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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Die Spur führt zu Frederik E-Book 2: Kleines Herz in großer Not E-Book 3: Michi, das Wunderkind E-Book 4: Vorbei sind die einsamen Tage E-Book 5: Ich gehöre zu Tante Line E-Book 6: Als Baby adoptiert E-Book 7: Erfüllung einer Sehnsucht E-Book 8: Warum lasst ihr mich allein? E-Book 9: Geliebte Esther E-Book 10: Wundersame Heimkehr
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Seitenzahl: 1430
Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Spur führt zu Frederik
Kleines Herz in großer Not
Michi, das Wunderkind
Vorbei sind die einsamen Tage
Ich gehöre zu Tante Line
Als Baby adoptiert
Erfüllung einer Sehnsucht
Warum lasst ihr mich allein?
Geliebte Esther
Wundersame Heimkehr
Der Konzertsaal war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das Züricher Publikum hatte sich aus doppeltem Anlaß um die teuren Karten gerissen. Zum einen, weil die weltbekannte Pianistin Renata Orsoni spielte. Das war an und für sich schon ein Ereignis, das musikbegeisterte Menschen magisch anlockte. Doch die festliche Veranstaltung sollte auch einem wohltätigen Zweck dienen. Die Bürger der Stadt und des gesamten Kantons waren aufgerufen, sich durch den Kauf einer Karte am Neubau eines Kinderheims zu beteiligen.
Begleitet vom großen Orchester, spielte Renata Orsoni nun als letztes Stück Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur. Gebannt lauschten die Menschen, bis der letzte Akkord verhallte. Dann setzte jubelnder Beifall ein. Blumen wurden der begnadeten Künstlerin überreicht, Bravorufe ertönten. Renata Orsoni mußte schließlich den letzten Satz wiederholen, als Zugabe und Dank an ihr Publikum.
Ein Abgesandter der Stadtverwaltung bat schließlich um Ruhe. Er teilte mit, daß der Reinerlös dieses unvergeßlichen Abends den zehn Kindern in der Villa der Mama Elisa zugute kommen solle. Schon am nächsten Morgen wollte Renata Orsoni dem Haus im Gebirge einen Besuch abstatten, um sich persönlich davon zu überzeugen, daß ein Neubau dringend nötig sei. Dieser werde dann bis zu fünfzig Kindern als neue Heimstatt dienen.
Der Sprecher der Stadt forderte die Gäste auf, weiterhin durch Spenden zu dem guten Werk beizutragen und auch im Bekanntenkreis dafür zu werben. Renata Orsoni stand schön und lächelnd neben ihm. Sie hatte gern auf ihr Honorar verzichtet.
Im Künstlerzimmer wartete wie gewohnt Tim Fernow auf sie. Er sah äußerst zufrieden aus, zupfte eine Rose aus einem der Gebinde und überreichte sie Renata mit einer theatralischen Verbeugung.
»Glorios«, erklärte er aufatmend, »du hast mal wieder wie eine Göttin gespielt. Die Leute können sich nicht beklagen. Sie haben zwar sträflich viel bezahlen müssen für ihre Plätze, aber du hast ihnen dafür einen herrlichen Genuß geboten.«
Die Künstlerin lachte. »Es hat mir Spaß gemacht, Tim. Weiter nichts. Es ist irgendwie befreiend, einmal nicht für Geld zu spielen.«
Tim Fernow, der bewährte Manager, rieb sich die Hände.
»Ein einträgliches Geschäft ist es trotzdem, Renata. Dieses Wohltätigkeitskonzert bedeutet für dich eine wirksame Reklame. Zuerst war ich dagegen, als du damit ankamst. Jetzt gebe ich dir recht. Es war eine hervorragende Idee.«
»Mir ist der Werbeeffekt gleichgültig, Tim.Ich wollte wirklich etwas für die armen Kinder tun. Du warst nicht dort in dieser halbverfallenen Villa der Mama Elisa. Die Bambini darin sind höchst armselig gekleidet, und zum Dach regnet es herein. Du wirst es morgen bei der offiziellen Besichtigung selbst erleben. Weißt du, ich war früher selber nicht auf Rosen gebettet. Deshalb mußte ich einfach etwas für die Kinder tun.«
Der Manager runzelte die Stirn. »Manchmal bist du ganz schön sentimental, Renata. Glücklicherweise gehen solche Launen bei dir schnell wieder vorüber.«
»Das ist mehr als eine Laune, Tim«, verteidigte sich Renata.
*
Mama Elisa war eine mildtätige alte Dame gewesen. Sie hatte eine Villa im Gebirge unweit von Zürich bewohnt und irgendwann damit begonnen, Waisenkinder aufzunehmen, die sonst kein Mensch haben wollte. Sie selbst soll aus einem adeligen Geschlecht gestammt haben und sogar mit einem europäischen Fürstenhaus verwandt gewesen sein. Doch das hatte ihr wenig oder gar nichts bedeutet. Sie hatte sich grundsätzlich um nichts und niemanden gekümmert, sondern nach ihren eigenen ungeschriebenen Grundsätzen gelebt. Mildtätigkeit und Hilfsbereitschaft hatten ganz oben auf ihrer Liste gestanden.
So waren nach und nach immer wieder Kinder bei ihr untergeschlüpft, waren Findelkinder vor ihre Tür gelegt worden. Sie hatte sie alle behalten. Ohne auf ihre finanziellen Möglichkeiten Rücksicht zu nehmen, hatte sie für ihre Schützlinge gesorgt, bis das Geld immer knapper geworden war. Trotzdem hatte sie weitergemacht, eigenhändig im Park Gemüse angebaut, eine Kuh gehalten, um genügend Milch zu bekommen. Es war weitergegangen, wenn auch mühevoll.
Eines Tages war sie gestorben, still und unauffällig, wie sie gelebt hatte. Nun blieb der öffentlichen Verwaltung nichts anderes übrig, als dieses private kleine Refugium für verlassene oder vergessene Kinder in ihre Obhut zu nehmen. So war man auf die Idee gekommen, an die Hilfe der Bürger zu appellieren.
Renata Orsoni hatte sogleich zugestimmt, als sie gebeten worden war, ein Konzert zu geben. Jetzt, beim festlichen Diner mit den Prominenten der Stadt, wurde ihr selbstloser Einsatz nochmals lobend hervorgehoben.
Renata winkte ab. »Ich freue mich, daß ich helfen kann«, erklärte sie. »Zu danken braucht mir niemand. Morgen werde ich mir die zehn Kinder noch einmal genau anschauen und mich ein wenig nach ihren Schicksalen erkundigen.«
»Da schneiden Sie ein betrübliches Kapitel an, Madame«, erwiderte der Bürgermeister bedauernd. »Mama Elisa war eine außergewöhnliche Frau. Daran besteht kein Zweifel. Wir haben sie mit ihrer privaten Initiative stets gewähren lassen, weil sie ja ganz persönlich für die entstehenden Kosten aufkam. Leider haben wir uns auch um ihre Aktenführung und dergleichen nicht gekümmert. Nun stellt sich heraus, daß sie es damit sehr großzügig gehalten hat. Offenbar ging es ihr um das Humane. Dokumente, Daten, Namen und dergleichen erschienen ihr nicht wichtig. Die Kinder befanden sich bei ihr in den allerbesten Händen, aber wir werden nun bei einigen Buben und Mädchen Schwierigkeiten haben, Herkunft und Identität einwandfrei festzustellen.«
Renata war überrascht. »Das ist erstaunlich. Bei Findelkindern erscheint es erklärlich, aber von anderen Kindern sollten doch wenigsten die Namen bekannt sein.«
»Wir haben unter den zehn Buben und Mädchen vier, deren Herkunft vorläufig im Dunkeln liegt. Vielleicht lassen sich diese Schicksale nachträglich aufklären. Für den Augenblick ist es nicht wichtig. Wir haben eine Schwester in die Villa entsandt, die dafür sorgt, daß zunächst alles irgendwie weitergeht. Der Neubau soll auf demselben Gelände errichtet werden. Wir hoffen, daß etwa um Weihnachten herum das Haus so weit fertig sein wird, daß es die Kinder aufnehmen kann, dazu weitere vierzig Waisen aus überfüllten anderen Heimen.«
»Nun, den Grundstein haben wir gewissermaßen heute mit dem Konzert gelegt. Ich glaube, daß das, was Sie sich vorgenommen haben, Herr Bürgermeister, im Sinne der verstorbenen Dame ist«, sagte Renata höflich.
*
Am nächsten Vormittag holte der Bürgermeister Renata vom Hotel ab, um mit ihr im Wagen hinaus zu Mama Elisas Villa zu fahren.
»Das Fernsehen wird dort sein. Wir erhoffen uns davon weitere Spenden für das Heim«, sagte er unterwegs. »Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus?«
»Nein, nein – warum auch? Ohne ein bißchen Publicity kann man heutzutage nichts gewinnen. Ich kenne da sdurch meinen Beruf.«
Sie erreichten den verwilderten Park mit den unregelmäßig angelegten Gemüsebeeten. Die Villa wirkte immer noch stolz. Erst auf den zweiten Blick sah man, daß sie vom Verfall gezeichnet war.
Die Schwester hatte ihre zehn Schützlinge auf der brüchigen Steintreppe aufgestellt. Sie sangen ein einfaches Lied. Es war rührend, wenn auch nicht gerade melodisch. Die Leute vom Fernsehen bemühten sich eifrig, einige Szenen einzufangen.
Renata Orsoni mußte den Scheck insgesamt dreimal überreichen, ehe die wichtige Angelegenheit zufriedenstellend gefilmt war. Dann endlich hatte sie den offiziellen Teil hinter sich und durfte sich ungezwungen mit den Kindern unterhalten. Sie waren allesamt äußerst armselig gekleidet, doch munter, gesund und gar nicht schüchtern.
»So schnell konnten wir nicht für neue Sachen sorgen«, entschuldigte sich die Schwester. »Immerhin hatten die Kinder stets genug zu essen.«
Die Künstlerin setzte sich zwischen die Buben und Mädchen auf die Stufen. Ein Junge, der einen etwas schäbig gewordenen Fellhasen im Arm hielt, erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Wie heißt du?« erkundigte sie sich und strich über sein Haar.
»Frederik!« Große Augen, ein feines Knabengesicht. Renata war fasziniert.
»»Und – weiter?«
»Nur Frederik«, wiederholte das Kind. »Niemand weiß meinen zweiten Namen. Wenn ich zur Schule muß, kriege ich vielleicht einen.«
»So, wenn du zur Schule gehst...«
»Wir kennen seinen Namen tatsächlich nicht«, raunte die Schwester ihr zu.
»Das ist interessant. Ist Frederik schon lange hier?«
»Ich müßte nachsehen. Wir haben damit angefangen, eine ordentliche Kartei anzulegen und alles einzutragen, was wir über die Kinder herausfinden können.«
»Frederiks Karte möchte ich gern ansehen, wenn das erlaubt ist.«
»Warum nicht?«
Renata legte den Arm um die schmalen Schultern des Buben. Sie summte ihm eine einfache Melodie ins Ohr. »Kannst du das nachsingen?« fragte sie leise.
Klar setzte die Knabenstimme ein. Frederik sang völlig rein.
»Du hast Musik im Blut«, stellte Renata entzückt fest. »Gibt es in diesem verwunschenen Haus vielleicht ein Klavier?«
»Ja, aber es ist sicherlich nicht gestimmt.«
Renata ließ sich nicht abschrecken. Neugierig folgten ihr die Kinder und Erwachsenen.
Im früheren Festsaal des Hauses, in dem die Kinder jetzt ihre Mahlzeiten einnahmen, stand ein Flügel. Er war mit einer zerschlissenen Seidendecke bedeckt.
»Mama Elisa hat manchmal für uns gespielt – abends«, berichtete ein schwarzhaariges Mädchen von etwa acht Jahren verträumt. »Sie spielte sehr, sehr schön.«
Erwartungsvoll klappte Renata den Deckel hoch und schlug die Tasten an. Das Instrument erwies sich als tadellos gestimmt.
Die Künstlerin begann zu spielen. Sogleich setzten sich die Kinder auf den verschrammten Parkettboden, in dem sich vor Zeiten das Licht festlicher Kerzen gespiegelt haben mochte. Andächtig lauschten sie.
»Als ob unsere gute Mama Elisa wieder bei uns wäre«, seufzte Frederik auf, als Renata geendet hatte. »Aber vielleicht spielst du noch besser als sie.«
Renata zog den fremden Jungen an sich und küßte ihn. Sie war hingerissen von ihm, vor allem, weil er genau erkannte, daß sie eine gute Pianistin war. Das mußte ihm angeboren sein! Gelernt hatte er es gewiß nicht hier, in dieser seltsamen, weltfremden Umgebung.
Die Künstlerin ließ Süßigkeiten und Spielzeug aus dem Wagen bringen, ihr persönliches Geschenk für die Kinder. Dann wurde ein Rundgang durch das baufällige Gebäude unternommen. Einige dringende Reparaturen sollten erfolgen, damit die zehn Bewohner mit der Schwester nicht in Gefahr gerieten. Später würde nichts anderes übrigbleiben, als die Villa niederzureißen.
Im sogenannten Büro fand sich die neu angelegte Kartei.
»Sie wollten etwas über unseren Frederik hören, Madame«, erinnerte sich die Schwester. »Es stimmt, wir wissen nur sehr wenig über ihn. Er wurde vor vier Jahren von seiner Mutter hier bei Mama Elisa abgegeben. Wir fanden eine kleine Notiz von der Hand der alten Dame. Wahrscheinlich kamen Mutter und Sohn aus Schweden. Der Vorname scheint richtig zu sein. Offenbar nahm Mama Elisa an, der Junge werde wieder abgeholt. Aber das ist dann nicht geschehen, und Frederik blieb hier. Möglicherweise kannte Mama Elisa den vollen Namen des Jungen. Uns hilft das leider nicht weiter.«
»Er ist musikalisch begabt, wie es scheint«, gab Renata zurück. »Wird man ihn entsprechend ausbilden?«
»Das weiß ich nicht, Madame«, sagte die Schwester ein wenig ratlos. »Wir sind froh, wenn unsere Schützlinge ordentlich untergebracht sind und gute Schulen besuchen können. Das kostet viel Geld...«
Die Künstlerin blickte die Schwester vorwurfsvoll an. »Man darf ein Talent nicht verkümmern lassen!«
»In erster Linie muß ein Kind satt werden, Madame. Alles andere findet sich dann irgenwie.«
Renata senkte den Blick. »Sie haben wohl recht, Schwester! Ich bin als kleines Mädchen nicht einmal satt geworden und habe schließlich doch das Klavierspielen erlernt.«
»Sehen Sie – so meine ich das, Madame.«
Die Künstlerin hielt Frederiks fast unbeschriebene Karteikarte noch immer zwischen ihren schlanken Fingern. »Ich werde ihn mitnehmen«, rief sie leise aus. »Unter meiner Obhut kann er sich frei entwickeln.«
»So einfach geht das nicht, Ma-dame.«
Die anwesenden Journalisten waren hingerissen. Sie kamen nun zu einer rührenden Story. Das Fernsehteam baute die Kameras noch einmal auf, und der Bürgermeister versprach, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit Frederik von der großherzigen Künstlerin adoptiert werden könne. Welch eine glänzende Zukunft stand diesem Jungen, der von seiner Mutter verleugnet oder verstoßen worden war, dessen Namen niemand kannte, nun bevor!
Renata umarmte den Buben, herzte und küßte ihn leidenschaftlich. Auch ging sie nochmals mit ihm zum Flügel. Er mußte ein paar Kinderlieder singen,während sie ihn begleitete.
»Er singt am besten von uns«, äußerte ein anderer Junge neidlos. »Er findet auch jede Melodie auf dem Klavier. Mama Elisa hat ihm oft erlaubt, ein bißchen zu klimpern. Wir anderen durften das nicht.«
So hatte Renata also mit sicherem Instinkt das musikalische Talent unter den Kinder herausgefunden.
»Willst du mit mir kommen?« fragte sie zärtlich. »Es wird wunderschön werden. Du sollst richtig spielen lernen auf dem Klavier, damit es so klingt wie bei Mama Elisa oder bei mir.«
Frederik schaute sie etwas unsicher an und preßte seinen Fellhasen fester an sich. Er schien keine Antwort zu finden.
Renata schlug erneut ein paar Takte auf dem Klavier an. »Du machst doch gern Musik?« lockte sie ihn.
Da nickte er stumm.
Die Story hatte für die Presse das erwünschte Happy-End gefunden.
*
Renata Orsoni ließ Tim Fernows Vorwürfe ungerührt über sich ergehen, als sie am späten Nachmittag ins Hotel zurückkehrte.
»Du bist wirklich von allen guten Geistern verlassen«, schalt der Manager. »Was willst du mit dem Bengel bitte anfangen? Er ist uns nur im Wege, und nach ein paar Tagen wirst du feststellen, daß es mal wieder nichts als eine Laune von dir war. Aber dann ist es zu spät, denn ein Kind kann man nicht per Post zurückschicken. Ruf lieber gleich an und versprich dem Heim einen Geldbetrag für die Ausbildung deines kleinen Stars. Das reicht doch! Du solltest im Konzert spielen, einen Scheck überbringen und nebenbei natürlich für dich selbst werben. Von der Adoption eines Waisenkindes war nicht die Rede.«
»Es kam für mich genauso überraschend wie für dich, Tim. Ich halte Frederik für sehr begabt. Es wäre gewissenlos, ihn weiter im Heim aufwachsen zu lassen. Niemals würde er dort Klavierunterricht erhalten! Für mich ist Wohltätigkeit nicht allein eine Sache des Geldes.«
»Wie stellst du dir das praktsich vor?«
»Ganz einfach – wir nehmen Frederik erst einmal mit. Morgen fahren wir mit ihm in die Stadt und kleiden ihn anständig ein. Er sieht richtig zerlumpt aus und hat völlig zerrissene Schuhe an. Du wirst mich bestimmt nicht daran hindern, diesen entzückenden Jungen in jeder Hinsicht zu fördern.«
Tim Fernow schlug die Augen zum Himmel empor. »Warten wir es ab, Renata. Ich jedenfalls wasche dann meine Hände in Unschuld. Du hast es gewollt – ich nicht.«
Renata küßte ihn übermütig auf die Wange. »Es kann nicht immer nur nach deinem Kopf gehen, Tim. Schließlich wärst du ziemlich ratlos ohne mich!«
Er sah sie aus schmal gewordenen Augen an. »Du spielst gut«, erwiderte er leise. »Aber ich bin es, der dich bekannt und berühmt gemacht hat. Das solltest du nicht vergessen.«
»Zugegeben, du verstehst dein Geschäft wie kaum ein anderer. Aber du brauchst eine erstklassige Künstlerin wie mich – sonst nützt dir deine Cleverneß nichts.«
Tim Fernow ergab sich in sein Schicksal. »Deine Launen muß ich leider ertragen, Renata. Im allgemeinen amüsieren sie mich sogar bis zu einem gewissen Grade. Wie wir den unglückseligen Jungen später loswerden, wird mit Sicherheit meine Sorge sein. Das finde ich nicht so schrecklich lustig.«
»Ich behalte ihn. Er soll selbstverständlich meinen Namen tragen. Ich nehme diese Aufgabe ernst. Du wirst sehen, daß du dich diesmal gewaltig irrst.«
Der Manager ging auf ein anderes Thema über.
*
Am nächsten Vormittag hatte der Bürgermeister mit Hilfe der zuständigen Behörden das kleine Wunder fertiggebracht: Renata mußte ein Dokument unterzeichnen und durfte Frederik als Pflegesohn mitnehmen. Ihr Antrag auf Adoption wurde hinterlegt. Nach Ablauf der gesetzlichen Frist wollte sie den Jungen an Kindes Statt annehmen und ihn in sämtliche darauf entstehende Rechte einsetzen. Feierlich versprach sie, alles in ihrer Macht Stehende für Frederik zu tun.
Der Bub sträubte sich nicht, zeigte aber auch keinerlei Freude oder gar Begeisterung über den jähen Wandel in seinem Leben. Er drückte seinen Fellhasen an sich und stieg in die große schwarze Limousine, mit der Renata ihn abholte.
In den elegantesten Geschäften Zürichs kleidete die Künstlerin den hübschen Jungen von Kopf bis Fuß neu ein. Er durfte sich einiges selbst auswählen, doch sorgte Renata dafür, daß die Garderobe des Kleinen dekorativ und modisch ausfiel – nicht unbedingt praktisch für einen lebhaften Jungen, der bisher in zerfransten Baumwollhosen und Turnschuhen herumgelaufen war. Trotzdem gab jedermann zu, daß Frederik reizend aussah.
Natürlich fuhr Renata mit ihm auch zu einer Konditorei und stopfte ihn voll Gebäck und Eis. Frederik sagte höflich danke und aß nicht besonders viel. Im Hotel bettelte er, Renata möge ihm etwas vorspielen. Da es im Hause einen Flügel gab, konnte sie ihm diesen Wunsch erfüllen.
Wieder hörte der Junge ihr andächtig zu. Sobald sie aufstehen wollte, forderte er sie auf, wenigstens noch ein einziges Stück für ihn zu spielen Anschließend tippte er mit einem Finger ein einfaches Kinderlied sicher und richtig an. Renata trat hinzu und spielte die Begleitung. Es klang wirklich recht hübsch.
»Gut, Frederik«, lobte sie ihn.
»Aber ich muß es besser lernen«, widersprach er ihr ernst.
»Ich werde es dir zeigen, Frederik. Gib acht, eines Tages spielen wir zusammen! Willst du mich Mama Renata nennen? Das klingt so ähnlich wie Mama Elisa, nicht wahr?«
»Mama Renata – wenn du es so haben möchtest...«
Er war so ziemlich mit allem, was sie tat oder vorschlug, auf seine stille, zurückhaltende Weise einverstanden. Sie zeigte ihm ein paar einfache Übungen für die rechte und die linke Hand auf dem Klavier. Er begann sogleich mit erstaunlichem Geschick zu üben.
Renata war fest davon überzeugt, einen kleinen Star entdeckt zu haben. Gegen Abend aber stellten sich die ersten ernsthaften Probleme ein. Zwar war durch den umsichtigen Tim Fernow ein Einzelzimmer auf derselben Etage des Hotels gebucht worden, doch weigerte sich Frederik entschieden, allein darin zu schlafen.
»Wir waren immer zwei oder drei Kinder zusammen«, erklärte er. »Ich habe Angst, wenn niemand bei mir schläft.«
»Siehst du«, sagte Tim schadenfroh. »Jetzt wirst du deinem Namen als Mama Ehre machen und das Bübchen mit in dein Schlafzimmer nehmen. Immerhin stehen dort zwei Betten. Es macht also nicht die geringsten Umstände.«
Renata sah ihn entgeistert an. »Das ist völlig ausgeschlossen«, antwortete sie. »Du weißt, daß ich nie vor Mitternacht oder ein Uhr zu Bett gehe. Morgens schlafe ich dafür bis neun oder zehn. Für ein Kind wäre dieser Rhythmus unerträglich und auch schädlich. Kannst du ihn nicht zu dir nehmen?«
»Tut mir leid, Renata. So haben wir nicht gewettet. Ich war dagegen, daß du Frederik zu dir nimmst. Jetzt kannst du selbst für ihn sorgen. Ich bin dein Manager, so lautet unser Vertrag. Von Kindermädchen steht meines Wissens kein Wort darin.«
»Dann wird Ina ihn zu sich ins Zimmer nehmen müssen«, entschied Renata gelassen.
Ina war Renatas Sekretärin. Sie mußte sich um die Korrespondenz, die Flugtickets, das Gepäck, das Telefon und alles andere kümmern. Ina war dreißig Jahre alt, schlank, elegant und unentbehrlich. Sie bezog ein hohes Gehalt, machte niemals auch nur den geringsten Fehler und hatte bisher noch jedes Problem mit dem kleinen Finger gelöst.
Ina war bereit gewesen, Frederik beim Auskleiden zu beaufsichtigen und ihn in die Badewanne zu stecken. Doch als sie erfuhr, daß der Junge mit ihr das Zimmer teilen sollte, rümpfte sie die Nase.
»Ich mag Frederik«, sagte sie achselzuckend. »Aber da ich manchmal auch so etwas wie ein Privatleben führe, stört er mich im Zimmer.«
Renata überging die Bemerkung taktvoll. Sie wußte, daß die attraktive Ina gelegentlich einen Freund empfing. Wer dieser Mann war, entzog sich ihrer Kenntnis. Jedenfalls reiste er Ina oft nach. Nun ja – sie konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Frederik mußte schließlich versorgt werden.
»Sie sind doch so erfinderisch, Ina. Da fällt Ihnen schon etwas ein. Frederik darf nicht gleich in der ersten Nacht unglücklich sein. Seien Sie nett zu ihm, Ina. Er hat sonst niemanden auf der Welt.«
»Sie wollen ihn adoptieren, Frau Orsoni«, wehrte sich Ina matt. »Ich habe nicht die Absicht, es zu tun. Aber irgendwie werde ich schon mit ihm zurechtkommen.«
So hielt Frederik also in Inas Zimmer Einzug. Er war damit zufrieden, daß sie ihm versprach, später zu kommen. Das zweite aufgeschlagene Bett mit dem hübschen Nachthemd der Sekretärin wirkte beruhigend auf ihn. Er fühlt sich nicht mehr allein, betete artig und schlief nach all den Aufregungen des Tages sogleich ein.
»Wie stellst du dir das weiter vor, Goldkind?« wollte Tim beim Abendessen wissen. »Wir reisen übermorgen nach Rom, wenn ich dich in aller Bescheidenheit daran erinnern darf.«
»Ich weiß es, Tim.« Renata ließ sich die Langusten schmecken und tat, als verstehe sie nicht, was er meinte.
»Wo willst du Frederik lassen? Das Konzert in Rom ist wahnsinnig wichtig.«
»Frederik wird mich dabei kaum stören, Tim. Selbstverständlich nehme ich ihn mit.«
»Vielen Dank, daß ich das jetzt schon erfahre«, sagte er sarkastisch. »Man braucht sogar für einen dünnen kleinen Jungen im Flugzeug einen Platz. Solche Unwichtigkeiten spielen natürlich für dich keine Rolle. Ina wird nichts anderes übrigbleiben, als sich intensiv darum zu kümmern.«
»Ich dachte, so schlau wärt ihr zwei von allein.«
Tim nickte ihr zu. »Na ja, ich gebe zu, daß Ina für den schrecklichen Bengel schon gebucht hat. Auch erhielt sie vom Hotel eine Zusage für ein Doppelzimmer für sich und Frederik. Allerdings wird auch ihr Freund in Rom sein. Das erwähnte sie nebenbei. Irgendwie machst du der armen Ina das Leben ziemlich schwer.«
»Sie ist im Dienst, solange wir auf Tournee sind. Verlange ich denn zuviel von ihr? Frederik ist ein liebes Kerlchen. Er stört sie nachts überhaupt nicht.«
»Woher willst du das so haargenau wissen?«
»Er ist sofort eingeschlafen.«
»Dann hättest du ihn ebensogut in dein Zimmer nehmen können.«
»Das ist wohl doch ein Unterschied. Aber streiten wir uns nicht, denn die Angelegenheit ist längst erledigt. Ina kann sich mit ihrem Verehrer auch woanders treffen. Rom soll eine recht große Stadt sein, wie ich hörte.«
»Hm, ich glaube, sie legt Wert auf ein bißchen privates Glück für die Nacht! Entschuldige, wenn ich so deutlich werde. Du kannst sie nicht völlig beschlag-nahmen. Vielleicht läßt sich der Bengel überreden und schläft allein.«
»Zunächst geht das nicht, Tim. Ich trage die Verantwortung für Frederik. Deshalb erwarte ich von Ina und dir ein gewisses Maß an Kooperation.«
Tim füllte sein Glas neu. »Wenn wir nicht so viel zu tun hätten, würde ich mich betrinken und morgen den ganzen Tag schlafen«, seufzte er aus Herzensgrund. »Da ich mir das nicht leisten kann, finde ich mich damit ab. Du hast wieder einmal deinen hübschen Kopf durchgesetzt. Wie du das schaffst, bleibt mir ein Rätsel. Übrigens sind die Zeitungsberichte über Mama Elisas Villa und dich großartig. Mir sind beinahe die Tränen gekommen, als ich die verschiedenen Storys las. Auch rührende Fotos gibt es. Aber du brauchst Publicity. Du willst doch deinen zukünftigen Adoptivsohn standesgemäß erziehen. Das kostet ein Vermögen, und das will verdient sein.«
»Ach, du bist manchmal gräßlich materialistisch, Tim.«
»Dazu bin ich laut Vertrag verpflichtet, Renata. Wenn es nach dir ginge, hättest du niemals Geld in der Tasche. Du würdest dich zu billig verkaufen und das Erworbene obendrein sogleich unters Volk streuen.«
»Ich verschenke gern Geld oder sonst etwas«, antwortete sie ganz ernst. »Eigentlich möchte ich mich gar nicht verkaufen. Das klingt wie Sklaverei. Ich spiele Klavier, um die Menschen zu erfreuen. So schaut es wenigstens für mich aus.«
»Ein bißchen sentimental und romantisch, Goldkind! Damit kommt man in der heutigen rauhen Welt nicht weit. Solange du mir die finanziellen Dinge überläßt, darfst du davon träumen, deine Kunst zu verschenken. Versprich mir bitte, daß du keine weiteren armen Waisenkinder adoptieren wirst! Sonst ziehen wir in einiger Zeit als Karawane durch die Lande, sobald du auf Tournee gehst.«
»Kannst du eigentlich nie richtig ernst sein? Ich fürchte, du machst dich über mich lustig und nimmst mich nicht für voll.«
»Als smarte Geschäftsfrau wurdest du nicht geboren, Renata. Das ist bei den meisten großen Künstlern so. Deshalb brauchen sie jemanden, der ständig auf sie aufpaßt. In einer Dachkammer verhungern möchtest du doch auch nicht – oder?«
»Es stimmt schon – du verspottest mich. Trotzdem kommt Frederik mit. In meiner Freizeit werde ich ihm Klavierunterricht geben. Er kann fleißig üben. Da man mir im Hotel stets einen Flügel bereitstellt, entstehen nicht die geringsten Schwierigkeiten.«
»Nein, fast gar keine! Wir reisen also jetzt mit Ina, meiner Wenigkeit, Frederik, ungezählten Koffern, Noten, Akten und natürlich auch noch mit Spielzeug für den lieben kleinen Jungen. Er kann nicht von früh bis spät bloß essen oder am Klavier klimpern.«
»Du hast recht. Wir müssen Spielsachen kaufen und ein par hübsche Bilderbücher. Ina soll das in die Hand nehmen.«
Tim machte sich eine Notiz. Er trug seinen kleinen Block immer bei sich. »Das ergibt insgesamt zwei weitere Koffer und ein Kind«, kam es trocken und nüchtern über seine Lippen.
»Einen Koffer für Frederiks Kleidung habe ich heute vormittag schon gekauft. So unpraktisch bin ich gar nicht. Aber an Spielzeug habe ich tatsächlich nicht gedacht. Wie dumm von mir! Man sollte ihm auch einen neuen Plüschhasen schenken. Dieses abgeschabte alte Tierchen hat wirklich ausgedient.«
Tim notierte einen Plüschhasen.
Bevor Renata ihr Zimmer aufsuchte, klopfte sie bei Ina an. Diese erschien mit verschlafenem Gesicht an der Tür. »Was ist?« fragte sie müde.
»Alles in Ordnung, Ina?« fragte Renata munter. Sie selbst war abends nie müde.
Ina unterdrückte ein Gähnen. »Frederik schläft wie ein Murmeltier, Frau Orsoni. Das wollten Sie doch wohl wissen. Aber mich haben Sie leider geweckt. Diese Bemerkung konnte sich die sonst so fügsame Ina nun doch nicht verkneifen.
»Tut mir leid, Ina. Er ist süß, mein kleiner Junge, nicht wahr?«
Da mußte auch die eben noch grollende Sekretärin plötzlich lächeln. »Er ist wirklich ein Schatz«, räumte sie ein. »Ich habe ihn schon richtig lieb.«
Renata hob grüßend die Hand und ging in ihr eigenes Zimmer. Sie studierte noch zwei Stunden lang Noten, um am nächsten Tag entsprechend am Klavier üben zu können.
Es war zwei Uhr morgens, als Renata sich hinlegte. Im Einschlummern dachte sie an den fremden kleinen Jungen, der schon bald den Namen Orsoni tragen sollte. Sie dachte auch an ihre eigene armselige Kindheit in einem Südtiroler Gebirgsdorf. Das war nun schon unendlich lange her. Weder die Eltern noch ihre beiden Geschwister hatten damals das schwere Lawinenunglück überlebt. So war sie als einzige der Familie übriggeblieben und von mitleidigen Nachbarn mit deren Kindern aufgezogen worden. Oft hatte sie hungrig zu Bett gehen müssen, oft hatte sie Schläge bekommen. Damals hatte sie den Entschluß gefaßt, ihr Schicksal so bald wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen.
Durch eine freundliche Fügung hatte sie einmal einen Pianisten spielen hören. Von diesem Tag an hatte für das arme kleine Mädchen aus dem Gebirge festgestanden, daß es Klavierspielerin werden müsse. Unbeirrbar hatte es seinen Weg gesucht und gefunden. Nachdem ein Professor am Konservatorium in Mailand erst einmal auf das junge Talent aufmerksam geworden war, hatte Renata ein ausreichendes Stipendium erhalten und ihren leidenschaftlichen Wunsch verwirklichen können. Schon bald hatten sich die ersten Erfolge auf dem Konzertpodium eingestellt. Fast mühelos hatte sie sich an die Spitze gespielt und bereits als Anfängerin weltweiten Ruhm errungen.
Renata seufzte. Nein, leicht und glatt war dieser Weg nicht gewesen. Sie nahm sich vor, Frederik solche Kämpfe zu ersparen. Vielleicht konnte er bereits als Zehnjähriger Konzerte geben. Noch waren seine Hände klein, doch seine schlanken Finger deuteten an, daß er zum Pianisten geboren war.
*
Am Morgen stand Renata zeitiger auf als gewöhnlich, um mit Frederik zu frühstücken. Der Bub staunte über den reich gedeckten Tisch im Salon der Künstlerin. Er nahm nur Milch und brockte sich Brot hinein. So war es bei Mama Elisa gewesen. Vergeblich versuchte Renata ihm Honig, Konfitüre oder wenigstens Butter aufzunötigen. Der kleine Fellhase lag auf einem Stuhl. Frederik trennte sich grundsätzlich nicht von ihm. Deshalb war das Spieltier wohl auch gar so ramponiert.
»Du wirst dich daran gewöhnen, Frederik. Nur Brot und Milch ist zuwenig für dich. Heute wird Ina auch Spielsachen für dich kaufen, dazu einen neuen Hasen. Wenn du willst, darfst du ihn dir selber aussuchen – kuschelig, weich und neu!«
Erschrocken griff der Bub nach dem Häschen und preßte es ans Herz. »Ich mag keinen anderen Hasen als diesen. Den hatte ich nämlich schon immer – immer...«
Renata lachte. »Du liebst ihn also? Na, das verstehe ich eigentlich nicht. Mir würde ein funkelnagelneuer Hase besser gefallen. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich nehme ihn dir nicht weg, deinen Hasen.«
Frederik atmete erleichtert auf. »Ich dachte schon, daß alles von früher weg muß«, gestand er scheu.
»Nein, Junge, du sollst glücklich und zufrieden bei mir sein. Hat dieser armselige Hase einen Namen?«
Der Bub schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, er braucht keinen. Ich habe ihn immer mit.«
Renata zuckte die Achseln. Sie nahm einen kleinen Löffel voll Marmelade und hielt ihn Frederik hin. »Probier mal! Es schmeckt wirklich gut.«
Frederik kostete. Sein kleines Gesichtchen strahlte. »Es schmeckt wunderbar«, sagte er andächtig. Verwöhnt war der kleine Findeljunge also wirklich nicht.
Ina erschien, um Frederik für den geplanten Ausflug in die Stadt abzuholen. »Den Plüschhasen können Sie von der Liste streichen«, sagte Renata. »Frederik gibt den alten nämlich nicht her.«
»In Ordnung, Frau Orsoni. Aber der Koffer ist wichtig. Und wir müssen darauf achten, daß alles, was wir kaufen, auch hineinpaßt. Allmächlich wird es zuviel Gepäck!«
»Wegen so ein bißchen Spielkram«, meinte Renata nachlässig. »Lassen Sie Frederik die Freude, selbst auszuwählen. Und besorgen Sie mir ein Notenheft für den Anfangsunterricht auf dem Klavier. Ich möchte Frederik möglichst schnell weiterbringen. Er ist hochbegabt. Man darf dieses große Talent nicht brachliegen lassen.«
Ina lächelte höflich und nachsichtig. Sie und Tim Fernow waren sich darin einig, daß es sich auch bei dieser Aussage der Künstlerin um nichts als eine Marotte handelte. Was bedeutete es schon, wenn ein Kind einigermaßen richtig singen und ein paar Liedchen klimpern konnte?
Frederik wurde in eine seiner neuen Jacken gesteckt und ergriff artig Inas Hand. Auch jetzt nahm er seinen Hasen mit.
Indessen ging Renata ins Musikzimmer des Hotels, um bestimmte Teile des Klavierkonzerts von Tschaikowsky, das sie in Rom vortragen sollte, gründlich zu studieren.
Mittags erschien ein Konzertagent, der mit Renata Orsoni und ihrem Manager über zukünftige Verträge verhandeln wollte. Auch Ina sollte am gemeinsamen Essen teilnehmen, damit sie einiges notieren konnte. Frederik blieb also übrig. Was sollte man mit ihm beginnen?
Ein Hotelboy wurde abkommandiert. Zuerst mußte er mit Frederik essen und anschließend mit ihm im Garten spielen. Beide Buben genossen diesen Nachmittag, und der Geschäftsführer des Hotels setzte dafür einen ansehnlichen Betrag auf die Rechnung.
Tim Fernow ärgerte sich über diese überflüssige Ausgabe. Er machte Renata später deswegen Vorhaltungen. Aber diese lachte ihn nur aus.
»Ich verdiene das Geld und kann es verschwenden wie ich will, Tim.«
»Nimm bitte zur Kenntnis, daß ich mich an den Unkosten für deinen Prinzen nicht zu beteiligen gedenke!«
»Als ob ich das von dir erwartete, Tim! Allerdings darfst du später auch nicht für dich beanspruchen, Frederik entdeckt zu haben. Das ist mein Verdienst.«
»Keine Sorge, ich lasse dir den Ruhm. Es bleibt immerhin abzuwarten, wie sich dein Supertalent entwickeln wird.«
»Das kann ich besser beurteilen als du, Tim.«
Über Frederik waren sie sich nicht einig. Das ließ sich nicht ändern.
Schon jetzt überlegte Tim, wie er diesen reizenden kleinen Störenfried in absehbarer Zeit auf anständige Weise loswerden könnte. Allzu lange würde sich Renata diese Last nicht aufbürden. Er kannte sie.
*
Rom wurde ein großer Erfolg. Ina gelang es, sich nachts unbemerkt aus dem Hotelzimmer zu stehlen, nachdem Frederik eingeschlafen war. Da der Bub dem großen Konzert als Zuhörer beigewohnt hatte, war er restlos übermüdet. Ina durfte also sicher sein, daß er nicht erwachte und sie vermißte. Auf diese Weise kam sie sogar zu ihrer Begegnung mit dem Freund. Man arrangierte sich.
Auch die weiteren Stationen der Tournee waren erfreulich für Renata und ihren rührigen Manager. Nur ausverkaufte Säle, nur begeisterte Kritiken – besser konnte es nicht sein.
Der kleine Frederik übte fleißig auf Hotelflügeln und stellte sich verblüffend geschickt bei Renatas Unterrichtsstunden an.
»Wie der junge Mozart«, schwärmte die Künstlerin. »Ich glaube, er wird schon mit sieben oder acht Jahren öffentlich auftreten. Er ist unwahrscheinlich begabt. Woher er das wohl hat? Leider wird man das nie erfahren.«
Darüber hinaus aber erwies sich der Junge gelegentlich doch als störend. Nicht nur die geduldige Sekretärin fühlte sich durch die ständige Verantwortung für das Kind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt. Auch Renata seufzte hin und wieder heimlich, denn es fehlten Frederik gleichaltrige Freunde. Er suchte eigentlich immer nach jemandem, der Zeit hatte, sich mit ihm zu beschäftigen.
Daß der Junge zu kurz kam in der Unruhe der Tournee, bemerkte aber niemand so recht. Renata kaufte ihm Süßigkeiten, verwöhnte ihn mit Eis und Geschenken. Schon bald mußte ein zweiter Koffer gekauft werden, um die aufwendigen Spielsachen des Kindes darin zu transportieren. Frederik hatte schnell herausgefunden, daß Mama Renata ihm keinen Wunsch abschlug. Es war nur natürlich, daß er das ausnutzte, wo immer sich eine Gelegenheit ergab.
Leider wurde der so falsch Behandelte nicht etwas aufgeschlossener und fröhlicher, sondern zunehmend stiller und scheuer. Während der in Hektik eingeschobenen Klavierstunden machte er kaum noch Fortschritte und war beim Lernen unkonzentriert oder einfach nachlässig. Er wollte nicht üben, wenn man ihn allein ließ. Nach einer Weile sah es so aus, als sei er unmusikalisch und durchaus nicht begabt.
Daß der Junge nur restlos überfordert war, erkannte niemand. Ina redete ihm freundlich zu, wieder mehr zu üben. Sie erinnerte ihn an den Anfang des Unterrichts und ermunterte ihn, die zuerst erlernten Stücke zu wiederholen. Es zeigte sich jedoch, daß er selbst diese kleinen Tonfolgen nicht mehr fehlerfrei beherrschte.
»Siehst du«, triumphierte Tim Fernow, »das mußte so kommen, Goldkind. Jetzt sind wir bereits am Ende der großen Starlaufbahn dieses Bürschchens.«
»Unsinn, ich werde mich mehr um ihn kümmern. Daß er hochbegabt ist, lasse ich mir nicht ausreden. Wahrscheinlich paßt es ihm nicht, daß er nicht von früh bis spät im Mittelpunkt steht. Er war mmer so sanft und fügsam. Dadurch habe ich mich täuschen lassen und ihn falsch behandelt. Er muß allmählich erkennen, was für ein Glück es für ihn ist, daß ich ihn aus dem Waisenhaus geholt habe. Ich wünschte, mir wäre mit fünf Jahren solch eine Chance geboten worden.«
»Ist Frederik nicht viel zu klein, um das zu begreifen, Renata?« wandte Tim ein.
»Dann werde ich es ihm erklären, lieber Freund. So geht es nicht weiter.«
Renatas Entschlossenheit trug jedoch keine Früchte. Frederik blieb ihrer Strenge gegenüber unzugänglich. Seine kleinen Finger lagen steif und ungeschickt auf den Tasten.
»Du kannst doch nicht alles vergessen haben«, schalt Renata ungeduldig. »Warum willst du mich ärgern?«
»Ich habe Angst«, erwiderte Frederik leise.
»Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, dummer Bub. Ich gebe dir alles, was du willst. Als ich so alt war wie du, wurde ich oft hungrig ins Bett geschickt. Ein bißchen Dankbarkeit verlange ich von dir.«
Frederik senkte den Kopf und begann verstohlen zu weinen. Wie all seine Gefühlsäußerungen, war auch dieser Schmerz verhalten und leise.
Renata bemerkte nichts von seinen Tränen, sondern schlug die Noten auf.
»Jetzt spielst du mir dieses Stück von der vergangenen Woche vor«, forderte sie kategorisch. »Nein, warte, ich will dir erst vorführen, wie es klingen muß.«
Der Bub stand auf und trat beiseite. Renata rückte sich den Schemel zurecht und spielte ihm die einfache Tonfolge präzise und sicher vor. »Nun bist du an der Reihe. Schwer ist das nicht.«
Renata machte Frederik Platz. Der Bub wischte sich mit der Faust die Augen und begann zu spielen. Er stellte sich linkisch an, als habe er noch nie zuvor eine Taste angerührt. Nach zwei Takten hörte er auf und blickte Renata hilflos an.
Da riß der temperamentvollen Künstlerin die Geduld. Sie versetzte ihrem Schützling zwei wohlgezielte, kräftige Backpfeifen.
»So, noch einmal, Freundchen!« schrie sie ihn an. »Wenn es nicht klappt, kannst du eine regelrechte Tracht Prügel einkassieren. Bildest du dir ein, ich lasse mich von dir an der Nase herumführen? Du beherrscht das Stück tadellos. Du willst nur nicht!«
Frederik zitterte wie Espenlaub. Noch nie war er geschlagen worden. Mama Elisa hatte die ihr anvertrauten Kinder mit Güte und Verständnis zu leiten gewußt.
Deshalb erreichte Renata mit ihrer Roßkur rein gar nichts. Verkrampft und entsetzt saß Frederik wie gelähmt am Flügel. Er brachte es trotz ehrlichen Bemühens nicht fertig, auch nur einen Ton anzuschlagen. Schluchzend hob er die Arme über den Kopf, als Renata erneut ausholte, um ihm die Strafe zu verabreichen, die sie für gerecht hielt.
Renata ließ ihrer Wut freien Lauf und versohlte kunstgerecht Frederiks kleines Hinterteil, indem sie den Jungen übers Knie legte. So war sie selbst von ihrem Pflegevater oft genug behandelt worden. Also hielt sie diese Erziehungsmethode für gut und richtig. Nach getaner Arbeit stellte sie den Buben auf die Füße und wies auf die Klaviertasten. »Ich schließe dich jetzt für zwei Stunden hier ein, Frederik. Wenn ich wiederkomme, wirst du mir das Stück vorspielen, Freundchen, und zwar einwandfrei, wie du es letzte Woche getan hast. Ich verlange nichts Unmögliches von dir. Das mußt du zugeben.«
Eine Entgegnung des verstörten Kindes wartete sie nicht ab, sondern verließ das Musikzimmer, dessen Tür sie geräuschvoll hinter sich abschloß.
Danach kam Renata einiges dazwischen, so daß sie sich erst nach mehr als drei Stunden an den kleinen Gefangenen erinnerte. Erschrocken rief sie nach Isa.
»Ich habe Frederik total vergessen. Gehen Sie bitte hin und holen Sie ihn. Er sollte üben. Mir fehlt jetzt die Zeit. Bestehen Sie darauf, daß er Ihnen das Stück fehlerfrei vorspielt.«
Ina fand Renatas Verhalten barbarisch. Sie eilte zum Musikzimmer, fand es wirklich verschlossen und den Jungen am Flügel eingeschlafen. Behutsam tippte sie ihm auf die Schulter.
»Ich kann nicht spielen, Ina«, flüsterte Frederik angstvoll. »Mama Renata wird mich schlagen. Aber es geht einfach nicht.«
Die Sekretärin küßte ihn. »Laß nur, sie hat jetzt anderes zu tun. Ich hole dir etwas zu essen, und dann gehst du ins Bett. Morgen sieht alles besser aus.«
Frederik blieb still und in sich gekehrt. Er aß nichts, sondern trank nur ein Glas Milch. Anschließend ließ er sich widerspruchslos ins Bett bringen.
Sein verändertes Verhalten flößte der warmherzigen Ina Sorge ein. Sie setzte sich zu ihm, holte ein Märchenbuch aus dem Koffer und las ihm vor, bis er einschlief. Auch dann blieb sie bei ihm und legte sich zeitig neben ihm zur Ruhe. Genau wie Tim Fernow verurteilte sie Renata Orsonis Laune. Nie hätte diese den Jungen aus seiner vertrauten Umgebung entführen dürfen! Wie konnte sie sich nur einbilden, aus diesem Kind innerhalb kürzester Frist einen Star zu machen? Sie verlangte zuviel von ihm, und sie hatte ihn entwurzelt. Sie schleppte ihn von Stadt zu Stadt und zwang ihn, sich in jedem Hotel ans Klavier zu setzen. Kein Wunder, daß Frederik jetzt streikte!
Am Morgen schien der Junge sich erholt zu haben. Er stand auf und zog sich an. Beim Frühstück aß er sogar eine Kleinigkeit, wenn auch nur ein Stück Weißbrot, das er in die Milch brockte. An die üppigen Mahlzeiten, die ihm täglich dreimal vorgesetzt wurden, konnte er sich nicht gewöhnen.
»Heute geht es nach Stuttgart, Frederik«, sagte die Sekretärin aufmunternd. »Jetzt ist die große Tournee bald zu Ende.«
»Wo liegt Stuttgart?«
»In Deutschland, Frederik. Mama Renata gibt dort ein Konzert, und du wirst natürlich zuhören wie immer.«
»Sie ist böse auf mich, Ina.« Angst flackerte in den großen Augen auf.
Ina lachte ein bißchen. »Nein, Frederik, sie war sicherlich nur ungeduldig gestern. Das darf man bei ihr nicht ernst nehmen. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
So leicht ließ sich Frederik jedoch nicht ermutigen. Immerhin mußte die gefürchtete Klavierstunde ausfallen, weil die Koffer gepackt wurden. Die Reise erfolgte diesmal mit dem Zug. Auf dem Bahnhof warteten Presse-Fotografen, um ein paar Aufnahmen von der scheidenden Künstlerin zu schießen. Renata sonnte sich in ihrer Publicity, legte den Arm um Frederiks Schultern und lächelte in die Kameras. Ihren Zorn vom vergangenen Tag
schien sie völlig vergessen zu haben.
Während der langen Fahrt verhielt sich Frederik still. Er schaute zum Fenster hinaus und beobachtete die vor-überfliegende Landschaft. Niemand vermochte zu erkennen, was in ihm vorging.
In Stuttgart fuhren sie sogleich zum Hotel, wo eine ganze Etage für die Pianistin und ihre Begleitung reserviert worden war. Ina versorgte den Jungen mit Milch. Er schüttelte den Kopf, als sie ihm etwas anderes anbieten wollte.
»Du mußt doch hungrig geworden sein, Frederik. Mittags hast du nur einen Apfel gegessen.«
»Ich habe überhaupt keinen Hunger, Ina. Der Apfel liegt wie ein dicker Stein in meinem Bauch.«
»Du wirst doch nicht krank?«
»Nein, krank nicht – aber ich... ich möchte wieder zurück in Mama Elisas Haus.«
»Das wird nicht möglich sein, mein Kleiner. Gib acht, wenn du ausgeschlafen hast, kannst du wieder fröhlich sein. Ans Klavierspielen denken wir nicht.«
»Ich will nicht mehr spielen.«
»Schon gut, das kann man nicht erzwingen. Schlaf jetzt, Frederik. Ich muß noch eine Menge erledigen. Es kann sehr spät werden, bis ich komme.Versprich mir, daß du lieb bist.«
Frederik vergrub das Gesicht im Kissen und weinte. Etwas ratlos streichelte Ina ihn ein Weilchen. Endlich blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn allein zu lassen. Sie war für diesen Abend mit ihrem Freund verabredet, der ihretwegen eine anstrengende, weite Fahrt im Wagen auf sich genommen hatte. Sie sahen einander so selten.
Sanft rüttelte sie den Jungen an der Schulter. Er reagierte nicht, schien also doch eingeschlafen zu sein.
»Bis später, Frederik!« flüsterte sie.
Eilig kleidete sie sich um. Sie fühlte sich berechtigt, an sich und ihr privates Glück zu denken.
*
Doch Frederik schlief nicht. Sobald die Tür klappte, setzte er sich kerzengerade im Bett auf. In seinem verweinten Gesicht standen Trotz und Entschlossenheit. Er wollte auf eigene Faust zurück zu den anderen Kindern in Mama Elisas Haus! Dort zwang ihn niemand, am Klavier zu üben. Auch brauchte er nicht so seltsame, fremde Gerichte zu essen, und vor allem waren seine Freunde dort, mit denen er nach Herzenslust im Park herumtollen und spielen konnte.
Rasch und geschickt zog sich der Junge an. Er dachte auch an den Regenmantel, stopfte sich die Tafel Schokolade in die Tasche, die Ina ihm hingelegt hatte, ergriff seinen Hasen und pirschte sich aus dem Zimmer. Unbemerkt schlich er die Treppen hinab und gelangte durch einen Seitenausgang des Hotels auf die Straße, von niemandem beachtet.
Zuversichtlich machte er sich auf den Weg. Er wollte zum Bahnhof. Irgendwie mußte es ihm gelingen, mit einem Zug zurückzufahren – zurück zu dem baufälligen großen Gebäude im Park, in dem er wunschlos glücklich gewesen war.
*
Ina war diesmal über Nacht ausgeblieben. Erst am frühen Morgen kehrte sie im Taxi zum Hotel zurück und suchte ihr Zimmer auf. Entsetzt stellte sie fest, daß Frederik nicht im Bett lag. Sie suchte nach ihm, bemerkte, daß der Hase fehlte, und reimte sich das übrige sehr bald zusammen. Frederik war davongelaufen! Ausgerechnet während ihrer Abwesenheit!
Ina telefonierte mit dem Empfang und fragte nach dem Jungen. Auch mit Tim Fernow setzte sie sich über die Hausleitung sogleich in Verbindung.
»Da haben wir den Salat«, brummte der Manager verschlafen und ärgerlich. »Sie sollen erst einmal hier im Hotel gründlich nachsehen. Vielleicht hat Frederik sich gefürchtet, weil niemand bei ihm war. In solch einem weitläufigen Gebäude findet man nicht ohne weiteres den Weg zurück ins Zimmer.«
Er war taktvoll genug, Ina wegen ihrer nächtlichen Abwesenheit keinen Vorwurf zu machen.
Die Aktion blieb ohne Erfolg. Obgleich man Renata morgens grundsätzlich nicht wecken durfte, wagte es Ina. Immerhin bestand die geringe Hoffnung, daß Frederik in seiner Einsamkeit zu ihr geflüchtet war.
Renata war müde und zornig. Sie überhäufte die arme Ina mit Vorwürfen und Anklagen. Tim Fernow übernahm es, sie zu besänftigen, während Ina sich mit der örtlichen Polizei verbinden ließ. Es blieb nichts anderes übrig, als Frederik in der Stadt zu suchen. Wenigstens hatten sie Bilder von ihm. Und auf jedem war auch der kleine abgeschabte Hase zu sehen, von dem er sich niemals trennte.
Am Vormittag übte Renata am Flügel und wollte sich von keinem Menschen stören lassen, denn für den Nachmittag war eine Orchesterprobe angesetzt, und am Abend sollte das Konzert stattfinden. Sie behauptete, völlig ruhig zu sein, doch unterliefen ihr bei einigen schwierigen Läufen Flüchtigkeiten und sogar Fehler.
Renata fürchtete, Frederik könnte etwas zugestoßen sein, obwohl sie das um keinen Preis zugegeben hätte. Hinzu kam die panikartige Angst, es würden ihr am Abend im Konzert auch Fehler passieren. Sie befand sich in einer bedauernswerten Verfassung.
Tim Fernow, der ständig telefonierte, überlegte, ob er einen Arzt rufen solle. Möglicherweise brauchte Renata für den Abend ein beruhigendes Medikament. Keinesfalls durfte das Konzert platzen! Deshalb mußte der Teufelsbub unter allen Umständen vor acht Uhr abends entdeckt werden.
Die Polizei setzte alle Hebel in Bewegung. Mußte man nicht auch an eine Entführung denken? Immerhin wäre von Renata Orsoni eine beachtliche Simme zu erpressen...
Man fand Frederik gegen fünf Uhr nachmittags im Wartesaal des Bahnhofs, wo er eingeschlafen war. Niemand hatte das Kind bis dahin beachtet. Durch den Fellhasen wurde ein blutjunger Polizeibeamter aufmerksam. Er brachte den stillen Jungen im Wagen zurück zum Hotel.
Renata begann hysterisch zu weinen, als sie Frederik in Empfang nahm. Sie küßte ihn und schalt zugleich mit ihm. Ina erhielt strengste Weisung, ihn keine Minute aus den Augen zu lassen. Warum er weggelaufen war, danach fragte Renata nicht. Sie war viel zu aufgeregt.
Tim Fernow kümmerte sich auch nicht um die Hintergründe dieser Flucht. Für ihn zählte nur, daß das Konzert nun gerettet war. Tatsächlich gewann Renata ihr inneres Gleichgewicht wieder, wurde sicher und gelassen.
Ina betreute ihren Schützling, erreichte sogar, daß er ein bißchen Grießbrei futterte, und las ihm an-schließend vor.
Dann, als der Junge im Bett lag, fragte sie ihn behutsam aus. Er schwieg lange, gestand jedoch schließlich im Flüsterton, daß er den Weg zu Mama Elisas Haus habe suchen wollen.
»Magst du nicht bei Mama Renata bleiben, keine Musik mehr spielen, auch nicht die schönen Spielsachen behalten, die sie dir geschenkt hat?«
»Nein.« Das war knapp und eindeutig. Ina hielt es unter diesen Umständen für das beste, den Wunsch des Buben zu erfüllen. Sicher gab es für Frederik noch einen Platz in seiner früheren Welt. Sie verstand ihn gut. Man hatte ihn gegen seinen Willen fortgeholt und wollte mit Gewalt ein Wunderkind aus ihm machen.
Ina hoffte, daß Renatas Laune inzwischen vergangen sei. In diesem Falle würden Tim Fernow und sie die Sache in Ordnung bringen müssen. Ähnliches war schon öfter passiert. Aber ein Kind hatte Renata Orsoni bisher nicht adoptieren wollen!
*
Das Konzert verlief ohne Zwischenfall, der Beifall war ziemlich groß. Im Anschluß an das kleine Festessen, das zu Ehren der Künstlerin stattfand, zitierte diese ihren Manager zu sich aufs Zimmer.
»Wir müssen etwas unternehmen, Tim. Frederik darf nicht weiter mit uns reisen. Offenbar bekommt ihm das nicht.«
»Wieso – wir, Goldkindchen? Ich habe dir von Anfang an davon abgeraten, den Burschen mitzuschleppen. Nun siehst du, wohin das geführt hat.«
»Er ist schlecht erzogen und undankbar«, beklagte sich Renata.
»Bei dir suchst du wohl grundsätzlich keine Fehler?«
»Ich wollte sein Bestes. Habe ich nicht alles versucht?«
»Das streite ich nicht ab. Möglicherweise reicht Frederiks angebliches Talent nicht aus. Ich fürchte zudem, daß zur Erziehung eines Jungen mehr gehört als nur ein bißchen Klavierunterricht. Uns wird nichts übrigbleiben, als ihn in diese romantische Villa im Park zurückzuschicken. Hoffen wir, daß man ihn dort wieder aufnimmt. Auf diese Art könnte er das Abenteuer mit dir am ehesten vergessen.«
Renata war anderer Meinung. »Das kommt nicht in Frage«, widersprach sie heftig. »In Zürich ging der Fall durch sämtliche Zeitungen. Was sollen die Leute von mir denken, wenn Frederik plötzlich wieder da ist?«
»Ich nehme nicht an, daß man dar-über berichten würde. Immerhin verstehe ich deinen Standpunkt. Wie werden wir den kleinen Burschen also mit Anstand los?«
Die Künstlerin lehnte sich im Sessel zurück. Es war zwar schon sehr spät, doch sie war nicht müde. Sie bemerkte nicht, daß Tim Fernow das Gähnen nur mühsam unterdrückte.
»Ich sehe keinen Grund, mich endgültig von ihm zu trennen«, erklärte sie. »Wenn die Konzertsaison vorüber ist, nehme ich ihn mit nach San Remo in mein Haus, um ihn intensiv zu unterrichten. Er ist begabt. Daran besteht nicht der geringste Zweifel.«
»Und was fangen wir inzwischen mit ihm an? Du verlangst mal wieder so etwas wie ein Wunder von Ina oder mir. Aber für Wunder sind wir eigentlich nicht zuständig.«
»Man müßte ein gutes Heim finden für den Übergang, nicht in der Schweiz, sondern hier in Deutschland. Wir sind noch drei Tage in Stuttgart. Da bleibt genügend Zeit, sich umzuhören.«
»Hast du eine Ahnung! Kinderheime sind im allgemeinen überfüllt. Man hat hier in Deutschland bestimmt nicht auf Frederik gewartet! Natürlich werde ich Ina bitten, Erkundigungen einzuziehen, doch ich sehe schwarz.»
»Es wäre eine vorübergehende Maßnahme, Tim. Auch entstehen dem Heim nicht die geringsten Unkosten. Ich komme für alles auf.«
Der Manager sah sie kopfschüttelnd an. »Bist du sicher, daß du den Jungen nachher wirklich abholen und in San Remo bei dir haben willst? Sobald neue Konzertverpflichtungen anstehen, gibt es nämlich mit Frederik die gleichen Probleme wie jetzt.«
»Da findet sich dann schon ein Ausweg. Ich habe versprochen, mich um Frederik zu kümmern. Mein Wort mag ich nicht brechen. Doch es war ein Fehler, ihn sofort mitzunehmen. Schau zu, daß wir ein sehr gutes Heim für ihn finden.«
Müde und einigermaßen ratlos zog sich Tim in sein Hotelzimmer zurück. Am nächsten Morgen telefonierte er mit einigen Ämtern. Auch Ina bemühte sich. Schließlich geriet sie durch einen glücklichen Zufall, wie sie meinte, an eine verständnisvolle Sozialarbeiterin. Diese junge Frau hörte sich die Sachlage aufmerksam an und hatte tatsächlich einen Vorschlag zu machen, der zu gewissen Hoffnungen zu berechtigen schien.
»Unsere Behörden oder der Staat sind hier nicht zuständig, wie es aussieht«, erklärte sie sachlich. »Das Kind müßte eigentlich in die Schweiz zurückgebracht werden. Aber ein privat geführtes Heim wäre wohl denkbar, sofern man dort Platz hat. Ich kann Ihnen eine Adresse geben. Es bleibt Ihnen überlassen, sich mit dem Haus in Verbindung zu setzen. Wir können Sophienlust, so heißt das Heim, mit bestem Gewissen empfehlen.«
Ina war von Dankbarkeit erfüllt. Sie notierte sich die Anschrift sowie den Namen der Begründerin des Heimes. Ohne sich mit weiteren Rückfragen aufzuhalten, wählte sie die angegebene Telefonnummer und bat, mit Denise von Schoenecker verbunden zu werden.
Unmittelbar darauf erklang eine freundliche, warme Stimme, die sich nach Inas Wünschen erkundigte.
Die tüchtige Sekretärin atmete heimlich auf. Vertrauensvoll schilderte sie die schwierige Lage, in die Renata Orsoni durch ihren allzu rasch gefaßten Entschluß geraten war.
Denise von Schoenecker hörte ihr aufmerksam zu. Als sie erfuhr, daß eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt Stuttgart den Kontakt zu Sophienlust hergestellt hatte, erklärte sie sich ohne Umstände bereit, den kleinen namenlosen Jungen aufzunehmen.
»Wir haben ein riesengroßes, altes Haus und eigentlich immer Platz«, sagte sie. »Wenn Sie wollen, können Sie Frederik heute oder morgen bringen.«
»Es wäre nur für eine Übergangszeit, Frau von Schoenecker. Frau Orsoni will Frederik später zu sich nach San Remo holen. Im Augenblick allerdings erweisen Sie ihr einen großen Dienst.«
Ina verabredete, daß sie den Buben noch am selben Tage nach Sophienlust bringen werde.
Tim Fernow gab ihr spontan einen Kuß. »Das haben Sie perfekt über die Bühne gerkriegt, Ina. Ich nehme einen Mietwagen, und wir fahren in einer Stunde los. Renata wird gewiß keinen Einwand erheben.«
Nein, das tat Mama Renata auch nicht. Sie beauftragte Tim, nach Gutdünken zu entscheiden und in bezug auf Geld nicht kleinlich zu sein. Ina aber sollte sich gründlich umsehen, ob das Heim auch ordentlich geführt werde.
Frederik wurde nicht gefragt. Er schaute zu, als Ina seine Koffer packte. Dann stieg er ins Auto, ohne zu ahnen, wohin die Fahrt gehen sollte.
»Kommt Mama Renata mit dem Flugzeug?« wollte er wissen, nachdem sie schon eine ganze Weile unterwegs waren. Renata hatte ihn zum Abschied nur stumm geküßt, ihm jedoch nicht gesagt, was über sein Schicksal beschlossen worden war.
»Nein, sie muß ja spielen, Frederik. Es werden Schallplatten aufgenommen. Deshalb hat sie keine Zeit, uns zu begleiten. Wir bringen dich jetzt in ein Kinderheim. Es ist vielleicht so ähnlich wie das Haus von Mama Elisa, wo es dir so gut gefiel. Du sollst dort bleiben, bis Mama Renata dich holt.«
»Warum darf ich nicht in Mama Elisas Haus zurück?« Die Kinderstimme klagte, doch die beiden Erwachsenen bemerkten es nicht.
»Es ist viel zu weit weg von hier, Frederik. Gib acht, es wird sehr schön sein in Sophienlust.«
Sie fuhren am frühen Nachmittag vor dem ehemaligen Herrenhaus vor. Eine mütterlich wirkende Dame begrüßte sie und stellte sich als Frau Rennert, die Heimleiterin, vor.
»Frau von Schoenecker erwartet Sie«, berichtete sie. »Frederik kann gleich mitkommen, wenn er mag. Die Kinder sind schon gespannt auf unseren neuen Freund.«
Frederik sträubte sich nicht. Er drückte seinen Hasen ans Herz und ließ sich von Frau Rennert bei der Hand nehmen.
»Sie nennen mich hier Tante Ma«, sagte die Heimleiterin zu dem kleinen Burschen. »Schau, da kommt unsere schwarze Peggy. Sie wird dir das Haus zeigen – und natürlich unsere Tiere. Wir haben sogar Ponys zum Reiten.«
Die kleine schwarze Peggy, ein Kind aus Afrika, begrüßte Frederik mit Handschlag. »Du bist jetzt im Haus der glücklichen Kinder« sagte sie feierlich. »Wir freuen uns, daß du bei uns bleiben willst.«
Frederik blieb stumm. Doch er ließ sich von der lebhaften Peggy willig herumführen.
Denise von Schoenecker empfing die Besucher in ihrem Biedermeierzimmer unter dem Bildnis der Sophie von Wellentin, die einst in ihrem Testament verfügt hatte, daß in ihrem Herrenhaus diese Zufluchtsstätte für Kinder in Not ins Leben gerufen werden solle.
Ina und Tim waren überrascht. Diese elegante Dame mit dem dunklen Haar, die stilechte Einrichtung des Raumes – das alles stach gewaltig gegen Mama Elisas halb verfallene Villa ab, aus der sie Frederik abgeholt hatten. Unwillkürlich machte Tim Fernow eine entsprechende Bemerkung.
»Wir haben dieses Zimmer genau so gelassen, wie es aussah, als Sophie von Wellentin noch darin wohnte«, erwiderte Denise von Schoenecker. »Sie war die Urgroßmutter meines Sohnes Nick aus erster Ehe und hinterließ ihm Sophienlust. Ich übernahm es damals, ihren Letzten Willen zu verwirklichen und hier ein Kinderheim zu begründen. Das vorhandene Vermögen und nicht zuletzt der florierende Gutsbetrieb ermöglichen es uns, auch mittellose Schützlinge aufzunehmen und, wenn nötig, eine gute berufliche Ausbildung für sie zu finanzieren. Wir sind unabhängig, arbeiten jedoch eng mit den Behörden zusammen.«
»Auf eine Unterstützung ist Frau Orsoni selbstverständlich nicht angewiesen, gnädige Frau«, versicherte Tim. »Trotzdem erscheint es beruhigend, daß Ihr Heim so problemlos funktioniert. Frederiks Geschichte ist Ihnen bekannt. Frau Orsoni möchte den Jungen später adoptieren. Daran hat sich nichts geändert. Doch es stellte sich heraus, daß es für Frederik nicht zuträglich ist, ständig von einer Stadt in die andere zu reisen.«
»Wir behalten ihn, bis er von seiner Pflegemutter abgeholt wird. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Frau Orsoni nicht persönlich kennenlernen kann. Das ließ sich wohl nicht einrichten?« Denises dunkle Augen waren fragend auf die Gäste gerichtet.
»Frau Orsoni konnte sich nicht freimachen. Sie spielt für Plattenaufnahmen. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, wird sie einen Besuch bei Ihnen nachholen.« Tim Fernow wußte zwar, daß Renata gewiß nicht an einen solchen Besuch dachte, doch er wollte höflich sein.
Man einigte sich rasch über die nötigen Formalitäten. Das Pflegegeld wollte Ina regelmäßig anweisen. Außerdem bat sie darum, alle Nebenkosten in Rechnung zu stellen. Frederik brauche möglicherweise noch praktische Kleidung für das Leben auf dem Lande. Frau Orsoni werde für alles aufkommen.
Wegen des Klavierunterrichts, der Renata unerläßlich erschien, konnte Denise die Besucher beruhigen. »Frau Rennerts Sohn wird es übernehmen, Frederik zu unterrichten«, sagte sie. »Er ist unser Hauslehrer und lebt mit seiner jungen Frau und zwei reizenden Kindern, einem Zwillingspärchen, in dem Anbau, den Sie vielleicht gesehen haben.«
»Das trifft sich wirklich gut«, freute sich Ina. »Herr Rennert soll den Buben aber bitte nicht überfordern. Frau Orsoni hat gleich zuviel von ihm verlangt. Jetzt mag er nicht mehr.«
Denise versprach, daß man Frederik nicht zwingen werde. Schließlich führte sie Tim und Ina durch das weitläufige alte Gutshaus, durch den herrlichen Park und auch zu den Ställen.
»Die Kinder haben es gut hier«, sagte Ina zufrieden. »Es gibt wirklich sehr unterschiedliche Heime.«
Denise von Schoenecker bot ihr und Tim eine Erfrischung an. Sie tranken starken Kaffee und aßen Schinkenbrötchen dazu. Dann aber drängte die Zeit zum Aufbruch.
Frederik wurde nach einigem Rufen und Suchen im Wintergarten entdeckt, wo er die verschiedensten Kleintiere in ihren Käfigen bestaunte, die einzelnen Kindern gehörten und auch von diesen betreut wurden. Der herrliche bunte Papagei Habakuk im »goldenen« Käfig hatte es ihm besonders angetan. Peggy demonstrierte mit Stolz, daß Habakuk ein wortgewandter Vogel war und sogar einige Schimpfworte perfekt beherrschte. Die hatte Nick ihm beigebracht.
Ina umarmte Frederik.
»Mama Renata holt dich später ab«, raunte sie dem Jungen ins Ohr. »Ich glaube, daß es dir hier gutgehen wird. Strenge dich an, damit du etwas auf dem Klavier lernst. Das erwartet Mama Renata.«
Tim Fernow ließ es bei einem kurzen Händedruck, sozusagen unter Männern, bewenden. Eine Gruppe von Kindern geleitete die Scheidenden zum Wagen. Auch Else Rennert und Denise von Schoenecker standen vor dem Portal des Herrenhauses.
Denise stellte den Gästen ihren Sohn Nick vor. »Nick hat Sophienlust seinerzeit geerbt«, versetzte sie lächelnd. »Wenn ich einmal die Hände in den Schoß legen möchte, wird er meine Aufgabe übernehmen.«
Der lange Gymnasiast, seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, winkte ab. »Das hat gute Weile, Mutti. Zuerst muß ich die Schule hinter mich bringen, das Abi bauen und studieren. Zur Ruhe setzen darfst du dich vorerst noch nicht.«
Die Besucher lernten auch den kleinen Henrik von Schoenecker kennen, Denises Sohn aus der zweiten, unendlich glücklichen Ehe mit Alexander von Schoenecker.
»Gute Fahrt«, wünschte die kleine schwarze Peggy und machte sogar einen ganz altmodischen Knicks dazu.
Ina winkte zurück, während Tim den Wagen langsam anrollen ließ.
»Wir können Frederik mit bestem Gewissen in diesem Haus lassen.« stellte Ina aufatmend fest. »Es übertrifft meine kühnsten Erwartungen.«
»Es ist ein Glücksfall, möchte ich behaupten. Wir werden Renata zureden, den Wunderknaben bis auf weiteres in Sophienlust zu lassen. Besser kann er nirgends untergebracht sein. Außerdem wird dieser Lehrer herausfinden, ob der Junge wirklich begabt ist oder nicht. Auf Renatas Urteil sollte man sich wirklich nicht ganz unbedingt verlassen.«
Ina hob die Schultern. »Von Musik versteht sie viel. Ich glaube, Frederik ist einfach verstört und kann aus diesem Grunde plötzlich nicht mehr spielen. Das wird sich in Sophienlust gewiß bald geben. Die Kinder machten allesamt einen unbeschwerten heiteren Eindruck auf mich.«
»Für den Augenblick ist unsere große Diva mal wieder aus dem Schneider«, fügte Tim Fernow sarkastisch hinzu. »Ihr Nimbus bleibt erhalten. Sie gilt weiterhin als Wohltäterin des unbekannten Findelkindes, aber die damit verbundenen Belastungen hat sie elegant auf andere abgewälzt.«
»Man darf sie nicht ohne weiteres verurteilen«, nahm Ina ihre Chefin in Schutz. »Frau Orsoni hat es aufrichtig gut mit Frederik gemeint, als sie ihn zu sich nahm.«
»Es war nur eine ihrer Launen«, beharrte Tim auf seiner Ansicht.
Sie erreichten Stuttgart am Abend, trafen Renata noch im Studio bei den Aufnahmen an und konnten ihr beim sehr verspäteten Essen endlich über diesen erfolgreichen Ausflug berichten.
»Habt ihr der Dame eindeutig klargemacht, daß ich Frederik abholen will, sobald es möglich ist?« vergewisserte sich die Künstlerin.
»Natürlich«, erwiderte Tim gelassen. »Glücklicherweise wird man dich gerade in Sophienlust nicht beim Wort nehmen, Goldkind. Diese Dame behält Frederik notfalls so lange, bis er erwachsen ist.«
»Du wirst sehen, daß du dich irrst, Tim«, wehrte sich Renata hitzig. »Frederik muß Musiker werden. Ich bin der einzige Mensch, der ihm diesen Weg ebnen kann. Genau das werde ich tun!«
Ina verhielt sich stumm. Sie dachte an den kleinen Jungen, der für einge Zeit das Zimmer mit ihr geteilt hatte. Er würde ihr fehlen, obgleich seine Anwesenheit gelegentlich äußerst störend für sie gewesen war.
*
Frederik wollte nicht allein schlafen. So wurde sein Bett in das Zimmer der kleinen Heidi gestellt, deren Spezialität es von jeher war, sich der Neulinge im Heim anzunehmen.
Schwester Regine packte die Koffer aus und verstaute die eleganten Kleidungsstücke des Buben weit hinten im Wandschrank.
»Damit kannst du hier bei uns nicht viel anfangen«, sagte sie vergnügt. »Wir schauen nach, was wir für dich finden. Wenn nichts Passendes vorhanden ist, kaufen wir gleich morgen etwas Praktisches für dich ein. In Jeans wirst du dich wohler fühlen.«
Schwester Regine holte einiges aus den vorhandenen Vorräten herbei. Es fanden sich Jeans, die Frederik tadellos paßten. Auch einfache Sandalen waren vorhanden, dazu ein buntes T-Shirt. Der Junge unterschied sich plötzlich nicht mehr durch die aufgeputzte Kleidung von den jungen Bewohnern des Kinderheims Sophienlust. Nur sein ernstes, verschlossenes Gesichtchen paßte nicht recht in die fröhliche Umgebung.
Vergeblich bemühten sich Heidi, Vicky, und Henrik, Frederik aufzumuntern. Er sagte nur wenig, und er drückte seinen kleinen Fellhasen an sich, als müsse er bei dem Spieltierchen Trost und Schutz suchen.