimmer stand und mir im Zeitlupentempo die Zähne putzte und schließlich nach dem Kamm griff. Der Kamm war mit Birkenwasser verschmiert, einem öligen Zeug, mit dem mein Vater seinen Haarausfall bekämpfte. Nur die großen Zinken waren noch halbwegs trocken. Ich trödelte so lange herum, bis meine Mutter hereinkam und mir beim Waschen half, denn meine Oma wartete schon vor der Tür. Meine Eltern hatten ihr spätes Wirtschaftswunderhaus mit drei Kindern und einer Großmutter, aber mit nur einem Badezimmer bestückt. Während meine Mutter mir mit einem Waschlappen über die ausgestreckten Arme fuhr, stieg meine Schwester neben mir auf einen Kinderstuhl, um sich im Spiegel zu besehen. Sie drehte und wand sich, und dann sagte sie zu mir: »Mein Po sieht aus wie ein Apfel. Deiner sieht aus wie ein Milchbrötchen.«

Ich verdrehte den Kopf und begutachtete meinen Po. Er sah so mies aus, wie ich vermutet hatte. Wie ein Milchbrötchen. Meine Schwester sprang vom Stuhl, sah mich streng an und sagte: »Gleich treffen wir Holger Deshusses.«

»Mir ist schlecht«, sagte ich zu meiner Mutter. »Mir tut da was weh! So ’n Piksen. Da irgendwo.« Ich zeigte auf meinen Bauch. »Ich glaub, ich hab Fieber.«

Meine Mutter legte mir die Hand auf die Stirn.

»Fieber hast du nicht«, sagte sie und nahm die Hand wieder weg.

»Doch« – ich schrie beinahe –, »fühl noch mal!«

Sie legte mir ein zweites Mal die Hand auf die Stirn. Ich schickte eine Welle Hitze aus meinem Bauch in den Kopf.

»Wirklich. Und wie! Du gehst sofort wieder ins Bett.«

Ich schlurfte zurück ins Kinderzimmer, zog mein Nachthemd wieder an und kroch unter die immer noch warme Bettdecke. Ich beobachtete meinen kleinen Bruder, der in seinem Gitterbett lag und sich mit dem Zipfel des Kopfkissens die Stelle zwischen Mund und Nase rieb. Meine Schwester und meine Mutter kamen herein, und meine Schwester nahm eine rote Frotteeunterhose vom Tisch und zog sie über ihren Apfelpo. Meine Mutter hielt eine Dose Niveacreme in der Hand. Sie setzte sich zu mir aufs Bett und tunkte die Spitze eines Thermometers in die Nivea.

»Leg dich auf den Bauch!«

Ich hatte neununddreißig Fieber. Ich konzentrierte mich darauf, das Fieber zu halten, bis der Arzt kam. Als er endlich eintraf, war ich von dieser Anstrengung völlig erschöpft. Der Arzt sah mir in den Mund.

»Das sind die Masern«, sagte er. Meine Mutter zog die Vorhänge zu.

 

Die Masern bedeuteten, dass Holger Deshusses tagelang nicht in dieses Zimmer kommen durfte. Und danach würde die Sache mit dem Matchboxauto längst vergessen sein. Von nun an war ich in Sicherheit. Nicht nur, was Holger Deshusses betraf, sondern für alle Zeiten. Wann immer irgendetwas schiefgehen würde, konnte ich einfach krank werden. Richtig krank, ernstlich und nachweislich – nicht nur so ein bisschen Temperatur oder vorgetäuschte Bauchschmerzen. Die Masern, die Röteln, Windpocken oder Scharlach konnte ich bekommen – und das allein durch Willenskraft. Ein wunderbares Leben lag vor mir. Denn wenn es mir schlecht ging, ging es mir richtig gut. Die Masern bedeuteten ein neues Rätselheft, Kekse und Sunkist ans Bett und daneben eine Kuhglocke, mit der ich nur zu läuten brauchte, und meine Mutter kam angesprungen und brachte mir, was ich sonst noch wollte. Die Masern bedeuteten, dass das Vogelnest mit dem winzigen Ei darin, das Onkel Horst der ganzen Familie zur Anschauung geschenkt hatte, neben mein Bett gestellt wurde. Onkel Horst war der ältere Bruder meines Vaters, ein dürrer Junggeselle, der ein winziges Holzhaus in einer Schrebergartenanlage bewohnte und »vom Staat« lebte. Die Besuche bei ihm waren immer ein Quell der Langeweile. Er besaß weder Radio noch Fernseher. Mein Vater musste für ihn die Lottozahlen aufschreiben, und Onkel Horst sagte jedes Mal: »Was sind denn das für dösige Zahlen, da kommt ja kein Mensch drauf.«

Über die Zigaretten, die mein Vater ihm mitbrachte, freute er sich hingegen sehr. Ich bekam dann die leere Schachtel vom letzten Mal. Manchmal saßen wir vor der Schreberlaube, und Onkel Horst machte uns auf Vogelstimmen aufmerksam: »Hört ihr – eine Kohlmeise: zituit zituit. Und das ist eine Blaumeise: zii-zii-tütütü.«

Er machte die Vogelstimmen wahnsinnig schlecht nach. Als würde er sie aus einem seiner Bestimmungsbücher ablesen. Wenn wir gingen, hatte er jedes Mal ein Geschenk für uns, einen großen Tannenzapfen, einen Rehknochen, eine mumifizierte Kröte, die meine Mutter zu Hause sofort in den Ascheimer warf, oder eben das Vogelnest, das dann neben mein Krankenbett gestellt wurde.

Die Masern bedeuteten auch, dass Axel, der die Masern bereits hinter sich hatte, zu Besuch kam und mir einen Strauß gelb und rot geflammter Papageientulpen mitbrachte. Papageientulpen sind die schönsten Blumen der Welt. Es sind die wahren Blumen der Liebe. Aber da die meisten Menschen nichts von der Liebe verstehen, kaufen sie stattdessen rote Rosen. Meine Mutter tat die Papageientulpen in eine Vase und stellte sie auf den Kinderstuhl, auf dem vorher das Nest gelegen hatte. Das Nest hatte man mir wieder weggenommen, weil ich versucht hatte, das Ei auszubrüten. Es war zerbrochen, und ich hatte meinen Pyjama mit dem Dotter und dem winzigen Vogelembryo verschmiert. Axel setzte sich zu mir auf die Bettkante und holte zwei fünfpfennigstückgroße Gummitiere aus seiner Hosentasche. Er wusste, dass ich Gummitiere sammelte.

»Toll – die Krake«, sagte ich und hielt sie gegen das Licht. Die Krake war schwarz und merkwürdig zweidimensional, was sie noch unheimlicher aussehen ließ.

»Und das Schaf«, sagte Axel. Das Schaf hatte ich auch noch nicht.

Axel besuchte mich jeden Tag. Er überredete meine Mutter, die Musiktruhe aus dem Wohnzimmer ins Kinderzimmer zu schleppen und uns ein Album voller Single-Schallplatten zu überlassen. Die Musiktruhe war ein rechteckiger Holzkasten, der auf dünnen, abgespreizten Beinen stand. Der runde Lautsprecher war hinter einem Mattengeflecht verborgen, ließ sich aber ertasten, und die Skala mit den Radio-Frequenzen leuchtete grün. In einem Fotoalbum meiner Eltern gibt es ein Bild, auf dem mein Vater mit einem kleinen Sombrero auf dem Hinterkopf vor dieser Truhe sitzt und eine Schallplatte zwischen den Fingerspitzen hält. Er lacht in die Kamera, und seine – hier noch viel volleren – Haare glitzern vor lauter Birkenwasser. Meine Mutter steht schräg hinter meinem Vater und winkelt schon mal die Arme an, als würde sie am liebsten sofort lostanzen. Sie trägt Caprihosen und einen Rollkragenpullover und sieht umwerfend schön aus, und das findet der fremde junge Mann, der ihr seinen Arm um die Schulter gelegt hat, auch. Es ist eine ziemlich gute Party, alle sind albern und ausgelassen und scheinen wirklich Spaß zu haben. Das Foto stammt aus einer Zeit, als meine Eltern schon verheiratet waren, aber noch keine Kinder hatten.

Axel zog sechs Singles aus dem Album, steckte sie übereinander auf die Wechselachse in der Mitte des Plattentellers und legte den Plattenhalter darüber. Die Truhe funktionierte so, dass eine einzelne Schallplatte herunterfiel und abgespielt wurde, worauf die nächste herunterfiel und sich auf die erste legte, sodass wir ohne Unterbrechung alle Platten nacheinander hören konnten. Dann stimmten wir ab, welche Single uns am besten gefiel. Und dann hörten wir die noch einmal. Beim ersten Mal gewann ›Pigalle‹ von Bill Ramsey, beim zweiten Mal ›Banjo Boy‹ von den dänischen Knaben Jan und Kjeld und beim dritten Mal ›Café Oriental‹, wiederum von Bill Ramsey. Bill Ramsey war überhaupt der Größte. Manchmal machten auch meine Geschwister bei der Schlagerparade mit. Meine Mutter sagte, sie sollten sich ruhig bei mir anstecken, damit wir die Masern »in einem Aufwasch« hinter uns brächten. Aber mir war es lieber, wenn Axel und ich den Sieger allein bestimmten. Wir hatten fast immer den gleichen Geschmack.

 

Nachdem ich gesund geworden war, verbrachten wir die Nachmittage wieder unter dem Rhododendron. Manchmal nahm mein Vater uns und meine Geschwister auch zum nahe gelegenen Olpenteich mit. Dann ermahnte er uns jedes Mal, nicht in »unbekanntes Gewässer« zu springen. Vor allem nicht mit dem Kopf voran.

»Prüft immer erst, wie tief das Wasser ist, bevor ihr reinspringt«, sagte er. »Das Krankenhaus Boberg ist voll mit Leuten, die in zu flaches Wasser gesprungen sind. Alles Querschnittslähmungen.«

Es war der Sommer, in dem die Amerikaner auf dem Mond landeten, und ich erinnere mich, dass die ganze Familie bei geschlossenen Gardinen im Wohnzimmer saß, obwohl draußen die Sonne schien. Sonst kämpften meine Geschwister und ich vergeblich darum, an sonnigen Nachmittagen fernsehen zu dürfen. Mein Vater schaute sich das Ganze bereits zum zweiten Mal an. Das Fernsehbild sah grieselig aus. Manchmal zuckte es auch. So ähnlich, wie wenn mein Vater versuchte, das DDR-Programm reinzukriegen. Ein Astronaut stieg in seinem weißen Anzug unendlich langsam eine Leiter herunter. Dann wurde das Bild auch noch angehalten, und jemand erklärte etwas, und dann sah man Schautafeln, die ich nicht verstand. Besonders aufregend fand ich das nicht. Ich war erst sieben, für mich war das meiste neu, sogar die 50er-Jahre-Schallplatten meiner Eltern. In der Schule hatte ich gerade erst gelernt, dass es einen Gott gab, der für alles verantwortlich war. Zu Hause hatte das niemand erwähnt. Ich nahm Gottes Existenz genauso gleichmütig hin wie die Existenz von Flugzeugen, Telefonen und fließend Warmwasser. Ich glaube, sieben Jahre ist ein Alter, in dem man es sich einfach nicht leisten kann, von neuen Erfahrungen übermäßig beeindruckt zu sein. Was mich wirklich aufwühlte, war, dass unsere Lehrerin erzählte, Tiere hätten keine Seele. Ich mochte Tiere. Tiere waren die kleinen Freunde, die Professor Grzimek mit ins Studio brachte. Lustige Affen oder dünne Geparden, die sich weigerten, still zu sitzen, und deretwegen ich ausnahmsweise länger als bis acht Uhr aufbleiben durfte. Es war nicht einzusehen, warum sie keine Seele haben sollten. Für Raumfahrt interessierte ich mich erst, als es bei den Shell-Tankstellen Sammelmünzen gab, die man in die entsprechend großen Löcher einer Pappkarte hineindrücken konnte. Auf der Pappe war die Trägerrakete abgebildet, die Apollo 11 in die Mondumlaufbahn gebracht hatte, und darüber stand: »Die Eroberung des Himmels«. Jedes Mal, wenn mein Vater tankte, bekam er eine kleine Tüte mit einer Münze darin geschenkt. Eigentlich brachte er die Münzen meinem Bruder mit, aber mein Bruder verkaufte mir jede für zehn Pfennige, und ich sammelte sie an seiner Stelle. Es war meine erste ernsthafte Sammlung, womit ich meine, dass sie auf Vollständigkeit abzielte. Bei meiner Gummitiersammlung war es nur darum gegangen, besonders viele und möglichst gefährliche oder ungewöhnliche Tiere zu besitzen. Von der Münzsammlung fehlten mir zum Schluss noch zwei Exponate: »Apollo 8« und »J. Alcock«. »Charles A. Lindbergh« hatte ich dafür dreimal. Ich musste die Münzen jedes Mal blind von meinem Bruder kaufen. Er öffnete die Tüten zwar vorher, ließ mich aber nicht hineinsehen, bevor ich bezahlt hatte. Die beiden Münzen, die mir noch fehlten, bekam ich nie. Die Serie lief aus, und mit Axel, der aus Treue zu mir ebenfalls mit einer Shell-Münzen-Sammlung angefangen hatte, konnte ich nicht mehr tauschen, weil wir nicht mehr befreundet waren.

 

Irgendwann war es zu kalt zum Schwimmen geworden, das Tierspital hatte mangels Patienten schließen müssen, und Axel und ich spielten nun im Haus. Merkwürdigerweise taten wir das fast immer bei mir. Es kam ganz selten vor, dass wir zu Axel gingen, obwohl dort viel mehr Platz gewesen wäre. Er war ein Einzelkind. Stattdessen stritten wir uns mit meinen Geschwistern so heftig um den Platz im Kinderzimmer, dass meine Mutter uns allen schließlich auftrug, aus Legosteinen Mauern zu bauen, mit denen wir den Fußboden des Zimmers in drei gleich große Stücke teilten. Wenige Zentimeter hohe antigeschwisterliche Schutzwälle waren das, deren Übertretung jedes Mal lautes Geschrei auslöste. Doch es waren nicht diese Streitereien, die meine Familie gegen Axel aufbrachten – eher das Gegenteil. Ich weiß nicht mehr genau, wie es anfing, aber irgendwann entwickelte Axel die Angewohnheit, sich plötzlich auf einen zu stürzen. Zuerst machte er das nur mit mir. Mindestens zweimal am Tag fiel er mich an und klammerte sich an meinem Hals fest, bis mir die Luft wegblieb. Das ging mir ziemlich auf die Nerven. Aber weil ich ihn gern hatte, nahm ich es hin und wartete einfach, bis er von selbst wieder losließ. Doch dann stürzte er sich auch noch auf meine Schwester und meine Mutter, umarmte ihre Taillen, krallte sich fest, presste seinen Kopf gegen ihre Hüften und war nur mit Gewalt wieder abzulösen. Meine Schwester verabscheute das ganz besonders.

»Hör auf, du Doofmann«, schrie sie und schlug ihm mit der Faust auf den Kopf, »hör sofort auf!«, worauf Axel sich nur noch fester klammerte. Selbst meine Mutter war seinen Attacken mehr oder weniger hilflos ausgeliefert.

»Wenn du das nicht lässt, darfst du nicht mehr kommen«, sagte sie einmal zu Axel, nachdem sie mühsam seine Arme von ihren Hüften gelöst hatte. Axel riss die großen Augen noch weiter auf, stürzte sich sofort auf eines ihrer Beine und umklammerte es so ungestüm, dass meine Mutter beinahe gestürzt wäre.

Am Abend nahm sie mich beiseite.

»Sag deinem Axel, dass er das lassen muss. Das ist ja nicht auszuhalten. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, habe ich Angst, dass er mich gleich anfällt. Ich trau mich kaum noch, ihm den Rücken zuzudrehen.«

Aber wenn man das Thema Axel gegenüber auch noch so vorsichtig anschnitt, hatte das bloß zur Folge, dass er stumm die Augen aufriss und sich sofort wieder auf einen stürzte. Inzwischen hing er mir mindestens fünfmal pro Tag am Hals, und ich sah seinem immer früheren Erscheinen mit immer weniger Begeisterung entgegen.

Einmal wollten wir gerade zu Mittag essen, als es an der Tür klingelte. Sofort richteten sich alle Blicke vorwurfsvoll auf mich, und mein Vater, der ja stets schon gegen halb zwei von der Arbeit nach Hause kam und deswegen mit am Tisch saß, sagte:

»O Gott, Tellerauge! Jetzt schon!«

»Wir machen einfach nicht auf«, schlug meine Mutter vor und verteilte die Koteletts. Ihr Mann bekam ein ganzes und die Schwiegermutter und jedes Kind je ein halbes. Sie selber aß bloß Gemüse und Kartoffeln. Sie behauptete, sie mache sich nichts aus Fleisch. Wieder ging die Türglocke.

»Das Jüngelchen. Das wilde Jüngelchen ist wieder da«, fistelte meine Oma, die sich, wenn Axel erschien, meistens in ihrer Dachstube versteckte. Allerdings hatte er sie noch nie angegriffen.

»Muss der jeden Tag kommen?«, sagte meine Schwester. Nur mein kleiner Bruder krähte begeistert: »Tellerauge! Tellerauge« und verstreute seine Dosenerbsen auf dem Resopaltisch.

»Pscht«, sagte meine Mutter und wandte sich dann an meinen Vater: »Sag nicht immer ›Tellerauge‹. Die Kinder sprechen das nach.«

Meine Oma nahm einen feuchten Wischlappen aus ihrer Kitteltasche und fegte damit die Erbsen zusammen. Der Lappen war aus einem braungrauen Stoff. Man brauchte seine Nase gar nicht besonders dicht daranzuhalten, um zu merken, wie widerwärtig er roch. Meine Schwester nannte ihn immer »das Seuchentuch«. Alle Stellen, die mit dem Seuchentuch gewischt wurden, rochen hinterher genauso widerlich. Meine Oma wickelte die Erbsen sorgfältig in den Lappen und steckte das Paket wieder in die Tasche ihres orangegrün geblümten Kittels. Axel klingelte jetzt Sturm. Meine Schwester versuchte, ihr halbes Kotelett gegen meines zu vertauschen, weil ich das Stück mit dem Knochen bekommen hatte, aber ich merkte es rechtzeitig und zog meinen Teller weg, wobei sich wieder ein Schwall Erbsen auf die Tischplatte ergoss.

»Was veranstaltet ihr da für eine Schweinerei! Ihr esst gleich auf dem Klo weiter!«, schrie meine Mutter gegen die Türklingel an. Diese Drohung stieß sie ständig aus, machte sie aber nie wahr. Ich fand den Gedanken, allein im Badezimmer zu essen, gar nicht mal so übel. Meine Oma holte das Seuchentuch heraus und sammelte weitere Erbsen ein, um sie in ihrem Kittel verrotten zu lassen. Dann hörte das Klingeln auf, meine Mutter lächelte erleichtert, und wir lauschten einen Moment in die Stille hinein. Ich klemmte meine Füße hinter die Stuhlbeine, und wir begannen zu essen. Plötzlich verschluckte sich mein Vater, der von seinem Platz aus in den Garten sehen konnte, und fuchtelte hustend mit seiner Gabel in diese Richtung. Wir drehten alle den Kopf zum Panoramafenster. Und dort stand Axel Vollauf, presste sein Gesicht gegen das Glas und glotzte mit mühlradgroßen Augen herein. Ich drehte mich rasch wieder nach vorn und tat, als betrachtete ich das Dosengemüse auf meinem Teller.

»Lass ihn bloß rein, bevor er das ganze Fenster verschmiert«, seufzte meine Mutter. Meine Schwester boxte mich auf den Arm und zischte: »Na los, steh schon auf! Tellerauge will zu dir.«

»Tellerauge, Tellerauge!«, krähte mein kleiner Bruder.

 

Viele Jahre später erzählte mir mein Therapeut von einem pädagogischen Trick, den angeblich die Eskimos anwenden, um ihre Kinder davon abzuhalten, an den lebensgefährlichen Rand des Eises zu gehen: Sowie das Eskimokind einigermaßen verständig ist, kommt das ganze Dorf zusammen. Der Vater oder die Mutter sagt zu ihm: »Geh einmal bis zum Eisrand, dorthin, wo das offene Meer beginnt«, und das Kind stapft vor aller Augen los, geschmeichelt von der großen Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zuteilwird. Aber kaum hat es die gefährliche Zone erreicht, beginnen alle Eskimos zu lachen. Das Kind bleibt stehen, es sieht sich verwirrt um, zögert vielleicht, ob es mitlachen soll. Aber dann wird ihm klar, dass es hereingelegt worden ist und die anderen über seine Dummheit lachen. Und es steht am Rand des Eises und weint, und die anderen hören einfach nicht auf zu lachen, bis es den gefährlichen Platz wieder verlassen hat. Mein Therapeut behauptete, ein derart beschämtes Eskimokind würde nie wieder freiwillig an den Eisrand gehen, und diese Art von Erziehung wäre effektiver als jedes noch so strenge Verbot. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Vielleicht ist es bloß wieder so eine Geschichte von Leuten, die glauben, dass andere Völker ihr Leben grundsätzlich besser auf die Reihe kriegen. Vielleicht spielen die Eskimos in Wirklichkeit alle Bingo, während ihre Kinder reihenweise ins Eismeer stürzen. Was aber die Methode betrifft, so bezweifle ich nicht, dass sie funktioniert.

 

Als Axel mir an diesem Nachmittag um den Hals fiel, sich festklammerte und mich dabei wie üblich halb erwürgte, konnte ich es nicht länger ertragen. Meine Geschwister standen auch noch daneben und sahen zu. Ich schlug sofort um mich, boxte ihn in den Magen, trat ihn gegen das Schienbein und stieß ihn schließlich zu Boden.

»Hau ab«, schrie ich ihn an, »hau bloß ab! Ich hasse dich! Ich will dich nie wieder sehen!«

Und ich meinte es genau so. Axel wurde ganz grün im Gesicht. Möglicherweise hatte ich ihn zu fest in den Bauch geboxt. Er zwinkerte, die Augen waren plötzlich nicht mehr starr aufgerissen, sondern sahen ganz klein aus, mit nackten, weichen Albino-Lidern. Dann fing er an zu heulen; er rotzte und schniefte und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, rappelte sich auf, stieß mich beiseite und rannte ohne den geringsten Versuch, sich an irgendjemandem festzuklammern, aus dem Kinderzimmer und auf den Flur. Während sein Heulen sich zu einem immer schrilleren Kreischen und Plärren steigerte, zerrte er seinen braunen Anorak von der Garderobe und stopfte seine Füße in die Schuhe. Meine Mutter kam aus der Küche und fragte, was jetzt schon wieder los sei. Axel riss die Haustür auf und rannte mit losen Schnürsenkeln und einem halb angezogenen Anorak hinaus. Immer noch kreischend und brüllend. Meine Geschwister und ich sahen ihm nach.

»Ich will dich nie wieder sehen!«, schrie mein kleiner Bruder.

 

In der ersten Zeit war es durchaus angenehm, Axel vom Hals zu haben. Es war angenehm, nicht mehr vorwurfsvoll angeschaut zu werden, wenn es an der Haustür klingelte, und angenehm, nicht gewürgt zu werden. Es war angenehm, allein zur Schule zu gehen und endlich auch mal mit anderen Kindern zu spielen. Nur, dass ich mit den anderen Kindern lange nicht so gut spielen konnte. Wir machten genau die gleichen Sachen, die ich mit Axel gemacht hatte, wir bauten Lego-Häuser und inszenierten Matchbox-Autounfälle und fütterten die Steiffteddys mit Marmelade oder fesselten ihnen die Arme auf den Rücken. Aber es war nicht dasselbe. Schließlich wurde ich jedes Mal krank, wenn sich ein Kind aus meiner Klasse mit mir verabreden wollte. Manchmal gab ich mir Mühe und wurde wirklich krank, und manchmal tat ich bloß so. Von da an saß ich nachmittags und abends in der muffig riechenden Dachstube meiner Großmutter. Meine Oma hatte nämlich einen eigenen Fernseher mitgebracht, als sie bei uns eingezogen war. Und sie brauchte jetzt jemanden, der für sie umschaltete oder an der Antenne drehte oder gegen den Apparat klopfte, wenn das Bild verrutschte. Es fiel ihr in letzter Zeit schwer, aus dem Sessel aufzustehen, und jedes Mal, wenn ich klopfen oder an der Antenne drehen musste, bekam ich einen Groschen für den Kaugummiautomaten. Außerdem konnte ich so fernsehen, ohne dass meine Mutter es rationierte. Leider interessierte sich meine Oma nie dafür, ob Flipper noch rechtzeitig aus dem Fischernetz befreit werden konnte, bevor die ebenfalls darin verfangene Mine gegen einen Felsen trieb, sondern schaute bloß Sportberichte und Spielfilme, in denen viel gesungen und telefoniert wurde. Die Männer telefonierten ganz normal, aber die Frauen in diesen Filmen klammerten sich immer mit beiden Händen an den Hörer. Wenn sie schwarzhaarig oder besonders elegant waren, spielte ihre eine Hand mit dem Kabel. Noch lieber als diese Telefon-Musicals sah meine Großmutter Operetten und »Possen mit Gesang«. Schrecklich. Immer wenn die Handlung gerade ein ganz klein bisschen in Gang gekommen war, fingen die Zirkusprinzessin und die Csardasfürstin an zu singen. Wenn Marika Rökk begann, die Hüften nach vorn und hinten zu schwingen, wusste ich: Jetzt ist erst mal wieder Pause. Dann blätterte ich in der ›Neuen Post‹ oder in ›Das Beste aus Reader’s Digest‹, die bei meiner Oma auf dem Tisch lagen. Die ›Neue Post‹ las ich immer von hinten nach vorn. Zuerst die Rückseite mit den Anzeigen für Saunaanzüge und BH-Einlagen und Schlank-Weg-Gürtel und für eine Folie, die man auf den Schwarz-Weiß-Fernseher kleben konnte, damit aus ihm ein Farbfernseher wurde. Dann las ich die gemalten Witze, und dann blätterte ich durch lauter langweilige Reportagen bis zur Mitte, wo es eine Doppelseite mit vermischten Nachrichten, Kindermund, Tierschicksal und solchen Sachen gab. Meine Lieblingsrubrik war: »Vorsicht Eltern! Verführung auf dem Schulweg.« Die Gefahr lauerte überall. Ein Mädchen wurde überfallen, weil sie sich im Bus die Lippen angemalt hatte. Die Sache ging noch einmal glimpflich aus, und das Mädchen gelobte, sich nie wieder in der Öffentlichkeit zu schminken. Auch ›Das Beste aus Reader’s Digest‹ war voller furchteinflößender Geschichten, in denen jemand gleich seinen ganzen Unterkiefer verlor, wenn er so unvorsichtig war, auf einem Grashalm zu kauen. Bei Zahnfleischbluten können die Bakterien auf einem Grashalm nämlich in die Knochensubstanz des Kiefers eindringen.

Hatte die Csardasfürstin zu Ende gesungen, gab es wieder ein bisschen Handlung, viel zu wenig, und schon fing das nächste Lied an. Meine Oma fand den Gesang gut, aber meine Oma hatte ja auch nicht alle Tassen im Schrank. Manchmal begleitete sie die Lieder mit ihrer unschönen Fistelstimme, und bei den Sportsendungen behauptete sie immer, dass sie das alles ebenfalls könne. Selbst als Pelé sein 1000. Tor schoss, sagte sie: »Das kann ich auch.«

Einmal, als ich den Fernseher für meine Oma eingeschaltet und die Bildröhre sich so weit erwärmt hatte, dass etwas zu erkennen war, erschienen weder Sportler noch singende Telefonistinnen auf dem Bildschirm, sondern Männer mit glatten Haaren bis zum Gürtel, die ihre Gitarren so spielten, dass sie beinahe hintenüber fielen. Ein verschwitzter Kerl im Unterhemd drosch auf sein Schlagzeug ein.

»Ach, die ollen Beatles – schalt schnell um«, fistelte meine Großmutter. Die Beatles waren die einzige aktuelle Band, deren Name sogar ich gehört hatte. Und jetzt wusste ich auch, wie sie aussahen. Es dauerte immer etwas länger, bis die Erscheinungen der modernen Welt in Barnstedt ankamen. Stadtrechtlich gehörten wir zwar zu Hamburg, modisch, moralisch und musikalisch hinkten wir aber fünf bis zehn Jahre hinterher. Die wichtigste, wenn nicht die einzige Verbindung zur Gegenwart war das Fernsehgerät. Ich brauchte Jahre, bis ich begriff, dass die Beatles gar keinen Heavy Metal spielten.