E-Book 451-460 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 451-460 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Anke, du bist meine Mami! E-Book 2: Geliebtes Kuckuckskind E-Book 3: Keine Zeit für Jasmin E-Book 4: Ein schmerzlicher Verzicht E-Book 5: Das schwerwiegende Missverständnis E-Book 6: Getrennt für immer? E-Book 7: Wir und unsere große Schwester E-Book 8: Trotzig aus Eifersucht E-Book 9: Ein Pony - ihr bester Freund E-Book 10: Das geheimnisvolle Waldhaus

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Seitenzahl: 1447

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Anke, du bist meine Mami!

Geliebtes Kuckuckskind

Keine Zeit für Jasmin

Ein schmerzlicher Verzicht

Das schwerwiegende Missverständnis

Getrennt für immer?

Wir und unsere große Schwester

Trotzig aus Eifersucht

Ein Pony - ihr bester Freund

Das geheimnisvolle Waldhaus

Sophienlust – Staffel 45 –E-Book 451-460

Diverse Autoren

Anke, du bist meine Mami!

Roman von Frank, Marisa

»Mami, ein Flieger«, jubelte Uli, ein dreijähriger Junge. Begeistert streckte er seine Händchen nach einem bunten Schmetterling aus.

»Mami, Mami«, rief er nochmals, aber die junge Frau sah nicht zu ihm hin. Sie saß im Gras und hatte ihren Kopf an die Schultern eines jungen Mannes gelehnt.

Ulis Gesicht verzog sich. Ein weiterer Schmetterling umgaukelte ihn, aber er beachtete ihn nicht. Rufend kam er herangesprungen.

Jürgen Hauser seufzte. »Kann der Bengel nicht einmal eine Minute Ruhe geben?«

»Er ist kein Bengel«, verteidigte Anke Boger den Kleinen. Sie richtete sich auf und streckte dem Kind ihre Arme entgegen.

»Mami!« Mit einem Jubelschrei ließ Uli sich in die Arme der jungen Frau fallen.

»Was gibt es denn?« Zärtlich strich Anke über das blonde Köpfchen.

»Viele Flieger«, berichtete Uli strahlend. »Komm, ansehen.« Er wollte Anke hochziehen.

Jürgen Hauser, ein gutaussehender junger Mann, griff ein.

»Nichts da, deine Mami bleibt jetzt bei mir. Du hast versprochen, etwas Ruhe zu geben«, sagte er nicht gerade freundlich.

»Mami zeigen«, beharrte Uli. Dabei blitzten seine Augen den jungen Mann wütend an.

»Nein, du gibst jetzt Ruhe«, erklärte Jürgen Hauser. Er erhob sich und wollte nach dem Kleinen greifen, doch dieser war schneller. Er versteckte sich hinter seiner Mami.

»Du sollst weggehen«, rief er hinter Ankes Rücken hervor.

»Da hast du es«, sagte Jürgen wütend. »Willst du noch immer nicht einsehen, daß du den Kleinen verziehst?«

Anke antwortete darauf nicht. Was sollte sie auch sagen? Wahrscheinlich hatte Jürgen recht, aber sie versuchte, dem Jungen die Mutter zu ersetzen.

Uli war ein halbes Jahr gewesen, als Ankes Schwester Nicole tödlich verunglückt war. Sie hatte keinem gesagt, wer Ulis Vater war, sondern ihr Geheimnis auch mit ins Grab genommen.

»Was willst du tun? Willst du dir von dem Kind den ganzen Tag verderben lassen? Das mache ich nicht mit!« Energisch zog Jürgen seine Freundin, die noch immer in der Wiese saß, hoch. »Wir wollten uns einen schönen Tag machen. Hast du das vergessen?«

Anke wich Jürgens Blick aus. Mit gesenktem Kopf nagte sie an ihrer Unterlippe.

Uli hingegen war nicht still. Mutig wagte er sich hinter Anke hervor und rief: »Laß meine Mami in Ruhe. Sie gehört mir!« Mit der Hand versuchte er nach Jürgens Arm zu schlagen.

»Na warte!« Blitzschnell griff Jürgen nach dem kleinen Mann und hielt ihn hoch. »So, jetzt höre mir einmal gut zu. Du läßt jetzt mich und deine Mami in Ruhe. Du kannst hier herumlaufen, soviel du willst, aber uns störst du nicht mehr. Hast du das verstanden?«

Uli sagte nichts, aber in seinen Augen stieg Angst auf.

»Hast du verstanden?« Drohend schüttelte Jürgen den Kleinen.

»Aber es ist meine Mami«, schluchzte Uli.

»Meine Mami«, äffte Jürgen etwas ärgerlich nach. »Weißt du, was ich mit dir am liebsten tun würde? Eine Tracht Prügel möchte ich dir am liebsten geben. Nie hat man Ruhe von dir.«

»Mami, Mami!« Uli begann sich in Jürgens Arm verzweifelt zu drehen und wenden.

»Laß den Kleinen los«, sagte Anke nun.

Jürgen fuhr herum. »Was?« ereiferte er sich. »Mehr hast du nicht zu sagen? Glaubst du, ich habe Lust zuzusehen, wie du dich den ganzen Tag mit diesem Bengel abgibst?«

»Uli kein Bengel«, brüllte der Kleine beleidigt auf.

»Nein, Uli ist kein Bengel«, bestätigte Anke. Sie kam heran, nahm ihrem Freund den Dreijährigen aus den Armen. »Uli wird jetzt auch lieb sein und die Mami mit dem Onkel plaudern lassen. Weißt du, sonst kommt der Onkel nicht mehr mit uns mit.«

Uli sah sie mit gerunzelter Stirn an, dann sagte er: »Onkel braucht nicht mitzukommen. Mag Onkel nicht.«

»Da hast du es!« Jürgen war nun so wütend, daß er dem Kleinen wirklich am liebsten eine geklebt hätte. Da nahm er sich den ganzen Sonntag Zeit für Anke, und dies war das Resultat.

»Jürgen, bitte.« Über das Köpfchen des Kleinen hinweg sah Anke ihren Freund bittend an. »Du mußt Geduld haben. Er ist eifersüchtig. Schließlich hat er ja auch nur noch mich.«

»Und ich?« Eigentlich wollte Jürgen hinzufügen: Und wen habe ich? Aber er ließ es lieber bleiben. Statt dessen sagte er: »Ich habe es satt, stets die zweite Geige zu spielen.«

»Du mußt Geduld haben«, wiederholte Anke nochmals. Dabei sah sie ihn so lieb an, daß ihm ganz heiß wurde.

»Dann sieh aber zu, daß du den Bengel beruhigst«, brummte Jürgen. »Ich gehe inzwischen ans Ufer des kleinen Sees. Wenn Uli friedlich ist, kannst du ja nachkommen.«

Anke nickte ernst. Sie hatte sich so auf diesen Sonntagsausflug gefreut. Und nun war Jürgen sauer, und Uli schluchzte leise vor sich hin. Sie seufzte, aber dann stellte sie ihren Neffen entschlossen auf seine eigenen Füße.

»Wo hast du den Schmetterling gesehen?« fragte sie.

»Schmett…« Uli versuchte das für ihn schwere Wort nachzusprechen. »Da, da ist Flieger.« Er streckte die Hand aus und zeigte auf einen bunten Falter, der sich gerade auf einer Glockenblume niederließ.

»Das ist ein Schmetterling«, erklärte Anke.

»Fangen«, forderte Uli und eilte, ehe Anke es sich versah, mit ausgestreckten Händchen auf den Falter zu. Dieser flog hoch. Uli machte einen raschen Satz, stolperte und lag auf der Nase. Sofort fing er aus Leibeskräften an zu brüllen.

Jürgen Hauser kam zurück. Zornig fuhr er Anke an. »Was ist jetzt schon wieder los? Ich dachte, du willst ihn beruhigen?«

»Er ist gefallen«, sagte Anke. Sie beugte sich über den am Boden liegenden Kleinen. »Uli, das tut doch nicht so weh. Du kannst aufhören zu schreien. Sieh nur, alle Schmetterlinge fliegen fort. Sie bekommen Angst, wenn du so brüllst.«

Ruckartig fuhr Ulis Köpfchen hoch. Das Schreien verstummte. Mit tränenfeuchten Augen sah der Kleine sich um, entdeckte einen Schmetterling. »Da«, sagte er leise. Als dieser aber auch weiterflog, rief er wieder lauter: »Will Flieger haben! Flieger soll dableiben!«

»Flieger…« Jürgen schüttelte den Kopf. »Kannst du dem Kind nicht beibringen, ordentlich zu sprechen?«

»Der Onkel soll fortgehen«, forderte Uli laut und krabbelte hoch.

»Was willst du dir noch alles gefallen lassen?« sagte Jürgen wütend. »Wenn du den Kleinen nicht sofort beruhigst, dann fahre ich in die Stadt zurück. Ich habe nicht die Absicht, mich den ganzen Tag zu ärgern.« Er drehte sich um, ging in Richtung Waldsee davon, blieb aber nach einigen Schritten stehen und rief zurück: »Daß du es weißt, lange warte ich nicht mehr.«

Anke seufzte. Da lehnte sich Uli an sie, hob sein Köpfchen. Treuherzig sah er ihr ins Gesicht und fragte: »Bist du traurig?«

Plötzlich fiel Anke das Lächeln wieder leicht. Sie fand, er war ein entzückender Junge, ihr Uli. Um nichts in der Welt hätte sie ihn hergegeben. Eines Tages würde Jürgen das auch noch merken. Sie mußte ihm nur Zeit lassen.

Anke fuhr Uli mit einer zärtlichen Geste über das Haar. »Nur ein bißchen«, sagte sie. »Aber wenn Uli jetzt lieb ist, dann ist Mami überhaupt nicht mehr traurig.«

»Uli lieb«, kam es prompt von den Lippen des Kindes.

»Das ist fein.« Anke überlegte, dann beugte sie sich zu dem Kleinen herab. »Wenn Uli der Mami eine Freude machen will, dann wird er jetzt Steinchen und Blätter suchen.«

»Warum?« Mit großen fragenden Augen sah Uli sie an.

Anke schluckte. Wie sollte sie dem Kind erklären, daß es ihr im Moment im Wege war? Sie sehnte sich nach Jürgens kleinen Zärtlichkeiten, aber in Ulis Gegenwart konnten sie sich kaum küssen. So sagte sie nur: »Die Mami muß mit dem Onkel etwas besprechen.«

»Lange?«

Anke nagte an ihrer Unterlippe. »Uli, du bist doch schon ein großer Junge«, versuchte sie zu erklären. »Du kannst dich doch hier auf dieser großen Wiese selbst beschäftigen. Sieh nur, was da alles wächst.« Anke nahm ihren Neffen an die Hand und zeigte ihm Vergißmeinnicht. »Du kannst auch etwas bauen. Schau, hier sind Zweige.«

»Mami zuschauen«, forderte Uli.

Anke schüttelte den Kopf. »Nein, Mami geht jetzt zu Onkel Jürgen. Wenn du lange und sehr brav gebaut hast, dann kannst du es Mami zeigen.«

»Uli will nicht bauen. Lieber Flieger ansehen.«

»Gut, dann kannst du Flieger ansehen. Du kannst hier überall herumlaufen, nur an das Ufer des Sees darfst du nicht gehen. Versprichst du mir das?«

Ernsthaft nickte der Kleine.

»So, Uli, dann gehe ich jetzt zu Onkel Jürgen. Siehst du, er sitzt dort auf der Bank beim See. Aber bitte, komme nicht gleich nach.«

»Nein.« Ulis Unterlippe schob sich nach vorn. »Uli brav.«

Anke küßte ihn, dann wollte sie gehen, aber da griff Uli nach ihrer Hand. »Will mit dir Flieger anschauen.«

Anke unterdrückte einen Seufzer, versuchte ruhig zu bleiben. Schließlich konnte Uli nichts dafür, daß sie mit Jürgen allein sein wollte.

»Gut. Suchen wir zuerst noch Schmetterlinge.«

Sie nahm wieder die kleine Bubenhand in ihre Hand, und dann stapften die beiden zusammen durch das Gras. Bei jedem Schmetterling, den Uli zu sehen bekam, stieß er einen Freudenschrei aus. Schließlich löste er sich wieder von Anke und versuchte die bunten Falter zu fangen, was natürlich nie gelang. Enttäuscht kam er schließlich zu Anke zurück.

»Flieger sind dumm. So schnell!« Dann erhellte sich sein Gesichtchen. »Uli will auch fliegen«, forderte er und streckte die Arme dabei seitlich aus.

»Dann fällt Uli wieder auf die Nase«, sagte Anke trocken und verbiß sich ein Lächeln.

Treuherzig sah der Kleine sie an. »Uli kein Flieger.« Er schüttelte den Kopf.

Anke bestätigte: »Uli kein Flieger.« Dann lachte sie. »Das ist auch gut, sonst würdest du mir davonfliegen. Nun sei aber lieb und beschäftige dich ein wenig allein.«

»Uli mag keine Flieger mehr. Uli baut etwas für Mami.«

»Gut. Und nicht bis zum Wasser gehen«, mahnte Anke nochmals.

»Ade«, sagte Uli jetzt ganz friedfertig. Er hob sogar die Hand und winkte.

»Ade!« Anke winkte zurück, dann ging sie hinunter zum See, wo die Bank stand, auf der Jürgen auf sie wartete.

»Daß du doch noch kommst«, knurrte der junge Mann.

»Ich bin sicher, daß Uli jetzt eine Weile Ruhe gibt. Im Grunde ist er ein sehr lieber Junge.«

»Das kannst auch nur du sagen. Ich verstehe dich nicht. Du läßt dich von ihm regelrecht tyrannisieren.«

Ankes Kopf sank herab. Sollte sie sich jetzt auch noch Vorwürfe anhören?

Da lenkte Jürgen ein. »Komm, setz dich. Vielleicht haben wir wirklich Glück, Und Uli läßt uns ein wenig in Ruhe. Es ist ein herrlicher Tag. Eigentlich hätten wir baden können.«

Anke setzte sich an seine Seite. Da griff Jürgen nach ihr. Zuerst küßte er nur ihre Lippen, doch dann glitt sein Mund abwärts.

Anke versteifte sich. »Nicht«, hauchte sie.

Sofort ließ Jürgen von ihr ab und setzte sich mit einer beleidigten Miene aufrecht hin.

»Jürgen…« Anke legte den Kopf an seine Schulter. »Uli kann doch jeden Moment kommen.«

»Da hast du es! Immer der Kleine. Du hättest den Ausflug mit ihm allein machen sollen. Ich habe wahrlich genug zu tun. Deinetwegen habe ich meine ganze Arbeit liegenlassen.«

»Das war lieb von dir«, sagte Anke und versuchte ein Lächeln. »Ich bin so froh, daß du hier bist. In der letzten Zeit haben wir uns wenig gesehen.«

»Die Arbeit! Du weißt es ja.« Etwas unsicher sah Jürgen an seiner Freundin vorbei.

*

Pünktchen ließ den Tennisschläger sinken. Sie hatte gewonnen aber das freute sie nicht, weil sie genau bemerkt hatte, daß Nick sie absichtlich hatte gewinnen lassen.

»Gratulation!« rief der hochaufgeschossene, gutaussehende Junge nun über den Platz.

»Das ist unfair«, rief das blondhaarige Mädchen zurück. Es hieß eigentlich Angelina Dommin, wurde aber von jedem wegen seiner unzähligen Sommersprossen nur Pünktchen genannt. »So macht es keinen Spaß.«

Dominik von Wellentin-Schoenecker, dem das Kinderheim Sophienlust gehörte, das seine Mutter für ihn bis zu seiner Großjährigkeit verwaltete, wußte, daß Pünktchen ihn durchschaut hatte.

»Da wollte ich einmal Kavalier sein, und nun läßt du es nicht gelten«, rief er lachend. »Aber wenn du willst, dann können wir unsere Kräfte auch noch auf den Pferden messen.«

Pünktchens Augen blitzten auf. Und ob sie wollte. Zwar würde es ihr sicher nicht gelingen, Nick zu schlagen, aber mit ihm zu reiten war für sie die größte Freude.

»Einverstanden! Aber dann muß ich mich umziehen.«

»Das muß ich auch, aber es ist ja noch nicht spät.« Nick, der sehr sportlich war, nahm einen Anlauf und sprang gekonnt über das Netz. Dann stand er mit blitzenden Augen vor Pünktchen.

»Du hast dich heute trotzdem ausgezeichnet geschlagen. Ich mußte mich anstrengen. Viele Bälle habe ich dir nicht geschenkt.«

Dieses Lob freute Pünktchen sehr. Sie errötete bis unter die Haarwurzeln. Mit zahlreichen anderen Kindern zusammen lebte sie im Kinderheim Sophienlust. Vor vielen Jahren hatte Nick sie gefunden. Sie war ein Zirkuskind, hatte ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und war dann von den Verwandten, die sie aufgenommen hatten, ausgerissen. Nick hatte sie nach Sophienlust mitgenommen, wo sie seitdem geblieben war. Deshalb hing Pünktchen so sehr an dem Sechzehnjährigen und träumte heimlich davon, einmal Nicks Frau zu werden.

»Ich habe mich auch sehr bemüht. Wenn wir öfters spielen, dann schaffe ich es vielleicht doch noch, dich wirklich einmal zu schlagen.«

»Ganz sicher. Der Sommer hat ja erst begonnen«, meinte Nick.

»Ich finde es toll, daß uns deine Eltern hier spielen lassen«, meinte Pünktchen.

Der Tennisplatz, auf dem die beiden eben ihr Match ausgetragen hatten, gehörte zum Gut Schoeneich, dem Stammsitz der Familie von Schoenecker. Das Gut wurde von Nicks Vater selbst verwaltet. Das Kinderheim Sophienlust lag nicht weit davon entfernt. Eine Straße, die durch den Wald führte, verband das Heim mit dem Gut. Die Pferdekoppeln des Gutes Schoeneich reichten daher auch nahe an Sophienlust heran.

»Wer sollte denn sonst hier spielen?« sagte Nick. »Viel Zeit haben Vati und Mutti nicht. Da bin ich froh, daß ich dich habe.«

Kaum hatte Nick das ausgesprochen, färbten sich seine Wangen. Verlegen blickte er an Pünktchen vorbei, die sich bückte und an ihren Schuhbändern zu nesteln begann. Als sie wieder hochsah, hatte Nick sich gefaßt. Er meinte: »Wenn jeder auf den anderen wartet, vergeht zuviel Zeit. Schwinge du dich gleich auf dein Fahrrad und fahre nach Sophienlust. Ziehe dich um und komm zu den Koppeln. Ich mache das gleich. Wir treffen uns bei den Koppeln. Einverstanden?«

»Einverstanden. Danke für das Spiel.« Pünktchen streckte Nick die Hand hin.

Dieser schlug ein. »Ganz meinerseits, Partnerin.« Lachend strich er sich sein schwarzes Haar zurück. Dann trennten sich die beiden.

Pünktchen beeilte sich sehr mit dem Umziehen, aber sie wurde von Heidi, dem jüngsten Dauerkind, aufgehalten. So war Nick vor ihr auf der Koppel und hatte auch bereits zwei Pferde gesattelt.

»Soll ich dir helfen?« fragte Nick.

Pünktchen lachte nur. Sie streckte sich – und schon saß sie im Sattel. Genauso wie Nick liebte sie die Pferde und war auch eine gute Reiterin. »Los geht es«, rief sie übermütig. »Sieh zu, daß du mich bis zum Waldsee eingeholt hast.« Kurz klopfte sie ihrem Pferd den Hals, dann galoppierte sie davon.

Nick, der sein Halfter noch anziehen mußte, konnte ihr nicht sofort folgen. Als er dann endlich auch auf seinem Pferd saß, war Pünktchen schon weit entfernt. Er strengte sich sehr an, doch der Abstand zwischen ihm und Pünktchen wollte sich nicht verringern.

»Schneller, Blacky, schneller«, rief er seinem Pferd zu und beugte sich weit vor.

Blacky gab sein Bestes. So ging es zwischen Feld und Wiese dahin. Zufrieden merkte Nick, daß er Meter um Meter aufholte. Da hielt Pünktchen plötzlich ihr Pferd an, und als Nick herangekommen war, war sie bereits aus dem Sattel geglitten.

»Du mußt keine Angst haben. Das Pferd tut dir nichts«, hörte er sie sagen.

Nick brachte sein Pferd ebenfalls zum Stehen.

»Noch ein Pferd«, rief Uli da begeistert und patschte in die Hände.

»Ja, wen haben wir denn da?« fragte Nick und glitt ebenfalls aus dem Sattel.

»Das möchte ich auch gern wissen.« Pünktchen lachte. »Mutterseelenallein steht der kleine Mann am Weg.«

»Ich bin nicht klein. Uli ist groß.« Der Junge stellte sich auf die Zehen, streckte dabei noch seine Hände empor.

»Du heißt also Uli«, hakte Nick nach.

Heftig nickte Uli mit dem Kopf.

»Und weiter?« fragte Pünktchen.

»Uli.« Der Kleine zuckte mit den Achseln, dann fragte er: »Und wie heißt du?«

»Pünktchen.«

Uli wiederholte den Namen so oft, bis er ihn aussprechen konnte. Geduldig wartete Pünktchen, dann fragte sie: »Was machst du hier?«

»Blumen pflücken für Mami«, sagte Uli. Er bückte sich und hob einen Strauß wahllos ausgerupfter Wiesenblumen empor. »Schön!«

Pünktchen mußte lachen. Was der Junge da in der Hand hielt, war vor allem Unkraut. Trotzdem nickte sie.

»Für Mami«, sagte Uli nochmals.

»Ich kann überhaupt niemanden sehen«, sagte Nick, der sich umgesehen hatte.

»Wo ist deine Mutti?« fragte Pünktchen, und gab Nick schnell die Zügel in die Hand. Dann hockte sie sich neben den Jungen hin und lächelte Uli an.

»Mami ist bei dem Mann. Ich will Mami Blumen bringen«, plapperte er dann los. »Der Mann bringt Mami auch immer Blumen. Meine Blumen sind aber viel schöner. Wird Mami dann lieb sein zu mir?« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Fragend sah er Pünktchen an.

»Wir können deine Mami fragen, wenn du uns sagst, wo deine Mami ist«, schlug Pünktchen vor.

»Dort.« Uli wies in eine unbestimmte Richtung.

»Gut, gehen wir zu deiner Mami.«

Heftig schüttelte Uli den Kopf. »Will nicht.«

»Du willst nicht zu deiner Mami gehen?« fragte Pünktchen verwundert.

Ulis Köpfchen sank auf die Brust.

»Darf nicht«, kam es kläglich von seinen Lippen.

Pünktchen sah hoch. Fragend sah sie Nick an. Dieser zuckte die Achseln. Er hätte sich gern mit dem kleinen Jungen unterhalten, aber er konnte die Pferde nicht loslassen.

»Ich möchte die Pferde liebhaben«, forderte Uli plötzlich. »Darf ich?«

»Du darfst«, sagte Nick.

»Sind sie auch lieb?« erkundigte Uli sich nun vorsichtig.

»Pünktchen wird dir helfen«, meinte Nick.

»Gut, aber du sagst mir dafür, wo du wohnst?« meinte Pünktchen und streckte Uli die Hand hin.

»Ich wohne bei Mami. Und nun will ich das Pferd angreifen.«

Pünktchen tauschte mit Nick wieder einen Blick, dann nahm sie Uli auf ihren Arm und trat mit ihm dicht an Nicks Pferd heran. Während dieser sein Pferd beruhigte, berührte Uli es vorsichtig.

»Braves Pferd«, lobte er. Dann sah er Pünktchen an. »Uli auch brav.«

»Ich weiß nicht…« Bedenklich wiegte Pünktchen ihren Kopf. »Ist Uli nicht weggelaufen?«

»Nein, Uli Blumen pflücken.«

Pünktchen überlegte, dann hatte sie einen neuen Einfall. »Gut, dann bringen wir deiner Mami die Blumen.«

»Weiß nicht. Besser, ich warte noch.«

»Das werden wir nicht tun«, sagte Pünktchen entschlossen. »Wahrscheinlich sucht deine Mami dich schon.«

»Wenn du mitkommst, dann kann der Mann nicht schimpfen.« Uli rutschte aus Pünktchens Armen. »Komm!« Er griff nach Pünktchens Hand, machte ein paar Schritte, blieb dann aber stehen.

»Was ist?« fragte Pünktchen.

Kläglich sah der Junge an ihr empor. »Ich weiß nicht, wo Mami ist. Da, da oder da.« Er drehte sich dabei einmal um die eigene Achse.

»Du weißt nicht mehr, woher du gekommen bist«, kam Pünktchen ihm zu Hilfe.

Uli schossen Tränen in die Augen. »Weiß nicht«, gestand er.

»Bist du weit gegangen?«

Uli nickte. »Meine Füße tun weh. Tragen.« Er streckte Pünktchen seine Händchen entgegen.

»Ich habe eine bessere Idee. Du setzt dich ins Gras, und ich nehme Nick das eine Pferd ab. Auf dem anderen reitet Nick einmal in der Gegend herum und sucht nach deiner Mami. Ist dein Papi auch dabei?«

»Papi? Ich habe keinen Papi, nur einen Mann, und den will ich nicht.« Uli setzte sich ins Gras.

Nick ging ein Licht auf. »Wahrscheinlich hat seine Mutter einen Freund«, flüsterte er Pünktchen zu.

Empört blitzte diese ihn an.

»Na ja«, meinte Nick etwas verlegen. »Sein Papa kann ja tot sein.«

»Das werden wir herausfinden«, gab Pünktchen leise zurück. Sie war gewohnt, sich um kleine Kinder zu kümmern. In Sophienlust tat sie es auch immer. Sie ging Denise von Schoenecker und Schwester Regine stets sehr geschickt zur Hand.

»Ich sehe mich einmal um«, meinte Nick, der mit Pünktchens Vorschlag einverstanden war. Er schwang sich auf den Rücken seines Pferdes.

»Ich will mit zu Mami.« Blitzschnell kam Uli auf die Beine. Er wäre dem Pferd zwischen die Beine gelaufen, hätte Pünktchen ihn nicht festgehalten.

Nick beugte sich etwas zu Uli hinab. »Ich sage deiner Mami, wo du bist. Dann kommt sie sicher her«, sagte er freundlich.

»Dem Mann aber nichts sagen«, bat Uli. »Er soll nicht kommen. Nicht wahr, meine Mami ist meine Mami?« Flehend sah er Nick an.

Nick spürte einen leichten Stich in der Herzgegend. Waren Pünktchen und er da zufällig auf einen Jungen gestoßen, der in keinen geordneten Familienverhältnissen lebte? Noch war es zu früh, darüber zu urteilen.

»Du magst deine Mami wohl sehr?« fragte Nick unwillkürlich.

»Mami sehr lieb«, bestätigte Uli sofort. »Mami kann jetzt auch nicht böse sein. Uli war lieb. Uli hat Mami und den Mann nicht gestört.«

Pünktchen mußte schlucken. Sie dachte das gleiche wie Nick. Schnell fuhr sie Uli über das Köpfchen. Auch Nicks Stimme klang rauh, als er sagte: »Dann werde ich also seine Mami suchen.«

*

»Was will denn der von uns?« fragte Jürgen Hauser ungehalten. Er ließ Ankes Schultern los, richtete sich etwas auf, und sah dem Reiter entgegen, der direkt auf ihn und Anke zugaloppierte. Dicht vor ihrer Bank hielt er an.

Nick grüßte freundlich, doch Jürgen Hauser antwortete nur mit einem Knurren. Dies konnte Nick jedoch nicht einschüchtern. »Gehört ein kleiner Junge zu Ihnen?« fragte er.

»Uli? Mein Gott, wo ist Uli? Ich habe ihn ganz vergessen.« Mit einem Satz war Anke Boger auf den Beinen.

Nick erkannte, daß sie Angst hatte, und dies machte ihm diese junge Frau auf Anhieb sympathisch.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte er rasch. »Er hat nur Blumen gepflückt und ist dabei etwas zu weit weggelaufen.«

»Es ist ihm wirklich nichts geschehen?« Flehend sah Anke zu dem großen Jungen empor.

»Nein. Meine Freundin ist jetzt bei ihm. Er hatte gar nicht bemerkt, wie weit er schon gelaufen war.«

»Da hast du es«, mischte sich Jürgen ein. »Man hat immer nur Ärger mit dem Kleinen. So geht es nicht weiter. Entweder, du bringst ihm bei, daß er zu folgen hat…« Er ließ es bei dieser Andeutung, zuckte nur wütend die Achseln.

Anke beachtete Jürgen jetzt überhaupt nicht. Ihre Sorge war viel zu groß. »Wo ist Uli?« fragte sie.

»Er ist kreuz und quer gelaufen. Ihr Sohn hat völlig die Richtung verloren. Aber ich zeige Ihnen den Weg. Kommen Sie!«

Als Nick Uli ihren Sohn nannte, senkte Anke den Kopf. Es war ihr bewußt geworden, daß sie nicht wie eine Mutter gehandelt hatte. Sie hatte den Kleinen allein gelassen. Jetzt sah sie aber wieder dankbar zu dem jungen Reiter empor.

»Das ist nett von Ihnen.«

Erst jetzt erhob sich Jürgen von der Bank. »Du willst doch nicht etwa auf dem schnellsten Weg zu dem Jungen eilen? Was ist denn das für eine Erziehung? Er läuft einfach weg, und du nimmst ihn dafür noch in deine Arme.«

Mit großen Augen, in den Tränen standen, sah Anke ihren Freund an. »Stell dir nur vor, ihm wäre etwas passiert. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, daß er nicht mehr da war.«

»So haben wir wenigstens ein wenig Ruhe vor ihm gehabt«, brummte Jürgen. »Einfach auf seinen vier Buchstaben sitzen zu bleiben, das kann er wohl nicht. Aber das werde ich ihm auch noch beibringen.«

Das war eine Drohung, aber Anke nahm sie nicht mehr zur Kenntnis. Sie hatte sich schon abgewandt und ging neben Nick her.

»Sie können ruhig schneller reiten. Ich komme schon mit«, rief Anke dem jungen Reiter zu und begann wie zur Bestätigung durch die Wiese zu laufen.

»Bist du verrückt?« rief Jürgen hinter ihr her.

Anke reagierte auch darauf nicht. Sie machte sich Vorwürfe. Schließlich trug sie die Verantwortung für das Kind. Erst als sie so weit gelaufen war, daß sie Uli sah, blieb sie keuchend stehen.

Pünktchen hatte sich inzwischen sehr gut mit dem Kleinen unterhalten. »Da kommt Nick zurück«, sagte sie, als sie ihren Freund kommen sah. »Und ich glaube, er bringt jemanden mit.«

»Mami!« Mit einem Satz war Uli auf den Beinen. Vergessen waren seine müden Füße. Er lief Anke entgegen, so schnell er nur konnte, und diese fing ihn auf.

»Uli wollte nicht böse sein«, sagte der Kleine, dicht an Anke geschmiegt. »Uli hat viele Blumen. Sehr schöne Blumen. Ich werde sie dir zeigen.« Er zog Anke fort. Stolz nahm er dann den mit Unkraut durchsetzten Strauß vom Boden auf und hielt ihn Anke hin.

»Für dich. Bekomme ich dafür einen Kuß?«

Anke kämpfte mit den Tränen. Sagen konnte sie im Moment nichts. So zog sie ihren Neffen nur an sich und herzte ihn.

»Welch rührende Szene«, hetzte Jürgen. Unbemerkt von Anke war er herangekommen. »Jetzt wundert mich nichts mehr. Du erziehst Uli ja direkt zum Ungehorsam.«

»Uli brav. Uli brav!« Mit voller Lautstärke versuchte der Kleine Jürgen niederzuschreien.

»Frech ist er auch noch«, brauste Jürgen, nun wirklich aufs äußerste erbost, auf.

Uli schlang seine Ärmchen um den Hals von Anke. »Schick ihn weg«, flüsterte er ihr zu, aber so laut, daß Jürgen es hören konnte.

Mit raschen Schritten kam Jürgen heran. »Jetzt habe ich aber genug.« Er riß Uli aus Ankes Arm und stellte ihn heftig auf den Boden. »Was fällt dir eigentlich ein? Einfach weglaufen!« Er schüttelte den kleinen Jungen.

»Bin nicht weggelaufen«, protestierte Uli weinend. »Habe Blumen gepflückt.«

»Lügen auch noch.«

Uli wollte vor Jürgens wütendem Gesicht zurückweichen, aber er konnte nicht. Jürgen hielt ihn fest.

»Stimmt nicht«, schluchzte der Kleine. »Mami hat ja die Blumen.«

»Er hat recht. Er hat schöne Blumen für mich gepflückt«, mischte sich Anke jetzt ein.

»Blumen nennst du das?« Jürgen hatte einen Blick auf den Strauß geworfen. »Dazu mußtest du weglaufen? Ungehorsam warst du. Du verdienst eine Tracht Prügel.«

»Mami, Mami!« Uli wimmerte.

»Du warst unfolgsam«, schrie Jürgen den Jungen erneut an.

Anke stand hilflos daneben, Pünktchen und Nick wechselten einen Blick. Ihnen tat der Junge sehr leid, aber eingreifen konnten sie nicht.

»Nein.« Tränen kullerten über Ulis Wangen. »Bin nicht zum See gelaufen. Bin auf der Wiese geblieben.«

»Uli hat recht«, sagte Anke, nun doch energisch. »Ich habe ihm nur verboten, ans Wasser zu gehen.«

»Aber du hast ihm sicher nicht gesagt, daß er weglaufen soll. So viel Verstand muß er wirklich von selbst haben.« Wieder schüttelte Jürgen den Kleinen. »Das kommt nicht noch einmal vor! Hast du verstanden? Sonst wirst du einen ganzen Tag in den Keller gesperrt. Von dort kannst du nicht weglaufen.«

Anke sah nur noch Ulis verzweifeltes Gesichtchen. »Laß ihn los«, forderte sie energisch.

Im ersten Moment war Jürgen wie verblüfft, daß er Anke sprachlos anstarrte. Noch nie hatte sie ihm widersprochen.

Dies nützte Uli aus. Es gelang ihm, sich von Jürgens Hand zu befreien. Er lief davon.

»Wirst du hierbleiben! Wir sind noch nicht fertig miteinander.« Als Uli keine Anstalten machte zurückzukommen, brüllte Jürgen noch lauter: »Komm sofort hierher!« Er war jetzt hochrot im Gesicht.

»Jürgen, bitte.« Anke legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Uli hat es doch nicht böse gemeint. Er wollte mir eine Freude machen.«

Jetzt, da Uli zwischen sich und Jürgen einige Meter Entfernung gebracht hatte und merkte, daß seine Mami ihm half, kehrte sein Mut zurück. »Meine Blumen sind viel schöner als deine. Mami freut sich darüber.«

»Sag, daß das Kind still sein soll«, schrie Jürgen, jetzt außer sich.

»Du sollst still sein«, schrie Uli zurück. »Meine Mami hat mich viel lieber als dich.«

»Du Rotznase!« Jürgen wollte sich auf den Jungen stürzen, doch Anke war schneller. Sie nahm den Kleinen hoch und schloß ihn fest in ihre Arme.

»Laß ihn, er hat nichts getan.« Anke hielt Jürgens wütenden Blick stand.

»Nichts getan? Willst du vielleicht zusehen, wie er mich beleidigt?«

»Jürgen, er ist doch ein Kind.« Anke drückte Ulis Köpfchen an ihre Brust. Dabei spürte sie, wie der Kleine zitterte. »Er hat Angst vor dir.«

»So soll es auch sein.« Jürgen wollte ihr den Kleinen aus den Armen nehmen, aber Anke hielt ihn fest. In ihr erwachte der Gluckeninstinkt.

»Du wirst ihm nichts tun. Ich habe ihm gesagt, daß er auf der Wiese herumlaufen darf. Es war meine Schuld, daß er sich so weit entfernt hat.«

»Wenn du wirklich dieser Ansicht bist, dann habe ich hier nichts mehr verloren.« Steif stand Jürgen da. Noch konnte er nicht glauben, daß Anke sich gegen ihn stellte.

»Denke doch einmal nach«, bat Anke, »dann wirst du einsehen, daß ich recht habe.«

»Mami, er soll gehen«, schluchzte Uli an ihrem Hals.

»Ich habe noch kein verzogeneres Kind gesehen als Uli«, sagte Jürgen. »Aber bitte, wenn du glaubst, daß du mit ihm allein zurechtkommst… Ich fahre jedenfalls nach Hause. Die Freude an diesem Ausflug ist mir gründlich vergangen.«

Er sah Anke an, wartete auf ihren Widerspruch, auf ihre Bitte zu bleiben, aber diese kam nicht. Anke hatte nur Augen für Uli, der an ihrem Hals hing und ganz leise vor sich hin weinte.

»Ich gehe«, drohte Jürgen erneut.

Nur kurz sah Anke ihn an. »Er ist sehr verstört«, sagte sie. »Ich muß ihn beruhigen. Er ist ja noch so klein.«

»Bitte, tu, was du nicht lassen kannst. Ich fahre jedenfalls.«

Fester umklammerte Uli Ankes Hals. »Bitte, Mami, nicht mit ihm fahren. Uli will lieber laufen, sehr weit laufen.«

»Jürgen, bitte, geh voraus zum Auto. Warte dort auf uns.«

»Glaubst du etwa, ich bin dein Kasper? Entweder, du kommst sofort mit, oder ich fahre.« Mit großen Schritten stapfte Jürgen über die Wiese davon. Die Hände hatte er tief in den Hosentaschen vergraben. Seine ganze Haltung drückte Zorn aus. Schließlich hatte er einen angenehmen Tag erleben wollen, hatte deswegen einige Unannehmlichkeiten auf sich genommen. Unannehmlichkeiten, von denen seine Freundin nichts ahnte.

»Ist er weg?« fragte Uli. Zaghaft hob er sein Köpfchen von Ankes Schultern.

»Uli, der Onkel hat es nicht so gemeint«, begann Anke und bemühte sich um ein Lächeln.

»Onkel will meine Mami haben«, sagte Uli. »Ich gebe meine Mami aber nicht her.« Blitzschnell schlang er wieder seine Arme um Ankes Hals.

»Das mußt du auch nicht.« Anke küßte den Kleinen zärtlich. »Der Onkel ist sowieso nur selten bei uns«, setzte sie hinzu. »Ich finde, da könntest du schon etwas lieber zu ihm sein.«

»Der Onkel ist nicht lieb«, sagte Uli mit vorgeschobener Unterlippe.

Was sollte Anke darauf antworten? Sie war selbst der Ansicht, daß Jürgen sich an diesem Tag nicht richtig verhalten hatte. Liebevoll fuhr sie Uli über das Köpfchen. »Der Onkel hat es auch nicht so gemeint«, versuchte sie zu erklären. »Du wolltest doch auch nicht weglaufen, oder?«

»Hm«, machte Uli. Man sah ihm an, daß er über Ankes Worte nachdachte.

»So, und wenn wir jetzt mit dem Onkel zurückfahren, wird der Uli ganz lieb sein.«

Uli erschrak. »Laufen«, forderte er aufs neue. »Uli will laufen.«

»Das geht nicht. Es ist viel zu weit.«

»Aber der Onkel ist nicht lieb. Er wird wieder schimpfen.« Erneut stiegen Uli jetzt die Tränen in die Augen.

»Uli darf dem Onkel nicht widersprechen«, meinte Anke. Sie holte ein Taschentuch hervor und putzte ihrem Neffen gründlich die Nase. »Versprichst du mir, daß du lieb sein wirst?«

»Uli will lieb sein. Mami dann zufrieden?« Ein schalkhaftes Funkeln trat in Ulis Augen.

Verwöhne ich ihn wirklich zu sehr, dachte Anke. Aber sie war froh, daß die Tränen des Kleinen versiegt waren.

»Bist du jetzt lieb?« fragte sie nochmals. »Können wir dem Onkel nachgehen?«

Uli senkte sein Köpfchen. Er schwieg beharrlich.

»Uli«, mahnte Anke. »Ich habe dich etwas gefragt.«

Wieder kam keine Reaktion von dem Jungen. Erst als Anke mit ihrer Hand unter sein Kinn griff und so sein Köpfchen anhob, sagte er leise: »Ich bin brav.«

Anke atmete auf. »Dann beeilen wir uns, damit der Onkel nicht zu lange auf uns warten muß.«

»Nicht warten muß«, echote Uli, aber es klang alles eher als begeistert. Brav ließ er sich jedoch von Anke auf den Boden stellen.

Erst jetzt wurde Anke sich wieder der Anwesenheit der beiden Jugendlichen bewußt.

»Vielen Dank«, sagte sie verlegen und reichte zuerst Pünktchen die Hand und dann Nick, der auf dem Rücken seines Pferdes saß.

»Nichts zu danken«, sagte Nick.

»Der da, der ist lieb«, sagte Uli, und sein Gesichtchen begann zu strahlen. »Mami, der soll mein Onkel sein.«

Nick wurde verlegen, aber auch Anke wußte nicht so recht, was sie sagen sollte. Nur Pünktchen grinste. »Onkel Nick«, sagte sie leise, vor sich hin lachend.

Da mußte auch Nick grinsen. »Den Onkel kannst du ruhig weglassen«, meinte er gönnerhaft. »Aber wenn du mit deiner Mami wieder einmal in unsere Gegend kommst, dann kannst du mich ruhig besuchen. Ich wohne dort drüben, auf dem Gut Schoeneich, und heiße Dominik von Wellentin-Schoenecker.«

»Will besuchen«, sagte Uli sofort. »Mami, wir den Mann und sein Pferd besuchen.«

»Vielleicht später einmal, Uli. Jetzt müssen wir uns beeilen.« Anke nickte Pünktchen und Nick noch einmal zu, dann ging sie in Richtung des Parkplatzes, der am Rande des kleinen Waldsees lag, davon. Nach einigen Metern mußte sie aber stehenbleiben, denn Uli hatte sich von ihrer Hand gelöst und winkte heftig zurück.

»So, jetzt kann Uli gehen«, meinte der Kleine dann zufrieden und schob seine Hand wieder in Ankes Hand.

*

Nick schnalzte mit der Zunge. Er wollte sein Pferd noch schneller antreiben. Um zwei Pferdelängen war er Pünktchen bereits voraus. Noch weiter beugte er sich vor. Jetzt lag er fast auf dem Hals seines Rappens. So galoppierte er den Pfad entlang.

Der Waldsee, das Ziel des Rittes, war bald erreicht. Die ersten Bäume tauchten auf. Da mußte Nick sich aufrichten. Fest riß er an den Zügeln.

»Brr!« Nun saß er hochaufgerichtet im Sattel, Blacky stand still. Hinter ihm zügelte Pünktchen ihr Pferd.

»Da, da ist der liebe Mann.« Uli riß sich von Anke los und lief auf das Pferd zu.

»Halt, Uli, nicht zu nahe hingehen«, rief Anke und eilte ihm nach.

Sofort blieb der Kleine stehen. »Pferd ist lieb. Es tut nichts«, versicherte er.

Nick beugte sich etwas hinab. »Willst du es nochmals streicheln?« fragte er.

Mit leuchtenden Augen nickte Uli.

Nick wandte sich an Anke. »Blacky ist ganz zahm. Sie können Uli ruhig zu mir heraufheben.«

Nach kurzem Zögern tat Anke es. Etwas ängstlich saß Uli nun vor Nick. Er klammerte sich an der Mähne des Pferdes fest. Offensichtlich war es ihm da oben doch nicht so ganz geheuer.

»Pferd lieb«, sagte er. »Uli will aber wieder zu Mami.«

Anke streckte die Arme aus und nahm ihren Neffen wieder in Empfang. Sie lächelte dabei nicht.

Da sagte Uli auch schon: »Meine Mami ist traurig. Uli aber nicht traurig. Uli ist froh.« Trotz schwang in seiner Stimme mit.

»Aber Uli«, sagte Anke hilflos. Sie wirkte jetzt sehr deprimiert.

Pünktchen erriet, warum Anke so bedrückt war. Empört platzte sie heraus: »Er ist doch nicht etwa ohne Sie weggefahren?«

»Wir haben ihn zu lange warten lassen«, erwiderte Anke leise.

»Nun müssen wir zu Fuß gehen«, sagte Uli fröhlich. »Uli hat schon große Beine.«

»Wo wohnen Sie denn?« fragte Nick und glitt wieder einmal aus dem Sattel.

»Sehr weit«, sagte Uli, »aber das macht nichts. Ich werde Mami führen und trösten.« Er lief zu Anke hin und strich über ihren Arm.

»Es ist schon gut. Zum Glück ist es ja noch nicht spät. Ich glaube, der nächste Ort ist Wildmoos.« Anke sah Nick an. »Hat man von dort eine Zugverbindung?«

»Nun, nur eine Busverbindung in die umliegenden Orte und in die Kreisstadt.« Als Nick sah, daß Anke sich verzweifelt in ihre Unterlippe biß, setzte er rasch hinzu: »Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen. Nicht weit von hier liegt Sophienlust. Das ist ein Kinderheim, das von meiner Mutter bis zu meiner Volljährigkeit verwaltet wird.» Jetzt schwang Stolz in Nicks Stimme. »In einer Stunde gibt es dort für die Kinder Kakao und für die Großen Kaffee. Mutti freut sich sicher, wenn ich Sie mitbringe.«

»Aber das geht doch nicht.« Ratlos sanken Ankes Schultern nach vorn.

»Natürlich geht es«, mischte sich nun Pünktchen eifrig ein. »Wir haben in Sophienlust oft Besuch. Ich wohne nämlich auch dort. Ich bin ein Waisenkind.«

Pünktchen hatte ihre Worte mit einem so fröhlichen Lächeln begleitet, daß Anke nicht mehr wußte, was sie denken sollte.

»Ein Kinderheim, ein Waisenhaus.« Fragend sah Anke von Pünktchen zu Nick.

»Ein besonderes Waisenhaus«, sagte Pünktchen und fuhr munter fort: »Früher war Sophienlust ein herrschaftlicher Besitz, der Sophie von Wellentin gehörte. Sie setzte ihren Urenkel Dominik als Erben ein und bestimmte, daß aus dem alten Herrenhaus ein Heim für elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder werden solle. Das ist geschehen. Sophienlust heißt nicht umsonst ›Das Haus der glücklichen Kinder‹. Ich kann dies nur bestätigen. Ich lebe schon lange dort.«

»Ach, so ist das. Das habe ich nicht gewußt. Ich bin zum erstenmal in dieser Gegend. Ich lebe in Stuttgart.« Anke bemühte sich um ein Lächeln. »Es gefällt mir sehr gut hier. Es ist eine idyllische Gegend.« Ihr Lächeln erlosch. Sie dachte daran, daß sie mit Jürgen hatte einen Spaziergang rund um den See machen wollen. Dazu war es nun leider nicht mehr gekommen.

»Sie werden erst staunen, wenn Sie Sophienlust sehen«, sagte Pünktchen. »Es liegt in einem Park. Mehr verrate ich aber nicht.«

»Ich weiß nicht… Es ist sicher besser, wenn wir gleich nach Wildmoos gehen. Ich kann mich erinnern, daß wir durch diesen Ort gefahren sind. Es gab dort einen Gasthof ›Zum grünen Krug‹. Wenn wir keine günstige Verbindung mehr haben, könnten wir dort übernachten. Es ist zum Glück erst Samstag.«

»Übernachten können Sie in Sophienlust auch«, meinte Nick nun. »Wir haben Gästezimmer. Im Moment ist keines belegt.«

Unschlüssig sah Anke auf Uli. Sie war völlig durcheinander. Verzweifelt suchte sie für Jürgens Verhalten eine Entschuldigung.

»Ich will bei diesem Mann bleiben«, erklärte Uli munter und zeigte dabei auf Nick.

»Dir wird es sicher in Sophienlust gefallen«, meinte Nick. »Dort gibt es eine Menge Kinder, mit denen du spielen kannst.«

»Mami, zu den Kindern gehen.« Uli umklammerte Anke. »Bitte, Uli will auch ganz brav sein.«

»Uli, wir sind doch fremd dort«, wagte Anke noch einen Einwand.

»Das ist jeder, der zum ersten Mal nach Sophienlust kommt«, meinte Nick trocken. »Pünktchen, reite bitte voraus. Sieh nach, ob Mutti in Sophienlust ist.«

»Ich will wirklich keine Umstände machen.«

»Es sind keine Umstände«, sagte Pünktchen. Sie stieg auf, hob lachend die Hand, dann stob sie davon.

»So, und was ist mit dir, kleiner Mann? Willst du nach Sophienlust reiten?«

Mit skeptischer Miene sah Uli zu Nick empor. »Ist hoch«, meinte er stirnrunzelnd. Dann drehte er sich rasch zu Anke um und nahm deren Hand. »Ich Mami führen, sonst ist Mami traurig.«

Nick zeigte Anke den Weg, indem er neben ihr und Uli herritt. Er versuchte sich mit der jungen Frau zu unterhalten, aber diese gab nur einsilbige Antworten. Nick merkte, daß sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, im Gegensatz zu Uli, der munter drauflos plapperte.

Anke Interesse erwachte erst, als sie zu der dichten, hohen Hecke kamen, die Sophienlust einfriedete. Vor dem großen, schmiedeeisernen Tor, von dem eine Auffahrt zu dem ehemaligen Herrenhaus führte, blieb sie verblüfft stehen.

»Das soll ein Kinderheim sein?« fragte sie.

Daß es eines war, davon konnte sie sich gleich darauf selbst überzeugen. Kinder kamen aus dem herrlichen Park herbeigesprungen. Es waren fröhliche Kinder, kein bißchen schüchtern oder befangen.

»Kinder, Kinder«, jubelte Uli. Zielsicher ging er auf das jüngste Mädchen, das zwei abstehende, hellblonde Rattenschwänzchen hatte, zu, und ergriff dessen Hand. »Will mit dir spielen«, sagte er.

Heidi, so hieß die Kleine, war damit sofort einverstanden. »Er wird mein Freund«, versicherte sie. »Ich darf ihm alles zeigen. Kommst du mit mir mit?«

»Mami, ich gehe mit.« Uli ließ Heidis Hand nicht mehr los.

»Aber Uli, das geht doch nicht!«

»Es geht schon«, sagte Heidi. Sie war stolz über Ulis Vertrauen. »Wir gehen zum Spielplatz. Der ist ganz toll. Alle Kinder dürfen hingehen.«

»Ich gehe mit. Uli schon groß.«

»Ich passe auf ihn auf«, versicherte Heidi. »Ich bin ja größer als Uli.«

»Wir passen alle auf ihn auf«, meinte ein etwa zehnjähriger Junge.

Ehe Anke etwas sagen konnte, kam über die Freitreppe eine dunkelhaarige Frau auf sie zu. Anke konnte ihr Erstaunen nicht verbergen, als diese sich als Denise von Schoenecker vorstellte. So einen großen Jungen wie den jungen Reitersmann hätte sie dieser sympathischen Frau nicht zugetraut.

»Sie können Ihren Sohn ruhig mit den Kindern mitgehen lassen. Die Kinder müssen sowieso gleich wieder ins Haus kommen, da es Kakao für alle gibt.« Denise von Schoenecker lächelte. Sie war von Pünktchen bereits informiert worden und war auch bereit zu helfen. »Ich darf Sie doch noch zu einer Tasse Kaffee einladen?«

»Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen«, sagte Anke unsicher. Dieser nette Empfang machte sie verlegen.

»Mein Sohn wird Ihnen sicher gesagt haben, daß wir uns stets über Gäste freuen.« Denise wandte sich an Nick, der noch hoch zu Roß am Fuße der Freitreppe stand. »Eine gute Idee, den kleinen Uli mit seiner Mutter zu uns zu bringen. Falls du noch weiterreiten willst, Pünktchen ist bereits zur Koppel geritten.«

»Ich reite ihr nach. Bis gleich!« Mit der Reitgerte tippte Nick sich an die Stirn.

»Kommen Sie doch herein.« Denise von Schoenecker führte Anke durch das Portal in eine Halle, die der Mittelpunkt von Sophienlust war. Wieder konnte Anke nur staunen. Ein Kinderheim hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Hier strahlte alles Gemütlichkeit aus.

»Wie schön«, sagte Anke begeistert und trat an den offenen Kamin heran, vor dem ein Bärenfell lag.

»Hier sitzen die Kinder oft. Irgend jemand liest ihnen vor und erzählt ihnen Geschichten. Aber kommen Sie bitte weiter.«

Denise ging voraus und öffnete die Tür zum Biedermeierzimmer. Dieser Raum wurde so genannt, weil er stilecht eingerichtet war. Hier empfing die Verwalterin des Kinderheims gern ihre Gäste.

»Schön«, sagte Anke und setzte sich auf den äußersten Rand eines Sessels. Ihre Verlegenheit kehrte zurück. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte sie und sah auf ihre Hände.

»Gar nichts. Zuerst trinken wir einmal Kaffee.«

Gleich darauf erschien eines der Hausmädchen mit einem Tablett. Denise von Schoenecker übernahm das Einschenken. Zuerst plauderte sie über belanglose Dinge, erzählte vor allem einige lustige Episoden aus dem Leben im Kinderheim. So nahm sie Anke ihre Verlegenheit.

Endlich begann Anke von Uli zu sprechen.

»Leider wohnen in meiner Nachbarschaft keine Kinder. Uli liebt aber Kinder sehr. Ich habe deshalb schon überlegt, in eine andere Gegend zu ziehen, aber das ist nicht so einfach. Ich wohne in einer Altbauwohnung, und unter meiner Wohnung ist ein kleiner Laden. Dort habe ich einen Kosmetiksalon. Dies ermöglicht mir, mich auch während des Tages um Uli zu kümmern.«

»Sie sind also berufstätig?« fragte Denise.

»Natürlich«, sagte Anke. Dann erst verstand sie. Ein kleines Lächeln glitt um ihre Mundwinkel. »Da muß ich zuerst wohl einen kleinen Irrtum aufklären. Uli ist nicht mein Sohn. Er sieht in mir aber seine Mutter, und so soll es auch bleiben.« Ankes Lächeln verstärkte sich. »Ich liebe ihn wie ein eigenes Kind. Als er ein halbes Jahr alt war, verunglückte meine Schwester tödlich. Sie war nicht verheiratet, und da sie mir auch nicht verraten hatte, wer der Vater ihres Kindes ist, versuchte ich Uli Mutter und Vater zu ersetzen.«

»Ach, so ist das.«

»Uli darf davon aber nichts erfahren.« Anke senkte den Blick und sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt.

»Haben Sie Probleme? Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich würde es gern tun«, bot Denise spontan an.

»Uli versteht sich überhaupt nicht mit meinem Freund«, brach es da aus Anke hervor. Sie war froh, endlich einmal mit jemandem darüber sprechen zu können, und zu dieser Frau von Schoenecker hatte sie auf Anhieb Vertrauen. »Uli lehnte Jürgen ab. Wenn dieser bei mir ist, verkriecht der Kleine sich unter seinem Bett und heute war er froh, daß Jürgen ohne uns weggefahren ist. Irgendwie ist dies auch Jürgens Schuld. Er geht überhaupt nicht auf den Jungen ein, will ihn nur erziehen.« Anke seufzte. »Ich will Jürgen nicht in Schutz nehmen. Daß er heute einfach davongefahren ist, war nicht schön. Andererseits kann ich nie etwas ohne Uli unternehmen. In Jürgens Gegenwart hängt er wie eine Klette an mir.« Sie sah Denise an. Verstand diese Frau, was sie meinte?

Und ob Denise verstand. Schließlich war Anke jung, hatte ein Recht auf Liebe.

»Dieses Problem ist im Grunde einfach zu lösen«, sagte Denise nach kurzem Überlegen. »Wenn es Uli bei uns gefällt, kann der Kleine jederzeit für einige Tage zu uns kommen. Sagen wir, über ein Wochenende. Dann könnten Sie einmal mit Ihrem Freund verreisen.«

Anke spürte, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann. Das war die Lösung ihres Problems. Jürgen wollte sie in vierzehn Tagen mit nach Wien nehmen, wo er geschäftlich zu tun hatte. Von ihrer Arbeit her wäre dies gegangen, aber was hätte sie während dieser Zeit mit Uli machen sollen? Ihn mitzunehmen, kam nicht in Frage. Sie hatte mit Jürgen bereits ausführlich darüber diskutiert.

»Wenn dies ginge…« Ankes Augen begannen zu glänzen.

»Warum sollte es nicht gehen?«

»Bei Ihnen wäre Uli sicher gut aufgehoben«, meinte Anke, wobei ihr Herz noch immer freudig klopfte. Sie erzählte Denise von der geplanten Wienreise. »Wenn Jürgen sieht, daß ich hin und wieder auch für ihn Zeit habe, dann bekommt er zu Uli vielleicht doch ein bessere Verhältnis.«

Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, meinte Denise. »Sie übernachten heute hier. Dann sehen Sie gleich, ob es Uli hier gefällt. Morgen muß ich sowieso nach Stuttgart fahren. Dann bringe ich Sie nach Hause.«

Das war ein Angebot! Anke konnte nicht anders, sie stand auf und drückte Denise von Schoenecker die Hand. Plötzlich kamen ihr ihre Probleme gar nicht mehr unüberwindbar vor.

*

»Wo hast du gestern gesteckt?« Mit diesen Worten betrat Jürgen Hauser Anke Bogers Wohnung. Im Flur blieb er stehen und wandte sich ihr zu. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Wo?« fragte er nochmals scharf. »Ich war hier und habe bis zweiundzwanzig Uhr immer wieder angerufen.«

»Wir sind in Sophienlust geblieben.« Anke nagte an ihrer Unterlippe.

»In Sophienlust?« echote dieser. »Was ist das?«

»Ein Kinderheim. Dort haben Uli und ich übernachtet.«

»Ein Kinderheim?« Jürgens Miene erhellte sich. »Du willst Uli jetzt doch in ein Heim geben?« Er umspannte mit seinen Händen Ankes Schultern und zog sie so an sich heran. »Das ist gut! Das ist wirklich gut. Das habe ich dir ja schon immer vorgeschlagen.«

Mit einem heftigen Ruck befreite sich Anke aus seinen Armen. »Davon ist keine Rede.« Sie machte einen Schritt rückwärts. »Wir haben nur in dem Kinderheim übernachtet. Wir waren dort eingeladen.«

Jürgen schüttelte den Kopf. Mit einer ihm eigenen Handbewegung strich er sich eine Haarsträhne zurück. »Ich verstehe kein Wort. Würdest du so gut sein, und deutlicher werden?«

Anke lächelte. Sie kannte Jürgens Ungeduld. »Komm weiter. Setzen wir uns ins Wohnzimmer. Wenn du etwas zu essen haben willst, dann mache ich dir ein paar Brote zurecht.« Ihr Ärger auf ihn verflog langsam. Dafür freute sie sich, daß er hier war.

»Gegessen habe ich schon«, sagte Jürgen, aber er ging an Anke vorbei ins Wohnzimmer. Er kannte sich ja hier aus. Mindestens einen Abend in der Woche verbrachte er hier.

Anke folgte ihm. Sie sah zu, wie er sich in den Polstersessel warf und die Beine weit von sich streckte. Ihr Lächeln vertiefte sich. Er war wieder da! Es war so wie immer.

Jetzt hob Jürgen den Kopf, sah Anke an und brummte: »Ich muß mich wohl entschuldigen. Die Nerven gingen mir durch. Da freut man sich auf diesen Tag – und dann weicht einem dieser Lümmel nicht von der Seite. Komm her, Liebling!« Er streckte seine Hände nach Anke aus.

Anke kam sofort heran. Ohne zu zögern kuschelte sie sich in Jürgens Arme, erwiderte seine Küsse. Dabei vergaß sie Uli. Sie wurde zur Frau, lauschte begierig den zärtlichen Worten, die Jürgen ihr zuflüsterte.

»Mami, Mami!« Ein verzweifeltes Rufen brachte die beiden in die Wirklichkeit zurück. Uli war erwacht und aus seinem Bettchen gestiegen. »Mami, wo bist du?«

Zum Glück war die Wohnzimmertür geschlossen. Ehe Uli die Klinke erreichen konnte, hatte Anke sich aus den Armen ihres Freundes gelöst.

»Uli, hier bin ich!« Anke sprang auf und eilte zur Tür.

»Mami, so böse Tiere«, hörte sie Uli sagen. Schnell öffnete sie die Tür, nahm den zitternden Kleinen in ihre Arme und drückte sein tränenüberströmtes Gesichtchen an ihre Schulter.

»Aber Uli, was ist denn los? Nicht weinen! Mami ist doch da!«

»Mami, viele Tiere. So große Tiere!« Uli schluchzte nochmals auf, aber Anke spürte, daß er bereits ruhiger wurde.«

»Das hast du nur geträumt, Uli.« Anke strich dem Jungen über das Haar. »Wenn du jetzt wieder die Augen zumachst, dann denkst du an etwas Schönes.«

»Mami mitkommen ins Bett«, forderte Uli.

»Natürlich bringt Mami dich ins Bett. Sie deckt dich zu, und dann bekommst du noch einen dicken Kuß.«

»Merkst du nicht, daß du das Kind verwöhnst?« sagte Jürgen aufgebracht.

Ruckartig hob Uli den Kopf. Er hatte den Besucher bisher nicht bemerkt. Jetzt wurde seine Miene starr. »Ich will nicht ins Bett«, stieß er hervor. »Uli will aufbleiben.«

»Dazu ist es viel zu spät«, sagte Anke. Liebevoll strich sie ihrem Neffen über das Haar.

»Uli ist schon groß. Uli will nicht schlafen.« Der Kleine zappelte in Ankes Armen. »Ich will essen, ich will trinken.«

Anke unterdrückte nur mühsam einen Seufzer. Sie sah zu Jürgen hin, sah die Falte, die auf dessen Stirn erschien.

»Gut«, gab sie nach. »Uli bekommt noch einen Himbeersaft, aber dann geht es ab ins Bett.«

»Ich habe aber großen Durst.« Schmeichelnd lehnte Uli sein Köpfchen wieder an Ankes Schultern.

»Dann gehen wir in die Küche«, sagte Anke.

»Ich hoffe, daß du bald wiederkommst«, ertönte Jürgens Stimme hinter ihr. »Ich habe nicht die Absicht, den ganzen Abend auf dich zu warten.«

Anke drehte sich zu ihm um. »Gleich«, sagte sie. Sie versuchte dabei, nicht in Ulis Gesichtchen zu sehen, das sich bereits wieder verzog. Bevor der Junge losheulen konnte, verschwand sie mit ihm in der Küche.

Anke setzte Uli auf den Küchentisch und sah ihn ernst an. »Nun hör mir einmal zu, kleiner Mann. Du willst doch schon immer groß sein. Dann zeige mir einmal, daß du es schon bist.«

»Ja«, kam es recht kläglich von Ulis Lippen.

»Also, du legst dich schön brav wieder in dein Bettchen, machst die Äuglein zu und versuchst einzuschlafen.«

»Er ist wieder da«, sagte Uli.

»Natürlich ist Onkel Jürgen wieder da. Er ist ja unser Freund.« Da Anke dazu nicht mehr zu sagen wußte, beugte sie sich über den Jungen und küßte ihn zärtlich auf die Stirn. »Jetzt bekommst du deinen Himbeersaft.«

»Muß Uli wirklich wieder ins Bett?« Treuherzig sah der Kleine seine Tante an. »Uli wird ganz lieb sein.«

»Uli ist ganz lieb, wenn er ins Bettchen geht. Dann zeigt er seiner Mami, daß er sie liebhat. Oder hat Uli seine Mami nicht lieb?« Anke lächelte dem Kleinen zu.

»Doch. Uli hat Mami lieb.« Heftig nickte der Junge mit seinem Köpfchen.

Es dauerte aber noch gute zehn Minuten, bis Uli wieder in seinem Bett lag.

»Du bleibst aber liegen«, sagte Anke, nachdem sie ihm noch ein Gutenachtküßchen gegeben hatte. Diesmal klang ihre Stimme streng.

»Uli will ganz schnell groß werden«, kam es aus dem Bettchen.

Anke reagierte jedoch darauf nicht. Sie ging zur Tür und zog sie hinter sich ins Schloß.

Jürgen sah nicht einmal hoch, als sie das Wohnzimmer wieder betrat. »Jetzt brauche ich etwas zu trinken«, brummte er.

»Wein oder Bier?« fragte Anke.

»Wein hat wohl keinen Sinn. Wir können es uns sicher nicht bei einer Flasche gemütlich machen. Wie ich den Kleinen kenne, steht er spätestens in fünf Minuten wieder im Wohnzimmer.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Anke und hoffte, daß sie recht behalten würde. »Soll ich einen Rotwein für uns holen?«

»Eigentlich wollte ich nicht lange bleiben. Aber gut, wenn du dafür sorgst, daß Uli Ruhe gibt…«

Jürgen lehnte sich im Sessel zurück. Er dachte gar nicht daran, seiner Freundin zu helfen. Diese ging in den Keller, holte den Wein und stellte etwas Gebäck auf das Tischchen.

»Ist er nicht zu kalt?« fragte Jürgen und griff nach der Flasche.

»Bitte, mach die Flasche auf. Ich hole inzwischen die Gläser.«

Jürgen brummte etwas, aber er erhob sich nun doch. »Nun, hoffen wir, daß wir Ruhe haben werden.« Er füllte die Gläser, nahm selbst gleich einen Schluck. »Wie ist es nun mit Wien? Hast du es dir überlegt?«

»Ich würde sehr gern mitkommen.« Anke biß sich auf die Unterlippe.

»Natürlich«, brauste Jürgen da schon wieder auf. »Denkst du schon wieder an den Kleinen? Es wird doch nicht so schwer sein, ihn für einige Tage irgendwo unterzubringen. Aber so einen Gedanken ziehst du überhaupt nicht in Erwägung.« Jürgen wurde immer lauter. »Lange sehe ich nicht mehr zu.«

»Jürgen, bitte, nicht so laut.« Bittend sah Anke ihn an.

»Natürlich, Uli könnte durch mich gestört werden.« Nur ein wenig mäßigte Jürgen den Ton seiner Stimme. »Daß es mich stört, dies beachtest du überhaupt nicht.«

Da waren sie wieder einmal beim entscheidenden Thema. Verzweifelt biß sich Anke auf die Lippen. Sie wollte keinen Streit. »Es gäbe schon eine Möglichkeit«, sagte sie leise.

»Und? Du willst nicht.« Herausfordernd kreuzte Jürgen seine Arme vor der Brust.

»Ich möchte schon.« Anke gab sich einen Ruck. »Uli könnte in diesem Kinderheim bleiben. Es ist ein sehr schönes Heim. Die Kinder fühlen sich dort sehr wohl. Ich konnte mich selbst davon überzeugen. Dieses Sophienlust ist so ganz anders als die obligatorischen Kinderheime. Und erst die Verwalterin. Sie versteht es, mit Kindern umzugehen. Alle lieben sie. Auch Uli hatte sofort Vertrauen zu ihr.«

Anke begann von Sophienlust zu schwärmen, doch Jürgen interessierte dieses Heim gar nicht.

»Natürlich gibst du Uli dorthin. Das ist doch die Lösung!« Mit einer besitzergreifenden Geste zog er seine Freundin in seine Arme. »So wäre es sowieso nicht weitergegangen. Schließlich will ich auch etwas von dir haben. Ich kann nur einmal nicht so, wie ich will. Daher ist es auch so wichtig, daß du Zeit für mich hast, wenn ich da bin.« Er begann Anke zu streicheln.

»Das versuche ich doch«, sagte diese und bot ihm ihren Mund.

Jürgen küßte sie. »Dieses Kinderheim… Wann bringst du Uli hin?« fragte er dann.

»Einen Tag, bevor wir nach Wien fahren.« Bisher war Anke dazu noch nicht fest entschlossen gewesen, doch jetzt schwanden ihre letzten Bedenken.

»Warum erst dann? Du kannst es doch gleich tun. Vielleicht bleibe ich dann auch einmal über Nacht bei dir.«

»Gleich?« Anke sah ihrem Freund ins Gesicht, und dann begriff sie, daß dieser sie nicht richtig verstanden hatte. »Du meinst, ich wollte Uli für immer in dieses Kinderheim tun? Nein, das kommt nicht in Frage.«

Abrupt ließ Jürgen seine Freundin los. »Was soll dann das ganze Gequatsche von diesem Heim? Ich habe gedacht, es ist bereits alles geregelt. Schau, Anke«, seine Stimme wurde schmeichelnd. »Ich möchte mich mit dir auch ab und zu außerhalb deiner Wohnung treffen. Nie können wir ausgehen. Du wagst es einfach nicht, Uli allein zu lassen. Auch Ausflüge stoßen auf Schwierigkeiten. Ohne Uli wäre es am Samstag sicher sehr schön geworden. Aber so…« Er zuckte die Achseln. »Ich bin eben auch nur ein Mann. Ich kann dich nicht ständig teilen.«

Das war genau der Ton, bei dem Anke weich wurde. Sie schmiegte sich wieder an Jürgen. »Du mußt Geduld haben, Jürgen. Uli wird größer. Er wird auch vernünftiger werden.«

Jürgen versteifte sich. »Du willst mir also zumuten, so lange zu warten? Ich frage dich, wann waren wir in der letzten Zeit allein?«

Er hatte recht. Und da sie ihn auf keinen Fall verlieren wollte, sagte Anke rasch: »Ich fahre mit dir nach Wien. In dem Kinderheim wird Uli mich nicht sehr vermissen, und wir haben Zeit füreinander. Nicht nur unter tagsüber, auch die ganze Nacht.« In der Vorfreude auf diese Zeit errötete Anke.

*

»Sind die vielen Kinder auch noch da?« fragte Uli. Er saß im Autokindersitz in Ankes Wagen.

»Natürlich«, sagte Anke geduldig. Diese Frage hatte Uli sicher schon zum fünften Mal gestellt.

»Und sie spielen mit mir?« kam es prompt von hinten.

»Sie spielen mit dir«, versicherte Anke. Dabei huschte ihr Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Auf der Autobahn hatte es starken Verkehr gegeben. Dadurch waren sie bereits länger unterwegs, als erwartet. Zum Glück lag nun die Kreisstadt Maibach bereits hinter ihnen. Nicht mehr lange, und sie würden den kleinen Ort Wildmoos erreicht haben, zu dem das Kinderheim Sophienlust gehörte.

»Mami, Uli will nicht mehr warten. Er will jetzt schon zu den Kindern.«

»Es dauert nicht mehr lange«, versuchte Anke ihn zu trösten. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, daß der Kleine an dem Gurt zerrte. »Uli, du mußt sitzen bleiben«, mahnte sie.

»Will nicht mehr sitzen. Will spielen.« Uli begann jetzt auch noch mit den Beinen zu strampeln. »Will zum Spielplatz, will rutschen und schaukeln.«

Anke antwortete nicht. Die Straße war schmal, sie mußte sich auf das Fahren konzentrieren.

Damit gab Uli sich jedoch nicht zufrieden. Er begann in die Hände zu patschen und rief dabei: »Mami, Mami, will spielen, will rutschen.«

Zuerst sagte Anke nichts, doch dann begann Uli immer lauter zu schreien, so daß sie mahnen mußte: »Bleibe doch noch etwas ruhig sitzen, Uli. Wir sind gleich da.«

»Da, da, da«, kam das Echo von hinten.

»Ja, gleich da«, bestätigte Anke. Sie hatte Wildmoos durchfahren und gab nochmals Gas. Erleichtert atmete sie auf, als das große schmiedeeiserne Tor vor ihr auftauchte. »So, mein Liebling, wir sind da.« Sie fuhr die Auffahrt entlang und hielt direkt vor der Freitreppe.

»Kinder, Kinder, Kinder«, brüllte Uli in seinem Kindersitz. Auch als Anke ausgestiegen war, und ihn aus dem Sitz hob, war er kaum zu beruhigen.

»Will laufen«, verkündete er. Anke stellte ihn auf seine eigenen Füße. Ehe sie es sich versah, lief der Junge in den Park hinein.

»Halt!« Anke eilte ihm nach. »Wohin willst du denn? Wir müssen ins Haus gehen.« Sie nahm Uli hoch, doch der Junge zappelte und fing aus Leibeskräften an zu brüllen.

»Sei still«, schalt Anke. Langsam verlor sie die Geduld. Sie hatte Jürgen versprochen, am Abend wieder in Stuttgart zu sein. Lange konnte sie sich hier also nicht aufhalten.

Ihre Mahnung hatte auf Uli keinerlei Wirkung. Erstens war er müde und zweitens hatte er sich in den Kopf gesetzt, mit den Kindern zu spielen. Erneut verlangte er lautstark nach den Kindern.

»Wenn du so brüllst, können wir gleich wieder gehen«, sagte Anke. »Einen schreienden Uli wollen sie hier sicher nicht.«

Das wirkte. Uli schloß seinen Mund. Da öffnete sich auch schon das Portal, und Denise von Schoenecker trat auf die Treppe heraus. »Herzlich willkommen«, sagte sie.

»Danke!« Anke fiel ein Stein vom Herzen. »Wir haben uns leider etwas verspätet.«

»Das macht nichts. Nun, junger Mann«, wand sich Denise an Uli, »du machst nicht gerade ein freundliches Gesicht. Willst du mir nicht Grüß Gott sagen?« Sie streckte Uli ihre Hand entgegen.

Blitzschnell versteckte der kleine Junge seine Hände auf dem Rücken. »Nein«, sagte er laut. »Will zu den Kindern.«

»Das kannst du. Komm, ich bringe dich zu ihnen.« Denise wollte Uli die Treppe emporführen, doch dieser rührte sich nicht. Er schüttelte nur den Kopf.

»Kinder da!« Mit der ausgestreckten Hand zeigte er in den Park hinein.

»Er will zu den Kindern auf dem Spielplatz«, erläuterte Anke.

»Die Kinder sind schon im Haus. Es gibt gleich Abendessen«, erwiderte Denise. Sie beugte sich zu Uli hinab. »Du kannst mit den Kindern essen.«

»Will nicht essen, will spielen«, verkündete Uli laut.

Anke schoß das Blut ins Gesicht. So eigensinnig benahm der Kleine sich sonst selten. »Sicher ist er müde«, meinte sie entschuldigend. »Er hat heute nachmittag nicht geschlafen.«

»Nein!« Zu ihrem Entsetzen sah Anke, daß Uli mit dem Fuß aufstampfte. »Uli nicht müde. Kinder sollen mit Uli spielen.«

»Aber Uli«, sagte Anke scharf. Gleichzeitig sah sie aber ein, daß dies eigentlich ihre Schuld war. Sie hatte ihm in den letzten Tagen immer wieder von den Kindern in Sophienlust erzählt, weil sie ihn so auf sein Hiersein hatte vorbereiten wollen. »Wenn du nicht lieb bist, dann spielen die Kinder überhaupt nicht mit dir.«

»Nicht?« Mit aufgerissenen Augen sah Uli Anke an. Er schob seinen Daumen in den Mund und dachte nach. »Dann fahren wir wieder«, entschied er.

Anke warf Denise von Schoenecker einen flehenden Blick zu, aber diese hätte auch ohne die stumme Bitte gehandelt. Sie nahm Uli auf ihren Arm. »Ich bringe dich jetzt zu den Kindern. Du kannst die Kinder selbst fragen, ob sie mit dir spielen wollen.«