E-Book 1211 - 1260 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 1211 - 1260 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Ich werde immer zu dir halten! E-Book 2: Ein Retter in der Not E-Book 3: Der Einsatz ist zu hoch! E-Book 4: Die falsche Entscheidung E-Book 5: Sie kann ihr Kind nicht lieben E-Book 6: Geld oder Liebe E-Book 7: Der Tag, als sie ihr Gedächtnis verlor E-Book 8: Wenn dein Lachen versiegt E-Book 9: Du sollst mein Vater sein! E-Book 10: Die Romanze des Geigenspielers E-Book 11: Du sollst leben, Ilka! E-Book 12: Ein schlimmer Streit E-Book 13: Deine Stimme in meinem Herzen E-Book 14: Allein im dunklen Wald E-Book 15: Die Lebensretter E-Book 16: Irinas Weg ins Glück E-Book 17: Wem gehört dein Herz, Lilly? E-Book 18: Du liebst mich nicht mehr! E-Book 19: Die Liebe macht stark! E-Book 20: Liebe unter Palmen E-Book 21: Der Mann ihrer Schwester E-Book 22: Liebe im Advent E-Book 23: Du hast die Liebe nicht verdient! E-Book 24: Der Räuber und die schöne Gräfin E-Book 25: Ihre zweite Chance E-Book 26: Baby auf der Flucht! - Unveröffentlichter Roman E-Book 27: Filmstar Isabell E-Book 28: Gefahr in der Toskana E-Book 29: Verfolgt von einem Fremden E-Book 30: Geiselnahme in der Ambulanz E-Book 31: Wer bist du, Elena? E-Book 32: Bist du ein Don Juan? E-Book 33: Das Findelkind E-Book 34: Der rettende Engel E-Book 35: Nur ein bisschen Glück E-Book 36: Verlass mich nicht! E-Book 37: Das Geheimnis der Braut E-Book 38: Du hast die Wahl, Erik! E-Book 39: Heirat verboten! E-Book 40: Lilly Parker, du bist wundervoll! E-Book 41: Die verwunschene Villa E-Book 42: Lara – am Ende ihrer Kraft E-Book 43: Wenn nur noch Hoffnung bleibt E-Book 44: Aufbruch in ein neues Glück E-Book 45: Verliebt in einen Traum E-Book 46: Das Geheimnis des Professors E-Book 47: Eine schwere Entscheidung E-Book 48: Die Liebe wartet auf dich, Johanna! E-Book 49: Ihr erster Fall E-Book 50: Verliebt in eine Lüge

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Seitenzahl: 5598

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Inhalt

Ich werde immer zu dir halten!

Ein Retter in der Not

Der Einsatz ist zu hoch!

Die falsche Entscheidung

Sie kann ihr Kind nicht lieben

Geld oder Liebe

Der Tag, als sie ihr Gedächtnis verlor

Wenn dein Lachen versiegt

Du sollst mein Vater sein!

Die Romanze des Geigenspielers

Du sollst leben, Ilka!

Ein schlimmer Streit

Deine Stimme in meinem Herzen

Allein im dunklen Wald

Die Lebensretter

Irinas Weg ins Glück

Wem gehört dein Herz, Lilly?

Du liebst mich nicht mehr!

Die Liebe macht stark!

Liebe unter Palmen

Der Mann ihrer Schwester

Liebe im Advent

Du hast die Liebe nicht verdient!

Der Räuber und die schöne Gräfin

Ihre zweite Chance

Baby auf der Flucht! - Unveröffentlichter Roman

Filmstar Isabell

Gefahr in der Toskana

Verfolgt von einem Fremden

Geiselnahme in der Ambulanz

Wer bist du, Elena?

Bist du ein Don Juan?

Das Findelkind

Der rettende Engel

Nur ein bisschen Glück

Verlass mich nicht!

Das Geheimnis der Braut

Du hast die Wahl, Erik!

Heirat verboten!

Lilly Parker, du bist wundervoll!

Die verwunschene Villa

Lara – am Ende ihrer Kraft

Wenn nur noch Hoffnung bleibt

Aufbruch in ein neues Glück

Verliebt in einen Traum

Das Geheimnis des Professors

Eine schwere Entscheidung

Die Liebe wartet auf dich, Johanna!

Ihr erster Fall

Verliebt in eine Lüge

Chefarzt Dr. Norden – Paket 3 –

E-Book 1211 - 1260

Diverse Autoren

Ich werde immer zu dir halten!

Anneka Norden kämpft um ihre Liebe

Roman von Pergelt, Jenny

»Möchtest du nicht zum Essen bleiben?«

»Nein, Mama, heute nicht.« Anneka Norden schüttelte den Kopf und sah dabei sehnsüchtig zum Herd, auf dem die fertigen Käsespätzle standen. »Es duftet zwar verführerisch, aber ich bin mit Mark verabredet.«

Seit Anneka mit Mark Vomhold zusammen war, verbrachte sie beinahe jede freie Minute mit ihm. Als Mutter bedauerte Fee natürlich, dass sich Anneka in letzter Zeit so rar machte und sie sie kaum noch zu sehen bekam. Doch solange ihre Tochter glücklich war, gab es für Fee keinen Grund, sich deswegen zu beschweren.

»Ich habe reichlich gekocht. Du kannst dir also gern etwas für euch abfüllen und mitnehmen«, schlug Fee vor.

»Danke, das ist lieb von dir, Mama. Aber Mark wollte heute für uns kochen.«

»Mark kann kochen?«, fragte Fee sofort interessiert nach.

Anneka lachte. »Das habe ich nicht gesagt. Er hat sich angeboten, zu kochen, ob er es kann, werde ich wohl noch herausfinden müssen.«

»Sei nicht so streng mit ihm, mein Spatz. Allein der gute Wille zählt.« Fee sah ihre Tochter an. »Wie geht es ihm denn?«

»Gut«, lautete Annekas knappe Antwort. Sie wich dem Blick ihrer Mutter aus und zog sich die Jacke an.

Fee blieb hartnäckig. »Wie läufts in seiner Firma? Hat er viel zu tun?«

»Mal mehr, mal weniger.« Anneka lächelte entschuldigend. »Mama, ich muss jetzt wirklich los. Wir können uns ja beim nächsten Mal ausführlicher unterhalten.«

Fee umarmte ihre Tochter zum Abschied. »Du kannst Mark dann gern mitbringen. Dann lernen wir ihn endlich kennen.«

»Wir sind erst seit vier Wochen zusammen, Mama. Es gibt also keinen Grund, ihn gleich in die Familie einzuführen oder irgendetwas zu überstürzen.«

»Niemand möchte etwas überstürzen«, erwiderte Fee, die von dieser Antwort sichtlich überrascht war. Warum nur hielt sich ihre ältere Tochter so bedeckt, wenn es um Mark Vomhold ging? Das war völlig untypisch für sie. Anneka besaß eine sehr enge, innige Bindung zu ihrer Familie. Zwischen ihnen gab es keine Geheimnisse – es sei denn, es ging um ihren neuen Freund. Von ihm gab Anneka nur wenig preis, und Fee fragte sich langsam, ob sie sich deswegen Sorgen machen sollte. »Natürlich ist es ganz allein deine Entscheidung, wann du ihn uns vorstellst. Aber du musst auch verstehen, dass wir ein wenig neugierig auf ihn sind. Immerhin bedeutet er dir viel, und er ist schon jetzt zu einem wichtigen Teil in deinem Leben geworden.«

»Ja, das ist er.« Auf Annekas Gesicht erschien kurz ein verträumtes Lächeln, bevor sie ihre Mutter reumütig ansah. »Habt noch ein bisschen Geduld, Mama. Ich werde ihn euch bald vorstellen.«

»Schon gut, Kleines«, lenkte Fee ein. »Vielleicht habe ich es mal wieder übertrieben. Aber es interessiert mich eben, mit wem du zusammen bist. Ich möchte den Mann, dem du dein Herz geschenkt hast, einfach kennenlernen.«

»Und das wirst du auch. Irgendwann mal. Versprochen.«

Fee stutzte. Irgendwann mal? Nur Sekunden zuvor sprach Anneka davon, Mark ›bald‹ der Familie vorzustellen. Schnell redete sie sich ein, dass das nichts zu bedeuten hatte. Reine Wortklauberei, sagte sie sich. Wahrscheinlich machte sie sich viel zu viele Gedanken um Dinge, die völlig belanglos waren und bei nüchterner Betrachtung keinen Grund zur Sorge ergaben.

Mit etwas Anstrengung gelang es Fee, daran zu glauben und ihrer Tochter ein unbeschwertes Lächeln zu schenken, als diese wenig später das Haus verließ. Fee stand an der Tür und winkte Anneka nach, bis der Wagen an der nächsten Ecke abbog. Erst dann kehrte sie ins Haus zurück, kümmerte sich ums Essen und deckte den Tisch. Dabei musste sie an das Gespräch mit Anneka denken, und die Sorgen waren wieder da. Erst als Daniel nach Hause kam und Fee sah, dass Felix ihn begleitete, konnte sie sie abschütteln.

»Was für eine wundervolle Überraschung!« Fee begrüßte ihren Sohn mit einem liebevollen Lächeln, als dieser sie in die Arme nahm, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.

»Paps hat mir nach dem Sport erzählt, dass du heute Käsespätzle machst. Da habe ich mich selbst zum Essen eingeladen.«

»Und das war eine sehr gute Idee gewesen«, sagte Fee. Sie holte ein drittes Gedeck aus dem Schrank und stellte es zu den anderen beiden auf den Tisch.

»Sind wir die Einzigen, die heute Lust auf Käsespätzle haben?«, fragte Felix erstaunt. »Wo sind die Zwillis?«

»Janni trifft sich an der Uni mit seiner Arbeitsgruppe. Sie tüfteln schon seit Wochen an irgendeinem wichtigen Projekt. Und Dési ist mit Flavio verabredet.« Fee zuckte betont gleichmütig die Schultern. »Seit die beiden studieren und in einer Beziehung stecken, kommt es öfter vor, dass dein Vater und ich alleine essen.«

Felix zwinkerte ihr frech zu. »Und? Vermisst du deine Kinder, oder bist du froh, uns endlich los zu sein?«

»Dein Glück, dass diese Frage nicht ernst gemeint war.« Fee drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Ansonsten müsste ich dich jetzt ohne Abendbrot ins Bett schicken.«

»Das hast du früher nie gemacht und damit wirst du jetzt ganz bestimmt nicht mehr anfangen«, gab Felix mit einem vergnügten Lachen zurück. Grinsend hielt er seiner Mutter den leeren Teller hin, damit sie ihn auffüllen konnte. »Ein wenig komisch ist es aber schon, in so einer kleinen Runde zusammenzusitzen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir uns hier immer um den großen Esstisch gedrängt haben.«

Daniel schmunzelte. »Bei fünf Kindern konnte es tatsächlich recht eng werden. Vor allem dann, wenn sich noch ein paar Freunde von euch dazugesellt hatten.«

»Was sehr häufig vorkam«, erinnerte sich Felix. »Es hatte sich eben herumgesprochen, dass es hier immer etwas Leckeres zu essen gab und niemand abgewiesen wurde.«

Während Felix und sein Vater in alten Erinnerungen schwelgten, beteiligte sich Fee kaum daran. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Anneka, und es fiel ihr schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Felix bemerkte, dass nicht auf, doch Daniel, der ein gutes Gespür für die Stimmungen seiner Frau hatte, blieb das nicht verborgen. Nach dem Essen, als Felix aufgebrochen war, sprach er sie darauf an.

»Das ist der normale Lauf der Dinge, Feelein«, sagte er behutsam. »Die Kinder werden flügge und verlassen das Haus.«

Fee sah ihn verwundert an. »Denkst du, ich weiß das nicht?«

»Doch, natürlich. Allerdings hattest du vorhin ein wenig melancholisch gewirkt, und da dachte ich …«

»Da dachtest du, ich könne das Unvermeidliche nicht akzeptieren und es falle mir schwer, unsere erwachsenen Kinder ziehen zu lassen?«

»Nein, mein Schatz, für so unvernünftig halte ich dich eigentlich nicht. Aber ich sehe dir an, dass du dir Sorgen machst, und dafür muss es einen Grund geben. Vielleicht solltest du mir einfach sagen, was los ist.«

»Es geht um Anneka. Sie hatte vorhin vorbeigeschaut, wollte aber nicht zum Essen bleiben, weil sie sich mit Mark verabredet hatte.« Fee zögerte kurz, dann sprach sie aus, was sie beschäftigte: »Ich bin mir sicher, dass Mark ein netter Kerl ist. Schließlich vertraue ich auf Annekas Urteilsvermögen. Sie würde sich nie mit jemanden einlassen, der nicht gut für sie ist. Aber trotzdem …« Fee brach unbeholfen ab. Wie sollte sie ihre Bedenken erklären, ohne dass Daniel sie für überängstlich oder gluckenhaft hielt?

»Du machst dir Gedanken, weil wir Mark nicht kennen und Anneka keine Anstalten macht, ihn uns vorzustellen.«

»Ja.« Fee nickte erleichtert. Daniel ging es also so wie ihr. Auch ihm war Annekas ungewohnte Zurückhaltung aufgefallen. »Wir haben Mark nur einmal ganz kurz zu sehen bekommen, als wir Anneka von ihrer Silvesterparty abholten.«

»Viel gesehen haben wir da eigentlich nicht von ihm. Es war dunkel, und die beiden standen mindestens zwanzig Meter von unserem Auto entfernt, als sie sich voneinander verabschiedet hatten.«

»Ja, aber auch dir wird aufgefallen sein, wie glücklich Anneka gewirkt hatte. Sie schien sich so sicher zu sein, endlich die große Liebe gefunden zu haben. Ihr ganzes Gesicht strahlte, und ihre Augen leuchteten vor Glück.«

Daniel stimmte ihr lächelnd zu. »Sie war todmüde, und ich war mir sicher gewesen, dass sie auf der Fahrt nach München auf der Rückbank einschlafen würde. Stattdessen saß sie dort mit einem seligen Lächeln und war für uns kaum ansprechbar, weil sie in Gedanken nur bei ihrem Mark war.«

»Dieses selige Lächeln hat leider nicht lange angehalten«, sagte Fee betrübt. »Seit der Silvesternacht sind gerade mal vier Wochen vergangen. Statt im Rausch der ersten Verliebtheit wie beseelt durch die Gegend zu schweben, macht Anneka den Eindruck, als würde in ihrer jungen Beziehung schon jetzt der Haussegen schief hängen.«

»Hat sie dir irgendetwas erzählt?«, fragte Daniel beunruhigt nach.

»Leider nicht. Das ist es ja eben. Sie spricht kaum von Mark. Und wenn ich auf das Thema komme, weicht sie aus und speist mich mit ein paar nichtssagenden Bröckchen ab.«

»Nun ja, einige Dinge wissen wir schon über ihn: Er ist dreißig, hat Wirtschaft studiert und ist nach seinem Abschluss in das Familienunternehmen eingestiegen.« Daniel dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Das ist das, was sie uns auf der Heimfahrt von der Party erzählt hat. Seitdem hat sie kaum etwas von ihm preisgegeben.«

»Ich kann mir nicht helfen, Dan, irgendetwas stimmt da nicht. Für Anneka ist es völlig untypisch, sich so verschlossen zu geben. Es beunruhigt mich, dass sie sich so seltsam verhält.«

*

Während der gesamten Fahrt zu Mark quälten Anneka Gewissensbisse. Sie hielt ihre Mutter auf Abstand, obwohl sie wusste, dass sie das verletzte. Und dabei wünschte sich Anneka nichts sehnlicher, als mit ihrer Mutter über das, was sie bedrückte, zu sprechen. Nur zu gern hätte sie ihr erzählt, dass ihre Beziehung zu Mark kompliziert und die Gefahr, dass sie zerbrach, beängstigend groß war. Sie sehnte sich oft danach, ihrer Mutter das Herz auszuschütten. Doch das konnte sie nicht. Zu groß war die Sorge, dass ihre Eltern Mark offen ablehnen könnten und ihr von dieser schwierigen Beziehung abraten würden.

Anneka wollte, dass ihre Eltern Mark so sahen, wie sie es tat. Dass sie erkannten, wie wertvoll, warmherzig und liebenswert er war. Und dass es keine Rolle spielte, was ihm vorgeworfen wurde oder dass er vielleicht für viele Jahre ins Gefängnis musste.

Ihr stiegen sofort die Tränen in die Augen, als sie an dieses Damoklesschwert dachte, das über ihren Köpfen schwebte und jederzeit auf sie herabfallen könnte. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass ihr Glück auf äußerst wackligen Füßen stand. Nur wenige Minuten nach ihrem Kennenlernen hatte Mark die traurige Wahrheit gestanden: Gegen ihn und seine Eltern wurde wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt. Sollte es zur Anklage kommen und er verurteilt werden, müsste er wohl die nächsten zehn Jahre hinter Gittern verbringen.

Anneka parkte ihren Wagen vor einem modernen Bürogebäude. Im Erdgeschoss befanden sich die weitläufigen Geschäftsräume der Vomholds. »V.I.C.«, stand auf dem glänzenden Messingschild, das an der Hauswand angebracht war. Darunter in kleinerer, aber nicht weniger auffallender Schrift: »Vomhold – Investment - Consulting GmbH«.

Das Kerngeschäft des Finanzunternehmens, das Marks Familie seit drei Generationen führte, lag in der Anlageberatung und der Vermögensverwaltung. Die Firma genoss den Ruf, das Geld ihrer Kunden äußerst gewinnbringend anzulegen. Dass dabei auch hohe Gewinne für »V.I.C.« abfielen, war üblich und kein Geheimnis. Dass ein großer Teil davon aber nicht versteuert wurde, hatte erst eine Betriebsprüfung durch das Finanzamt ans Licht gebracht. Selbst Mark hatte keine Ahnung gehabt, dass seine Eltern Steuern im großen Stil unterschlagen hatten. Dummerweise waren die beiden von der Bildfläche verschwunden, bevor sie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Sie hatten sich ins Ausland abgesetzt und ihren Sohn im Stich gelassen. Er musste jetzt für ihre Verfehlungen geradestehen und dafür büßen.

Bei einer Verurteilung wegen schwerer Steuerhinterziehung drohten ihm im schlimmsten Fall zehn Jahre Haft. Bei diesem Gedanken zog sich Annekas Herz schmerzvoll zusammen, und sie wünschte sich wieder, mit ihren Eltern über alles reden zu können. Doch das ging nicht. Selbst Mark zeigte sie nicht, wie schwer seine Probleme auf ihrer Seele lasteten. Für ihn war es auch so schon hart genug. Da wollte sie ihn nicht noch zusätzlich mit ihren Ängsten und Sorgen behelligen.

Anneka atmete tief durch und stieg dann endlich aus ihrem Wagen, um ins Haus zu gehen.

Mark hatte seine schicke Eigentumswohnung in bester Citylage vor zwei Wochen geräumt und einen Makler beauftragt, sie möglichst profitabel zu kaufen. Er hoffte, dass nach Tilgung des Hypothekendarlehens ein ordentliches Sümmchen übrig blieb, um einen Teil der Steuerschulden zu begleichen. Im Moment versuchte er, alles zu Geld zu machen. Für sein Landhaus in der Nähe von Irschenberg gab es schon einen Interessenten, und sein Porsche hatte auch einen neuen Besitzer gefunden. Das reichte zwar noch lange nicht, um für die Schulden in Millionenhöhe aufzukommen, aber es zeigte wenigstens seinen guten Willen und würde vielleicht die Steuerbehörde milde stimmen.

Die Büroräume waren verwaist; die Mitarbeiter von »V.I.C.« längst bei ihren Familien. Nur Mark war noch da.

Anneka durchquerte das große Foyer. Das spärliche Licht der Nachtlampen sorgte für etwas Helligkeit. In dem stillen Haus aus Glas und Beton hielt sich zu dieser späten Stunde niemand mehr auf. Anneka schüttelte sich innerlich. Ganz egal wie oft sie auch herkam, es gelang ihr nicht, sich in diesem kalten, sterilen Bürogebäude heimisch oder gar behaglich zu fühlen. Trotzdem war sie hier, um mit Mark den Abend zu verbringen. Viel lieber wäre sie jetzt allerdings mit ihm an einem anderen Ort. Irgendwo, wo sie nicht ständig daran erinnert wurde, warum Mark in einem Büro lebte und keine eigene Wohnung mehr besaß.

»Hier!« Mark hatte ihr Kommen gehört. Seine Stimme erklang vom anderen Ende des Flurs. »Ich bin hier hinten! Im Archiv!«

Anneka lief an den Büros der Angestellten entlang, bis zu dem fensterlosen Zimmer, in dem die Akten der Firma aufbewahrt wurden. An den Wänden standen einfache Holzregale mit einer schier endlosen Zahl an Ordnern und Archivkisten. Eine Vielzahl von ihnen stand halb ausgeräumt auf dem Boden. Ein paar Aktenordner lagen aufgeschlagen daneben. Inmitten des Durcheinanders saß Mark an einem kleinen Tisch und kämpfte sich durch einen Stapel loser Blätter.

Sein müdes, blasses Gesicht erschreckte Anneka. Um seine Augen lagen dunkle Schatten, die von einem stetigen Schlafmangel zeugten. Das dichte, fast schwarze Haar stand wirr von seinem Kopf ab, als würde er sie sich immer wieder in einem Anflug von tiefer Verzweiflung raufen.

»Was machst du?«, fragte Anneka und versuchte, die Besorgnis aus ihren Worten herauszuhalten.

»Das, womit ich mich seit Wochen beschäftige«, erwiderte Mark, ohne aufzusehen. »Ich durchwühle sämtliche Unterlagen und versuche, zu verstehen, was meine Eltern getan haben. Wie sie es geschafft haben, so viel Geld beiseite zu bringen, ohne dass der Betrug schon früher aufgeflogen wäre. Ich kapiere es einfach nicht!«

Anneka trat an den Tisch heran. Es kränkte sie nicht, dass Mark ihr keinen einzigen Blick gönnte und dass er sie weder umarmte noch mit einem Kuss begrüßte. Er hatte es schlichtweg vergessen, weil er zu viel um die Ohren hatte. Das stimmte sie traurig, aber es verletzte sie nicht.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie ihn.

»Nein. Du weißt doch gar nicht, wonach du suchen sollst. Ich weiß es ja selbst nicht genau.« Als Anneka dazu nur schwieg, sah er endlich auf. »Tut mir leid«, sagte er schnell. »Ich benehme mich mal wieder unausstehlich und lasse meinen ganzen Frust an dir aus.«

»Tust du gar nicht«, widersprach Anneka. Sie beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm den längst überfälligen Begrüßungskuss. »Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Ich weiß doch, wie schwer du es zurzeit hast. Wenn ich dir nicht helfen kann, schau ich eben nach dem Essen.«

»Mist! Das Abendessen!«, entfuhr es Mark. Schuldbewusst sah er sie an. »Ich wollte doch heute für uns kochen …«

»Du hast es vergessen?«

»Nein … ja«, seufzte er und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, während sein Blick über die Papierberge wanderte. »Ich hatte vorhin noch dran gedacht, aber dann …« Hilflos sah er sich im Raum um. »Irgendwie habe ich die Zeit vergessen. Es tut mir schrecklich leid, Anni. Ich war nur damit beschäftigt, in alten staubigen Akten herumzuwühlen, ohne dass es mich weitergebracht hat. Und ums Abendessen habe ich mich gar nicht gekümmert. So wie’s aussieht, habe ich heute überhaupt nichts Vernünftiges zustande gebracht.«

»Du übertreibst, Mark.« Anneka setzte sich auf den einzigen Stuhl, auf dem keine Akten lagen. »Du leistest hier jeden Tag sehr viel, ohne auf deine Gesundheit zu achten oder dir eine Ruhepause zu gönnen. Irgendwann wirst du zusammenbrechen, wenn du nicht auf dich achtgibst.«

»Spielt das denn noch eine Rolle?«, fragte er so hoffnungslos und deprimiert, dass Anneka Angst um ihn bekam. »Selbst wenn ich hier rund um die Uhr schufte, kann ich an dieser verfahrenen Situation nichts ändern. Ich habe das Gefühl, ich drehe mich nur noch im Kreis und alles, was ich mache, ist sinnlos.«

Anneka langte schnell über den Tisch und griff nach seinen Händen. Sie drückte sie kurz und streichelte dann mit den Daumen über seine Handrücken. »Wir bekommen das hin«, sagte sie, obwohl sie selbst kaum daran glauben konnte. »Du wirst sehen, irgendwann ist der ganze Spuk vorbei, und wir können wieder nach vorne sehen, ohne uns ständig um unsere Zukunft zu sorgen. Was auch passieren wird, Mark, ich werde immer an deiner Seite sein.«

Mark sah sie lange an. In seinen Augen lag ein Schmerz, der sich in Annekas Herzen brannte. »Du solltest nicht hier sein«, sagte er schließlich leise. »Ich bin nicht gut für dich.«

»Du bist das Beste, das mir passieren konnte«, widersprach sie ihm sanft, bevor sie ihn zärtlich küsste. Als sie seine weichen Lippen berührte und spürte, wie er ihren Kuss erwiderte, ließen ihre Sorgen etwas nach. Und als sie den Kuss schließlich beendete, fiel ihr das Lächeln schon viel leichter.

»Ich werde uns etwas zu essen bestellen. In Ordnung?«

Mark nickte, während sein Blick schon wieder über die Aktenberge glitt. »Das ist lieb von dir, Anni. Dann mache ich hier noch weiter. Ruf mich einfach, wenn das Essen da ist.«

*

Anneka ließ ihn allein und ging den langen Flur entlang zu dem Zimmer, das früher als Besprechungsraum diente und in dem jetzt ein Schlafsofa, ein paar Kleiderständer und viele Kartons und Kisten mit Marks Sachen standen. Auch hier herrschte das blanke Chaos. Der Fußboden war übersät mit Kleidung, Büchern und Akten. Auf dem kleinen Couchtisch lag die Post, um die sich Mark persönlich kümmerte und die wohl nie den Schreibtisch seiner Sekretärin erreicht hatte.

Anneka wusste, dass sich Mark neuerdings der Post annahm und die Briefe aussortierte, die niemand sehen sollte. Bei dem regen und aufschlussreichen Schriftwechsel zwischen ihm, seinem Anwalt und der Steuerfahndung war das sicher auch besser so. Dem Arbeitsklima und dem guten Ruf der Firma würde es den Todesstoß versetzen, sollte herauskommen, warum sich die Behörden so für das Unternehmen interessierten.

Schon jetzt gab es Gerüchte. Natürlich wunderten sich die Mitarbeiter, dass Marks Eltern so plötzlich und unangekündigt in den Urlaub aufgebrochen waren. Und dass der Urlaub nicht zu enden schien, beschäftigte die Gemüter zusätzlich. Genau wie der seltsame Umstand, dass es jetzt einen neuen Steuerberater gab und der alte nicht mehr erreichbar war. Noch wurde nur im Stillen darüber gesprochen, ohne dass jemand das wahre Ausmaß des Dramas erahnte. Sollte es so weit sein, kämen auf Mark wahrscheinlich weitere, noch größere Probleme zu. Wenn es die Runde machte, dass Marks Eltern Steuern unterschlagen hatten und sie zusammen mit dem Steuerberater untergetaucht waren, würde hier alles zusammenbrechen.

Während Anneka auf den Pizzaboten wartete, räumte sie ein wenig auf, deckte den Tisch und lieh sich die Vase mit den wunderschönen Tulpen aus, die vorne am Empfang standen. Mit etwas Glück würden es die Blumen schaffen, Marks düstere Stimmung anzuheben. Zumindest war es bei ihr so. Wenn sie die bunte Blütenpracht sah, dachte sie an den Frühling, an die Zeit des Aufbruchs und des Neuanfangs. Dass der Winter noch lange nicht vorbei war und die Tulpen aus einem beheizten Treibhaus stammten, störte sie nicht. Sie gaben ihr dennoch die Hoffnung, dass alles Triste und Trübe bald ein Ende nehmen und die Traurigkeit aus ihrem Leben verschwinden würde.

Anneka sah sich um. Sie war halbwegs zufrieden mit ihrem Werk. Der schlichte, kahle Raum hatte durch die kleine Aufräumaktion gewonnen und strahlte nun nicht mehr den Charme einer Abstellkammer aus. Trotzdem wünschte sie sich, Mark müsste hier nicht leben. Ihm und seiner angegriffenen Gemütslage tat es nicht gut, keine Wohnung zu haben. Er brauchte einen Rückzugsort, an dem er abschalten konnte und nicht ständig an seine Probleme erinnert wurde. Hier, in der Firma, war das unmöglich. Er saß die halbe Nacht am Computer oder wühlte sich durch Aktenberge, während er tagsüber seinen eigentlichen Geschäften nachging und vor den Angestellten und Kunden so tat, als wäre die Welt in bester Ordnung.

Es klingelte an der Eingangstür, und Anneka lief hin, um die Pizza entgegenzunehmen. Als sie zurückkam, wartete Mark bereits auf sie. An seiner düsteren Miene konnte sie erkennen, dass seine Stimmung einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte. Er holte seine Brieftasche heraus, um ihr das Geld für die Pizza zu geben, doch Anneka wehrte dieses Ansinnen sofort ab.

»Steck sie wieder ein. Ich war heute dran mit dem Bezahlen.«

»Schon wieder?«, gab Mark gereizt zurück. »Ich bin durchaus in der Lage, unsere Pizza zu bezahlen. Ich bin kein Sozialfall, Anneka, also behandle mich nicht so.«

»Das mache ich nicht und das weißt du auch.« Anneka stellte die Kartons auf dem Tisch ab. »Es spricht überhaupt nichts dagegen, wenn ich unser Abendessen bezahle. Nur dein Stolz ist dabei ein Problem.«

»Mein Stolz ist alles, was ich noch besitze«, murmelte Mark bedrückt.

»Blödsinn! Wir haben immer noch uns. Vergiss das niemals!« Anneka setzte sich zu ihm und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Als er sofort einen Arm um sie legte und sie dichter zu sich heranzog, atmete sie erleichtert auf. Marks häufige Stimmungsschwankungen belasteten ihre junge Beziehung. Sie liebte ihn, und sie wusste, dass er das Gleiche für sie empfand. Aber diese schwierige Lage, in der er steckte, machte es ihm oft unmöglich, sich auf ihre Liebe mit ganzem Herzen einzulassen.

»Ich wünschte mir, ich wäre dir begegnet, als mein Leben noch in Ordnung war«, sagte er nun leise. »Wir hätten uns in Ruhe kennenlernen können, ohne uns mit meinen Problemen herumschlagen zu müssen. Ich hätte jede freie Minute mit dir verbracht, und wir hätten viel unternommen. Vielleicht wären wir einfach mal für ein paar Tage verreist. Nach Paris oder in die Sonne. Ich hätte dich verwöhnen können …«

Anneka stoppte ihn schnell: »Ich brauche niemanden, der mich verwöhnt. Ich brauche nur dich, Mark. Natürlich wäre es schön, wenn du deine Probleme nicht hättest. Aber sie sind nun mal da, und wir müssen jetzt das Beste daraus machen.«

»Bei dir klingt das immer so leicht. Du musst ja keine Angst haben, ins Gefäng…« Mark sprach nicht weiter.

»Nein, mir droht keine mehrjährige Haftstrafe, und du hast Recht, für mich ist das Ganze bei Weitem nicht so schlimm wie für dich.« Anneka schluckte. »Doch die Gefahr, dass du eingesperrt wirst, macht auch mir große Angst. Die Vorstellung, dich verlieren zu können, bereitet auch mir schlaflose Nächte. Alle meine Gedanken drehen sich nur noch darum. Es vergeht kaum eine Minute, in der ich nicht daran denken muss.« In Annekas Augen sammelten sich Tränen, und das Reden fiel ihr plötzlich schwer. Je mehr sie darüber sprachen, umso realer wurden ihre schlimmsten Ängste und Sorgen. Sie ärgerte sich, dass sie ihren Kummer nicht vor Mark verbergen konnte. Für ihn wollte sie stark sein. Wie sollte sie ihm Kraft geben können, wenn er sah, wie schwach sie in Wirklichkeit war? Hatte er es nicht so schon schwer genug?

»Bitte nicht weinen, Anni«, sagte Mark voller Liebe. Er hielt sie fest umschlungen und strich ihr sanft über den Rücken, um ihr Trost und Halt zu geben. »Es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht traurig machen. Du hast ja Recht. Ganz sicher wird alles gut ausgehen, und ich mache uns mit meinem dummen Gejammer nur unnötig das Leben schwer. Irgendwann, wenn wir alt und grau sind, schauen wir sicher mit einem Lächeln auf diese Zeit zurück.«

»Alt und grau?«, schniefte Anneka, während ihr schon wieder ein kleines, zaghaftes Lächeln gelang. »Willst du denn so lange mit mir zusammenbleiben?«

Mark lachte leise. »Natürlich, mein Liebling! Denkst du etwa, ich lasse dich je wieder gehen? Ich habe dich doch gerade erst gefunden.« Zärtlich küsste er ihr die wenigen Tränen von den Wangen. »Ich liebe dich so sehr«, sagte er dann weich. »Ich habe mich in dich verliebt, als ich das erste Mal in deine wunderschönen Augen sah. Ich bin froh und dankbar, dir begegnet zu sein. Nur daran sollte ich denken. Und nicht an den ganzen Mist, der mich hier jeden Tag aufs Neue erwartet. Ich verspreche dir, das wird sich jetzt ändern. Wenn du bei mir bist, reden wir nicht mehr über meine Probleme.«

Anneka runzelte die Stirn. »Hältst du das wirklich für gut?«, fragte sie skeptisch. »Wir sind ein Paar. Da sollten wir offen über das sprechen, was uns Sorgen bereitet. In einer Beziehung gibt es nicht nur sonnige Tage. Die Düsteren gehören ebenso dazu.«

Mark zuckte die Achseln. Sein Interesse galt jetzt der Pizza, die noch immer unberührt auf dem Tisch stand. »Klar gehören sie dazu«, sagte er schließlich. »Aber ab und zu sollten wir alles, was uns belastet, auch mal vergessen dürfen. Wir müssen nicht ständig darüber reden.« Er bot ihr von der Pizza an, und Anneka griff zögerlich zu. »Nun komm schon, Anni«, zog er sie lächelnd auf. »Wir werden es doch wohl schaffen, uns wenigstens für ein paar Minuten wie ein ganz normales Liebespaar zu benehmen.«

»Wir sind ein ganz normales Liebespaar«, stellte Anneka richtig.

»Wenn du meinst.« Mark lachte und biss herzhaft von seiner Pizza ab. Er schien bester Stimmung zu sein, und für einen kurzen Augenblick konnte Anneka daran glauben, dass sich das Blatt nun endlich wenden würde. Die trüben Zeiten waren vorbei – wenigstens für den Moment.

Den restlichen Abend vermieden sie es bewusst, Themen anzusprechen, die ihnen die gute Laune verderben könnten. Sie plauderten, scherzten und lachten und tauschten Zärtlichkeiten aus, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Es war so, wie bei anderen jungen Paaren, die das Glück der unbeschwerten Liebe erfahren durften. Doch als sich Mark später – mitten in der Nacht – aus dem Bett schlich, um im Archiv weiter in den Akten zu wühlen, wusste Anneka, dass zwischen ihnen gar nichts normal war. Sie waren nicht wie andere Paare. Zwischen ihnen stand ein großer Berg voller Probleme.

Anneka versuchte eine Zeit lang, wieder einzuschlafen, doch die Grübeleien hielten sie wach. Außerdem fehlte ihr Mark.

Sie wartete eine Weile auf seine Rückkehr und stand dann auf, um zu ihm zu gehen. Es war empfindlich kühl, und Anneka erinnerte sich daran, dass dies ein Bürogebäude war und kein Wohnhaus. Hier wurde nur tagsüber gearbeitet, deshalb lief nachts die Heizung auf Sparflamme. Anneka griff nach ihrer Strickjacke und ging dann hinüber ins Archiv.

»Was machst du hier?«, fragte sie gähnend. »Konntest du nicht mehr schlafen?«

»Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe«, erwiderte er zerstreut, die Augen fest auf die Papiere in seiner Hand gerichtet.

Anneka trat zu ihm heran und sah ihm über die Schultern. »Was sind das für Unterlagen?«

»Alte Rechnungen, Kontoauszüge, Depotabrechnungen. Leider nichts, das mir hilft, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.« Mark stand auf. »Geh wieder ins Bett, Anni. Ich komme nach, sobald ich die Unterlagen eingescannt habe.«

»Jetzt? Um halb drei? Mitten in der Nacht?«

»Warum nicht? Ich kann ja eh nicht schlafen.«

Als Anneka wieder im Bett lag, lauschte sie lange auf die Geräusche, die durch die offene Zimmertür zu ihr drangen. Sie hörte, wie Mark über den Flur in sein Büro lief, um sich an den Computer zu setzen, und wusste, dass sie nicht so bald mit seiner Rückkehr rechnen durfte.

*

Am nächsten Morgen fühlte sie sich erschöpft und müde. Mark war nicht da, und sie fragte sich, ob er schon aufgestanden oder gar nicht mehr ins Bett gekommen war.

Sie fand ihn in seinem Büro und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss von ihm. Dann beeilte sie sich, das Haus zu verlassen. Sie wollte fort sein, bevor die ersten Mitarbeiter zum Dienst erschienen und sie hier sehen konnten. Es reichte, dass Marks Einzug ins Büro für allerhand Gesprächsstoff sorgte. Lange würde man ihm die Ausrede von dem Wasserrohrbruch in seiner Wohnung bestimmt nicht mehr abnehmen. Irgendwann flog der Schwindel sicherlich auf.

Anneka graute schon vor diesem Tag. Nicht ihretwegen. Ihr würde das nichts ausmachen. Sie stand zu Mark und gab nichts auf das Gerede der anderen. Doch Mark würde es schwer treffen. Seit dem Verrat seiner Eltern war er dünnhäutig geworden, und seine Nerven lagen blank. Viel mehr würde er wohl nicht verkraften können.

»Du bist ja heute sehr früh dran«, wunderte sich Diana, als Anneka lange vor der Zeit zur Arbeit erschien. Diana Breitsprecher war die Leiterin des Alten- und Servicecenters, in dem Anneka als Sozialberaterin arbeitete. Obwohl Diana mit Anfang fünfzig mehr als doppelt so alt war wie Anneka, verstanden sich beide ausnehmend gut. Diana war für Anneka nicht nur eine tolle Chefin, sondern auch eine gute Freundin. Deshalb fiel es ihr nicht leicht, jetzt zu einer Notlüge zu greifen.

»Marks Wohnung ist noch nicht fertig. Nach dem Wasserrohrbruch muss allerhand renoviert werden. Wir haben deshalb wieder in seinem Büro übernachtet. Ich bin dann früh los, damit mich seine Mitarbeiter nicht sehen.«

Diana sah sie aufmerksam an. »Warum? Macht ihr aus eurer Beziehung ein Geheimnis? Darf niemand davon erfahren?«

»Nein, das ist es nicht.« Anneka verstaute ihre Jacke im Garderobenschrank neben der Eingangstür. »Es wäre mir nur ein wenig unangenehm, seinen Mitarbeitern über den Weg zu laufen, nachdem wir dort … äh … die Nacht zusammen verbracht haben. Du weißt schon, was ich meine.«

Diana lachte laut. »Klar weiß ich, was du meinst. Allerdings weiß ich nicht, warum du so ein Geheimnis daraus machst. Es kann sich doch wohl jeder denken, dass ihr über das Stadium der keuschen Küsse längst hinaus seid.« Diana schüttelte immer noch lachend den Kopf. »Es ist kaum zu glauben, dass ich hier die Ältere sein soll. Deine Ansichten sind manchmal recht antiquiert, meine Liebe.«

»Na und?«, erwiderte Anneka lächelnd. An Dianas kleinen, harmlosen Sticheleien störte sie sich nicht. »Ich bin halt ein bisschen altmodisch. Was ist schlimm daran?«

»Nichts, solange es dir gefällt, dich wie eine Diebin aus dem Haus zu schleichen.«

»Es gefällt mir nicht, aber im Moment sehe ich keine andere Möglichkeit.«

»Ach ja, der Wasserrohrbruch …« Und wieder schaute Diana sie nachdenklich an. »Du hast doch auch eine Wohnung, Anneka. Ich verstehe nicht, weshalb ihr die Nacht nicht dort verbringt. Warum tut ihr euch das an und kampiert in einem ungemütlichen Büro?«

Anneka zögerte. »Mark hat zurzeit sehr viel zu tun«, wich sie dann aus. »Der Jahresabschluss steht an, und er sitzt quasi Tag und Nacht an seinem Computer.«

»Und du leistest ihm tapfer Gesellschaft? Also, ich kann mir romantischere Abende vorstellen, als meinem Liebsten dabei zuzusehen, wie er sich um sein Bürozeug kümmert.«

Anneka hatte sich an ihren Schreibtisch gesetzt und fuhr den Rechner hoch. Vielleicht gab Diana Ruhe, wenn sie sah, wie beschäftigt sie war. »Er nimmt sich natürlich auch Zeit für mich«, sagte sie, während sie ihre Augen auf den Bildschirm heftete und ihr Passwort eingab. »Bei uns läuft alles bestens, Diana.« Sie sah sie entschuldigend an und deutete mit einer Hand auf die Akte, die vor ihr lag. »Ich muss jetzt leider loslegen. Um halb neun kommt mein erster Klient. Für den Termin muss noch allerhand vorbereitet werden.«

»Äh … ja, klar.« Diana blickte sie irritiert an. »Ich will dich nicht bei deiner Arbeit stören.«

»Du störst nicht. Wirklich nicht.« Selten hatte sich Anneka so mies gefühlt wie in diesem Augenblick. Es lag ihr einfach nicht, andere vor den Kopf zu stoßen oder sie mit einer recht fadenscheinigen Ausrede abzuwimmeln. Doch sie wollte nicht mehr über Mark sprechen. Nicht, wenn jeder zweite Satz eine Lüge war und sie ständig Angst hatte, sich in Widersprüchen zu verwickeln. »Ich unterhalte mich immer sehr gern mit dir. Aber im Moment ist es wirklich ein bisschen ungünstig.«

Diana nickte ihr noch einmal zu und wandte sich dann ab, um zu ihrem Arbeitsplatz zurückzukehren. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne und drehte sich wieder um.

»Anneka«, sagte sie sanft. »Du weißt hoffentlich, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du Probleme hast.«

»Ja … natürlich … danke, aber bei mir ist alles in Ordnung. Wirklich.« Anneka merkte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und ihre Haut einen flammenden Rotton annahm. Sie war keine gute Schwindlerin. Und falls sie sich mal an einer Lüge versuchte, reagierte ihr Körper sofort mit verräterischen Signalen darauf.

Diana sah aus, als wollte sie noch mehr loswerden, doch das Klingeln des Telefons in ihrem Büro hielt sie von diesem Vorhaben ab. Für einen kurzen Moment war Anneka beruhigt, als Diana in ihrem Büro verschwand und sie in Ruhe ließ. Doch Dianas Fragen und ihre besorgte Miene gaben ihr zu denken. Scheinbar sah ihr jeder an, dass sie Probleme hatte. Erst ihre Mutter und nun auch noch Diana. War sie wirklich so leicht zu durchschauen? Waren der Kummer und die Sorgen um Mark so offensichtlich?

Anneka wünschte sich auf einmal, offen über alles reden zu können. Sie wollte sich jemanden anvertrauen und ihr Herz ausschütten. Mark war momentan der Einzige, mit dem sie über diese verfahrene Situation reden konnte. Doch Mark reichte ihr plötzlich nicht mehr. Sie brauchte jemanden, der unvoreingenommen und nicht persönlich betroffen war. Irgendjemand, der ihr zuhörte und ihr sagte, dass alles wieder in Ordnung käme. Von Mark konnte sie das nicht erhoffen. Wenn sie mit ihm zusammen war, musste sie diejenige sein, die voller Zuversicht war, um ihn aufzurichten und aus seiner Traurigkeit zu reißen. Im Moment war sie die Einzige, auf die er sich noch verlassen konnte. Für ihn musste sie stark sein. Wenn sie zusammenbrach, würde er auch nicht mehr lange durchhalten.

*

Anneka gelang es heute nur mit großer Anstrengung, den Tag zu überstehen. Nicht nur der Schlafmangel der letzten Nacht machte ihr das Leben so schwer. Es waren vor allem eine große Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung, die ihr zu schaffen machte. Am Nachmittag verabschiedete sie sich von Diana und den anderen Kolleginnen. Ihren Wagen ließ sie auf dem Parkplatz stehen. Sie wollte kurz ins Shoppingcenter gehen und fürs Abendessen einkaufen. Außerdem könnte Mark ein paar Blumen für sein Zimmer gut gebrauchen. Und Kerzen, Servietten, eine schöne Tischdecke …

»Anneka! Anneka Norden!«

Anneka drehte sich um, als sie ihren Namen hörte. Sie brauchte einen Moment, um sich an die elegante Blondine, die ihr winkend entgegenlief, zu erinnern.

»Janine?«, fragte sie dann erstaunt.

»Ja, genau! Wir kennen uns von Marks Silvesterparty.«

Anneka nickte stumm. Auf der Party, von der Janine sprach, hatte sie Mark kennengelernt und sich sofort in ihn verliebt. Das lag gerade mal vier Wochen zurück und doch kam es ihr so vor, als wäre seitdem eine halbe Ewigkeit vergangen.

»Wie geht es dir?«, fragte Janine. Sie wartete Annekas Antwort nicht ab, sondern rief begeistert aus. »Ach, ist das schön, dass wir uns endlich mal wiedersehen!«

»Äh … ja?« Anneka war total verdattert. Janine tat, als wären sie beste Freundinnen. Doch in Wirklichkeit waren sie sich nur einmal begegnet, und dieses erste Treffen war alles andere als harmonisch verlaufen.

»Schade, dass wir damals keine Gelegenheit hatten, uns richtig kennenzulernen. Mark hatte dich ja voll in Beschlag genommen. Wir kamen ja kaum an dich ran.«

In Annekas Erinnerung hatte sich das ganz anders abgespielt. Sie war auf der Party die Außenseiterin gewesen, mit der sich niemand abgeben wollte. Bis Mitternacht hatte sie ganz allein in einer Ecke gesessen, während die anderen ausgelassen feierten und so taten, als würde es Anneka gar nicht geben. Dass sie diese Silvesternacht trotzdem in allerschönster Erinnerung behalten hatte, war nur Mark zu verdanken.

Anneka staunte, als sich Janine nun bei ihr unterhakte. »Wollen wir nicht irgendwo einen Kaffee trinken?«, säuselte Janine. »Wir haben uns sicher viel zu erzählen.«

Mit einem freundlichen, aber reservierten Lächeln löste Anneka ihren Arm aus Janines Griff. »Tut mir leid, Janine. Ich bin heute sehr in Eile und habe keine Zeit für einen Kaffee.«

»Ach, schade«, schmollte Janine. »Ich dachte, wir können uns ein wenig unterhalten. Es gibt da nämlich etwas, über das wir unbedingt sprechen müssen. Es ist nur zu deinem Besten, das kannst du mir glauben.«

»Zu meinem Besten?«, spöttelte Anneka. »Du machst mich neugierig. Seit wann bist du denn an meinem Wohl interessiert?«

Janine sah sie betrübt an. »Ich weiß, es war nicht nett von mir, wie ich dich auf der Party behandelt habe. Das möchte ich gern wiedergutmachen.«

Anneka steckte ihre Hände in die Jackentasche und wünschte, sie hätte ihre Handschuhe nicht zu Hause vergessen. Ihr war kalt, und sie wollte endlich ins Warme. Auf eine Unterhaltung mit Janine verspürte sie keine Lust. Sie hatten nichts gemein und lebten in völlig unterschiedlichen Welten.

»Janine, ich habe es wirklich sehr eilig …«, unternahm sie einen Versuch, dieses sinnlose Gespräch ausklingen zu lassen.

»Aber das, was ich dir sagen muss, ist unheimlich wichtig.« Janine sah sich hastig um, als befürchtete sie, von anderen belauscht zu werden. »Wie geht es eigentlich Mark?«, fragte sie dann leise. »Seid ihr noch zusammen?«

»Ja, das sind wir«, erwiderte Anneka. Es gab keinen Grund, daraus ein Geheimnis zu machen. Sie liebten sich und waren ein Paar. Von ihr aus konnte das die ganze Welt erfahren.

»Nun, das ist sehr … mutig von dir!«

»Mutig? Wie meinst du das?«

»Na, du weißt schon«, raunte Janine ihr halblaut zu. »Es geht um diese Steuergeschichte. Immerhin hat die Staatsanwaltschaft jetzt Anklage gegen ihn erhoben.«

»Mark wurde angeklagt?«, stieß Anneka entsetzt hervor. Bisher hatte lediglich die Steuerfahndung ermittelt, um Beweise für Marks Schuld zusammenzutragen. Solange er nicht angeklagt war, hatte Anneka noch Hoffnung auf einen guten Ausgang gehabt. Das war jetzt wohl vorbei.

Janine fuhr die Lautstärke noch weiter runter. »Mein Vater ist mit einem Richter vom Landgericht befreundet. Von ihm hat er erfahren, dass gestern die Anklageschrift rausgegangen ist. Sie wurde Mark heute sicher schon zugestellt.«

Während Anneka das erst mal verdauen musste, sprach Janine sorglos weiter: »Wie ich schon sagte, ich habe bei dir etwas gutzumachen. Deshalb hier mein Rat für dich: Gib Mark so schnell wie möglich den Laufpass! Der steckt knietief in Schwierigkeiten. In richtig großen Schwierigkeiten! Für ihn kann das ganz böse enden. Mein Vater denkt, dass Mark für mehrere Jahre ins Gefängnis wandern wird.«

Anneka rang mühsam nach Atem. Es war, als würde ein schwerer Felsbrocken auf ihrer Brust liegen und ihr die Luft abdrücken. Sie weigerte sich zu glauben, dass nun alles vorbei war! Dass der kleine Hoffnungsschimmer, an den sie sich die ganze Zeit geklammert hatte, nun endgültig erloschen war. Was blieb ihr denn sonst noch? Und wie sollte Maik damit fertig werden?

»Das ist schrecklich«, hauchte sie fassungslos. »Das ist alles so schrecklich.«

»Genau! Nicht auszudenken, welche Folgen das für uns haben kann.«

»Für uns? Du meinst doch sicher für Mark …«

»Nein, ich meine uns. Seine Freunde und alle, die mit ihm zu tun haben. Er zieht uns doch alle mit in den Sumpf, wenn wir nicht sofort auf Abstand zu ihm gehen. Mein Vater glaubt, dass die Behörden nun auch sein privates Umfeld unter die Lupe nehmen werden. Wahrscheinlich wollen sie prüfen, ob wir in seine Machenschaften verwickelt sind.«

»Du tust ja gerade so, als wäre Mark ein Schwerverbrecher.« Anneka machte sich nicht die Mühe, die Empörung aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Er hat nichts getan! Er ist völlig unschuldig!«

»Woher willst du das wissen? Was macht dich so sicher, dass er nichts damit zu tun hatte?«

»Er hat es mir gesagt. Das reicht mir. Ich vertraue ihm.«

Janine lachte ungläubig auf. »Wie lange kennst du ihn jetzt? Vier Wochen? Ich kenne ihn fast mein ganzes Leben lang und würde nicht darauf wetten, dass die Vorwürfe haltlos sind. Und selbst wenn es so wäre.« Janine zuckte gleichmütig die Schultern. »Allein der Verdacht reicht aus, um seinen Ruf für immer zu ruinieren.«

»Es gibt Schlimmeres …«

»Schlimmeres als ein ruinierter Leumund? In welcher Welt lebst du denn? Die gesellschaftliche Stellung, finanzielle Sicherheiten und gute Beziehungen sind immer noch das A und O. Nur sie öffnen dir die Türen. Mark besitzt nichts mehr davon. Er ist jetzt ganz unten und wird nie wieder aufsteigen und in unserer Liga mitspielen. Mag ja sein, dass er nichts von den Machenschaften seiner Eltern wusste, aber das wird niemanden interessieren. Seine Reputation ist hin. Und wenn wir nicht sofort auf Distanz zu ihm gehen, wird es uns nicht anders ergehen.«

»Schöne Freunde seid ihr!«, regte sich Anneka auf. »Jetzt, wo er euren Beistand am meisten braucht, lasst ihr ihn einfach fallen.«

»Das ist reiner Selbstschutz, meine Liebe«, erwiderte Janine spitz. »Und wenn du auch nur einen Funken Verstand besitzt, wirst du dich auch von ihm fernhalten. Wenn du es nicht für dich machen willst, dann wenigstens für deine Eltern.«

»Was haben denn meine Eltern damit zu tun?«, fragte Anneka nun völlig verblüfft.

»Nun, ich habe gehört, dass dein Vater der Chefarzt der Behnisch-Klinik ist. Auch deine Mutter ist dort als Leiterin der Pädiatrie in einer bedeutenden Position.« Als Anneka sie nur verständnislos ansah, wurde Janine ungeduldig. »Überleg doch mal! Dein Vater ist Chefarzt! Was wirft das für ein Licht auf ihn und die Klinik, wenn der Freund seiner Tochter wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis wandert? Für seine Karriere kann allein die Bekanntschaft mit einem Kriminellen das Ende bedeuten.«

»Mark ist kein Krimineller!«, fuhr Anneka sie wütend an. Mit ihrer fast schon legendären Sanftmütigkeit und der schier endlosen Geduld war es nun vorbei. »Und lass gefälligst meine Eltern aus dem Spiel! Sie haben nichts mit der Sache zu tun!«

»Kein Grund, sich so aufzuregen. Ich meine es ja nur gut mit dir.« Janine hielt plötzlich eine Visitenkarte in der Hand und steckte sie Anneka in die Jackentasche. »Du kannst mich gern mal anrufen. Aber bitte erst, wenn es zwischen dir und Mark aus ist. Mit ihm will ich nicht mehr in Verbindung gebracht werden.«

Anneka reagierte nicht mehr auf Janines Worte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte aufgebracht davon. Sie wollte jetzt bei Mark sein. Er sollte ihr sagen, dass es keinen Grund zur Sorge gab und dass sicher alles gut ausgehen würde – obwohl es nicht danach aussah.

*

Die Tür zu den Geschäftsräumen der Firma stand weit offen. Für Anneka war das kein Grund, sich zu wundern. Sie war früher hier als geplant, weil ihr nach dem Zusammentreffen mit Janine die Lust auf einen Einkaufsbummel vergangen war. Es war erst halb fünf, und die meisten Mitarbeiter saßen bestimmt noch an ihren Computern. Doch die gespenstische Stille, die Anneka beim Betreten der Firma entgegenschlug, passte nicht zu dieser Uhrzeit und verhieß nichts Gutes. Der Empfangstresen war unbesetzt, der Monitor schwarz. Auf dem Arbeitsplatz der Sekretärin stand ein kleines Körbchen, in dem ein Sammelsurium an Schlüsseln lag.

Anneka wartete einen Moment am Tresen. Als sich niemand blicken ließ, ging sie weiter. Ihre Schuhe versanken in dem weichen Teppich, als sie lautlos den Flur entlang schritt. Zu beiden Seiten standen die Türen der Büroräume offen. Die Zimmer waren leer, niemand saß an seinem Platz und arbeitete.

»Hallo?«, rief sie und lauschte auf eine Antwort. Als keine kam, versuchte sie es lauter: »Mark? Mark, bist du da?«

Nichts. Mark antwortete nicht. Plötzlich überfiel sie eine entsetzliche Angst und die Gewissheit, dass sie hier ganz allein war. Mark war fort! Ihre Gedanken überschlugen sich. Panisch überlegte sie, was hier geschehen sein mochte. Hatte man Mark verhaftet? Saß er bereits im Gefängnis? Oder … oder hatte er sich zu seinen Eltern ins Ausland abgesetzt? Nein! Das würde er nie tun! Er war unschuldig! Warum sollte er also vor der Justiz flüchten und sie allein zurücklassen? Er liebte sie doch …

Sie ging weiter, bis sie zu dem Zimmer kam, in dem Mark seit einiger Zeit lebte. Hier fand sie ihn endlich.

Mark saß auf dem Sofa. Er hatte den Kopf nach hinten gelegt und die Augen geschlossen.

»Mark?«, hauchte Anneka leise in der Annahme, dass er schlief. Doch er schlug sofort die Augen auf, kaum dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte. Er sah sie qualvoll an und wandte dann schnell wieder den Blick ab.

Anneka eilte zum Sofa und setzte sich zu ihm.

»Was ist hier los, Mark?«, fragte sie behutsam und nahm seine Hand. »Was ist passiert?«

»Die Poli …« Mark musste sich erst räuspern, bevor er weitersprechen konnte. »Die Polizei und der Staatsanwalt waren hier. Mit einem Durchsuchungsbefehl. Sie haben alles auf den Kopf gestellt und die Mitarbeiter nach Hause geschickt.«

»O Mark! Das ist ja furchtbar! Weiß dein Anwalt davon?«

»Ja, ich habe Johann sofort angerufen. Zum Glück konnte er gleich hergekommen. Viel ausrichten konnte er allerdings nicht. An der Aktion hier gab es aus rechtlicher Sicht nichts zu beanstanden. Ganz im Gegenteil. Johann meinte hinterher, dass sich die Polizisten ausgesprochen rücksichtsvoll verhalten hätten. Und dass ich mit dem zuständigen Staatsanwalt noch Glück gehabt hätte. Jeder andere wäre hier wohl mit einem Haftbefehl angerückt.«

»Haftbefehl …«, echote Anneka fassungslos. Mark hatte ihr oft genug erzählt, dass eine Gefängnisstrafe auf ihn zukommen könnte. Bisher hatte sie nie ernsthaft über diese Möglichkeit nachgedacht. Sie hatte sie verdrängt und darauf vertraut, dass alles gut ausgehen würde. Doch auf einmal nahm dieses Horrorszenario Gestalt an. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass hier jederzeit ein Aufgebot an Polizeibeamten erscheinen könnte, um Mark festzunehmen.

Während Anneka noch fieberhaft nach den richtigen Worten suchte, sprach Mark weiter: »Sie … sie haben Anklage erhoben. Ich bin offiziell wegen schwerer Steuerhinterziehung angeklagt worden.«

»Und was … was bedeutet das jetzt? Was geschieht als Nächstes?«, fragte Anneka bang.

»Da bin ich überfragt. Wahrscheinlich sichten sie erst mal die beschlagnahmten Unterlagen und Festplatten und entscheiden dann, wie es weitergehen soll.« Mit beiden Händen rieb er sich die müden Augen. »Wenigstens ist jetzt endlich die Katze aus dem Sack, und das Versteckspiel hat ein Ende. Die Mitarbeiter wissen nun Bescheid. Von ihnen wird morgen niemand mehr zum Dienst erscheinen. Ich könnte sie eh nicht bezahlen. Das Gericht hat die Firmenkonten gesperrt und meine privaten gleich mit. Ich kann kein Geld mehr abheben oder Rechnungen begleichen. Ich bin praktisch geschäftsunfähig und völlig blank.«

»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …«

Mark schüttelte den Kopf. »Nein, da gibt es nichts. Aber danke, dass du fragst.«

»Du musst hier nicht leben«, sagte sie sanft. »Meine Wohnung ist zwar nicht groß, aber ich teile sie gern mit dir. Zieh bei mir ein, bis du wieder auf eigenen Beinen stehen kannst.«

»Nein«, sagte er sofort. »Ich werde dir nicht auf der Tasche liegen, Anni. Ich komme schon irgendwie zurecht. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«

»Mark, bitte!« Anneka wies mit einer ausladenden Handbewegung in den Raum. »Warum tust du dir das hier an? Ich sehe doch, wie du dich hier vergräbst und jeden Tag deprimierter wirst. Du musst hier unbedingt rauskommen!«

»Das werde ich auch! Irgendwann! Ich schaffe das schon!«

»Das weiß ich doch. Aber bis es so weit ist, solltest du meine Hilfe annehmen.« Als Mark ihr ins Wort fallen wollte, sprach sie schnell weiter: »Ich verdiene doch ganz gut. Mein Gehalt wird für uns beide reichen und du kannst dich …«

Anneka brach ab, als Marks Telefon klingelte.

Als er die Nummer sah, murmelte er: »Tut mir leid, da muss ich rangehen. Das ist ein wichtiger Kunde.«

Mark stand auf und ging zum Fenster hinüber. An seiner Miene konnte Anneka erkennen, dass das Telefonat nicht gut verlief. Die steile Falte auf der Stirn, die seit ein paar Wochen sein ständiger Begleiter war, vertiefte sich.

»Ja, leider stimmt das«, sagte er gerade. »Ja, verstehe … in Ordnung … natürlich habe ich Verständnis dafür … Schon gut, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen … Nein, wirklich nicht. Danke für den Anruf.«

Mark warf das Handy auf den Tisch und setzte sich wieder zu Anneka aufs Sofa. »Das war Norbert Leezen«, sagte er finster. »Er war seit dreißig Jahren Kunde unserer Firma. Er beendet die Geschäftsbeziehungen mit uns, weil er von der Anklage erfahren hat.« Ein herber Zug schlich sich um Marks Mund. »So wie’s aussieht, verlassen die ersten Ratten das sinkende Schiff. Die anderen werden folgen, sobald sich herumgesprochen hat, was hier los ist. Keine Ahnung, wie Norbert Leezen davon erfahren hat.«

»Vielleicht von derselben Quelle wie Janines Vater«, rutschte es Anneka heraus. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, so schnell von der Begegnung mit Janine zu sprechen. Zumindest nicht, wenn Mark so niedergeschlagen war wie im Moment.

»Janines Vater? Wie kommst du ausgerechnet auf den?«

»Mir lief vorhin Janine über den Weg. Sie wusste bereits von der Anklage. Ihr Vater kennt wohl irgendeinen Richter am Landgericht.« Als Mark dazu schwieg und sie nur auffordernd ansah, erzählte sie alle Einzelheiten von der Unterhaltung mit Janine.

»Sie hat dir also geraten, dich von mir zu trennen?«, fragte er zum Schluss, als würde ihn nur das interessieren.

»Ja, sie hat allerhand Unsinn von sich gegeben.«

»Vielleicht war das ja kein Unsinn«, sagte er tonlos. »Vielleicht solltest du dich wirklich von mir trennen.« Als Anneka sofort aufbegehren wollte, versicherte er: »Ich würde dir deswegen keine Vorwürfe machen. Ich könnte es sogar verstehen. Janine hat in diesem Fall gar nicht so unrecht. Es ist nicht gut, wenn ich mit dir in Verbindung gebracht werde. Oder mit deinem Vater. Als Klinikchef steht er oft in der Öffentlichkeit. Für ihn könnten die Folgen verheerend sein, wenn herauskommt, dass …«

Weiter kam Mark nicht. Blitzschnell legte ihm Anneka ihre Hand auf den Mund. »Bitte sei jetzt endlich still«, sagte sie vorwurfsvoll. »Reicht es denn nicht, wenn Janine so einen Blödsinn von sich gibt? Musst du nun auch noch davon anfangen? Ich werde dich nicht verlassen, hörst du?«

Mark sah ihr lange und forschend in die Augen. Es war, als suchte er dort nach einem Hinweis, ob sie es auch wirklich ernst meinte. Die Anspannung in seinem Gesicht ließ nach, als er glaubte, seine Antwort gefunden zu haben. Er nickte, und Anneka nahm ihre Hand weg.

»Wissen deine Eltern eigentlich über mich Bescheid?«

»Sie wissen, dass ich mit dir zusammen bin.«

»Du weißt, was ich meine. Wissen deine Eltern, was mir vorgeworfen wird?«

»Nein. Ich habe es ihnen nicht erzählt. Aber nur, weil du es so wolltest. Du meintest, dass noch niemand davon wissen darf, damit der Ruf der Firma nicht leidet.«

»Der Ruf der Firma ist erledigt. Um ihn muss ich mir keine Gedanken mehr machen. Also spricht jetzt nichts mehr dagegen, deinen Eltern alles zu sagen. Sie sollten wissen, in welchen Schwierigkeiten ich stecke und was das für dich oder auch für sie bedeuten könnte.«

»Mark, was soll das? Ich liebe dich, nur darauf kommt es an.«

»Du willst es ihnen also nicht erzählen? Warum nicht? Schämst du dich für mich?«

»Wie bitte?«, fragte Anneka konsterniert zurück. »Wie kommst du nur auf so einen Unfug? Ich schäme mich nicht für dich, denn dafür gibt es keinen Grund!« Anneka verbarg ihren Ärger nicht länger. »Warum beschwörst du Probleme herauf, die es gar nicht gibt? Bitte hör auf damit! Kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich dich liebe?«

»Wirst du mich auch noch lieben, wenn ich als verurteilter Verbrecher ins Gefängnis muss?«, ließ er nicht locker.

»Ich werde dich immer lieben«, erwiderte sie und verschloss diesmal seinen Mund mit einem Kuss. Er war voller Liebe, Sehnsucht und dem Versprechen, ihn nie im Stich zu lassen. Sie würde zu ihm stehen – ganz egal, was das Schicksal für sie vorgesehen hatte.

*

Es war noch still im Haus, als Dr. Daniel Norden an diesem Morgen die Behnisch-Klinik betrat. Die Schwestern und Pfleger des Nachtdiensts machten gerade Feierabend und wunderten sich, dass der Chefarzt so früh seinen Dienst begann. Sie konnten nicht wissen, dass Daniels Terminkalender heute besonders voll war und dass er sich außerdem auf die Sitzung des Verwaltungsrats vorbereiten musste. Auch von der Mappe mit der Post vom Vortag, die noch immer ungeöffnet auf dem Schreibtisch lag und um die er sich als Erstes kümmern musste, ahnten sie natürlich nichts.

Daniel war erstaunt, dass Katja Baumann, seine Assistentin und alleinige Herrscherin über sein Vorzimmer, bereits an ihrem Schreibtisch saß.

»Sind Sie heute auch aus dem Bett gefallen?«

»Ja, ich bin schon seit Stunden wach.« Katja holte ihrem Chef eine Tasse aus dem Schrank und startete den Kaffeeautomaten. »Wahrscheinlich bin ich gestern zu früh ins Bett gegangen. Um halb vier hatte ich schon ausgeschlafen. Ich habe die ganze Wohnung geputzt und die Wäsche gebügelt. Als es nichts mehr zu tun gab, habe ich mich auf den Weg zur Arbeit gemacht.«

Daniel nahm von Katja den heißen Kaffee entgegen. »Und Hagen hat sich nicht darüber beschwert?«

»Das konnte er nicht«, erwiderte Katja mit einem so schwermütigen Seufzer, dass Daniel sie verwundert ansah. »Hagen war gar nicht da. Er hat zurzeit so viel zu tun, dass er nun öfter in seiner Wohnung übernachtet, weil sie näher am Gericht liegt. Manchmal sitzt er bis weit nach Mitternacht in seinem Büro und arbeitet. Ich mache mir schon Sorgen, dass er sich zu viel zumutet.«

»Vielleicht sollte ich mal mit ihm sprechen«, schlug Daniel nicht ganz im Ernst vor. »Ich könnte ihm einen sehr eindrucksvollen Vortrag über stressbedingte Krankheiten halten.«

Katja griente. »Ja, das könnten Sie. Nur leider wird es kaum etwas nützen. Hagen liebt seine Arbeit. Er gibt zwar zu, dass er viel zu viel Zeit im Büro oder im Gerichtssaal verbringt, aber er ist der festen Überzeugung, dass er deswegen noch lange keinen Herzinfarkt bekommt. Für ihn sei das gesunder Stress, den er wie die Luft zum Atmen brauche.« Katja seufzte noch einmal recht laut und ein wenig theatralisch auf. »Ich habe schon längst akzeptiert, dass er seine Arbeit und Justitia mehr liebt als mich.«

Daniel lachte amüsiert auf. »Das denke ich nicht. Ich denke, dass Hagen ganz genau weiß, was er an Ihnen hat.«

»Ja, das versichert er mir auch immer wieder, wenn ich mich mal wieder beklage. Und natürlich glaube ich ihm das. Im Moment hat er einfach viel zu tun. Es gibt da ein paar wichtige Fälle, die ihn sehr in Anspruch nehmen. Sobald er sie abgeschlossen hat, wird er etwas ruhiger treten und mehr Zeit mit mir verbringen.«

»Na, das hört sich doch gut an«, sagte Daniel und bemühte sich, die Zweifel aus seiner Stimme herauszuhalten. Dr. Hagen Wolfram war promovierter Jurist und arbeitete als Staatsanwalt am Landgericht. Er war ein brillanter Mann, der in seiner Arbeit aufging und der jeder beruflichen Herausforderung mit Begeisterung nachging. Er besaß den großen Ehrgeiz, jeden Fall, der auf seinem Schreibtisch landete, zu einem zufriedenstellenden Abschluss zu bringen. Er machte keine halben Sachen und war mit Herzblut und vollem Engagement dabei, wenn es galt, die Gesetze durchzusetzen und Straftäter vor Gericht zu stellen. Allerdings vergaß er manchmal, dass es im Leben noch etwas anderes als Paragrafen und Gerichtstermine gab: Menschen, denen er wichtig war und die ihn vermissten, wenn er sich in seinem Büro die Nächte um die Ohren schlug.

»Vielleicht sollten Sie ihn zu einem kleinen Urlaub überreden«, überlegte Daniel. »Gönnen Sie sich und ihm eine kleine Auszeit.«

»Das hört sich nach einer guten Idee an. Ich könnte es ihm ja mal vorschlagen.«

»Warten Sie nicht zu lange damit. Jetzt wäre der beste Zeitpunkt, um ihm Zugeständnisse und Versprechen abzuringen.« Daniel zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Schließlich plagt ihn gerade das schlechte Gewissen, weil er Sie so vernachlässigt. Sie sollten schlau sein und seine Schuldgefühle schamlos ausnutzen.«

Katja lachte. »Beruht Ihr Vorschlag auf einen jahrelangen Erfahrungsschatz?«

»Klar«, gab Daniel schmunzelnd zu. »Das ist das große Geheimnis einer funktionierenden Beziehung: Kompromisse, Zugeständnisse und natürlich ganz viel Liebe.«

Nach dem kleinen Kaffeeplausch mit seiner Assistentin arbeitete Daniel die vorsortierte Postmappe durch, beantwortete einige Mails und beeilte sich dann, auf die Innere zu kommen, um die Chefarzt-Visite durchzuführen.

Dr. Alexander Schön, der Leiter der Abteilung für Innere Medizin, hatte aber zuvor noch ein anderes Problem mit seinem Chef zu klären.

»Ich habe vorhin einen Anruf von der KWE bekommen. Sie sind bis auf das letzte Bett belegt und möchten ein paar der leichteren Fälle hierher verlegen.«

Die KWE war die kardiologische Wacheinheit der Behnisch-Klinik, auf der vor allem Patienten nach einem Infarkt oder anderen akuten Herzerkrankungen versorgt wurden.

»Haben Sie hier denn noch freie Kapazitäten?«, wollte Daniel wissen.

»Eigentlich nicht. Aber wir könnten vielleicht drei Patienten vorzeitig nach Hause oder in die Reha entlassen, sobald die letzten Befunde vorliegen. Ansonsten bleibt mir nur noch, geplante Aufnahmen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Natürlich nur, wenn sie nicht dringend sind.«

»Das hört sich doch nach einer guten Lösung an«, stimmte ihm Daniel zu. »Rufen Sie die Patienten an und erklären Sie ihnen die Situation. Ich bin mir sicher, dass die meisten von ihnen Verständnis aufbringen werden.«

»Ja, das denke ich auch.« Dr. Schön deutete auf die Liste, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Ich habe mich bereits damit beschäftigt und eine Auswahl getroffen. Es würde auch einen Ihrer Patienten betreffen. Gunnar Wörmsdorf …«

»Ach ja, Herr Wörmsdorf.« Daniel nickte. »Er kommt jedes Jahr zum kardiologischen Check-up her, seit er vor vier oder fünf Jahren an Angina Pectoris litt. Die Herzkranzgefäße sahen nicht gut aus. Zum Glück ist Gunnar Wörmsdorf ein sehr vorbildlicher und einsichtiger Patient. Mit einer kompletten Ernährungsumstellung und viel Bewegung konnte er seine Probleme in den Griff bekommen. Heute ist er völlig beschwerdefrei. Diese jährliche stationäre Aufnahme geschieht auf seinen eigenen Wunsch und ist eigentlich nicht nötig. Es spricht absolut nichts gegen eine Verschiebung des Check-ups.«

»Soll ich ihn fragen oder möchten Sie es lieber selbst mit ihm besprechen?«

»Ich werde meine Assistentin bitten, das zu erledigen. Sie hat Zugriff auf meinen Terminkalender und den Belegungsplan Ihrer Station.«

Daniel griff sofort zum Telefon und rief Katja an, damit sie sich darum kümmern konnte. Doch als er kurz vorm Mittag in sein Büro zurückkehrte, hatte Katja keine guten Nachrichten für ihn.

»Ich habe den ganzen Vormittag versucht, Ihren Patienten zu erreichen. Ohne Erfolg. Bei der privaten Nummer springt sofort die Mailbox an, und bei seinem Büroanschluss läuft nur die Bandansage, dass die Kanzlei bis auf Weiteres geschlossen bleibt.«

Daniel wunderte sich. Gunnar Wörmsdorf war niedergelassener Steuerberater und besaß eine Kanzlei in der Münchener Innenstadt. Dass dort niemand zu erreichen war, beunruhigte ihn. War Gunnar Wörmsdorf etwas zugestoßen? Daniel dachte dabei sofort an die Herzprobleme seines Patienten und an die Möglichkeit eines plötzlichen Herztodes. Gerade für Menschen, die wie Gunnar Wörmsdorf an koronaren Herzerkrankungen litten, war diese Gefahr durchaus real. Doch schnell schob Daniel diesen unheilvollen Gedanken wieder beiseite. Es war nicht gut, sich immer gleich das Schlimmste auszumalen. Wahrscheinlich gab es überhaupt keinen Grund zur Sorge. Sein Patient machte bestimmt nur einen Urlaub. Oder er hatte seine Kanzlei aufgegeben, um vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.

»Katja, versuchen Sie bitte weiter, Herrn Wörmsdorf zu erreichen. Sollte es Ihnen bis zum Feierabend nicht gelingen, informieren Sie bitte Dr. Schön darüber. Solange wir nichts anderes wissen, müssen wir Herrn Wörmsdorf für die nächste Woche einplanen und ihm ein Bett freihalten.«

»In Ordnung.« Katja machte sich schnell eine Notiz und sagte dann: »Übrigens lässt Ihre Frau anfragen, ob Sie Zeit für ein gemeinsames Mittagessen mit ihr und Anneka haben.«