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E-Book 341-350 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Aus dem Nest gefallen E-Book 2: Tag der Versöhnung E-Book 3: Sabines Ritt ins Abenteuer E-Book 4: Tag der Versöhnung E-Book 5: Sabines Ritt ins Abenteuer E-Book 6: Begegnungen am Meer E-Book 7: Ist Scheidung der einzige Ausweg? E-Book 8: Dunkle Augen voll Sehnsucht E-Book 9: Gibt es für mich ein Zurück? E-Book 10: Dunkle Augen voll Sehnsucht

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Inhalt

Aus dem Nest gefallen

Tag der Versöhnung

Sabines Ritt ins Abenteuer

Tag der Versöhnung

Sabines Ritt ins Abenteuer

Begegnungen am Meer

Ist Scheidung der einzige Ausweg?

Dunkle Augen voll Sehnsucht

Gibt es für mich ein Zurück?

Dunkle Augen voll Sehnsucht

Sophienlust – Staffel 34 –

E-Book 341-350

Diverse Autoren

Aus dem Nest gefallen

Hier könnten doch alles wieder gut werden...

Roman von Svanberg, Susanne

Der Ball flog geradewegs in eine Fensterscheibe. Es klirrte, ein sternförmiges Loch entstand, Glasplitter fielen herab.

»Volltreffer«, murmelte Nick und pfiff dabei leise durch die Zähne.

»Mensch komm, wir hauen ab«, keuchte der Unglücksschütze.

»Warum hast du auch so fest zugeschlagen?« meinte sein Freund vorwurfsvoll. Hastig griff er nach dem abgelegten Pulli.

»Glaubt ihr, daß die Scheibe davon wieder ganz wird?« fragte Fabian die beiden Jungen, die an diesem sonnigen Herbstnachmittag in Sophienlust zu Gast waren. Beide gingen mit Nick in eine Klasse.

»Blöde Frage. Die Scheibe ist hin. Sicher gibt es gleich ein Theater. Wir verschwinden, und ihr versteckt euch am besten.« Ängstlich sah der Bub die Kinder von Sophienlust an.

»Theater? Aber doch nicht hier!« Fabian, ein schmächtiger mittelblonder Junge, schüttelte stolz den Kopf

»Sag’ bloß, bei euch gibt ’s für so etwas keine Strafe. In einem Kinderheim geht ’s doch noch viel strenger zu als sonst«. Nicks Klassenkamerad stand so da, daß er in der nächsten Sekunde flüchten konnte. Denn er war überzeugt, daß gleich jemand aus dem Haus kommen würde, um den Missetäter festzuhalten.

»Nicht bei uns«, mischte sich Irmela ein, das älteste Mädchen von Sophienlust. Sie fühlte sich seit vielen Jahren wohl hier. Am Spiel der Jungen hatte sie sich nicht beteiligt, war aber durch den Krach angelockt worden. »Es war doch nicht Absicht.«

»Natürlich nicht. Aber wer glaubt das?« Der junge Fußballspieler biß die Zähne zusammen. »Mein Vater würde jetzt ein schreckliches Donnerwetter vom Stapel lassen, und Ohrfeigen bekäme ich jede Menge.« Unwillkürlich duckte sich der Bub.

»In Sophienlust wird niemand geschlagen«, erklärte Henrik im Brustton der Überzeugung. Er war Nicks jüngerer Halbbruder, ein liebenswerter kleiner Bursche mit dichtem braunem Haarschopf und klugen grauen Augen.

»Ehrlich?« zweifelte der Junge aus Maibach. »Man hört doch immer so schlimme Geschichten von den armen Waisenkindern.«

»Wie das in anderen Heimen ist, weiß ich nicht. Aber hier ist es jedenfalls große Klasse. Vielleicht sogar schöner als in einer Familie, weil wir so viele sind…« Fabian sah beifallheischend zu Nick hinüber.

»Toll! Das hätte ich nicht gedacht. Es kommt ja tatsächlich niemand, um uns die Ohren lang zu ziehen.« Skeptisch sah der zweite Junge zum Portal des ehemaligen Gutshauses hinüber.

»Dafür mußt du allerdings den Fußball bei meiner Mutti abholen. Du brauchst keine Angst zu haben, aber entschuldigen solltest du dich schon.« Nick, der sich als künftiger Erbe von Sophienlust für alles, was hier geschah, verantwortlich fühlte, war die Sache peinlich. Schließlich hatte er die beiden Klassenkameraden eingeladen.

»Bei deiner Mutti? Sie verwaltet doch dieses Kinderheim. Nein, den Mut habe ich nicht. Kann ich denn nicht einfach zu eurer Köchin gehen oder zu einem Hausmädchen?« Der sonst recht vorlaute Bengel zog ängstlich die Nase kraus.

»Der Ball ist ins Biedermeierzimmer geflogen. Und dort ist im Moment meine Mutti.«

»Wir bekommen nämlich wieder ein neues Kind«, erklärte Heidi wichtigtuerisch. Die Kleine mit den blonden Schaukelzöpfen drängte sich zwischen Nick und Fabian. Von unten her musterte sie die großen Jungen mit schiefgelegtem Köpfchen.

»Uii, auch das noch!« stöhnte Nicks Schulkamerad. »Nee, du, wenn deine Mutti Besuch hat, gehe ich schon gar nicht zu ihr. Da warten wir lieber.«

»Und was machen wir in der Zwischenzeit?« Der zweite Gast scharrte mit seinen Sportschuhen ungeduldig auf dem Rasen.

»Jedenfalls wäre es ratsam, hier aus der Sichtweite zu verschwinden.« Unsicher sah der Unglücksschütze auf die vielen blanken Fensterscheiben von Sophienlust. Er glaubte noch immer nicht daran, daß er straffrei ausgehen würde.

Doch es tat sich nichts. Denise von Schoenecker, die das Heim verwaltete, war an derartige Zwischenfälle gewöhnt.

»Entschuldigen Sie«, meinte sie in ihrer charmanten Art, als der verirrte Fußball knapp vor ihren Füßen landete. »Wir sind sehr darauf bedacht, daß sich unsere Kinder frei und ungezwungen bewegen. Da gibt es auch manchmal kleine Mißgeschicke. Wir nehmen eine zerbrochene Fensterscheibe nicht tragisch. Es ist mir lieber, die Jungen toben, als daß sie bedrückt herumsitzen.«

»Das ist eine bewundernswerte Einstellung«, meinte Alfred Henning, der Denise gegenübersaß, überrascht.

Seine Frau Doris nickte voller Anerkennung. »Man hört ja viel von Sophienlust und davon, daß hier alles anders wäre als in herkömmlichen Heimen. Doch daß Sie so tolerant sind, hätte ich nie gedacht.«

Doris Henning musterte die sympatische Denise von Schoenecker voller Bewunderung. Sie fand, trotz der zweifellos enormen Arbeitsbelastung wirkte diese Frau jung, gepflegt und auffallend ruhig. Ihre Kleidung war sehr geschmackvoll, ihre Figur tadellos. Das aparte Gesicht wurde von schwarzem Haar umrahmt und von großen dunklen Augen beherrscht.

»Gerade weil man so viel Gutes über Sophienlust hört, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie unsere kleine Franziska für etwa sechs Wochen bei sich aufnehmen könnten. Wie ich bereits am Telefon angedeutet habe, unternehmen wir eine Fotosafari. Ich bin Fotograf und hoffe, die Bilder gut verkaufen zu können.«

»Für ein zweijähriges Mädchen ist diese Reise leider zu strapaziös«, erklärte Doris Henning.

»Eigentlich sind wir belegt. Aber für sechs Wochen haben wir natürlich für ein kleines Mädchen immer Platz«, meinte Denise mit liebevollem Blick auf das Kind, das auf dem Teppich unbesorgt mit Bauklötzchen spielte. Franziska Henning war ein hübsches kleines Mädchen. Mit ihren großen blauen Augen und den braunen Ringellöckchen war sie dem Vater sehr ähnlich.

»Ich glaube, die Kleine wird Ihnen nicht viel Schwiegkeiten machen«, meinte Doris Henning mit einem etwas unsicheren Lächeln. »Fanny ist ein ruhiges, zufriedenes Kind. Sie schläft gern und lange und ißt alles, was auf den Tisch kommt.« Der kräftige Körperbau der Zweijährigen bestätigte diese Aussage.

»Es wird sicher keine Probleme geben«, erwiderte Denise zuversichtlich. Sie wußte, daß sich besonders die Mädchen von Sophienlust über ein Kleinkind riesig freuen würden.

»Sie nehmen uns eine große Sorge ab, Frau von Schoenecker. Keinem anderen hätten wir unser Töchterchen anvertraut. Nun können wir unbesorgt reisen.« Alfred Henning atmete hörbar auf. »Sie erwähnten am Telefon, daß Sie Impfpaß, Geburtsurkunde und Krankenschein brauchen. Hier sind sämtliche Unterlagen.«

»Fannys Kleider habe ich in einem Koffer im Wagen. Soll ich…« Doris Henning erhob sich.

»Sie können die Sachen der Betreuerin unserer Kleinen, Schwester Regine, übergeben. Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen das Haus.« Auch Denise war aufgestanden.

»Selbstverständlich interessiert es uns«, versicherte Doris Henning etwas zu rasch. Sie hob ihr Töchterchen hoch, das sich nur ungern von den Spielklötzchen trennte.

Denise zeigte ihren Gästen die Schlaf- und Waschräume, den großen Speisesaal, das Musikzimmer, das Eisenbahnzimmer, dem Bastelraum und den Wintergarten mit den prächtig gedeihenden tropischen Pflanzen. Der kleinen Franziska gefiel besonders der große farbenprächtige Papagei Habukuk, der dort auf seiner Stange saß und die Eintretenden krächzend begrüßte.

Als Denise ihre Gäste schließlich verabschiedete und Schwester Regine die kleine Franziska in ihre Obhut nahm, wartete Nicks Schulkamerad bereits auf sie. Mit gesenktem Kopf trat er vor die jugendliche Schirmherrin von Sophienlust.

»Ich war’s«, stammelte er und

wurde vor Verlegenheit und Scham rot.

»Die Sache mit dem Fußball, nicht wahr?« Denise unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. Der reuige Sünder tat ihr leid.

»Es war keine Absicht. Ich werde auch die Scheibe bezahlen.« Der Junge biß sich verlegen die Unterlippe wund.

»Das wird dein Taschengeld ganz schön belasten.« Denise musterte ihren Gesprächspartner. Er war groß und kräftig und in einem Alter, in dem man ihm eine leichte Arbeit zumuten konnte. »Möchtest du dir etwas verdienen?« Aus psychologischen Gründen hielt sie es nicht für angebracht, den Vorschlag zur Wiedergutmachung des Schadens abzulehnen. Sie wollte dem kleinen Schuldner aber helfen, die Einlösung des Versprechens zu erleichtern.

»Ja, gern!« Die Augen des Schülers blitzten erfreut auf.

»Wir haben rings um Sophienlust eine Menge Obst auf den Bäumen, das geerntet werden muß. Unser Justus ist nicht mehr der Jüngste. Es fällt ihm schwer, auf die Bäume zu klettern. Vielleicht könntest du ihn unterstützen. Über den Stundenlohn unterhalten wir uns noch.«

»Spitze«, murmelte der junge Fußballspieler überwältigt. »Das mach’ ich natürlich gern.«

»Dürfen wir auch?« fragte jetzt Nick, der das Gespräch aus einiger Entfernung belauscht hatte. Neben ihm drängten sich Fabian und Henrik.

»Nur die Großen dürfen auf die Leiter. Die Kleinen können die Äpfel vom Boden auflesen.«

»Warum?« erkundigte sich die kleine Heidi, die ebenfalls zugehört hatte.

»Weil es sehr gefährlich ist, auf die Bäume zu klettern. Man kann leicht herunterfallen.«

Gern beantwortete Denise die vielen Fragen, die Heidi stellte. Es gehörte zu ihren Grundsätzen, für die Kinder immer Zeit zu haben.

*

Sei dem Tod ihres Mannes hatte Hildegard Ertel dieses lähmende Entsetzen nicht mehr gefühlt. Das war vor sechsundzwanzig Jahren gewesen. Ihr Leben war nicht leicht gewesen, aber noch in ruhigen, geordneten Bahnen verlaufen.

Jetzt war es, als zerstöre die Nachricht aus dem Telefon die Weltordnung, als müsse im nächsten Moment das Chaos über die Menschheit hereinbrechen. Im Unterbewußtsein erwartete die Rentnerin, daß sich der Himmel verfinstere, daß die Welt mit unvorstellbarem Bersten untergehe.

»Hören Sie noch?« fragte die Stimme aus dem Hörer.

Hildegard Ertel konnte nicht antworten. Sie vermochte nicht einmal zu atmen. Ihr Herzschlag setzte aus. Schwindelig war ihr, ihre Knie zitterten, die Beine waren schwach und kraftlos.

Es darf nicht wahr sein, war der einzige Gedanke, der in ihrem Kopf Platz hatte. Es darf nicht wahr sein!

Hildegards Zähne schlugen klappernd aufeinander. Sie merkte es nicht. Sie stützte sich auf das Telefontischchen und sank doch haltlos in die Knie. Krampfhaft preßte sie den Telefonhörer ans Ohr. Vielleicht erwartete sie, daß die schlimme Nachricht, die sie eben vernommen hatte, widerrufen werde. Die Knöchel ihrer Finger traten weißblau hervor.

Sie hatte kleine, aber kräftige Hände. Hände, die in den vierundsechzig Jahren ihres Lebens viel Arbeit hatten bewältigen müssen.

»Hallo… Ich wollte Ihnen noch sagen, daß der Junge hier auf dem Revier von Eberstein ist. Er wird von meiner Kollegin betreut. Wir konnten ihn ja schlecht allein lassen.«

Wieder gab Hildegard Ertel keine Antwort. Sie war nicht fähig, auch nur einen einzigen Ton hervorzubringen. Es war, als habe der Schreck ihre Stimme gelähmt. Doch ihr hastiges, lautes Atmen verriet ihre Anwesenheit. Jetzt hatte auch der Herzschlag wieder eingesetzt. Dumpf und dröhnend kam er aus Hildegards Brust. Wie über einen Verstärker wederholte sich das Pochen in ihren Ohren.

»Es wäre gut, wenn Sie vorbeikommen könnten.« Die Stimme aus dem Hörer klang besorgt. »Nach den Angaben des Jungen sind Sie die einzige Verwandte… Ich würde Ihnen einen Dienstwagen schicken, aber wir sind nur zu zweit hier und können leider nicht weg. Ein so kleines Revier hat außerdem nur ein einziges Fahrzeug. Es tut mir sehr leid.« Der Anrufer lauschte. Statt einer Antwort hörte er nur ein qualvolles Stöhnen. »Sie können doch kommen?«

»Ja«, keuchte Hildegard Ertel. Sie war neben dem Telefontischchen auf die Erde gesunken und kauerte seltsam verkrampft neben den geschwungenen Chippendale-Füßchen. Sie liebte zierliche Möbel, helle Farben, duftige Gardinen und alles, was zart und zerbrechlich war. »Hildchen« hatte ihr Mann sie früher gerufen. Doch das war lange her. Aus dem Hildchen war eine Hilde geworden, die kräftig hatte zupacken müssen. Sie war achtunddreißig gewesen, als ihr Mann an Herzversagen gestorben war. Als Schriftsteller hatte er gerade so viel verdient, daß sie hatten leben können. Versicherungen hatte er später bezahlen wollen. So hatte er seine Frau und den zehnjährigen Sohn völlig mittellos zurückgelassen. Jetzt war Thomas ihr Enkel, im gleichen Alter. Wie sonderbar!

Hildegard Ertel war Beamtin bei der Bundespost geworden. Vor zwei Jahren war sie pensoniert worden. Die doppelte Belastung hatte sie geprägt. Ihr Körper war vollschlank, die Schultern waren etwas eckig, die Haare grau. Geblieben war ihre Liebe zu den zarten schönen Dingen. Zu hauchdünnem Porzellan, zu Spitzendeckchen und Aquarellen.

In diesen Minuten war die sonst so gesunde Farbe aus Hildegards Gesicht verschwunden. Ihre Wangen waren fast so grau wie der Lockenkopf. Sie legte den Hörer zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, nein!« brach es schluchzend aus ihr heraus. So grausam konnte doch das Schicksal nicht sein. Es durfte sich nicht noch schlimmer an Thomas das wiederholen, was Rudolf, sein Vater, hatte erleben müssen.

Die einsame Frau preßte die Fingerspitzen gegen die Stirn und schüttelte voller Verzweiflung den Kopf. Sie hatte sich viel Mühe damit gegeben, ihrem Sohn Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Trotz der Doppelbelastung von Beruf und Haushalt hatte sie ihrem Kind viel Zeit gewidmet. Sie hatte gespart, damit ihr Sohn hatte studieren können. Rudolf war Arzt geworden.

Vor vier Jahren hatte er in Eberstein eine eigene Praxis gegründet. Die Ausstattung hatte sehr viel Geld gekostet. Hildegard hatte kräftig mitgeholfen. All ihre Ersparnisse hatte sie dem Sohn gegeben. Und jetzt sollte ­alles umsonst gewesen sein? Rudolfs Leben, das sie mit so viel Entbehrungen aufgebaut hatte, sollte ausgelöscht sein? Und nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Frau. Hildegard hatte zu ihrer Schwiegertochter ein herzliches Verhältnis gehabt. Eva-Maria war wie eine Tochter für sie gewesen. Ihren Tod empfand sie ebenso schrecklich und schmerzlich wie den ihres Sohnes.

Durfte es denn so viel Leid in einer einzigen Familie geben? War dieses nicht mehr, als ein Mensch ertragen konnte? Hildegard krümmte sich wie ein getretener Wurm. Sie konnte nicht weinen. Dafür zitterte sie am ganzen Körper. Die Nachricht, die man ihr eben übermittelt hatte, war für sie ein Schock.

»Der Junge… Thomas… Ich muß zu ihm.« Hildegard zog sich hoch, wankte durch den Flur ihrer kleinen Wohnung. Sie mußte sich immer wieder stützen, um nicht zusammenzubrechen. Sie wollte ihr Auto aus der Garage holen, doch beim Anblick des Fahrzeuges wurde ihr bewußt, daß sie überhaupt nicht fähig war, den Wagen zu steuern. Sie schleppte sich zurück und rief telefonisch ein Taxi herbei.

Der Taxifahrer, der Hildegard Ertel wenig später abholte, erschrak, als er die Frau mit dem leeren Blick und dem schmerzlich verzogenen Gesicht sah. Doch er fragte nichts.

»Polizeirevier Eberstein«, murmelte Hildegard.

Der Chauffeur nickte und brauste los. Im Rückspiegel beobachtete er mitleidig die zitternde Frau. »Soll ich warten?« fragte er, als Hildegard vor dem hellen Gebäude in Eberstein ausstieg.

»Bitte.« Ängstlich maß Hildegard Ertel die Entfernung zwischen dem Auto und dem Eingang. Würde sie es schaffen? Sie fühlte sich so schwach und elend, und ihre Knie zitterten so sehr, daß sie befürchtete, nach wenigen Schritten zusammenzubrechen. Sie biß die Zähne zusammen. Das alles hatte sie schon einmal erlebt. Auch damals hatte sie geglaubt, die Welt müsse untergehen. Und doch war nichts geschehen. Das Leben ging weiter. Damals hatte sie für Rudolf sorgen müssen, jetzt mußte sie für Thomas dasein, für ihren Enkel.

Im Polizeirevier von Eberstein hatte man Hildegard Ertel erwartet. Der diensthabende Beamte kam, um sie ins Haus zu führen.

»Es geschah nur fünf Kilometer von hier«, berichtete er leise. »Herr Dr. Ertel war unterwegs, um einen Patienten zu besuchen. Seine Frau begleitete ihn. Sie war ja ausgebildete Arzthelferin.« Der Mann in Uniform führte Hildegard in sein Büro und rückte einen Stuhl für sie zurecht. Langsam sprach er weiter. Er hatte das alles bereits am Telefon erwähnt, doch er war nicht sicher, ob Frau Ertel ihn verstanden hatte. »Ein Laster kam ihnen entgegen. Er fuhr zu schnell, kam auf eine Ölspur und rutschte auf die Gegenfahrbahn. Alles muß so schnell gegangen sein, daß der Fahrer überhaupt nicht mehr bremsen konnten. Dr. Ertels Auto wurde überrollt. Beide Insassen kamen ums Leben. Der Arzt meint, sie müssen sofort tot gewesen sein. Der Lastwagenfahrer hat einen Nervenzusammenbruch. Verständlich nach diesem schrecklichen Vorfall.«

Hildegard hielt den Kopf gesenkt. Es ist wahr, es ist doch wahr, dachte sie immer wieder. Ihre letzte Hoffnung war geschwunden. Die Kälte kroch in ihr hoch. Zum zweitenmal hatte sie alles verloren, was sie liebte. Es war schwer zu sagen, was schmerzlicher war: den Mann oder das Kind zu verlieren. Für sie war beides gleich furchtbar.

»Wo… wo ist… ist… Thomas?« Hildegard stotterte. Sie wurde sich dessen jedoch nicht bewußt.

»Nebenan. Meine Kollegin hat einige Comics besorgt, um ihn abzulenken. Soll ich ihn holen?«

Hildegard nickte mehrmals hintereinander. Sie wäre gern aufgestanden, um Thomas entgegenzugehen, doch sie hatte einfach nicht die Kraft dazu. Ihr Körper gehorchte ihrem Willen nicht mehr.

*

Thomas ließ beim Eintreten des Polizeibeamten die bunten Hefte achtlos fallen. Die freundliche Frau in der graugrünen Uniform hatte ihn von der Schule abgeholt und ihm schonend erzählt, daß seine Eltern ums Leben gekommen waren.

Thomas hatte in seinem Elternhaus viele Unterhaltungen über Krankheiten und Tod gehört. Für ihn hatten diese Schilderungen längst ihre Schrecken verloren. Sie gehörten für ihn fast zum Alltag. Allerdings hätte er nie geglaubt, daß er selbst einmal betroffen sein könnte. Nun war es geschehen, und er war nicht verzweifelt, sondern nur verwirrt und erstaunt. Um die Endgültigkeit dieser Nachricht zu begreifen, war er noch zu jung.

Er ahnte nicht, was es hieß, ohne Eltern aufzuwachsen, allein auf der Welt zu sein.

Der blonde Junge mit dem hübschen Gesicht und den grauen Augen war sehr behütet und liebevoll umsorgt gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es auch anders sein konnte. Er begriff nicht, daß seine Eltern nie mehr zurückkommen würden. Er wußte nur, daß jetzt Entscheidungen getroffen werden würden, die sein Leben veränderten.

Von der Polizeibeamtin, die sich um ihn bemühte, wollte Thomas keinen Trost annehmen. Trotzig schob er die Unterlippe vor. Nur mit seiner Oma wollte er über alles sprechen. Sie kannte ihn, und er mochte sie gern, denn sie schenkte ihm reichlich Süßigkeiten und erfüllte ihm manchen kindlichen Wunsch.

»Ist meine Oma jetzt da?« Thomas spähte unter dem Arm des Polizisten hindurch ins Nebenzimmer.

»Ja. Komm, bitte!«

Das ließ sich Thomas nicht zweimal sagen. Er schlüpfte an dem Beamten vorbei und stürmte polternd ins Amtszimmer.

»Omi!« Mit diesem Aufschrei umarmte er Hildegard Ertel und drückte sie so fest, daß ihr die Luft wegblieb.

Beim Anblick des Enkels kamen Frau Ertel die Tränen. Dieses arme Kind war in einem Alter, in dem es seine Eltern dringend brauchte. Deutlich fühlte Hildegard, daß sie zu alt war, um diese Aufgabe zu erfüllen. Sie würde sich um Verständnis für den Enkel bemühen, aber würde es ihr gelingen, die berechtigten Forderungen seiner Jugend zu erfüllen? War nicht ihr Leben zu beschwerlich gewesen, war sie nicht zu verbraucht?

»Mein kleiner Thomas«, schnupfte Hildegard voller Zärtlichkeit. »Wir haben beide sehr viel verloren. Jetzt müssen wir zusammenhalten. Gemeinsam werden wir den Schmerz überwinden und wieder Freude am Leben finden. Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern, auch wenn man noch so sehr trauert. Wir wollen tapfer sein, denn das hätten sich deine Eltern sicher gewünscht.«

Hildegard Ertel fiel es schwer, jetzt zu sprechen. Jedes einzelne Wort kostete sie unglaubliche Selbstüberwindung. Sie sprach Thomas zuliebe. Je mehr sie redete, um so besser vermochte sie es, sich zu beherrschen. Es war ihr, als gäbe ihr der Junge Kraft. Die Kraft, noch einmal von vorne zu beginnen, noch einmal eine schwere Aufgabe zu übernehmen.

Ich muß stark sein, Thomas braucht mich, sagte sich Hildegard Ertel und drängte ihre Tränen zurück.

»Omi, ich will nach Hause«, jammerte das Kind, das mit Hildegards Worten wenig anfangen konnte. Denn in ihm überwog nicht die Trauer, sondern die Ratlosigkeit. Alles war so anders als sonst. »Ich will zu meiner Mutti…« Thomas erschrak, denn er wußte, daß dieser Wunsch sinnlos und nicht zu erfüllen war. Er schämte sich, versteckte sein Gesicht an Hildegards Schulter.

Sie fuhr ihm mit zitternden Fingern durch das halblange Blondhaar, streichelte seine heißen Wangen.

»Wir fahren zu euch, packen deine Sachen zusammen und gehen dann zu mir nach Maibach.«

Thomas hob den Kopf. »Bleiben wir denn nicht zu Hause?« fragte er enttäuscht. Er liebte das alte Bauernhaus, das seine Eltern vor vier Jahren gekauft und umgebaut hatten. Im Erdgeschoß war eine moderne Praxis entstanden, der ehemalige Stall war zum gemütlichen Wohnhaus geworden. Ein großer Obstgarten schloß sich an, der Lieblingsaufenthalt des zehnjährigen Buben. Überhaupt fühlte sich Thomas auf dem Land sehr wohl. Rechts und links von seinem Elternhaus gab es Bauernhöfe, auf denen allerlei Vieh gehalten wurde. Thomas war ein oft und gern gesehener Gast in der Nachbarschaft.

»Nein. Du brauchst jetzt eine andere Umgebung. In der Stadt wirst du alles rascher vergessen.« Hildegard Ertel war bereit, jedes Opfer für den Enkel zu bringen. Doch ihre Wohnung in der Stadt wollte sie nicht aufgeben. Denn ihr bot das Landleben keinerlei Abwechslung. In Maibach hatte sie viele Bekannte, gehörte sie einer religiösen Frauenbewegung an und war Vorsitzende einer Seniorengruppe. All ihre Freizeit investierte sie in die Arbeit für diese Vereine. Es war ihr unmöglich, plötzlich alles aufzugeben.

»Aber ich muß doch zur Schule…«

»Du wirst in Maibach zur Schule gehen. Es gibt dort ein sehr gutes Gymnasium«, erklärte Frau Ertel, obwohl es ihr schwerfiel, in dieser Stunde an so profane Dinge zu denken. In dieser Stunde, in der ihr Sohn und ihre Schwiegertochter ums Leben gekommen waren. So furchtbar das war, es gab trotzdem eine Zukunft. Denn da war dieses Kind, Rudolfs Kind. Der Junge war sein Vermächtnis, und Hildegard würde all ihre Kraft dafür einsetzen, im Sinne ihres Sohnes zu handeln.

»In Maibach kenne ich doch niemanden«, wisperte Thomas ängstlich. »In Eberstein habe ich so viele Freunde…«

»Du wirst neue Freunde kennenlernen.«

»Und wer wohnt in unserem Haus?«

»Wir werden es vermieten.«

»An fremde Leute? Das will ich nicht!« Erschrocken richtete sich der Junge auf.

Eigentlich hatte Hildegard über all diese Fragen erst viel später nachdenken und sprechen wollen. Doch Thomas zwang sie in seiner Ratlosigkeit schon jetzt dazu. »Das Haus ist noch nicht bezahlt. Die Kosten dafür sind viel, viel höher als meine Rente. Ich könnte sie nicht aufbringen, auch wenn wir uns sehr einschränken würden.«

Traurig sah die grauhaarige Frau ihren Enkel an. Schon in dieser Stunde mußte Thomas die Erfahrung machen, daß man auf vieles verzichten mußte, wenn man keinen Vater mehr hatte. Diese Erkenntnis hätte sie dem kleinen Thomas so gern erspart. Aber sie sah keine Möglichkeit dazu.

»Darf ich denn auch nicht mehr in unseren Garten? Vati hat mir eine Schaukel aufgehängt. Gehört sie dann auch den fremden Leuten?« Das Kinderstimmchen überschlug sich. Tränen glänzten in den großen grauen Augen. Denn mehr und mehr begriff Thomas, daß er nicht nur die Eltern, die er liebte, verloren hatte, sondern seine ganze bisherige Welt.

»Ganz in der Nähe meiner Wohnung ist ein großer Spielplatz. Dort gibt es drei Schaukeln, eine lange Rutschbahn und viele andere Geräte«, versuchte Hildegard das Kind zu trösten.

»Aber das alles gehört nicht mir«, stieß Thomas trotzig hervor. »Und es gibt auch keine Obstbäume. Vati und ich wollten am Wochenende Birnen und Zwetschgen ernten. Ich habe mich so darauf gefreut.« Jetzt heulte Thomas los. Sein schmaler Körper wurde vom Schluchzen geschüttelt.

Hildegard zog das Kind liebevoll an sich und streichelte es zärtlich. Was konnte sie tun, um den Enkel zu trösten? Bei Rudolf, ihrem Sohn, war das alles viel einfacher gewesen. Die Bindung zwischen ihnen war enger gewesen, der Altersunterschied nicht so groß.

Vergeblich suchte Hildegard Ertel nach Worten, die geeignet waren, Thomas von seinem Kummer abzulenken. Sie war selbst viel zu verzweifelt. Trauer und Schmerz beherrschten ihr Denken.

*

Schwester Regine, die erfahrene Betreuerin von Sophienlust, bürstete sanft Franziskas braunes Lockenköpfchen. Das Kind, das sich erstaunlich problemlos in die Gemeinschaft einfügte, ließ sich die Behandlung geduldig gefallen.

Für das kleine Mädchen gab es in Sophienlust viel zu sehen, viel zu bestaunen. Alles war neu und interessant. Die vielen hübschen Kinderbilder an den Wänden, die bunten Vorhänge und die Spielsachen, die es in jedem Raum gab. Das größte Interesse aber zeigte Franziska für die anderen Kinder. Eben schlüpfte Heidi ins Zimmer, und sofort lachte Fanny.

»Darf ich nach dem Frühstück mit ihr spielen?« Heidi drängte sich dicht an Regine Nielsen heran und sah fragend zu ihr auf.

»Selbstverständlich.«

»Dürfen wir ’rausgehen?«

»Später. Am frühen Morgen ist es noch zu frisch.«

Heidi nickte verständnisvoll. Ihre blonden Zöpfchen schaukelten dabei. Süß sah sie aus mit der kessen Stupsnase und den Ponyfransen, die ihr weit über die gerundete Stirn fielen.

»Bleibt Fanny jetzt immer bei uns?« erkundigte sie sich hoffnungsvoll, denn sie sah in der Kleinen eine ideale Spielgefährtin.

»Nein. Nur ungefähr sechs Wochen.« Schwester Regine band dem kleinen Schützling die Schuhe zu.

»Warum?« Da war es wieder, Heidis Lieblingswort. Alle Bewohner von Sophienlust fürchteten sich davor. Denn wenn Heidi erst den Anfang gefunden hatte, folgten unweigerlich eine ganze Menge »Warums«.

»Wenn Herr und Frau Henning zurück sind, nehmen sie Fanny wieder zu sich.«

»Warum?« fragte Heidi mit einer Ernsthaftigkeit, die oft lästig wurde.

»Sie wollen Fanny selbst versorgen.«

»Warum wollen sie das?«

Schwester Regine hatte eine fast unerschöpfliche Geduld, wenn es darum ging, Kinder zufriedenzustellen. Ruhig und sachlich antwortete sie.

»Fanny ist ihr Kind. Sie haben die Kleine lieb.«

Heidi schien ernsthaft nachzudenken. Sie zog die Stirn kraus und legte den Zeigefinger ans Näschen. »Du hast mich doch auch lieb. Und ich bin nicht dein Kind.«

Heidis Logik zauberte ein Lächeln auf Schwester Regines jugendliches Gesicht. »Ja. Ich habe dich so lieb wie ein eigenes Kind.«

Das war keine Übertreibung. Alle Schützlinge von Sophienlust waren Regine Nielsen so sehr ans Herz gewachsen wie Söhne und Töchter. Deren Betreuung war für die Kinderschwester eine Lebensaufgabe.

»Warum?« Heidi wollte auf alles eine Antwort haben und ahnte nicht, in welche Schwierigkeiten sie ihre Gesprächspartner damit oft brachte.

In diesem Augenblick hörte man auf dem Flur Nicks dunkle Stimme.

»Magda hat dafür gesorgt, daß wir draußen ein Picknick machen können«, rief er Irmela zu.

Das Köpfchen der kleinen Heidi flog herum. Wenn Nick so früh von Gut Schoeneich, wo er mit seiner Familie lebte, herüberkam, dann hatte das einen ganz besonderen Grund. Das interessierte sie. Um nichts zu verpassen, verzichtete sie sogar auf die Beantwortung ihrer Frage.

»Nick ist da. Ich gehe zu ihm«, entschuldigte sie sich und lief davon.

»Fanny auch mit«, verlangte Schwester Regines Schützling und zappelte dabei aufgeregt.

»Komm!« Regine Nielsen nahm das Kind an die Hand.

In der großen Halle von Sophienlust standen die Buben und Mädchen diskutierend beisammen.

»Justus hat schon zwei lange Leitern auf den Traktor-Anhänger geladen«, berichtete Henrik, der wie sein großer Bruder mit dem Rad von Gut Schoeneich herübergekommen war. Das schloßartige Gut der Familie von Schoenecker lag nur wenige Kilometer von Sophienlust entfernt. Eine Privatstraße verband die beiden Anwesen.

»Haben wir auch genug Körbe?« erkundigte sich Pünktchen, ein hübsches Mädchen, das wegen seiner lustigen Sommersprossen so genannt wurde. Pünktchen hatte ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und in Sophienlust eine neue Heimat gefunden.

»Ihr geht wohl zum Äpfelpflücken?« erkundigte sich Schwester Regine und erinnerte sich, daß an diesem Wochenende der schulfreie Samstag war.

»Es kommen noch zwei meiner Schulkameraden mit«, erklärte Nick stolz. »Wir fragen Frau Rennert, ob wir mit den Ponys auf die Wiesen reiten dürfen.«

Frau Rennert war die Heimleiterin von Sophienlust, eine gutmütige, mütterliche Frau, die viel Verständnis für die Jugend hatte.

»Das wird klasse!« jauchzte Fabian und machte einen Luftsprung.

Die Mädchen hatten sich inzwischen der kleinen Fanny zugewandt. Für sie war der neue Schützling so etwas wie eine große, lebendige Puppe.

Franziska gefiel es sehr, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Sie kreischte vor Vergnügen, wenn die Mädchen allerlei Späße mit ihr machten.

»Wenn ihr mit den Ponys reitet, kann ich ja nicht mitkommen«, jammerte Heidi und wandte sich hilfesuchend an Pünktchen. Aus Erfahrung wußte sie, daß sie von dieser Seite am ehesten Unterstützung zu erhoffen hatte. Pünktchen war die anerkannte Beschützerin aller Kleinen.

»Doch. Du kannst bei Justus auf dem Traktor sitzen«, schlug Angelika, die zugehört hatte, vor. Für die größeren Buben und Mädchen von Sophienlust war es stets ein besonderes Erlebnis, auf den munteren Ponys, die zum Kinderheim gehörten, über die Wiesen und Felder zu traben.

Heidi schob schmollend die Unterlippe vor. »Das will ich nicht. Es holpert so.«

»Du kannst mit mir zu Fuß gehen«, schlug Schwester Regine vor. »Wir setzen Fanny in den Sportwagen.«

»Und ich darf schieben«, ergänzte Heidi versöhnt.

»Wir dürfen!« schrie Nick, der gerade aus Frau Rennerts Büro kam.

Ein wahres Indianergeheul brach los und zeugte von der Begeisterung der Buben und Mädchen.

»Wir holen gleich die Satteldekken.« Fabian wollte davonstürmen.

»Zuerst wird gefrühstückt«, bestimmte Schwester Regine.

»Jaa!« Die wilde Horde rannte zum Speisesaal, wo die Hausmädchen bereits die Tische gedeckt hatten. Es roch nach frischen Brötchen und selbstgebackenen Hefeschnecken.

Der Appetit der Kinder ließ nichts zu wünschen übrig. Gar nicht schnell genug konnten die Tassen mit Kakao nachgefüllt werden. Alle kauten mit vollen Backen. Selbst Heidis Plappermäulchen stand für kurze Zeit still.

Auch Frau Rennert, die Heimleiterin, nahm ihren Platz ein. Für sie war es immer wieder eine tiefe Genugtuung, die gesunde Entwicklung ihrer Schützlinge zu beobachten. Wenn sie in die fröhlichen und frischen jungen Gesichter sah, wußte sie, daß diese Kinder sich wohl fühlten, daß sie glücklich waren. Glücklich, obwohl sie keine Angehörigen mehr hatten, glücklich, obwohl eine schwere Zeit hinter ihnen lag.

*

Seit drei Wochen war Thomas bei seiner Oma. Die Beerdigung seiner Eltern war längst vorüber. Mutter und Vater ruhten auf dem Friedhof von Eberstein.

Die Kleidung, die Spielsachen und die Schulbücher des Jungen hatte man in Frau Hildegards Wohnung gebracht. Dr. Ertels Haus war vermietet worden. Ein Oberarzt aus dem Kreiskrankenhaus wollte sich dort selbständig machen.

Hildegard Ertel hatte das frühere Zimmer ihres Sohnes für Thomas neu tapezieren und nach dem Geschmack des Jungen möblieren lassen. Thomas selbst hatte die Schränke eingerichtet, Bilder aufgehängt und die Gardinen ausgewählt.

Es waren drei Wochen voller Aktivität gewesen. Und das war gut gewesen. Die Arbeit hatte über die Trauer hinweggeholfen. Jetzt allerdings kehrte langsam Ruhe ein, kamen quälende Gedanken.

Den Jungen quälte das Heimweh. Das Heimweh nach Vati und Mutti, nach dem Elternhaus, nach dem Garten, in dem er nach Herzenslust hatte toben können.

In dem ruhigen Dreifamilienhaus, in dem Hildegard Ertel die mittlere Etage bewohnte, mußte man auf die Nachbarn Rücksicht nehmen und stets leise sein.

Das fiel Thomas, der an derartige Maßnahmen nicht gewöhnt war, besonders schwer. Immer wieder verleitete ihn sein jugendlicher Übermut dazu, durch die Wohnung zu hüpfen oder laut die Türen zuzuschlagen. Er wollte seine Oma nicht ärgern, aber es passierte einfach. Frau Hildegard mahnte geduldig. Sie bat ihre Mitbewohner um Verständnis und lebte mehr und mehr in der Angst, der Hauseigentümer könnte ihr Schwierigkeiten machen.

»Wie war es in der Schule?« erkundigte sie sich, als ihr der Enkel beim Mittagessen gegenübersaß.

»Blöd«, antwortete der Bub einsilbig. Lustlos stocherte er in seinem Teller herum.

Hildegard Ertel, die sich mit dem Essen viel Mühe gab, sah Thomas besorgt zu. Seit drei Wochen ging das nun so. Der Junge aß nicht richtig und ließ oft die schmackhafteste Mahlzeit stehen. Blaß und mager war er geworden. Hildegard fand es zwar nach all den Aufregungen verständlich, daß der Enkel keinen Appetit hatte, erging es ihr doch selbst nicht anders, aber langsam mußte sich das Leben wieder normalisieren.

»Hast du noch keinen Freund gefunden?« Auch dieses Problem machte Frau Hildegard Sorgen. Thomas saß am Nachmittag lustlos herum und wußte nichts mit sich anzufangen.

»Nein«, war die brummige Antwort. Auf seinem Teller sortierte Thomas die kleingeschnittene Petersilie aus dem Gemüse heraus. Dabei machte er ein Gesicht, als ekle er sich.

Frau Hildegard überging das. Sie wußte genau, daß ihre Schwiegertochter so ähnlich wie sie gekocht hatte und daß Thomas zu Hause alles gegessen hatte.

»Aber es gibt doch sicher nette Jungen, mit denen du dich auch außerhalb der Schulzeit treffen könntest«, bohrte die Rentnerin weiter. Sie dachte dabei an die gemütlichen Nachmittage, die sie seit Jahren für die Seniorengruppe organisierte und die nun seit Wochen ausgefallen waren.

»Sie sind alle doof.«

»Du kennst sie nur noch nicht richtig.« Hildegard Ertel dachte an die Unterhaltung, die sie vor einigen Tagen mit dem Klassenlehrer von Thomas gehabt hatte. Der Pädagoge hatte ihr erzählt, daß der Junge völlig teilnahmslos in der Klasse sitze und sich auch an gemeinsamen Aufgaben nicht beteilige. Alles gute Zureden helfe so wenig wie freundliche Ermahnungen. Dabei war Thomas ein intelligenter Junge, der in Eberstein zu den Besten seiner Klasse gezählt hatte.

»Ich will sie gar nicht kennenlernen. Ich will wieder nach Hause.« Thomas schob den Teller weg und lehnte sich zurück. Sein hübsches Gesichtchen war finster. In seinen Augen spiegelten sich Hilflosigkeit und Zorn.

Bis jetzt hatte sich Hildegard nur mit Güte gegen die zunehmenden Aggressionen ihres Enkels gewehrt. Sie hatte stets die Ruhe behalten, war freundlich geblieben. Doch längst wußte sie, daß es ohne Strenge nicht ging. Aber gerade sie fiel der alternden Frau so schwer. Denn sie hatte Mitleid mit dem elternlosen Jungen, und sie wollte Thomas auf keinen Fall weh tun. Er hatte Kummer genug.

»Heute ist Mittwoch. Da ist im Frauenkreis Kaffeestunde. Es gibt auch Eis. Wollen wir miteinander hingehen?« fragte Hildegard, um den Enkel abzulenken. Denn seiner Bitte, nach Hause zurückkehren zu dürfen, stand sie ziemlich hilflos gegenüber.

»Nein. Das ist langweilig«, stieß der Junge feindselig hervor. Er war mit sich und der ganzen Welt unzufrieden. Die Schwäche seiner Großmama bot ihm eine willkommene Angriffsfläche. Er wußte, daß sie es gut mit ihm meinte, und wollte sie eigentlich nicht kränken. Trotzdem passierte es immer wieder. Er war unglücklich darüber und böse auf sich selbst.

»Vielleicht möchtest du, daß wir in den Stadtpark gehen? Da gibt es Enten, Schwäne, einige Volieren mit Vögeln und ein großes Gatter mit Rehen.«

»Das kenne ich schon.«

»Was würdest du denn gern tun?« forschte Hildegard und legte ebenfalls das Bestecke weg. Der Appetit war ihr vergangen. Sie hatte mit Schwierigkeiten gerechnet. Aber sie hatte nicht gedacht, daß diese von Thomas kommen würden.

»Nichts.« Der Junge sah nicht auf.

»Wollen wir mit dem Auto wegfahren?«

»Nach Hause?«

Da waren schon wieder die beiden Worte, die Hildegard Angst einflößten. Wie sollte sie sich verhalten?

»Wir besuchen die Burgruine auf dem Hohenstein. Von dort hat man einen herrlichen Ausblick.«

Thomas schüttelte den Kopf. »Ich mag nicht.«

»Gut, dann machen wir es uns zu Hause gemütlich«, entschied die Frau mit dem grauen Lockenkopf seufzend. »Wir suchen uns ein hübsches Spiel oder ein spannendes Spiel oder ein spannendes Buch.«

»Puh. Das ist doch alles Sch…«

»Thomas!« warnte Frau Ertel ihren Enkel. Sie hatte derartige Ausdrücke bei ihrem Sohn nie geduldet, und sie war auch nicht gewillt, dieses bei Thomas durchgehen zu lassen.

Der Junge sprang auf, lief in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Tief atmete Hildegard Ertel durch. Sie war mit ihrem Latein am Ende. Konnte ein zehnjähriges Kind denn so stur sein? Was konnte sie tun, um Thomas aus seinem Starrsinn aufzurütteln?

Schwerfällig erhob sich die Frau und räumte den Tisch ab. Ihre früher blitzsaubere Wohnung war längst nicht mehr so ordentlich, seit der Junge bei ihr lebte. Im Flur lag die Schulmappe, achtlos hingeworfen. Die Schuhe, die Thomas von den Füßen geschleudert hatte, fanden sich am Eingang der Küche und unter dem Telefontischchen, die Garderobe war mit allerhand Kleidungsstücken belagert. Im Wohnzimmer lagen Hefte und Farbstifte, in Hildegards Schlafzimmer deponierte Thomas mit Vorliebe seine Spielautos. In der Küche standen zwei zugebundene Gläser, in denen Thomas Käfer und Schnecken züchtete.

Schweren Herzens duldete Hildegard das alles. Das Kind sollte sich bei ihr wohl fühlen. Daß es trotzdem nicht so war, belastete sie und machte sie von Tag zu Tag unsicherer.

Hildegard Ertel warf die Essensreste weg und spülte das Geschirr. Im Nebenraum drehte Thomas an einem Kassettenrecorder. Er stellte die Musik unvernünftig laut.

Frau Hildegard sah besorgt zur Uhr. Es war Mittagszeit. Die Mitbewohner des Hauses wollten ihre Ruhe haben. So leid es ihr tat, sie mußte Thomas bitten, das Gerät leiser zu stellen.

Also ging sie zum Zimmer ihres Enkels, drückte die Klinke herab. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Es war abgeschlossen.

Hildegard erschrak. Bedeutete dieses, daß der Junge sich von ihr distanzieren wollte, daß er sich noch mehr als bisher abkapselte?

»Hallo, Thomas«, rief die ältere Frau betont munter. »Mach’ einmal rasch auf. Ich muß dir etwas sagen.«

Das Kind gab keine Antwort. Nur die laute Musik drang durch die Tür, erfüllte die kleine Wohnung.

»Thomas, hörst du mich nicht?« rief Frau Ertel nun etwas lauter.

Wieder keine Reaktion.

»Stell’ doch bitte die Musik leiser«, schrie Hildegard in das verschlossene Zimmer.

Nichts geschah. Das Trommeln und Klopfen des Schlagzeuges dröhnte in unverminderter Lautstärke.

»Thomas, öffne bitte«, flehte die Rentnerin. Mit der Faust hieb sie gegen das Holz der Tür. Zuerst leise und vorsichtig, dann immer heftiger. Denn sie hatte Angst. Angst, daß Thomas etwas Unvernünftiges getan hatte.

Ihr einziger Wunsch war im Moment, in das Zimmer ihres Enkels zu gelangen. Ungeduldig klopfte und rief sie. Doch sie bekam keine Antwort. Drinnen rührte sich nichts.

Die verängstigte Frau preßte die Hand auf die linke Brustseite, denn sie hatte plötzlich schreckliche Schmerzen in der Herzgegend.

*

Von den Rudern tropfte das Wasser. Es bildeten sich Ringe auf dem stillen See. Immer weitere Kreise zogen sie. Die Wildenten, die am Ufer nach Nahrung suchten, äugten interessiert herüber.

Peter Hoschke lehnte sich zurück, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Rand des Kahns und blinzelte in die Sonne.

»Die Ruhe tut mir gut. Wo findet man das noch: Eine herrliche Landschaft, klares Wasser und absolute Einsamkeit?«

»Hier, in Kanada«, antwortete Marianne, seine Frau. Sie fand die Abgeschiedenheit von der Zivilisation bereits etwas langweilig, denn sie liebte die Geselligkeit. Andererseits wußte sie, daß ihr Mann die Ruhe dringend brauchte, und deshalb fügte sie sich. Peter Hoschke war vielbeschäftigter Theaterintendant. Seit sechzehn Jahren war er für alle Bühnenaufführungen seiner Heimatstadt verantwortlich. Dieses brachte eine Menge Ärger und Aufregungen mit sich. Theaterleute waren ein impulsives, manchmal unzuverlässiges Völkchen. Peter Hoschke hatte seine liebe Not mit ihnen. Es war nicht verwunderlich, daß er reizbar und nervös war. Auch äußerlich sah man ihm die Belastung an. Er wirkte wie ein Mensch, der zuviel arbeitete und zuwenig schlief. Er war mittelgroß, kräftig, hatte graue Schläfen und trug eine dicke Hornbrille.

Marianne war achtunddreißig, zehn Jahre jünger als er. Sie war eine liebenswerte Frau mit Herz und Charme. Ihr Wesen bildete einen wohltuenden Ausgleich zu Peters Hektik.

Jetzt hielt sie die Fingerspitzen ins Wasser und schaute verträumt auf die spiegelnde Fläche. »Ich dachte gerade an Sherry. Ob er uns wohl vermißt?«

»Das glaube ich nicht. Der Hund ist bei unseren Nachbarn gut untergebracht. Wahrscheinlich füttern sie ihn dick und rund.«

»Was glaubst du, wie er sich freut, wenn wir wieder zurückkommen.«

»Du verwöhnst das Tier wie ein Kind.« Peter rekelte sich in der warmen Herbstsonne.

»Eigentlich würde ich lieber ein Kind verwöhnen«, antwortete die Frau mit den schulterlangen rotbraunen Locken nachdenklich.

»Sag’ einmal, was ist mit dir los?« forschte Peter Hoschke verwundert. »Wir waren uns doch immer einig darüber, daß wir allein bleiben.«

»Was blieb mir denn übrig, als ich nach der Bauchhöhlenschwangerschaft keine Kinder mehr bekommen konnte?« Marianne preßte fest die Lippen zusammen. Die Enttäuschung darüber, daß sie nie Mutter werden konnte, schmerzte noch immer.

»Mich hat es nie gestört, und ich bin auch jetzt zufrieden«, erklärte ihr Mann.

»Wenn ich meine Schwester mit ihren drei Rangen beobachte, sehne ich mich doch danach, auch für ein Kind zu sorgen, mitzuerleben, wie es groß wird.« Mariannes Stimme klang wehmütig.

Peter Hoschke liebte seine Frau und wollte sie glücklich sehen. »Aus dieser Sicht war es verkehrt, die Einladung deiner Schwester hierher anzunehmen.«

»Trotzdem bin ich froh, daß wir es getan haben. Ich wollte Marlene wiedersehen und wollte ihre neue Heimat kennenlernen. Es ist doch nett von ihr und meinem Schwager, daß sie uns das Ferienhaus am See überlassen haben.«

»Niemand behauptet etwas anderes. Aber das Thema Kinder vergessen wir lieber. Komm her, mein Schatz.« Peter griff nach Mariannes Hand.

Das Boot schaukelte leicht, als sich die jugendlich schlanke Frau erhob und hinüberbalancierte. Neben ihrem Mann ließ sie sich auf der Ruderbank nieder. Peter legte liebevoll den Arm um ihre Schultern und schaute in ihre klaren grünen Augen.

»Ich bin glücklich mit dir, Marianne, und ich vermisse nichts. Du kannst mir alles geben, wovon ich träume. Du verstehst es, mich auch heute noch zu umgarnen, obwohl wir seit neunzehn Jahren verheiratet sind. Ich bin noch immer verliebt in dich.« Peter strich über die sonnenwarme Haut seiner Frau, streichelte die rotbraune Flut ihrer Haare. »Du bist wunderschön.« Es klang ehrlich und aufrichtig.

Marianne lächelte sanft. »Du bist sehr lieb zu mir, Peter. Danke. Diese neunzehn Jahre mit dir waren so schön, daß ich keinen einzigen Tag vermissen möchte. Ich denke gern zurück.«

»Ja, wir haben viel Schönes miteinander erlebt, und es ist noch lange nicht zu Ende. Es kommt mir vor, als stünden wir erst am Anfang.«

»Ich habe dich sehr gern, Peter. So gern, wie man einen Menschen nur haben kann.«

»Du ahnst nicht, wieviel Sicherheit und Selbstvertrauen mir das gibt. Keine noch so schöne Schauspielerin, kein noch so graziöses Ballettmädchen könnte mir je gefährlich werden solange du mich liebst.« Peter legte sanft die Hand an Mariannes Wange, drehte ihr Gesicht zu sich her und schaute verlangend auf ihre roten Lippen.

Sie lächelte voller Zärtlichkeit, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund.

Es wurde ein langer, inniger Kuß. Ein Kuß, wie ihn nur Menschen tauschen konnten, die völlig harmonierten, die sich in allem einig waren.

*

Thomas stolperte verdrossen vorwärts. Er hielt den Kopf gesenkt, schaute nicht nach rechts oder links. Seit dem gestrigen Nachmittag war seine Oma böse auf ihn. Sie hatte sich sehr darüber aufgeregt, daß er sich in seinem Zimmer eingeschlossen und keine Antwort gegeben hatte, obwohl er ihr Rufen genau gehört hatte. In ihrer Angst hatte sie durch einen Nachbarn die Tür aufbrechen lassen.

Wie sehr sich Hildegard Ertel geängstigt hatte, war Thomas in dem Augenblick bewußt geworden, als der Nachbar ins Zimmer getreten war. Hinter ihm hatte die Oma gestanden, kreidebleich, mit schreckensweit geöffneten Augen, mühsam nach Luft ringend. Ihre Lippen waren blau verfärbt gewesen, ihre Hände seltsam verkrampft.

Schon in diesem Augenblick hatte Thomas erkannt, daß er zu weit gegangen war. Er hatte sich entschuldigen wollen, doch man hatte ihn nicht zu Wort kommen lassen. Der Nachbar hatte ihn so angebrüllt, daß er ängstlich in sich zusammengekrochen war.

Hildegard Ertel hatte nicht geschimpft, aber sie hatte Medikamente einnehmen und sich auf die Couch legen müssen.

Das hatte Thomas natürlich nicht gewollt. Er hatte nur allein sein wollen. Allein mit seinen traurigen Gedanken und der Sehnsucht nach den Eltern.

Heute hatte sich Thomas beeilt, von der Schule heimzukommen. Er wollte sich mit seiner Oma versöhnen, wollte Besserung geloben. Doch dann war sie nicht zu Hause. In der Küche war der Tisch gedeckt, stand das Essen bereit. Daneben lag ein Zettel. Er gab darüber Auskunft, daß die Oma zum Arzt gegangen war.

Thomas fühlte sich schuldig. Er ließ das Essen unberührt und verließ die Wohnung gleich wieder. Ein Ziel hatte er nicht. Er lief einfach geradeaus und achtete nicht darauf, wo er gerade war.

Thomas war fast am anderen Ende der Stadt, als ihm im Straßengraben ein Hund entgegenkam, die Nase im raschelnden Laub, den buschigen Schwanz unternehmungslustig hochgereckt. Er schien eine ganz bestimmte Spur zu verfolgen, denn er schaute nicht auf. Seine langen Ohren mit den struppigen graubraunen Haaren schleppten im Laub.

Der blonde Junge blieb stehen. Er liebte alle Tiere, besonders aber Hunde, weil er sie für sehr klug hielt.

»Hallo, du«, raunte Thomas leise, um den Vierbeiner nicht zu erschrecken.

Der Hund blieb stehen, schaute Thomas neugierig an. Die Nasenlöcher des zottigen Tieres weiteten sich, hörbar zog es die Luft ein. Dann kam der Hund langsam näher. Er streckte den Kopf vor und sah den Jungen aus sanften braunen Augen traurig an.

Thomas kannte sich im Umgang mit Hunden aus. Er suchte in seinen Hosentaschen nach etwas Genießbarem, fand abgebrochene Bleistifte, Reißnägel, zwei Messingschrauben, einige besonders schöne Steinchen und mehrere zerdrückte Fruchtbonbons.

Thomas wußte, manche Hunde liebten Süßigkeiten. Also legte er ein ausgepacktes Bonbon auf die flache Hand und hielt es dem Hund hin.

Er schnupperte daran, nahm es zögernd auf, drehte es in seinem großen Maul hin und her, spuckte es schließlich aus.

»Es schmeckt dir wohl nicht.« Thomas hatte sich auf dem Randstein niedergelassen, um dem fremden Tier näher zu sein.

Der Hund gab einen quietschenden Laut von sich.

»Hast du Hunger?« Thomas strich vorsichtig über den massigen Kopf des Tieres. Doch das ließ sich die Liebkosung gern gefallen, machte auch keinerlei Anstalten wegzulaufen.

»Du kannst mit mir kommen. Meine Oma hat lauter gute Sachen. Du bist doch sicher allein.« Thomas sah sich um. Nicht allzu gründlich, denn er wollte niemanden entdecken, zu dem dieses Tier gehörte. Schon sein erster Gedanke war gewesen, den Hund zu behalten. Jetzt nahm dieser Gedanke immer mehr Gestalt an.

Der Vierbeiner setzte sich gehorsam neben Thomas an den Straßenrand. Er hielt den Kopf schief und blinzelte, als wollte er fragen: was machen wir nun?

Thomas hatte keine Eile. Er legte den Arm um das graubraune Ungetüm und rückte näher heran.

»Meine Oma«, erzählte er, »ist eine liebe Frau, aber manchmal ein bißchen komisch. Man darf ihre Porzellansammlung nicht herausnehmen, und aus den chinesischen Teetassen darf man nicht trinken. Oma sagt, daß sie sehr wertvoll seien. Eine ist mir heruntergefallen und zerbrochen. Ich glaube, das hat meine Oma sehr geärgert.«

Jetzt entdeckte Thomas das kleine Metallschild, das der Hund am Halsband trug. »Sherry«, las er laut. »So heißt du wohl.«

Das Tier wedelte wie zur Bestätigung mit dem Schwanz. Thomas hielt es für richtig, sich ebenfalls vorzustellen. »Ich bin so allein wie du«, vertraute er seinem neuen Freund an. »Wir passen zusammen.«

Der Junge dachte nicht daran, daß man ein Tier, dem man begegnete, nicht einfach mitnehmen konnte. Es war ihm, als habe eine gütige Fee seinen geheimsten Wunsch erfüllt. Stolz zog er wenig später mit dem fremden Hund durch die Stadt. Das Tier folgte ihm willig, blieb auch ohne Leine an seiner Seite.

Sie waren ein merkwürdiges Paar, der blonde Junge und das zottige Ungetüm, das jetzt durstig die Zunge heraushängen ließ.

*

Hildegard Ertel erschrak, als sie die Tür öffnete.

»Wen bringst du denn da?« Die alte Frau hatte sich wieder einmal Sorgen um den Enkel gemacht und sich vorgenommen, Thomas beim Nachhausekommen einzuschärfen, daß er die Wohnung nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfe. Angesichts des großen Hundes waren jedoch alle Vorwürfe vergessen.

»Das ist mein neuer Freund. Er heißt Sherry«, stellte das Kind begeistert vor. »Er hat Durst. Kann ich ihm Milch geben?« Thomas kam ungeniert in die kleine Wohnung. Der Hund drängte nach.

Frau Ertel war wieder einmal sprachlos. Die Erleichterung darüber, daß Thomas unbeschadet zurückgekommen war, stimmte sie zunächst versöhnlich. Sie ging in die Küche und nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank.

Thomas hatte inzwischen einen Teller geholt. Sherry wedelte erfreut und gab durch kurzes Kläffen zu verstehen, daß er mit diesen Vorbereitungen, die ihm galten, einverstanden war.

Kaum stand der Teller gefüllt am Boden, machte sich Sherry darüber her. Mit seiner langen Zunge schlapperte er die Milch und verspritzte sie gleichmäßig nach allen Seiten.

Hildegard sah mit gefurchter Stirn zu.

»Gefällt dir Sherry?« erkundigte sich der Junge.

»Hm… Ich fürchte nur, daß wir ihn nicht behalten können.«

»Warum?« Erschrocken sah das Kind zu ihr auf.

»In diesem Haus dürfen keine Hunde gehalten werden. Das steht im Mietvertrag.« Heimlich war Hildegard dem Vermieter für diese Klausel dankbar. Denn die kleine Wohnung war für ein derartiges Tier völlig ungeeignet.

»Mietvertrag?« Thomas hatte noch nie davon gehört. »Ich möchte Sherry behalten. Bitte, Omi.« Flehend hob er die Hände. Seine grauen Augen bettelten. »Ich will auch ganz lieb sein und alles tun, was du willst. Ich esse dann immer meinen Teller leer und mache nie mehr laute Musik.«

Hildegard schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Du wirst Sherry zurückbringen müssen.«

»Aber er gehört ja keinem. Er ist allein, genau wie ich. Er hat nicht einmal eine Oma.«

Frau Hildegard lehnte den Arm um die schmalen Schultern ihres Enkels. »Das kann nicht sein, Thomas. Am Hundehalsband hängt eine Steuermarke. Also gehört Sherry auch jemandem.«

»Er gehört keinem«, jammerte Thomas. Seine großen Kinderaugen füllten sich mit Tränen.

»Wir werden eine Suchanzeige in der Zeitung aufgeben«, bestimmte Frau Ertel. Der Arzt hatte ihr Medikamente verschrieben. Sie fühlte sich jetzt wieder besser.

»Das brauchen wir nicht, weil sich doch niemand melden wird.« Über die Wangen des Jungen liefen Tränen.

»Wir müssen es aber versuchen«, meinte Hildegard.

»Muß man das wirklich?« fragte das Kind unglücklich.

»Wir sind dazu verpflichtet.«

Auf dem Weg zur Wohnung der Großmama hatte sich Thomas schon in Gedanken ausgemalt, wie es sein würde, wenn Sherry für immer bei ihnen bleiben würde. Daß er kein rassereiner Hund war, spielte für ihn überhaupt keine Rolle. Ihm kam es nur darauf an, daß sein Spielgefährte groß und schön war.

Hildegard Ertels Meinung war anders. Sie fand den tollpatschigen, struppigen Hund unmöglich. Mit Schrecken dachte Hildegard an die vielen Teppiche in ihrer Wohnung, auf denen dieses Tier seine Spuren hinterlassen würde.

Sherry hatte inzwischen seinen Teller geleert. Die Milchspritzer am Boden ringsum interessierten ihn nicht. Voll Tatendrang schaute er Thomas an.

»Komm, ich zeige dir mein Zimmer. Dort darf er doch schlafen?« Thomas bedachte seine Oma mit einem Blick, der selbst viel härtere Leute hätte erweichen können.

Also duldete Hildegard stillschweigend, daß Kind und Hund durch den Flur rannten. Seufzend machte sie sich daran, die Reste von Sherrys Mahlzeit aufzuwischen.

Der fremde Hund sah sich interessiert das Reich des kleinen Thomas an. Dann wandte er sich den übrigen

Räumen der Wohnung zu. Am besten schien ihm Hildegards Wohnzimmer zu gefallen. Dort sprang er mit einem Satz auf die zierliche Chippendalecouch und machte es sich bequem.

Hildegard, um ihr hübsches Möbelstück besorgt, versuchte Sherry zu vertreiben. Doch der Hund knurrte böse und entblößte warnend seine spitzen Zähne.

»Das kann ja heiter werden«, seufzte Frau Ertel und bat Thomas um Hilfe.

Den Jungen ließ Sherry zwar an sich heran, aber er dachte gar nicht daran, sich von ihm von der Couch ziehen zu lassen. Beharrlich rutschte er immer wieder auf seinen Platz zurück.

»Omi, lassen wir ihn doch. Er ist sicher müde.«

Die Ruhepause dauerte jedoch nicht lange. Danach erwachte Sherrys Tatendrang erneut. Mit Thomas tobte er durch die Wohnung, warf die Bodenvase um und fegte in seiner Ungeschicklichkeit einige Blumentöpfe vom Ständer.

Hildegard Ertel war einem Nervenzusammenbruch nahe.

»Sherry, pfui! Sherry, Platz!« schrie Thomas. Doch der Hund schien dieses als Aufforderung zu weiteren Spielen zu verstehen. Wie ein Wirbelwind fuhr er zwischen Hildegards zarte Gardinen und schüttelte sie kräftig.

Für die Frau, deren Stolz die gepflegte Wohnung war, bedeutete dieses einen Schock. Sie versuchte nun, den Missetäter festzuhalten, obwohl sie Angst vor ihm hatte.

Sherry war bedeutend schneller als Hildegard. Er sauste davon, daß die Teppiche wegrutschten und die Stehlampe umschlug.

Endlich gelang es, den übermütigen Sherry ins Bad zu sperren.

»Hier bleibt er die ganze Nacht«, bestimmte Hildegard und sah ihren Enkel dabei streng an.

Thomas nickte schuldbewußt. Mit hängenden Schultern betrachtete er die Zerstörung, die der Hund angerichtet hatte.

»Er hat es nicht böse gemeint, Oma«, verteidigte er den neuen Hausgenossen. »Sherry wollte nur spielen.«

»Ich hoffe, du siehst ein, daß wir ihn nicht behalten können.« Frau Ertel las die Tonscherben auf, und Thomas half ihr dabei.

»Und wenn sich niemand meldet?«

»Er muß ja jemandem gehören.« Hildegard sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel.

»Vielleicht sind seine Leute verunglückt, wie mein Vati und meine Mutti«, vermutete Thomas, während er die beschädigten Pflanzen einsammelte. »Dann ist er ein Waise, wie ich. Und dann müssen wir ihn behalten. Da kann doch auch der Vermieter nichts machen.«

*

Thomas beschäftigte sich in den nächsten Tagen noch oft mit diesen Gedanken. Immer wieder entzündete sich seine Phantasie an Sherrys Schicksal.

Innig hoffte er, daß sich auf die Anzeige, die schon am nächsten Tag in der Zeitung erschien, niemand melden würde.

Es paßte dem Jungen überhaupt nicht, daß er an diesem Vormittag zur Schule gehen mußte. Während der Unterrichtsstunden dachte er unentwegt an Sherry und drückte heimlich den Daumen seiner linken Hand. Von dieser Geste versprach er sich die Erfüllung seines Wunsches.

An diesem Tag verließ Thomas als erster das Schulhaus. Er rannte so schnell wie noch nie nach Hause.

»Hat sich jemand gemeldet?« fragte er statt einer Begrüßung.

Frau Ertel schüttelte traurig den Kopf. Sie hatte Sherry eine Decke ins Bad gelegt und sich von seinem kläglichen Jaulen nicht erweichen lassen.

»Dann hat es doch genützt!« rief Thomas erleichtert aus und sah sich den geröteten Daumen seiner linken Hand an. »Omi, ich bin ja so froh!« Spontan fiel er Hildegard um den Hals.

»Darf ich jetzt mit Sherry nach unten gehen?«

»Wir wollten essen.«

»Nur zehn Minuten. Bitte, bitte…« Thomas hüpfte ungeduldig von einem Bein aufs andere.

Sherry hatte die Stimme seines Beschützers sofort erkannt. Er jaulte jetzt lauter und kratzte an der Tür.

Auch den Rest des Tages und den nächsten Vormittag wartete Hildegard Ertel auf das Klingeln des Telefons. Nichts geschah. Niemand meldete sich, um Sherry abzuholen. Die Nacht hatte der Hund dazu benützt, Badetücher, Handtücher und Hildegards Hausmantel fein säuberlich in Streifen zu reißen.

»Jetzt müssen wir Sherry behalten!« jubelte Thomas, als er vom Mißerfolg der Anzeigenaktion erfuhr. Er tanzte vor Freude durch den Flur.

Hildegard zerstörte die Zuversicht ihres Enkels nicht gern, aber es mußte sein. »Wir werden den Hund ins Tierheim bringen«, erklärte sie sehr bestimmt.

Thomas hielt in der Bewegung inne. »Ins Tierheim?« wiederholte er verständnislos.

»Ich habe mich bereits erkundigt. Wir können Sherry noch heute hinbringen.«

»Nein!« Thomas schüttelte wie wild den Kopf. »Omi, das darfst du nicht tun. Im Tierheim hat es Sherry nicht gut. Dort wird er in einen Stall gesperrt und bekommt nicht genug Futter. Dort haben die Tiere Ungeziefer und sind schmutzig. Und wenn keiner sie abholt, erschießt man sie. Sherry darf nicht erschossen werden.«

»Keine Sorge. Wir bringen Sherry in ein Tierheim, in dem er es mit Sicherheit gut hat. Du kannst dich selbst davon überzeugen. Es ist das Tierheim Waldi & Co., das am Rand von Bachenau liegt. Es gehört dem jungen Tierarztehepaar Dr. Hans-Joachim und Andrea von Lehn. Beide lieben Tiere sehr und bringen große Opfer für ihre Schützlinge. Bei ihnen fühlt sich Sherry bestimmt viel wohler als bei uns. Denn dort hat er Auslauf und kann nach Herzenslust mit den anderen Hunden spielen. Frau von Lehn hat mir am Telefon erzählt, daß das Tierheim nach dem Dackel Waldi benannt ist. Man hat nicht nur Hunde und Katzen dort, sondern auch Schimpansen, einen Esel und ein Pferd. Ein ausgebildeter Tierpfleger sorgt für Sauberkeit und Futter.«

Thomas hatte aufmerksam zugehört. So gut sich Hildegards Bericht auch anhörte, sein Gesicht blieb traurig.

»Ich möchte Sherry trotzdem lieber behalten«, bettelte er.

»Es geht nicht.« Hildegard Ertel blieb hart. Die Hausbewohner hatten sich bereits beschwert, weil der Hund so oft jaulte. »Wir fahren nach dem Mittagessen hin.«

An diesem Tag hatte Thomas überhaupt keinen Appetit. Er saß mit gesenktem Kopf vor seinem Teller und ließ schmollend die Unterlippen hängen.

Hildegard sah es mit Trauer und Wehmut. Sie konnte den Wunsch ihres Enkels nicht erfüllen, denn der fremde Hund war für eine kleine Mietwohnung einfach zu groß.

Später saß Thomas neben seinem vierbeinigen Freund auf dem Rücksitz von Hildegards Wagen. Er streichelte Sherry, wobei ihm Tränen übers Gesicht liefen.

Der Hund schien ausgesprochen gern im Auto zu fahren. Er thronte würdevoll auf dem Rücksitz und beobachtete interessiert die Landschaft.

Es war nur eine kurze Fahrt, dann stoppte Hildegard ihren Wagen vor einem hübschen Anwesen, das selbst auf Thomas einen guten Eindruck zu machen schien, denn er kletterte aus dem Auto und schaute sich neugierig um.

Andrea von Lehn begrüßte Hildegard Ertel und hatte auch für Thomas ein paar gewinnende Worte. Sie war Denise von Schoeneckers Stieftochter und hatte eine enge Bindung an Sophienlust. Deshalb verstand sie sich mit Kindern ausgezeichnet.

Obwohl Thomas voller Widerwillen und Abneigung hierhergekommen war, faßte er zu der jungen Frau des Tierarztes sofort Vertrauen.

»Ist das ein schöner Hund«, lobte Andrea und streichelte Sherry, der die neue Umgebung neugierig beschnupperte.

Mit dieser Aussage gewann Andrea im Sturm das Herz des Jungen. Dankbar schaute er sie an. »Er ist nicht nur schön, sondern auch klug«, verriet er stolz. »Ich möchte ihn so gern behalten. Aber…« Thomas sah unsicher auf seine Oma.

»Es ist gegen die Hausordnung«, erklärte Hildegard Ertel.

»Hier ist Sherrys Box.« Andrea von Lehn, die ihre Gäste durchs Tierheim führte, blieb stehen.

»Oh, so groß und so sauber«, staunte Thomas. »Das wird Sherry gefallen.«

»Tagsüber sind unsere Hunde im Auslauf. Sie werden nur eingesperrt, wenn sie sich nicht vertragen.« Andrea zeigte dem Jungen das umzäunte Gelände. Hunde verschiedener Rassen tummelten sich darin. Unumstrittener Chef schien der Dackel Waldi zu sein.

»Wenn du magst, kannst du jeden Tag nach der Schule hierherkommen, um nach Sherry zu sehen«, schlug die junge Frau vor, die ermessen konnte, wie schwer dem Jungen der Abschied fiel.

»Darf ich ihn dann auch füttern und mit ihm spazierengehen?« erkundigte sich Thomas hoffnungsvoll.

»Natürlich. Von Maibach aus geht ein Bus, der ganz in der Nähe hält.«

»Das ist klasse. Ich komme gleich morgen. Darf ich?« Thomas sah Hildegard an, die nur zustimmend nicken konnte.

»Bist du jetzt beruhigt?« erkundigte sich Hildegard auf der Rückfahrt. Im Spiegel beobachtete sie, daß Thomas immer wieder zum Tierheim zurückschaute. Er hatte sich von Sherry kaum trennen können.

»Wenn es nur nicht so lange wäre bis morgen«, seufzte Thomas.

*

Am nächsten Abend war Thomas wie ausgewechselt. Mit strahlenden Augen kam er nach Hause.

»Omi, ich habe einen Riesenhunger«, verkündete er schon an der Tür.

Hildegard lächelte erfreut. Sollte Thomas nun doch den Schock überwinden und wieder ein fröhlicher Junge werden? Nichts wünschte sie sich mehr als das. Sie wollte jedes Opfer bringen, damit Thomas eine unbeschwerte Kindheit hatte.

»Dann geh’ einmal rasch die Hände waschen. Ich habe schon den Tisch gedeckt.« Frau Hildegard hatte den Nachmittag benutzt, um die Spuren von Sherrys Zerstörungswut zu beseitigen. Die kleine Wohnung strahlte wieder in altem Glanz.

»Hände waschen brauche ich nicht«, erklärte Thomas.

»Aber du hast doch all die Tiere gestreichelt.« Frau Hildegard war um die Hygiene besorgt.

»Na und? Die anderen waschen sich bestimmt auch nicht die Hände.« Thomas schob trotzig die Unterlippe vor.

»Welche anderen?« Frau Ertel, die eben den Salat würzte, sah ihren Enkel prüfend an.

»Die Kinder von Sophienlust. Ich habe sie im Tierheim kennengelernt. Sie sind dufte. Ein großer Junge heißt Nick. Er ist Frau von Lehns Stiefbruder und ein richtig guter Kumpel. Sherry findet er Spitze.« Thomas reckte sich stolz. Jedes Lob, das der Hund bekam, bezog er auf sich.

»Sophienlust«, wiederholte Frau Hildegard und erinnerte sich an alles, was sie über dieses private Kinderheim, das sich in der Nähe von Maibach befand, bereits gehört hatte. Es waren lauter positive Dinge. »Du glaubst doch nicht wirklich, daß sich die Kinder dort nicht waschen müssen?«

»Auf jeden Fall dürfen sie sich schmutzig machen. Und Tiere dürfen sie auch haben.« Thomas sah seine Oma vorwurfsvoll an. Es war ein Blick, der Frau Hildegard schmerzte. Sie brachte manches Opfer für ihren Enkel und hätte eigentlich erwartet, daß er sich etwas dankbarer zeigte. Doch mit zehn Jahren war ein Kind sicher noch zu unerfahren, um ermessen zu können, was es für eine alternde Frau bedeutete, auf einen ruhigen Lebensabend zu verzichten.

»Deshalb sind sie auch alle gern in Sophienlust. Sie haben mich eingeladen. Ich darf sie einmal besuchen und darf sogar Sherry mitbringen. Das ist doch stark, nicht wahr?« Thomas, der nicht die Absicht hatte, der Aufforderung seiner Oma zum Händewaschen nachzukommen, verstand es ausgezeichnet, vom Thema abzulenken.

»Hm«, meinte Hildegard Ertel resignierend. Manchmal hatte sie einfach nicht mehr die Kraft, sich gegen den Enkel durchzusetzen. Thomas hatte die besseren Nerven, hatte mehr Ausdauer und Energie. Hildegard hatte ein arbeitsreiches Leben hinter sich. Sie sehnte sich nach Ruhe und Frieden. Deshalb wiederholte sie ihre Bitte auch nicht, denn sie wußte, es würde nur Schwierigkeiten geben.

Thomas ging also mit ungewaschenen Händen zu Tisch. Er erzählte lebhaft vom Tierheim Waldi & Co. und von seinen neuen Freunden, den Kindern von Sophienlust. Dabei leuchteten seine Augen voller Begeisterung.