E-Book 371-380 - Viola Maybach - E-Book

E-Book 371-380 E-Book

Viola Maybach

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Beschreibung

Viola Maybach hat sich mit der reizvollen Serie "Der kleine Fürst" in die Herzen der Leserinnen und Leser geschrieben. Alles beginnt mit einem Schicksalsschlag: Das Fürstenpaar Leopold und Elisabeth von Sternberg kommt bei einem Hubschrauberunglück ums Leben. Ihr einziger Sohn, der 15jährige Christian von Sternberg, den jeder seit frühesten Kinderzeiten "Der kleine Fürst" nennt, wird mit Erreichen der Volljährigkeit die fürstlichen Geschicke übernehmen müssen. "Der kleine Fürst" ist vom heutigen Romanmarkt nicht mehr wegzudenken. E-Book 1: Arabellas Abenteuer E-Book 2: Heiße Küsse - falsche Liebe? E-Book 3: Die unbekannte Prinzessin E-Book 4: Liebe heilt alle Wunden E-Book 5: Verflixtes Erbe E-Book 6: Was nun schöne Clara? E-Book 7: Denk an mich, Helena! E-Book 8: Das doppelte Prinzesschen E-Book 9: Die Traumhochzeit E-Book 10: Vertrau mir, Franziska!

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Inhalt

Arabellas Abenteuer

Heiße Küsse - falsche Liebe?

Die unbekannte Prinzessin

Liebe heilt alle Wunden

Verflixtes Erbe

Was nun schöne Clara?

Denk an mich, Helena!

Das doppelte Prinzesschen

Die Traumhochzeit

Vertrau mir, Franziska!

Der kleine Fürst – Staffel 38 –

E-Book 371-380

Viola Maybach

Arabellas Abenteuer

Roman von Maybach, Viola

Als Graf Claus von Kahlenfels das Literaturhaus betrat, in dessen größtem Saal gerade eine Lesung veranstaltet wurde, blieb er verblüfft stehen: Offenbar waren an dieser Lesung so viele Leute interessiert gewesen, dass nicht alle Platz gefunden hatten. Die Saaltüren waren weit geöffnet, eine dichte Traube von Mensch stand davor, die mehr oder weniger vergeblich versuchten, von dem Vortrag auch hier draußen in der Eingangshalle noch etwas mitzubekommen.

Claus wandte sich an die Frau am Empfang, die er gut kannte, weil er oft hierherkam. Sein heutiger Besuch hatte allerdings weniger mit seiner Leidenschaft für Bücher zu tun, sondern er war lediglich vor dem erneut einsetzenden heftigen Regen geflüchtet, der den Menschen nun schon seit Tagen die Laune verdarb. »Was ist denn da los, Frau Kremer?«, erkundigte er sich. »So viel Auftrieb sieht man hier ja selten.«

»Das wissen Sie nicht, Graf von Kahlenfels?«, rief die Angesprochene. »Arabella von Hoyningen stellt ihr neuestes Buch vor – es ist wieder sehr, sehr spannend geschrieben, ich habe es natürlich gleich gelesen, weil ich ja wusste, dass sie zu uns kommen würde. Die Lesung ist aber schon zu Ende, die haben Sie also leider verpasst.«

»Sie ist Reiseschriftstellerin, oder?«

Brigitte Kremer nickte lebhaft. »Ja, und zwar eine sehr gute. Sie kann nicht nur schreiben, sie schafft es auch, den Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnet, so nahe zu kommen, dass sie nach ihren Gesprächen etwas über sie zu berichten hat, was über das übliche Blabla hinausgeht. Auf diese Weise bringt sie einem dann auch das jeweilige Land nahe. Wenn man selbst keine Zeit oder kein Geld zum Reisen hat, sind ihre Bücher eine tolle Möglichkeit, das auszugleichen.«

»Klingt, als wären Sie ein Fan von ihr«, bemerkte Claus lächelnd.

Sie errötete unter seinem amüsierten Blick. »Das bin ich tatsächlich«, gestand sie. »Wenn Sie noch ein bisschen Zeit haben, dann bleiben Sie doch! Es gibt jetzt noch eine kurze Diskussion, danach wird sie ihre Bücher signieren. Und jetzt müssten Sie mich bitte entschuldigen – da sind ein paar Leute gekommen, die offenbar Hilfe brauchen.«

Sie eilte davon, Claus blieb unschlüssig stehen. Er hatte schon vom erstaunlichen Erfolg der Bücher von Arabella von Hoyningen gehört, da er aber kein Freund von Reiseberichten war, sondern lieber selbst reiste, hatte er sich nicht weiter dafür interessiert. Er stellte sich die Autorin als eine zähe Frau in den Vierzigern vor, die sich energisch zur Wehr zu setzen wusste, wenn sie unterwegs in gefährliche Situationen geriet. Drahtig, von der Sonne gegerbte Haut, gebleichtes Haar, Tarnkleidung und derbe Schuhe … Er sah sie direkt vor sich.

Er lauschte, die Diskussion schien lebhaft zu verlaufen, immer wieder war Gelächter zu hören. Er konnte jetzt auch unterschiedliche Stimmen ausmachen, die sich zu Wort meldeten. Was sie sagten, war bis hierher jedoch nicht zu verstehen. Allmählich, stellte er fest, wurde er neugierig. Eine Reiseschriftstellerin, die so viele Leute anzog, war zumindest ungewöhnlich.

Schließlich brandete Applaus auf, in die Traube vor dem Eingang zum großen Saal kam Bewegung. Offenbar wollten einige den Saal verlassen, während andere darauf warteten, der Autorin endlich näherkommen zu können. Es gab ein bisschen Gerangel, dann wurde eine weitere Tür geöffnet, und im Nu löste sich die Traube auf.

Ohne lange nachzudenken, steuerte nun auch Claus den Saal an. Wenn er schon einmal hier war, konnte er sich diese Erfolgsschriftstellerin auch einmal ansehen

und sich sein Vorurteil bestätigen lassen …

Zunächst freilich sah er nur die Köpfe ihrer Fans, die sich so dicht um sie drängten, dass sie sie vollständig verdeckten. Erst nach einer Weile begriff er, dass sie jetzt offenbar an einem Tisch saß, um ihr neuestes Werk zu signieren: Dieses lag in großen Stapeln auf einem benachbarten Tisch, wo es direkt an die Wartenden verkauft wurde. Das klappte, wie Claus beobachten konnte, hervorragend: Die Bücher gingen weg wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Außerdem gab es einen Verkaufsstand ihres Verlags, wo die älteren Veröffentlichungen der Autorin angeboten wurden.

Sollte er …? Aber das kam ihm dann doch übertrieben vor. Auch wenn sie großartig schrieb: Er würde nichts von ihr lesen, also brauchte er auch nichts zu kaufen. Immerhin tat er aber so, als interessierte er sich für ihre bisherigen Reportagen, indem er die Bücher in die Hand nahm und darin blätterte. Noch immer war es ihm nicht gelungen, einen Blick auf die Autorin zu werfen: Die Schar ihrer Fans war zu groß.

Schließlich verlor er die Geduld. Er legte ein Buch mit Berichten über eine Reise durch Litauen wieder zurück und beschloss zu gehen. So wichtig war es nun auch wieder nicht, sich davon zu überzeugen, dass Arabella von Hoyningen genauso aussah, wie er sie sich vorgestellt hatte!

Doch genau in dem Moment, da er sich abwenden wollte, erhob

sich die Schriftstellerin und rief zu dem Verkaufsstand hinüber: »Susi, kannst du mir einen neuen Stift besorgen – meiner tut’s nicht mehr!« Die Stimme klang fröhlich, und die Frau, der diese Stimme gehörte, entsprach nicht in einem einzigen Punkt den Vorstellungen, die Claus sich von ihr gemacht hatte: Sie war nicht in den Vierzigern, sie hatte keine ledergegerbte Haut, und ihr Haar war nicht von der Sonne ausgebleicht.

Verwundert betrachtete er das schöne junge Gesicht mit der geraden, kleinen Nase, den neugierig funkelnden Augen und dem eigensinnigen Mund. Umrahmt wurde dieses Gesicht von ungebärdigen braunen Locken, die Arabella von Hoyningen mit Hilfe von Kämmen zu bändigen versucht hatte – was ihr nur unzureichend gelungen war. Gekleidet war sie zwar lässig, aber sie trug keinesfalls den Tarnanzug, den er ihr in seiner Fantasie angezogen hatte – und ihre Schuhe waren zierlich und elegant, nicht derb.

Die mit ›Susi‹ angesprochene junge Frau rief zurück: »Bin sofort da, Bella« und eilte mit gleich zwei nagelneuen Stiften zu dem Tisch, an dem die Autorin bereits wieder Platz genommen hatte, denn sie war nicht mehr zu sehen.

Claus blieb stehen, wo er stand. Diese junge Frau hatte spontan sein Interesse geweckt, er wollte sie gern kennenlernen, musste sich freilich überlegen, wie er das am besten anstellte. Da sie ja eine Berühmtheit war, hatte sie sicherlich nicht nur Fans, sondern auch eine lange Schlange von männlichen Verehrern, in die er sich nicht einzureihen gedachte. Er wollte nur ein paar Worte mit ihr wechseln, um festzustellen, was sich hinter dieser schönen Fassade verbarg. Oder er kaufte doch eins ihrer Bücher …

Genau das tat er schließlich auch – oder besser: Er kaufte gleich drei davon. Da er sich Zeit ließ bei der Auswahl, bekam er nicht mit, dass die Signierstunde mittlerweile zu Ende gegangen war, und er erschrak beinahe, als plötzlich eine amüsierte Stimme neben ihm sagte: »Sie haben sich ja viel vorgenommen. Das Buch über Argentinien ist mein bisher schwächstes, nehmen Sie lieber das hier …«

Arabella von Hoyningen stand plötzlich neben ihm – einen Kopf kleiner als er, aber eine ungeheure Energie ausstrahlend. Sie sah ihn nicht einmal an, sie betrachtete nur die Bücher, die er ausgewählt hatte. Bevor er etwas erwidern konnte, meldete sich ihr Handy, und sie rief erfreut: »Hallo, Sofia! Ja, natürlich bleibt es dabei, dass ich am Samstag dann zu euch nach Sternberg komme …« Sie ging ein paar Schritte zur Seite, ihre weiteren Worte verstand er nicht.

Eilig kaufte er die Bücher – das über Argentinien ließ er liegen – und ging davon. Sternberg, dachte er vergnügt. Na, wenn das kein Wink des Schicksals ist!

*

Bettina von Hoyningen betrachtete ihre Tochter kopfschüttelnd. »Bella, du bist doch gerade erst zurückgekommen«, sagte sie. »Warum gönnst du dir nicht wenigstens ein paar Wochen Ruhe?«

»Weil Ruhe mich verrückt macht, Mama«, erwiderte Arabella. »Bitte, müssen wir ständig die gleichen Diskussionen führen? Ich bin glücklich, und ich habe Erfolg. Warum könnt ihr nicht akzeptieren, dass dies genau das Leben ist, das ich gern führen möchte?«

»Wir akzeptieren es ja«, seufzte Bettina. Arabella sah ihr sehr ähnlich, manchmal kam es noch vor, dass man Bettina für die ältere Schwester ihrer Tochter hielt, was ihr natürlich sehr schmeichelte.

»Nein, das tut ihr nicht«, widersprach Arabella. »Welchen Mann habt ihr dieses Mal eingeladen, damit er mich von meiner nächsten Reise abhält?«

»Also wirklich, Bella, was du uns da unterstellst …«

»Mama, bitte!«, Arabellas Stimme klang ein wenig müde. »Dieses Spiel spielen wir doch schon seit Jahren. Ihr hofft immer noch, dass irgendwann der Mann auftaucht, der mich auf den Pfad der Tugend zurückführt. Glaubt ihr denn im Ernst, ich könnte noch eine brave Ehefrau und Mutter werden? Nie im Leben, ich würde verrückt, und das solltet ihr mittlerweile eigentlich begriffen haben. Also: Wer kommt heute Abend zum Essen?«

»Jakob von Gelenburg«, murmelte ihre Mutter. »Nicht heute, sondern morgen Abend.«

»Und? Was ist das Besondere an ihm?«, erkundigte sich Arabella. Sie war zornig, versuchte aber, sich zu beherrschen.

»Er ist ein sehr sympathischer, junger Mann.« Bettinas Gesichtsausdruck zeigte, wie gekränkt sie war.

»Das waren sie alle, und gelangweilt haben sie mich auch alle. Also bitte, verschont mich. Sagt diesem Herrn von Gelenburg wieder ab, ich will keinen Abend mit ihm verbringen.«

»Das geht nicht!«, rief Bettina, Panik in der Stimme. »Er reist deinetwegen aus Nürnberg an, du kannst uns jetzt nicht bloßstellen, Bella!«

Arabellas Blick wurde stählern. »Das ist das letzte Mal, Mama, und ich meine es ernst. Beim nächsten Mal sitzt ihr mit eurem attraktiven jungen Mann allein da, das schwöre ich dir. Willst du, dass ich euch in Zukunft nicht einmal mehr besuche? Ich komme zwischen meinen Reisen, um dich und Papa zu sehen – und was macht ihr? Jedes Mal grabt ihr einen neuen Mann für mich aus. Werdet erwachsen, findet euch mit den Tatsachen ab!« Mit diesen Worten stürmte sie hinaus. Bettina war den Tränen nahe.

Als Johannes von Hoyningen wenig später die roten Augen seiner Frau sah, sagte er: »Ich habe dich gewarnt, Tina: Lass es sein.«

»Aber sie kann doch nicht ewig weiter allein durch die Welt reisen, sich in Gefahr begeben und Bücher darüber schreiben, Jo! Sie wird ja nicht jünger …«

»Sie ist noch keine Dreißig«, erwiderte er trocken. »Sie kann dieses Leben noch ziemlich lange führen, ohne dass es ihr langweilig wird, schätze ich. Lass sie, Tina, es ist ihr Leben. Wir sollten uns da raushalten.«

»Das sagt sich so leicht«, flüsterte Bettina unglücklich. »Ich mache mir Sorgen um sie, Jo.«

»Die mache ich mir auch, aber danach geht es nicht. Wie sie lebt, ist ausschließlich Bellas Sache. Und vergiss nicht, dass sie ziemlich erfolgreich ist.«

»Als wenn es dadurch besser würde!«

Johannes schloss seine Frau in die Arme. Er teilte ihre Befürchtungen durchaus, aber er war auch Realist und da er seine Tochter kannte, wusste er, dass Arabella sowieso ihren Kopf durchsetzen würde. Es war also vergebene Liebesmühe, sie beeinflussen zu wollen. Sie hatte immer gewusst, was sie wollte – und sie hatte es bisher immer bekommen.

*

»Claus kommt jetzt doch schon am Wochenende«, teilte Baronin Sofia von Kant ihrem Mann Friedrich, ihren Kindern Anna und Konrad sowie ihrem Neffen Christian von Sternberg beim Abendessen mit. »Er hat angerufen, und ich habe ihm gesagt, er sei hochwillkommen. Arabella wird es nicht stören, wenn sie nicht unser einziger Gast ist, nehme ich an.«

»Kennen die beiden sich?«, erkundigte sich der Baron.

»Nein, bisher nicht, ich habe Claus danach gefragt. Aber sie verstehen sich sicher gut. Er hatte immerhin schon von ihr oder vielmehr vom Erfolg ihrer Bücher gehört, aber gelesen hat er wohl noch keins.«

»Und danach fliegt Bella nach Afrika?«

»Ja, das ist ihr nächstes Ziel.«

»Schönes Leben«, sagte der sechzehnjährige Konrad. »Sie ist immer unterwegs, kriegt eine Menge zu sehen, schreibt ein bisschen darüber und verdient auch noch eine Menge Geld damit. So etwas könnte ich mir auch vorstellen.«

»Schreibt ein bisschen – das ist wohl nicht ganz richtig ausgedrückt, Konny«, wandte Baron Friedrich ein. »Ich glaube, dass sie viel Arbeit in ihre Bücher steckt. So ein Erfolg, wie Bella ihn hat, fällt ja nicht einfach vom Himmel.«

»Jedenfalls hat sie ein aufregendes und abwechslungsreiches Leben, sie ist ständig woanders. Das finde ich besser, als jeden Tag in einem Büro eingesperrt zu sein.«

»Sie muss aber auch viel auf sich nehmen«, bemerkte die Baronin. »Es ist zum Beispiel schwer, Freundschaften aufrechtzuerhalten, wenn man nie zu Hause ist. Man ist außerdem praktisch immer allein, auch wenn es einem mal nicht so gut geht. Und man hat keinen Ort, an dem man sich wirklich zu Hause fühlt. Ich weiß nicht, ob du das gut aushalten könntest.«

Zur allgemeinen Verwunderung hatte Konrad nicht sofort eine Antwort parat, sondern wirkte aufrichtig verunsichert über die Worte seiner Mutter. Schließlich gab er sogar zu: »So habe ich mir das noch nicht überlegt.«

»Ich schon«, erwiderte Sofia trocken. »Ich fand das nämlich zuerst auch sehr verlockend, ein Leben wie Arabella zu führen. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich nicht mit ihr tauschen möchte.«

»Für ein Jahr vielleicht schon«, sagte Anna schließlich. Es kam selten vor, dass sich die Dreizehnjährige auf die Seite ihres Bruders schlug, denn zwischen den beiden gab es noch immer häufig Reibereien, während Anna und ihr Cousin Christian ein sehr enges Verhältnis zueinander hatten.

»Wir können Bella ja fragen, wie sie es aushält, immer allein zu sein«, schlug Christian vor.

Anna begann zu kichern. »Wenn ich eine Mutter hätte, die ständig versuchen würde, mich zu verheiraten, würde ich vielleicht auch lieber auf Reisen gehen.«

Daraufhin lachten alle: Es war bekannt, dass Bettina von Hoyningen nichts mehr fürchtete als die Vorstellung, ihre einzige Tochter könnte ihr Leben lang unverheiratet bleiben.

Nach dem Essen gingen Anna und Christian noch mit Christians jungem Boxer Togo nach draußen in den Schlosspark, damit der Hund sich noch ein wenig austoben konnte. »Könntest du leben wie Bella?«, fragte Anna.

Christian schleuderte ein Stöckchen für Togo, bevor er die Frage beantwortete. »Nie im Leben«, sagte er. »Das weißt du doch, Anna. Ich gehöre nach Sternberg.« Sein Blick wanderte zu dem kleinen Hügel am Rande des Parks, wo seine Eltern begraben lagen. Sie waren vor wenigen Monaten bei einem Hubschrauberunglück ums Leben gekommen.

Anna, die wusste, was in ihm vorging, schob ihre Hand in seine und hielt sie fest. »Ich auch«, erwiderte sie nach einer Weile leise. »Meinst du, ich könnte hierbleiben, später? Das Schloss ist ja ziemlich groß, ich würde auch versuchen, dich nicht zu stören, wenn du der nächste Fürst von Sternberg geworden bist.«

»Sei nicht dumm, Anna.« Christian konnte schon wieder lächeln. Er drückte die Hand seiner Cousine. »Ich kann mir Sternberg ohne dich gar nicht vorstellen!«

Sie strahlte ihn an. »Dann ist es ja gut!« Danach ließ sie seine Hand los, um das nächste Stöckchen für Togo zu werfen.

*

»Sie ist berühmt, Mann!«, sagte Jens Willmann zu seinem Freund Jakob von Gelenburg, als sie sich abends zu einem Bier in ihrem Lieblingslokal getroffen hatten. »Außerdem soll sie eine Schönheit sein. Und du willst sie nicht treffen?«

»Sie ist bestimmt nett und interessant und alles, aber …« Jakob verstummte. Er war ein eher ruhiger junger Mann mit welligen dunklen Haaren und sanften braunen Augen.

»Aber?«, fragte Jens, als er nicht weitersprach.

»Sie ist dauernd unterwegs, Jens, und du kennst mich: Ich verreise ganz gern mal, aber noch lieber komme ich nach Hause zurück. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie und ich einander viel zu sagen haben. Ich treffe mich nur mit ihr, weil meine Eltern sich von Arabellas Mutter haben verrückt machen lassen. Irgendwie hatten sie wohl das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein – frag mich nicht, warum. Sie kennen sich eigentlich kaum. Jedenfalls bin ich morgen Abend bei den Hoyningens zum Essen eingeladen. Es wird bestimmt schrecklich.«

»Wieso eigentlich? Ich habe eins ihrer Bücher gelesen, sie kann gut schreiben, also hat sie auch was im Kopf. Wahrscheinlich ist sie amüsant und unterhaltsam.«

»Wahrscheinlich ist sie stocksauer, weil ihre Mutter wieder mal versucht hat, sie mit einem passenden jungen Mann zu verkuppeln«, entgegnete Jakob. »Und deshalb macht sie wahrscheinlich den Mund nicht auf, und es wird der langweiligste Abend, den man sich vorstellen kann.«

»Dann ruf sie vorher an, sag ihr, dass man dich auch gezwungen hat und dass du es schön fändest, wenn ihr gemeinsam das Beste daraus machen würdet.«

Jakob war so erstaunt über diesen Vorschlag, dass er eine Weile darüber nachdachte, bevor er zögernd erwiderte: »Ich habe keine Nummer von ihr – und ich möchte nicht gern bei ihren Eltern anrufen. Im Prinzip ist deine Idee allerdings nicht schlecht.«

»Dann sag es ihr eben zu Beginn des Abends«, riet Jens. »Das reicht auch noch. Ihr werdet ja wohl mal einen Augenblick ungestört miteinander reden können.«

»Garantiert sogar. Wie ich die Mutter einschätze, sorgt sie dafür, dass wir erst einmal allein miteinander bleiben, damit wir uns besser kennenlernen können.«

»Na, also! Diese Gelegenheit wirst du nutzen und dann vermutlich einen höchst amüsanten Abend verbringen.«

Jakob glaubte noch nicht daran, aber er sah seiner Reise zu den Hoyningens nun immerhin ein wenig entspannter entgegen. »Gut, dass ich dir davon erzählt habe, Jens«, sagte er zum Abschied.

»Und ich erbitte mir einen ausführlichen Bericht nach deiner Rückkehr! Wahrscheinlich werdet ihr Freunde fürs Leben.«

Diese Vorstellung freilich fand Jakob so absurd, dass er darüber nur lachen konnte.

*

»Sie schreibt gut«, sagte Claus zu seiner Schwester Victoria, die ebenso blond und blauäugig war wie er, nur nicht ganz so groß. »Ich hätte nicht gedacht, dass mich Reiseberichte interessieren würden, aber sie versteht es, ihre Leser zu fesseln. Man folgt ihr gern, wo immer sie sich auch bewegt.«

»Das erklärt dann wohl den Erfolg ihrer Bücher«, meinte Victoria, während sie nachdenklich Arabellas Foto auf der Innenseite des Umschlags betrachtete. »Und dann spielt es natürlich eine Rolle, dass sie jung und schön ist.«

»Schön?«, brummte Claus. »Sie sieht gut aus, das stimmt schon, aber schön?« Er fand Arabella von Hoyningen durchaus schön, aber das hätte er zumindest seiner Schwester gegenüber nicht zugegeben. Victoria hörte immer gleich das Gras wachsen, er wollte sie gar nicht erst auf die Spur bringen, dass er mittlerweile aufrichtig daran interessiert war, Arabella näher kennenzulernen.

»Das Foto kann natürlich auch retuschiert sein«, gab Victoria zu. »Wie bist du denn eigentlich plötzlich auf ihre Bücher gekommen?«

Die Geschichte hatte Claus sich bereits zurechtgelegt. »Na, ich dachte, wenn ich ihr auf Sternberg schon über den Weg laufe, dann ist es vielleicht peinlich, wenn ich bekennen muss, dass ich nie zuvor von ihr gehört und noch nicht einmal eins ihrer Bücher gelesen habe.«

»Stimmt«, gab Victoria zu. »Erzähl mir dann mal, wie sie so ist, das interessiert mich.«

»Willst du einen Film über sie drehen?«, fragte Claus, nicht ganz ernsthaft. Victoria drehte Dokumentarfilme für verschiedene Fernsehsender, und sie war recht gut im Geschäft.

Zumindest konnte sie von ihrer Arbeit leben, wenn sie auch keine Reichtümer anhäufte.

»Sie gibt sich für so etwas nicht her – das haben schon einige Kollegen versucht, seit sie immer erfolgreicher wird, aber bisher hat sie jedes mal abgelehnt mit der Begründung, ein Filmteam würde sie bei der Arbeit stören. Aber sie will sich natürlich auch nicht in die Karten gucken lassen, wie sie vor Ort ihre Kontakte knüpft und so. Sie macht übrigens auch ziemlich gute Fotos.«

»Stimmt«, sagte Claus, »das ist mir auch aufgefallen. Was hast du denn als nächstes vor?«

»Ich habe einen Auftrag übernommen«, erwiderte Victoria. »Das war nicht meine eigene Idee, sondern ein Sender wollte einen Film über die Herstellung von Nürnberger Lebkuchen haben – die echten. Das interessiert mich, also habe ich zugesagt.«

»Du musst aber gute Leute finden, die dir schöne Sachen in die Kamera sagen, sonst kann das langweilig werden.«

»Ach, das schaffe ich schon. Und wie läuft’s bei dir, Claus? Was machen die schicken Jachten für Menschen mit viel Geld?«

»Das Geschäft läuft und läuft und läuft. Aber unsere Jachten sind auch erstklassig, die Leute wären dumm, wenn sie bei der Konkurrenz kauften.«

Claus hatte eine Firma gekauft, die Jachten baute, und sie von Grund auf modernisiert. Mittlerweile baute die Firma Jachten, die wie schwimmende Häuser aussahen und nicht mehr wie Schiffe. Der Erfolg gab ihm Recht: Die Kunden standen bei ihm buchstäblich Schlange.

Victoria stand auf. »Ich muss allmählich los«, sagte sie. »Grüß die Sternberger von mir. Hast du Neuigkeiten von ihnen? Wie geht es Christian?«

Sie waren seinerzeit selbstverständlich zur Beisetzung des tödlich verunglückten Fürstenpaares gereist und hatten seitdem lebhaften Anteil am Schicksal des jungen Prinzen genommen, der in drei Jahren, sobald er volljährig geworden war, der nächste Fürst von Sternberg sein würde.

»Er hält sich tapfer, sagte Sofia, aber ich habe gemerkt, dass auch sie immer noch schwer an dem Verlust trägt. Sie und Lisa waren ja sehr eng miteinander verbunden.«

Fürstin Elisabeth von Sternberg und Baronin Sofia von Kant waren Schwestern gewesen.

»Was für ein Glück, dass Sofia und Fritz mit ihren Kindern schon so lange auf Sternberg leben«, meinte Victoria. »Wenn Christian Sternberg hätte verlassen müs­-

sen …«

Claus nickte. »Das hat Sofia auch noch einmal gesagt: Wie sehr es ihm hilft, dass er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte. Und dass er seinen Eltern jeden Tag einen Besuch auf dem Hügel abstattet, das hat sie mir auch noch einmal erzählt.«

»Der kleine Fürst«, sagte Victoria nachdenklich. »Weißt du noch, als er etwa zwei Jahre alt war? Wir waren noch Kinder und fanden ihn total niedlich. Er war winzig, und sein Vater so riesengroß …«

Claus lächelte, während er sie zur Tür brachte. »Ja, damals hat das angefangen, dass die Leute ihn ›der kleine Fürst‹ genannt haben.«

»Und jetzt ist er fünfzehn – und hat schon keine Eltern mehr«, murmelte Victoria. »Grüß ihn ganz besonders herzlich, Claus.«

Das versprach er ihr. Sie verabschiedeten sich mit einer liebevollen Umarmung voneinander, dann ging Victoria, und Claus kehrte zu seinem Sofa zurück, wo er nach einer Weile wieder zu dem Buch von Arabella von Hoyningen griff, das er gerade las. Die anderen hatte er in seinem Schlafzimmer liegen. Zufällige Besucher wie zum Beispiel seine Schwester mussten ja nicht sofort sehen, dass er gleich mehrere Bücher der jungen Reiseschriftstellerin gekauft hatte.

Er streckte sich aus und vertiefte sich in einen Bericht über den Besuch, den Arabella von Hoyningen einem Kloster in Nepal abgestattet hatte.

*

Der Abend ließ sich genauso an, wie Jakob befürchtet hatte: Arabella begrüßte ihn mit einem so eisigen Lächeln, als wollte sie die Atmosphäre zum Gefrieren bringen. Ihre Mutter flatterte aufgeregt herum, während ihr Vater versuchte, der Situation mit ein paar launigen Bemerkungen die Spannung zu nehmen.

»Wir lassen euch ein paar Minuten allein«, flötete Bettina von Hoyningen, »damit ihr euch besser kennenlernen könnt. Komm, Jo.«

Johannes von Hoyningen zögerte sichtlich, zumal Arabella ihm und ihrer Mutter Blicke zuwarf, die getötet hätten, wären sie giftige Pfeile gewesen. Doch Bettina gab keine Ruhe, sie zerrte ihren Mann beinahe aus dem Raum.

»Hören Sie«, begann Arabella, sobald sie allein waren, »es war nicht meine Idee, Sie einzuladen, und ich bin nicht im Geringsten daran interessiert, Sie näher kennenzulernen.«

»Danke, gleichfalls«, erwiderte Jakob trocken. »Sie hätten sich trotzdem ein bisschen charmanter ausdrücken können.«

Arabella sah ihn erstaunt an. »Wie bitte?«

»Meine Idee, heute mit Ihnen zu Abend zu essen, war es auch nicht«, erklärte Jakob. »Aber meine Eltern haben dem Drängen Ihrer Mutter nachgegeben und mich angefleht, die Einladung anzunehmen. Also habe ich es getan. Ich war aber fest entschlossen, Ihnen bei der erstbesten Gelegenheit vorzuschlagen, dass wir uns den Abend nicht vermiesen lassen sollten. Wir wollen nichts voneinander, aber wir können uns doch trotzdem gut unterhalten, oder?«

Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf Arabellas Gesicht aus. »Sie sind mir ja vielleicht einer!«, murmelte sie. »Eigentlich sollte ich beleidigt sein, dass Sie nichts von mir wollen, ohne mich überhaupt zu kennen.«

»Da kann ich mich nur wiederholen: Danke, gleichfalls.«

»Eins zu null für Sie.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich könnte niemals so leben wie Sie«, stellte er fest. »Um ehrlich zu sein: Das wäre sogar eine Horrorvorstellung für mich. Also passen wir auf keinen Fall zusammen, das ist ja logisch.«

»Zu mir passt niemand«, erwiderte sie, »Sie sind allerdings der Erste, der je zu mir gesagt hat: Ich bin auch nicht freiwillig hier. Aber ich warne Sie: Wenn wir uns heute Abend gut amüsieren, wird meine Mutter Hoffnung schöpfen.«

»Damit werden wir leben können, oder?«, fragte er.

»Ich schon, ich bin nicht mehr lange da. Aber Sie bekommen vielleicht Ärger.«

»Ärger? Wie meinen Sie das?«

»Sie könnte Sie anrufen und fragen, ob Sie etwas von mir gehört haben. Sie lädt Sie vielleicht ein, erzählt herum, dass sich etwas zwischen uns anbahnt … Solche Dinge eben.«

»Ich lebe in Nürnberg«, erklärte Jakob gelassen. »Das heißt, ich bin weit vom Schuss.«

»Unterschätzen Sie meine Mutter nicht«, warnte Arabella. »Sie kann sehr hartnäckig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«

Jakob wollte noch etwas erwidern, kam jedoch nicht mehr dazu, da Arabellas Eltern zurückkehrten. Ihre Mutter sah erwartungs- und hoffnungsvoll aus, ihr Vater erwartete sichtlich einen weiteren peinlichen Abend voller unterschwelliger Spannungen.

Wie überrascht und erfreut aber waren beide, als sie feststellen mussten, dass sich Arabella und Jakob bestens verstanden – und das, obwohl der junge Mann freimütig erklärte, sich ein Leben, wie Arabella es führte, für sich selbst nicht vorstellen zu können. Er hörte der jungen Frau aber interessiert zu, als sie von ihrer letzten Reise berichtete, und er stellte ihr auch viele Fragen, die sie gern und ausführlich beantwortete.

Je länger der Abend dauerte, umso mehr glänzten Bettina von Hoyningens Augen, während sich Johannes fragte, was sich da eigentlich gerade vor seinen Augen abspielte. Er hätte seinen Kopf darauf verwettet, dass sich hier keine Liebesgeschichte anbahnte – aber was war es dann? Schon lange war Arabella im Haus ihrer Eltern nicht mehr so munter gewesen, so frei von Aggressionen, die sie immer entwickelte, wenn sie neue Bevormundungsversuche ihrer Mutter befürchtete.

Warum war dieses Mal alles anders?

Eine Antwort auf diese Frage bekam er nicht. Der Abend endete in Harmonie, der junge Herr von Gelenburg wurde von Arabella mit einer geradezu liebevollen Umarmung verabschiedet, und gleich darauf verabschiedete sich auch Arabella, um in die kleine Wohnung zurückzukehren, die in Deutschland ihr ›Ankerplatz‹ war, wie sie das nannte.

»Was sagst du nun, Jo?«, fragte Bettina ihren Mann mit glücklichem Lächeln. »Ich hab’s gewusst! Ich hab’s einfach gewusst!«

»Was denn, Tina?«

»Dass sie sich eines Tages einfach verlieben muss!«, rief Bettina triumphierend, und Johannes brachte es nicht übers Herz, ihr die Freude mit der Bemerkung zu vergällen, dass angeregte Gespräche und gegenseitige Sympathie nicht gleichbedeutend mit Liebe waren.

Sie würde es früher oder später von selbst einsehen müssen.

*

»Was liest du da?«, fragte Anna, als sie Christians Zimmer betrat.

»Eine Reportage von Arabella«, antwortete er. »Ihre erste Indienreise. Sehr interessant, sie kann gut schreiben.«

Anna nickte. »Ich habe auch eine gelesen, weil ich mir sonst blöd vorgekommen wäre, wenn sie zu uns kommt und ich zugeben muss, dass ich keins ihrer Bücher kenne. Sie ist nur etwas mehr als zehn Jahre älter als Konny und hat schon fast die ganze Welt gesehen.«

»Ja, das habe ich mir auch überlegt, als ich angefangen habe zu lesen.«

»Ob sie das wohl für immer so machen will?«

»Keine Ahnung, wir können sie ja fragen.«

»Ich habe Mama gefragt, ob wir nicht Sabrina und Theo am Wochenende einladen könnten – sie meinte, das wäre eine gute Idee. Was denkst du?«

Ihre Blicke begegneten sich. Theodor zu Ellern war Annas erster Freund – allerdings sahen sie einander selten, da der junge Mann nicht in Sternberg wohnte. Aber wann immer er kam, war er ein gern gesehener Gast. Sabrina von Erbach war Annas beste Freundin – zugleich aber, das wusste nur außer Anna niemand sonst, war sie Christians erste große Liebe. Sie hielten sie geheim, weil Sabrinas Eltern überängstlich waren und ihre Tochter am liebsten ständig überwacht hätten. Nach Sternberg durfte sie gelegentlich kommen – hätten aber die Erbachs etwas von den Gefühlen zwischen Sabrina und Christian geahnt, so hätten sie ihr sicherlich nie mehr einen Besuch auf Sternberg erlaubt.

»Das wäre schön«, sagte Chris­tian leise. »Aber ob ihre Eltern es gestatten?«

»Fragen kostet nichts«, erwiderte Anna. »Und die Erbachs wollen ja immer, dass Sabrina so viel wie möglich lernt – vielleicht sehen sie die Begegnung mit einer bekannten Reiseschriftstellerin als Weiterbildungsmöglichkeit an. Ich rufe gleich mal an.«

Mit diesen Worten ließ sie Christian allein. Er gestattete sich noch ein paar sehnsuchtsvolle Gedanken an Sabrina, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte. Wenn er es vor Arabellas Eintreffen noch durchlesen wollte, musste er sich ein wenig beeilen.

Die schlechte Nachricht ließ jedoch nicht lange auf sich warten: »Sabrina darf nicht kommen, und Theo kann nicht, weil die Familie seines Onkels zu Besuch ist«, teilte Anna ihrem Cousin tief betrübt mit. »So ein Mist!«

Nach diesen Worten verschwand sie, und nun hatte Christian Mühe, sich auf Arabellas Buch zu konzentrieren. Seine Enttäuschung war einfach zu groß.

So lange war er schon nicht mehr mit Sabrina allein gewesen, und nun würde er sie also auch am kommenden Wochenende nicht sehen! Mit einem tiefen Seufzer legte er das Buch schließlich beiseite und rief nach Togo. Ein Gang durch den Schlosspark würde ihn hoffentlich auf andere Gedanken bringen.

*

»Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau, Sie haben das hier verloren.«

Victoria drehte sich erstaunt um und sah in das freundliche Gesicht eines jungen Mannes mit welligem Haar und braunen Augen, die sie aufmerksam ansahen. Dann erst blickte sie auf seine Hand und erkannte ihr seidenes Tuch, das ihr offenbar von den Schultern gerutscht war. »Vielen Dank!«, sagte sie. »Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass es fehlte …«

»Ich weiß«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Sie sind ja einfach weitergegangen.«

Sie nahm das Tuch und bedankte sich erneut. »Das war sehr freundlich von Ihnen. Kann ich mich irgendwie erkenntlich zeigen?«

Er lachte. Es war, stellte sie fest, ein ausnehmend sympathisches Lachen. »Wollen Sie mir Finderlohn anbieten? Den müsste ich leider ablehnen.«

»Aber eine Tasse Kaffee würden Sie annehmen?«

»Nur in Ihrer Gesellschaft.«

Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »So viel Zeit habe ich noch«, sagte sie. »Aber ich kenne mich in Nürnberg nicht aus, ich bin nicht von hier. Also weiß ich nicht, ob es in der Nähe ein gutes Café gibt.«

»Aber ich weiß das«, erklärte er und zeigte auf die andere Straßenseite. »Dort ist der Kaffee ausgezeichnet. Mein Name ist übrigens Jakob von Gelenburg.«

»Victoria von Kahlenfels.«

»Die Dokumentarfilmerin?«, fragte er.

Sie nickte, erfreut und verwundert zugleich. Sie begegnete nicht oft Menschen, denen ihr Name etwas sagte.

»Ich habe ein paar Ihrer Filme gesehen«, sagte er. »Sie können gut mit Menschen reden.«

Ihre Verwunderung wuchs. »Interessieren Sie sich für Dokumentarfilme?«, fragte sie. »Das ist außergewöhnlich.«

»Ich interessiere mich für alle Arten von Filmen«, erklärte Jakob.

Sie betraten das Café und suchten sich einen Platz an einem der Fenster. Um diese Zeit war nicht allzu viel los, im Hintergrund spielte leise klassische Musik. Sie bestellten einen Capuccino und einen Espresso bei der freundlichen Kellnerin.

»Haben Sie beruflich mit Film zu tun?«, fragte Victoria, die sich allmählich zu fragen begann, wer dieser junge Mann war, mit dem sie durch reinen Zufall hier im Café gelandet war.

Auf den ersten Blick hatte sie ihn eher unauffällig gefunden, jetzt jedoch fiel ihr das gut geschnittene Gesicht auf, und sie sah, dass er schöne Augen hatte.

»Nein, überhaupt nicht«, erklärte er. »Ich bin Kinderarzt. Irgendwann möchte ich eine eigene Praxis eröffnen, aber das ist Zukunftsmusik. Im Augenblick arbeite ich hier im Krankenhaus.«

»Ach«, murmelte Victoria. Wie immer, wenn sie anfing, sich für einen Menschen zu interessieren, fragte sie sich, wie es wäre, einen Film über ihn und sein Lebensumfeld zu machen.

Jakob lachte leise. »Ich weiß genau, was Sie denken!«, behauptete er.

»Das können Sie unmöglich wissen!«, widersprach Victoria.

»Sie überlegen, wie es wäre, einen Film über Krankenhausärzte zu machen«, sagte er. »Es wird ja jetzt so viel über uns geschrieben: Wir verdienen nicht genug, müssen viel zu lange Dienste machen, sind gegenüber den niedergelassenen Ärzten im Nachteil. Sie überlegen also, wie ich im Film wirken würde, ob ich mich gut ausdrücken und Sympathien wecken kann …«

»Sie sind unglaublich!«, rief Victoria, und das meinte sie wörtlich. »Woher wussten Sie das?«

»Weil es nahe liegt«, erklärte er. »So, wie ich mir jedes Kind daraufhin ansehe, ob es eine versteckte Krankheit hat, überlegen Sie ständig, welches das richtige Thema für Ihren nächsten Film sein könnte. Das ist normal.«

»Trotzdem finde ich es schrecklich, so schnell durchschaut zu werden von jemandem, den ich überhaupt nicht kenne«, murmelte Victoria.

»Ich finde, Sie sollten einen ganz anderen Film machen«, sagte Jakob. »Über eine Frau, die nicht nur schön und interessant ist, sondern auch bereits bekannt. Soweit ich weiß, gibt es noch keinen Film über sie – aber er wäre garantiert ein Erfolg.«

»Wen meinen Sie?«, fragte Victoria neugierig.

»Arabella von Hoyningen. Sie schreibt …«

»Reisereportagen, ich weiß. Sie werden mir allmählich unheimlich, Herr von Gelenburg. Wie kommen Sie gerade auf Arabella von Hoyningen?«

»Ich habe gestern mit ihr zu Abend gegessen und mich sehr gut amüsiert. Sie ist witzig und gescheit, so viel habe ich schon lange nicht mehr gelacht.«

Victoria verspürte einen kleinen Stich angesichts seiner offenkundigen Begeisterung. »Sind Sie in sie verliebt?«, fragte sie und zwang sich zu einem sachlich-trockenen Ton.

Er lächelte. »Nicht die Spur«, erklärte er. »Aber ich fand sie auf Anhieb sympathisch, und sie kann wunderbar erzählen. Sie wäre ideal für ein Filmportrait.«

»Seltsam«, murmelte Victoria. »Mein Bruder und ich haben zufällig gestern über sie gesprochen. Er wird sie kennenlernen, weil er sich zur gleichen Zeit wie sie auf Sternberg aufhalten wird.« Sie schüttelte den Kopf. »Das mit dem Filmportrait wird leider nichts, obwohl ich diese Idee selbst schon hatte. Sie macht so etwas grundsätzlich nicht, denn dann müsste man sie natürlich auf einer ihrer Reisen begleiten, und das lehnt sie ab. Sie will sich nicht stören und wohl auch nicht in die Karten gucken lassen.«

»Ich kenne sie nicht gut genug, um mich für Sie zu verwenden«, erklärte Jakob, »sonst würde ich das jederzeit tun.«

»Aber ich würde das gar nicht wollen«, entgegnete Victoria. »Wenn ich jemanden mit der Kamera begleite, dann muss sie oder er das wollen – und Vertrauen zu mir haben. Dabei hilft die Vermittlung durch einen Dritten wenig.«

»Schade«, seufzte Jakob. »Ich hätte Ihnen gern geholfen.«

»Das haben Sie doch schon! Ohne Sie hätte ich mein Tuch bestimmt nicht wiederbekommen.« Sie sah aus dem Fenster. »Da zieht schon wieder Regen auf«, sagte sie. »Es kommt mir so vor, als hätte es seit Wochen nur geregnet.«

»Sie übertreiben«, bemerkte er. »Aber es stimmt schon: Die letzte Zeit war ziemlich nass. Haben Sie einen Schirm dabei?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber mein Wagen steht in der Nähe.«

»Ich bringe Sie hin«, schlug Jakob vor. »Und wenn Sie das nächste Mal in Nürnberg sind …«

»In nächster Zeit werde ich öfter hier sein«, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln. »Ich mache einen Film über jemanden, der Nürnberger Lebkuchen herstellt – die echten.«

Jakob zeigte seine Freude über diese Antwort ganz offen. »Tatsächlich? Gehen wir dann mal zusammen essen?«

Eigentlich war sie davon ausgegangen, ihn nie wiederzusehen, aber zu ihrem eigenen Erstaunen hörte sie sich sagen: »Gern. Ich kann mich ja bei Ihnen melden, wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben …«

»Darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen – bitte, geben Sie mir Ihre auch. Damit ich Sie bei Gelegenheit an Ihr Versprechen erinnern kann!«

Sie tauschten also die Telefonnummern aus, dann brachte Jakob Victoria zu ihrem Wagen. »Schade, dass Sie schon fahren müssen«, sagte er. »Ich hätte Ihnen gern noch die Stadt gezeigt.«

»Beim nächsten Mal«, erwiderte Victoria.

»Ist das ein Versprechen?«, fragte er und hielt ihre Hand fest, bis sie lächelnd nickte.

Im Rückspiegel sah sie, dass er ihr nachblickte, bis sie um die nächste Ecke bog. Sie freute sich schon jetzt darauf, sich von ihm die Stadt zeigen zu lassen.

*

Claus hielt an, stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen, um ein Foto zu machen. Er hatte diesen Blick auf Schloss Sternberg, wie es majestätisch auf seiner Anhöhe thronte, immer schon mal fotografieren wollen, es bisher jedoch nie getan. Entweder hatte ihm die Zeit gefehlt oder das Licht war ungünstig gewesen oder er hatte die Kamera nicht dabei gehabt. Dieses Mal jedoch gab es nichts, was ihn an einem schönen Foto hinderte.

Er holte seine Kamera aus der Tasche – es war eine von denen, in die man noch Filme einlegen musste. All seine Freunde lachten ihn aus, wenn er anfing, damit zu hantieren, aber er ließ sich nicht beirren. Und er nahm sich jetzt auch die Zeit, die er brauchte, um ein wirklich gutes Bild zu machen. Das Licht war schön, am Himmel zogen weiße Wolken vorbei, was sich gut machen würde auf dem Foto und als ein Segelflugzeug Kurs auf Sternberg nahm, drückte er auf den Auslöser. Danach machte er noch drei weitere Fotos, aber schon jetzt wusste er, dass die erste Aufnahme die beste gewesen war.

Zufrieden setzte er sich danach wieder in den Wagen und fuhr weiter. Eilig hatte er es nicht, und so behielt er sein gemächliches Tempo bei. Vermutlich war Arabella von Hoyningen schon vor ihm eingetroffen. Er fragte sich, ob sie sich an ihn erinnern würde – immerhin hatte sie ihn bei der Lesung angesprochen und ihn vor ihrem Argentinien-Buch gewarnt. Aber eigentlich war er sicher, dass sie ihn nicht einmal richtig angesehen hatte, und sie war dann ja auch gleich angerufen worden …

Es wäre ihm jedenfalls lieb gewesen, sie hätte ihn bei der Lesung nicht gesehen, denn er wollte sein Interesse an ihr gern für sich behalten. Er hatte ja mitbekommen, wie sie gefeiert worden war von ihren Fans, also war sie es gewöhnt, mit Aufmerksamkeiten überhäuft zu werden. Gut möglich also, dass sie unerträglich war, sobald man sie näher kennenlernte – es schien ihm daher ratsam zu sein, sich zunächst einmal zurückzuhalten.

Er stellte den Wagen ab, wurde von Eberhard Hagedorn, dem stets untadeligen Butler auf Sternberg, der dort schon so lange in Diensten war, dass man sich das Schloss ohne ihn gar nicht mehr vorstellen konnte, höflich empfangen und dann von Baronin Sofia und Baron Friedrich herzlich begrüßt.

»Du musst zunächst mit uns vorliebnehmen, Claus«, sagte die Baronin. »Arabella ist mit Anna und Christian ausgeritten – und so wie es aussieht, werden sie ziemlich nass werden, wenn sie nicht bald zurückkehren. Das beste Wetter habt ihr euch für euren Besuch leider nicht ausgesucht.«

»Es kommt ja nicht auf das Wetter an, Sofia«, erwiderte Claus charmant, »sondern darauf, dass wir uns wieder einmal sehen.«

»Einige neue Pferde haben wir, Claus«, sagte der Baron, doch weiter kam er nicht, denn Konrad, sein sechzehnjähriger Sohn, stürzte aufgeregt herein. »Wenn es weiter so regnet wie in den letzten Tagen, soll es Überschwemmungen geben, auch in der Gegend von Sternberg!«, rief er. »Ich habe die Nachrichten gerade gehört. Oh, hallo, Claus, ich habe gar nicht mitbekommen, dass du schon da bist.«

»Hallo, Konny. Was sagst du da? Es soll auch hier Überschwemmungen geben?«

»Aber wir liegen doch ziemlich abseits, es ist gar kein großer Fluss in der Nähe«, warf die Baronin ein.

»Es sind ja nicht nur die großen Flüsse, die Unheil anrichten«, gab Claus zu bedenken. »Wenn aus kleinen Bächen plötzlich reißende Ströme werden, die sich neue Wege mitten durch Ortschaften suchen, kann das katastrophale Auswirkungen haben. Euch hier oben wird kaum etwas passieren, aber unten in den Tälern sieht das unter Umständen schon anders aus.«

Die Baronin sah beunruhigt aus einem der hohen Fenster, von denen aus man den Schlosspark übersehen konnte, der an seinem Ende in Wald überging. »Hoffentlich kommen die drei bald zurück«, murmelte sie. »Die müssen doch auch sehen, dass sich der Himmel schon wieder zuzieht!«

»Wenn sie noch Freiwillige brauchen, um an den Flussufern Sandsäcke auszulegen, kann ich dann mitmachen?«, fragte Konrad. »Aus meinem Sportverein wollen sich einige dafür melden.«

»Natürlich kannst du dann mitmachen, Konny«, erwiderte der Baron. »Aber so weit ist es doch wohl noch nicht. Und vielleicht wird es ja auch gar nicht so schlimm wie befürchtet.«

»Die rechnen aber damit, Papa!«

Eberhard Hagedorn erschien. »Was darf ich servieren?«, fragte er. »Tee oder Kaffee?«

»Ein Tee wäre jetzt schön«, seufzte die Baronin, und diesem Wunsch schlossen sich die anderen an.

*

»Traumhaft!«, rief Arabella über­mütig, nachdem sie eine längere Strecke im gestreckten Galopp zurückgelegt hatten. »Ihr seid richtig gute Reiter geworden, ihr beiden!«

»Geworden?«, fragte Anna. »Das waren wir immer schon, Bella. Nicht, Chris?«

Der kleine Fürst nickte. »Wir sollten trotzdem zurückreiten«, schlug er vor. »Habt ihr mal nach oben gesehen?«

Sowohl Arabella als auch Anna erschraken, als sie die dicken schwarzen Wolken sahen, die schnell über den Himmel zogen und so aussahen, als wollten sie sich jeden Augenblick direkt über ihren Köpfen von ihrer nassen Last befreien. »Meine Güte!«, rief Arabella. »Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass das Wetter umgeschlagen ist, so froh war ich, mal wieder richtig reiten zu können.«

Sie wendeten also, beschlossen aber, einen kürzeren Rückweg zu nehmen. Die Chance freilich, noch trocken zum Schloss zurückzukehren, schätzten sie als gering ein – und sie täuschten sich nicht. Zwar war das Schloss bereits in Sichtweite, als der Himmel seine Schleusen öffnete, aber die letzten fünf Minuten ritten sie durch heftig auf sie niederprasselnden Regen. Zugleich kündeten Blitze und noch fernes Donnergrollen von einem sich nähernden Gewitter, vor dem sich offenbar auch die Pferde fürchteten, denn sie legten die letzte Wegstrecke in gestrecktem Galopp zurück, ohne dass sie hätten angetrieben werden müssen, und so schafften sie es, den Wald zu verlassen, bevor das Gewitter herangezogen war. Als sie die Stallungen endlich erreichten, waren sie alle drei bis auf die Haut durchnässt, Annas Lippen waren vor Kälte blau angelaufen.

Robert Wenger, der Stallmeister, und mehrere Pferdepfleger halfen ihnen. Normalerweise kümmerten sich Anna und Christian nach einem Ausritt selbst um die Pferde, doch dieses Mal waren sie froh, dass es Leute gab, die ihnen ohne Aufforderung zu Hilfe kamen.

»Wollen Sie sich hier abtrocknen und warten, bis das Gewitter vorüber ist?«, fragte der Stallmeister. »Vielleicht wäre das das Beste.«

»Aber es kann noch sehr lange regnen, Herr Wenger«, wandte der kleine Fürst ein, bevor Arabella oder Anna antworten konnten. »Ich finde, wir laufen schnell hinüber, nass sind wir ja ohnehin.«

»In Ordnung«, erwiderte Robert Wenger. »Ich sage im Schloss Bescheid, dass Sie im Anmarsch sind.«

Und so rannten Arabella, Anna und Christian nass wie sie waren über den Schlosshof auf das bereits geöffnete Eingangsportal zu. Eberhard Hagedorn stand dort und erwartete sie mit großen, trockenen Handtüchern.

Baronin Sofia eilte ebenfalls herbei. »Gott sei Dank, da seid ihr ja endlich!«, rief sie. »Wir haben uns Sorgen gemacht, weil ihr so lange ausgeblieben seid!«

»Tut mir leid, Sofia«, keuchte Arabella. »Wir haben den Wetterumschwung nicht rechtzeitig mitbekommen, sonst wären wir längst umgekehrt.«

»Nach oben mit euch!«, kommandierte die Baronin und warf ihrer Tochter einen besorgten Blick zu. »Seht zu, dass ihr die nassen Sachen sofort auszieht und duscht bitte so lange, bis euch wieder warm ist!«

»Vielleicht wäre ein heißes Bad sogar besser, Frau Baronin«, sagte Eberhard Hagedorn. »Das Wasser läuft in allen Bädern bereits ein.«

»Danke, Herr Hagedorn«, erwiderten Arabella und der kleine Fürst wie aus einem Mund.

Anna konnte vor lauter Zähneklappern nichts sagen, aber sie nickte immerhin. Als ihre Mutter eine Viertelstunde später nach ihr sah, lag sie zufrieden mit geschlossenen Augen in der Badewanne und summte vor sich hin. »Alles wieder in Ordnung, Mama«, sagte sie.

»Hoffentlich«, erwiderte die Baronin mit einem Seufzer. »Wenn dir wieder warm ist, komm bitte nach unten, Anna. Claus ist schon vor einer Stunde angekommen.«

»Nur noch fünf Minuten, Ma­ma!«

»Na, schön!«, sagte Sofia und kehrte nach unten zurück.

*

»Wie war sie denn nun?«, fragte Jens Willmann ungeduldig.

»Sehr, sehr nett«, antwortete Jakob. »Witzig, charmant, schlagfertig. Ich bin deinem Vorschlag gefolgt und habe die Situation geklärt, sobald wir allein waren. Sie war sehr erleichtert, als ich ihr gesagt habe, dass ich auch nichts von ihr will. Nur ihre Mutter denkt jetzt, dass wir uns ineinander verliebt haben. Aber Bella hat mich gleich gewarnt, dass das passieren würde.«

Jens stellte ihm noch etliche Fragen zu Arabella, bis er merkte, dass Jakob nicht ganz bei der Sache war. »Sag mal, ist was?«, fragte er. »Du hast gerade mit einer ziemlich bekannten und äußerst attraktiven Frau einen Abend verbracht, aber irgendwie redest du über sie, als wäre das … Wie soll ich es ausdrücken? Na ja, als wäre es nichts Besonderes.«

»Ist es ja auch nicht«, erklärte Jakob mit unschuldigem Lächeln, denn auf diesen Augenblick hatte er sich schon die ganze Zeit gefreut, »jedenfalls nicht mehr, wenn man einen Tag später der Frau begegnet, bei der es auf Anhieb ›klick‹ macht.«

Jens brauchte genau drei Sekunden, um zu verstehen, was Jakob ihm soeben anvertraut hatte. »Du hast dich verliebt?«, fragte er ungläubig. »In wen denn?«

»In eine Dokumentarfilmerin, der netterweise ihr seidenes Tuch von den Schultern gerutscht ist, so dass ich einen Grund hatte, sie anzusprechen. Ich weiß, wie sie heißt, und ich habe ihre Telefonnummer. Außerdem ist sie in nächster Zeit häufiger in Nürnberg, weil sie hier einen Film dreht.«

»Jakob von Gelenburg hat sich verliebt«, sagte Jens fassungslos. »Und zwar nicht in Arabella von Hoyningen, was eigentlich nur natürlich gewesen wäre …«

»Natürlich? Wieso das denn? Wir passen nicht zueinander, das wusste ich doch gleich, und ich hatte es dir auch gesagt, Jens!«

»Eine Dokumentarfilmerin ist auch viel unterwegs – das war doch dein Argument? Dass du ein eher häuslicher Typ bist, nicht?«

»Bin ich ja auch. Aber, ehrlich gesagt, mittlerweile denke ich, dass es darauf gar nicht ankommt. Ich hätte mich auf jeden Fall in Victoria verliebt, Jens. Vergiss, was ich vorher gesagt habe. Bei ihr hat es gleich gefunkt, Arabella fand ich nur nett. So einfach ist das.«

»Victoria«, murmelte Jens. »Wann siehst du sie wieder?«

»Bald«, erklärte Jakob zuversichtlich. »Ich lasse ihr jetzt ein bisschen Zeit zum Nachdenken, dann rufe ich sie an und verabrede mich mit ihr.«

»Tu’s gleich«, riet Jens. »Frauen wollen nicht nachdenken, die wollen überwältigt werden.«

»Sagte der Mann mit der reichhaltigen Erfahrung.«

»So ist es. Hör auf mich, wenigstens dieses eine Mal. Ruf sie sofort an.«

»Aber nicht, wenn du mir dabei zuhörst«, sagte Jakob. »Ich rufe sie von zu Hause aus an.« Entschlossen wechselte er das Thema. »Sag mal, hast du mir nicht erzählt, dass du bald auf Klassenfahrt gehst?«

»Morgen schon – ich werde also ein paar Tage auf Neuigkeiten aus deinem im Augenblick so aufregenden Leben verzichten müssen, denn wie das immer so ist auf Klassenfahrten: Man hat nicht eine ruhige Minute, vor allem nicht mit einer siebten Klasse.«

»Wo soll’s denn hingehen?«

»In die berühmteste Jugendherberge im gesamten Sternberger Land – sie heißt ›Inselglück‹, obwohl sie überhaupt nicht auf einer Insel liegt, sondern auf einer kleinen Anhöhe, die von zwei Flüsschen praktisch eingerahmt wird.«

»Da bin ich ja als Schüler schon gewesen!«, rief Jakob. »Und die gibt es immer noch?«

»Aber ja, und es war doch immer toll da, oder? Das Problem ist das Wetter. Man ist wirklich darauf angewiesen, dass man nach draußen kann. Wenn du da aber mit einer Horde Zwölfjähriger eine Woche lang eingesperrt bist, kriegst du einen Koller, weil keine Stadt in der Nähe ist, wo du etwas unternehmen könntest.«

»Wie viele Schüler sind denn dabei?«

»Zweiunddreißig – und nur zwei Lehrer. Ist eine schöne Abwechslung vom Schulalltag, man macht auch immer wieder erstaunliche Entdeckungen über Schüler, die man eigentlich glaubte zu kennen, aber wie gesagt: Wenn das Wetter nicht mitspielt, haben wir keine guten Karten.«

»Ich halte die Daumen«, sagte Jakob. »Und jetzt sollten wir gehen, damit ich mein Versprechen heute noch erfüllen kann. Schließlich kann ich eine Frau, die ich gerade erst kennengelernt habe, nicht gegen Mitternacht anrufen.«

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, sah Jens seinem Freund kopfschüttelnd nach. Jakob musste, zumindest im Hinblick auf das andere Geschlecht, noch sehr viel lernen!

*

Als das Telefon klingelte, sprang Victoria auf, denn sie wartete schon sehnsüchtig auf diesen Anruf. Er musste doch endlich von Jakob von Gelenburg sein! Der Mann ließ sich ja wirklich Zeit – dabei war sie davon ausgegangen, dass er sie schon anrufen würde, bevor sie Nürnberg überhaupt verlassen hatte. Doch das war ein Irrtum gewesen: Er hatte sich bis jetzt nicht gemeldet.

Trotz ihrer Ungeduld ließ sie es viermal klingeln, bevor sie sich meldete, knapp wie immer. »Kahlenfels.«

»Gelenburg«, erwiderte Jakobs Stimme im gleichen Tonfall.

Sie lachten beide, dann sagte Victoria, obwohl sie das eigentlich für sich hatte behalten wollen: »Sie haben sich mehr Zeit gelassen als ich dachte.«

»Tatsächlich?«, rief Jakob überrascht. »Ich wollte nicht aufdringlich sein, aber dann hat mein Freund Jens behauptet, das sei ganz falsch, Frauen wollten überwältigt werden. Stimmt das?«

»Kennen Sie sich denn so wenig aus mit Frauen?«

»Sieht zumindest so aus, oder?«

»Allerdings, sonst hätten Sie mir gar nicht so offen von dem Gespräch mit Ihrem Freund erzählt.«

»Stört Sie das? Ich meine, dass ich wenig Erfahrung habe? Und mit meinem Freund über Sie spreche?«

Victoria lachte leise. »Nein, überhaupt nicht. Ich würde sogar sagen: Im Gegenteil. Und was hat Ihr Freund Ihnen für dieses Gespräch noch für Ratschläge gegeben?«

»Keine. Er fand es nur wichtig, dass ich mich gleich bei Ihnen melde. Wann sind Sie wieder in Nürnberg?«

»In den nächsten Tagen. Ich muss zuerst ein paar Termine machen, dann komme ich.«

»Und dann verabreden wir uns? Oder wollen wir das jetzt gleich tun?«

»Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit«, bat sie, »bis ich genau weiß, wann ich frei bin und wann nicht. Ich muss mit etlichen Leuten reden und Interviews für den Film vorbereiten. Und ich muss noch ein paar Drehorte festlegen.« Victoria stockte. »Dabei könnten Sie mir allerdings helfen. Mir fehlen noch ein paar.«

»Mit dem allergrößten Vergnügen!«, rief Jakob.

Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, summte Victoria verträumt vor sich hin. Sie ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen und kam im Flur an einem Spiegel vorbei. Erstaunt blieb sie stehen und betrachtete das glückstrahlende Gesicht, das ihr daraus entgegenblickte. War das wirklich sie, diese Frau mit den strahlenden Augen?

Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, bevor sie ihren Weg in die Küche fortsetzte. Jakob von Gelenburg, dachte sie. Wer hätte das gedacht?

*

Arabella war nicht lange in der Badewanne geblieben, und so traf sie noch vor Anna und Christian unten im Salon ein, wo Sofia und Friedrich mit ihrem Gast Claus von Kahlenfels saßen, mit dem sie Arabella umgehend bekannt machten.

Er war ein ausgesprochen attraktiver Blonder, dieser Graf von Kahlenfels, stellte Arabella fest – und diese Einschätzung bezog sich nicht allein auf sein Äußeres, sondern auch auf den festen Händedruck, mit dem er sie begrüßte, sein leicht spöttisches Lächeln, die angenehme Stimme und die Tatsache, dass er nicht, wie so viele Männer, übertrieben beeindruckt wirkte, als sie einander vorgestellt wurden. Er kam ihr vage bekannt vor, aber sie durchforschte ihr Gedächtnis vergeblich nach einer Gelegenheit, bei der sie ihm begegnet sein könnte. Jedenfalls überfiel er sie auch nicht gleich mit der Nachricht, dass er ein begeisterter Fan von ihr sei und alle ihre Bücher gelesen habe, was für sie stets der erste Grund war, einen Mann von Grund auf langweilig zu finden. Denn die meisten behaupteten das nur, um sich bei ihr einzuschmeicheln. Wenn sie genauer nachfragte, stellte sich meistens heraus, dass sie sich gerade mal die Titel einiger Bücher gemerkt hatten. Dann sollten sie doch lieber ehrlich sein und sagen: ›Reisereportagen interessieren mich nicht.‹ Damit konnte sie gut umgehen.

»Hast du schon eins von Arabellas Büchern gelesen, Claus?«, fragte die Baronin, nachdem sie wieder Platz genommen hatten.

Er grinste verschmitzt. »Darf ich ehrlich sein? Reisereportagen interessieren mich nicht sonderlich. Ich hoffe, Frau von Hoyningen, das nehmen Sie mir nicht übel.«

Zu ihrem eigenen Erstaunen tat Arabella das aber doch. Seltsam, dachte sie, normalerweise ist es mir vollkommen gleichgültig, ob jemand meine Bücher liest oder nicht, aber die Meinung von Graf Kahlenfels hätte mich wirklich interessiert!

»Natürlich nicht«, log sie lächelnd. »Es wäre doch auch schrecklich, wenn alle die gleichen Interessen hätten.«

»Ja, das meine ich auch.«

Arabella war froh darüber, dass jetzt Anna und Christian auftauchten, so dass sie Muße hatte, sich den gut aussehenden Grafen von Kahlenfels in Ruhe anzusehen, während er mit den beiden Teenagern herumalberte. Sie war verunsichert und ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Wo blieb ihre sonstige Souveränität? Warum ließ sie sich von diesem Mann beeindrucken? Er war auch nicht anders als all die anderen, die schon versucht hatten, bei ihr zu landen!

Außerdem würde sie ja zum Glück bald zu ihrer nächsten Reise aufbrechen! Der Gedanke daran hätte sie eigentlich mit großer Erleichterung erfüllen müssen, doch diese blieb aus, was ihre Verunsicherung noch vergrößerte.

»Wo ist Konny eigentlich?«, fragte Anna und rief Arabella durch diese Frage in die Gegenwart zurück.

»Wahrscheinlich sieht er sich die Nachrichten an oder telefoniert«, erklärte die Baronin. »Es scheinen heftige Überschwemmungen zu drohen – und da der Regen einfach nicht nachlassen will, wurde Unwetteralarm ausgegeben.«

»Aber nicht für uns hier, oder?«, fragte der kleine Fürst.

»Noch nicht, aber es scheint nicht ausgeschlossen zu sein. Konny will sich für freiwillige Hilfsarbeiten melden, wenn die Pegelstände der Flüsse weiter anschwellen. Einige kleinere Bäche scheinen schon zu reißenden Gewässern geworden zu sein, die sich neue Wege suchen – mitten durch Ortschaften hindurch.«

»Dann will ich auch helfen«, sagte der kleine Fürst entschlossen.

»Wenn es so weit kommt, gehe ich davon aus, dass wir alle helfen, Chris«, stellte der Baron fest.

Unwillkürlich wandten sich ihre Blicke den Fenstern zu. Das Gewitter war abgezogen, aber es regnete noch immer kräftig. Wie ein grauer Vorhang sah der Regen aus, so dass er den Ausblick auf Park und Schlosshof unmöglich machte.

»Als wären wir vom Regen eingesperrt«, sagte Anna leise und drückte damit aus, was alle anderen dachten.

Wenig später löste sich die kleine Gesellschaft bis zum Abendessen auf.

*

»Hier ist Bettina von Hoyningen, Herr von Gelenburg. Ich rufe nur an, um Ihnen noch einmal zu sagen, wie reizend wir den Abend mit Ihnen fanden.«

»Genau wie ich, gnädige Frau«, erwiderte Jakob galant, während er sich fragte, was Arabellas Mutter wohl gesagt hätte, wäre sie Zeuge seines Zusammentreffens mit Victoria von Kahlenfels geworden. Er würde ihr früher oder später ohnehin eine herbe Enttäuschung bereiten müssen – ob es nicht das Beste wäre, das jetzt gleich zu tun? Dann fiel ihm ein, dass Arabella ihm vorhergesagt hatte, was passieren würde, und er beschloss, Bettina von Hoyningen ihre Illusionen noch eine Weile zu lassen. Vielleicht begriff sie ja auch von selbst irgendwann in nächster Zeit, dass sie sich keine Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft ihrer Tochter mit ihm, Jakob, zu machen brauchte.

»Seien Sie nur nicht schüchtern Arabella gegenüber«, fuhr Bettina fort. »Im Gegenteil, ich kann Sie nur ermuntern, Ihre Ziele entschlossen zu verfolgen.«

»Das tue ich eigentlich immer, Frau von Hoyningen«, erwiderte Jakob diplomatisch. »Genau wie Ihre Tochter.«

Ein nervöses Lachen antwortete ihm. »Ja, leider ist Arabella ausgesprochen zielstrebig, wenn es um ihre Reisen geht. In ihrer sonstigen Lebensplanung ist sie allerdings ziemlich chaotisch, deshalb denke ich manchmal, wenn wir, die Eltern, nicht ein wenig nachhelfen, wird sie so weitermachen wie bisher, bis es zu spät ist.«

»Zu spät?«, fragte Jakob. »Immerhin scheint sie mir sehr zufrieden mit ihrem Leben zu sein, und das ist mehr, als die meisten anderen von sich sagen können.«

»Aber wie lange wird das noch so sein, Herr von Gelenburg? Noch ist sie jung, da glaubt man ja immer, dass man mit jeder Schwierigkeit fertig wird – aber wie wird das aussehen, wenn sie älter ist? Daran will sie einfach nicht denken!«

»Sie sollten es auch nicht tun, Frau von Hoyningen. Arabella ist schön und klug, sie weiß, was sie will, und sie ist glücklich. Sie wird das tun, was für sie das Richtige ist.«

»Mit Ihrer Hilfe sicherlich«, erwiderte Bettina.

Jakob hielt es für das Beste, sich zu dieser Vermutung nicht zu äußern. Er schaffte es, das Gespräch höflich zu beenden, ohne zu verraten, dass aus Arabella und ihm niemals ein Liebespaar werden würde. Aber er beschloss, die junge Erfolgsautorin demnächst anzurufen und zu bitten, ihren Eltern, vor allem aber ihrer Mutter reinen Wein einzuschenken. Wem nützte es, wenn Bettina von Hoyningen sich wochen- oder monatelang falsche Hoffnungen machte?

Außerdem, dachte er verträumt, würde ihr sonst irgendwann vermutlich zufällig zu Ohren kommen, an wen er sein Herz tatsächlich verloren hatte.

*

»Ich kann sie nicht besuchen«, sagte der kleine Fürst leise, als Anna sein Zimmer betrat. Er stand am Fenster und sah in den Regen hinaus, der so dicht fiel, dass man noch immer kaum etwas sehen konnte. Der Schlosspark wirkte, als hätte ihn jemand in ein riesiges graues Tuch eingeschlagen. »Nicht bei diesem Unwetter. Als sie gestorben sind, war es auch so, Anna.«

Sie trat zu ihm und griff nach seiner Hand. Christians Eltern waren bei einem Hubschrauberabsturz gestorben. Damals waren auch weite Landstriche überschwemmt worden, und das Fürstenpaar hatte sich eine Übersicht über das Ausmaß der Katastrophe machen wollen. Bei einer Windbö war der Hubschrauber in die Krone eines Baumes geraten und abgestürzt, Christians Eltern und der Pilot waren sofort tot gewesen. Seit das Fürstenpaar seine letzte Ruhe auf dem Familienfriedhof gefunden hatte, einem kleinen Hügel am Rande des Schlossparks, stattete Christian der Gruft jeden Tag einen Besuch ab und ›sprach‹ in Gedanken mit Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold. Er brauchte dieses Ritual, um die Erinnerung an sie lebendig zu halten – und auch, um seine Trauer zu bewältigen.

»Ich muss auch die ganze Zeit daran denken«, erwiderte Anna.

»Manchmal frage ich mich, ob sie wirklich noch da sind und auf mich achten«, fuhr Christian leise fort. »Ich denke ja oft, wenn ich auf dem Hügel bin, dass sie mich sehen, mir zuhören – und mir manchmal auch gute Ratschläge geben, auf so eine indirekte Art, weil wir ja nicht mehr reden können. Aber was ist, wenn ich mir das alles nur einbilde? Wenn tot sein bedeutet, dass da gar nichts mehr ist?«

»Ich habe aber auch manchmal das Gefühl, dass sie noch da sind«, erklärte Anna. »Und Mama auch, das hat sie mir selbst erzählt. Du weißt, dass sie deine Mutter schrecklich vermisst, weil die beiden einander so nahe waren. Sie träumt oft von Tante Lisa und spricht im Traum mit ihr.«

»Aber Träume sind kein Beweis dafür, dass jemand noch da ist«, entgegnete der kleine Fürst zögernd. »Träumen tue ich auch – allerdings nicht mehr so oft wie am Anfang.«

»Einen Beweis gibt es nicht«, stellte Anna fest. »Aber ich finde Beweise auch nicht wichtig. Wichtig ist allein dein Gefühl. Und dein Gefühl sagt dir, dass sie bei dir sind. Alles andere kannst du vergessen.«

Er ließ sich das durch den Kopf gehen. Schließlich lächelte er. »Du bist ziemlich klug, Anna.«

»Weiß ich«, erklärte sie sachlich. »Und jetzt komm. Ich wollte dich eigentlich nur zum Abendessen abholen, die anderen sind, glaube ich, alle schon unten.« Erst jetzt ließ sie seine Hand wieder los und ging zur Tür.

Er folgte ihr, mit leichterem Herzen als noch kurz zuvor. Das war ihr Verdienst, und wieder einmal war er voller Dankbarkeit dafür, dass Anna nicht nur seine Cousine und beinahe seine kleine Schwester war, sondern vor allem seine beste Freundin.

*

Sie war hinreißend – noch hinreißender, als Claus bei ihrer flüchtigen Begegnung im Literaturhaus angenommen hatte. An diese Begegnung, das merkte er schnell, erinnerte Arabella sich tatsächlich nicht. Er war froh darüber.

Ihn faszinierte ihre unbekümmerte Art, und er machte gar nicht erst den Versuch, das vor sich selbst zu leugnen. Sie sprühte nur so vor Energie, ihre Augen strahlten, und sie war, stellte er fest, nicht nur eine gute Schreiberin, sondern sie konnte auch fesselnd erzählen. Er musste an sich halten, um sich nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, wie anziehend er sie fand.

Ihm wurde schnell klar, dass er sein Interesse an ihr unbedingt für sich behalten musste, wenn er nicht einer der zahlreichen hoffnungslosen Verehrer werden wollte, für die die schöne junge Schriftstellerin offenbar nichts als Gleichgültigkeit übrig hatte, denn beim Abendessen berichtete Arabella mit erstaunlicher Offenheit von den unermüdlichen Bemühungen ihrer Eltern, vor allem ihrer Mutter, sie ›unter die Haube‹ zu bringen.

»Und was ist für Sie so schrecklich an dieser Vorstellung?«, fragte er.