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Seitenzahl: 1130
Veröffentlichungsjahr: 2018
Der Tyrann von Schloss Wildenstein
Die unerwünschte Gräfin
Spritztour ins Glück
Der einsame Baron
Ein Kind braucht Liebe
Dein schönster Tag, Komtess!
Graf Andreas von Wildenstein war aus dem Wald getreten und überlegte, welchen Weg er nun einschlagen sollte. An seinem Gesicht war unschwer zu erkennen, daß ihm heute nichts vor den Lauf gekommen war.
Sein Blick glitt kurz in die Runde. Jetzt bemerkte er drüben im Hintergrund, wo die goldgelben Weizenfelder in der Sonne glänzten, einige dunkle Punkte und vernahm auch schon das monotone Geräusch des Mähdreschers. Ruckartig nahm er das Fernglas zur Hand und ließ es im selben Augenblick mit einem Fluche sinken.
»Da hört doch alles auf!«
Mit weiten Schritten eilte er den Hang hinunter und stand bald zornrot auf dem Grenzacker.
»Was soll das?« herrschte er die Leute an.
Einige Frauen wandten überrascht den Kopf. Niemand hatte den Grafen herankommen sehen. Endlich trat der Gutsverwalter Lorenzen zögernd auf ihn zu.
»Habe ich nicht ausdrücklich befohlen, daß ihr erst drüben hinter der Pappelallee beginnen sollt?«
»Aber – aber es ist doch besser, Herr Graf, wenn wir hier anfangen. Graf Rochus ist auch dieser Auffassung…«, stotterte Lorenzen und blickte etwas verlegen zu Boden. Er kannte den alten Grafen nur zu gut und ahnte in diesen Sekunden nichts Gutes.
»Ach, so ist das! Jetzt kenne ich mich aus, Lorenzen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß Sie gegen meinen Befehl handeln, und anscheinend steckte immer schon mein Sohn dahinter, sonst würden Sie sich doch nicht so stark fühlen. Aber daß Sie sich nur nicht verrechnen! Es täte mir leid um Sie. Sie sind wirklich ein tüchtiger Bursche…«
Während der Graf aus seiner Joppentasche eine dicke Zigarre hervorholte und anzündete, glaubte der Gutsverwalter, der Zorn des Gutsherrn habe sich schon wieder gelegt. Er wollte eben eine Lanze für den jungen Grafen brechen, als Andreas von Wildenstein von neuem losdonnerte: »Daß es in Zukunft keinen Irrtum mehr gibt, Lorenzen! Noch befehle ich, oder hat Ihnen vielleicht Graf Rochus schon einmal Ihren Monatslohn ausbezahlt?«
»Aber die Felder drüben hinter der Pappelallee sind viel zu feucht. Es wäre ja direkt ein Unsinn…«
»Ein Unsinn ist es, daß ich so lange zugesehen habe«, schrie der Graf, und seine Adern an den Schläfen schwollen von neuem an. »Am besten wird es sein, Sie suchen sich eine andere Stelle. Ich kann mir das nicht länger bieten lassen.«
»Ist das Ihr Ernst, Herr Graf?«
»Ja, glauben Sie, ich rege mich nur zum Spaß auf? Sie können schon morgen gehen.«
»Und die Kündigungsfrist?«
»Sie bekommen selbstverständlich Ihr Geld für die nächsten drei Monate. Aber Leute, die nicht gehorchen können, kann ich nicht brauchen.«
»Ich pfeife auf Ihr Geld! Der Schartegg drüben nimmt mich sofort«, schrie Lorenzen jetzt nicht weniger laut. »Aber Sie werden noch manches bereuen. Und – und wenn Sie nicht auf Ihren Sohn hören wollen, geht es mit Wildenstein noch ganz bergab. Sie können sich ja nie von Ihren überalterten Ansichten trennen.«
Graf Andreas hatte die Worte des Verwalters schon nicht mehr gehört. Er schritt bereits über den sanft gewölbten Wiesenhang dem Schloß zu.
Er hatte heute keinen Blick für die Schönheit des Schloßparkes. Er vernahm auch nicht das bunte Vogelstimmengewirr aus den hohen Kronen der alten Ulmen, sondern hastete der breiten Terrasse zu, wo er bereits von dem alten Diener Joseph erwartet wurde, der ihm Gewehr und Joppe abnahm.
»Ich will in der nächsten Stunde von niemand gestört werden«, rief er dem Diener noch zu, bevor er sein Arbeitszimmer betrat.
Mißmutig hob er daher den Kopf, als er einige Zeit später durch ein dreimaliges hartes Klopfen dennoch aus seinen Gedanken gerissen wurde. Ohne das »Herein!« des Vaters abzuwarten, betrat sein ältester Sohn, Rochus, das Zimmer.
»Entschuldige, Vater, daß ich so hereinplatze! Aber die Sache duldet keinen Aufschub… Es kann doch nicht dein Ernst sein, daß du Lorenzen gekündigt hast. Das könntest du höchstens in einer uns allen unverständlichen Erregung getan haben. Ich nehme deshalb an, daß du sie jetzt, nachdem du dich beruhigt hast, wieder zurücknimmst.«
»So?« Graf Andreas sprang auf. »Du scheinst anzunehmen, daß du auch über mich verfügen kannst, wie es dir beliebt.«
»Keinesfalls, Vater. Ich bitte dich nur. Du weißt genau, daß Lorenzen bessere Angebote ausgeschlagen hat. Du kannst ihn doch jetzt nicht wegen einer Lappalie wegschicken.«
»Eine Lappalie nennst du das, wenn ihr stets gegen meinen ausdrücklichen Befehl handelt?«
Graf Andreas warf den Bleistift auf den Schreibtisch und ging langsam auf das Fenster zu. Er war ein Mann wie eine Eiche. Kein Mensch sah ihm an, daß er schon bald sechzig war. Sein Gesicht wirkte streng, aber straff und glatt spannte sich die Haut über die leicht vorspringenden Backenknochen. Schroff sprang das Kinn unter seinen schmalen Lippen vor, wie gemeißelt muteten die Linien seiner Nase und der eckigen Stirn an. Die graublauen Augen strahlten ganz selten eine gewisse Freundlichkeit und Leutseligkeit aus – meist lag ein gefährlicher grünschillernder Ton in ihnen. Dann wußte jedermann im Schloß, daß man dem Grafen am besten aus dem Wege ging. Wenn irgendetwas auf sein Alter hinwies, so waren es die zahlreichen Silberfäden, die sein Haar durchwoben.
»Lorenzen geht! Ich nehme mein Wort nicht mehr zurück. Er fällt schon seit langem unangenehm auf. Einmal läuft eben der größte Krug über.«
»Du tust ihm unrecht, Vater.«
»Außerdem gefällt mir sein anmaßendes Benehmen nicht mehr. Der Kerl glaubt, ohne ihn gehe es nicht auf Wildenstein.«
»Ich gebe zu, daß manches einen falschen Anschein erwecken mußte. Aber ich möchte dir auch jetzt wiederum versichern, daß Lorenzen nichts ohne meine Einwilligung getan hat.«
»Na also! Genauso habe ich es mir ja vorgestellt. Mein Herr Sohn sieht seinen Vater als rückständigen Menschen an. Jetzt verstehe ich alles, was ihr während meiner Abwesenheit hier getrieben habt. Aber so schnell erweise ich euch nicht wieder den Gefallen, daß ich fünf Wochen lang fortbleibe, damit ihr hier allerhand neuen Krimskrams anschaffen und vielleicht noch eine schöne Summe Geldes zur Seite bringen könnt.«
»Vater…!«
»Ich eröffne dir hiermit, daß künftig auch kein Rechen oder keine Milchkanne gekauft wird, ohne daß vorher mein Einverständnis eingeholt worden ist.«
Rochus spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er wollte auffahren, aber er konnte sich bezwingen.
»Eigentlich müßte ich dir ebenfalls kündigen, Rochus, wenn du gar so warm für diesen Burschen Partei ergreifst. – Und jetzt lasse mich bitte allein!«
»Also ist der Fall Lorenzen damit erledigt?«
»Ja.«
»Du wirst dann wohl verstehen, Vater, daß ich – ich meine, daß mir dann auch keine andere Wahl bleibt. Lorenzen hat stets nur auf meine ausdrücklichen Anweisungen hin gehandelt. Ich muß mich vor ihn stellen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß ich keinen Grund mehr sehe, auf Wildenstein zu bleiben, wenn Lorenzen gehen muß, zumal wir beide uns ja niemals recht verstanden haben.«
Graf Andreas lachte böse auf. Nach kurzem Besinnen schüttelte er den Kopf. Es zuckte um seine Nasenflügel.
»Ich kann dich nicht halten, mein Sohn. Tue, was dir beliebt! Stephan ist ja auch noch da. – Aber du bist dir doch im Klaren, was dieser Schritt für dich bedeutet.«
»Selbstverständlich!« In den Augen des Jüngeren lag eine tiefe Trauer. Fast versagte ihm die Stimme, als er weitersprach. »Du tust mir eigentlich leid, Vater! Man müßte beinahe den Eindruck haben, du hast ganz vergessen, aus welchem Geschlecht du stammst. Kein Wunder, wenn dich alle fürchten, da du immer nur dich und deinen Willen kennst. Jetzt ist mir endgültig klargeworden, warum auch unsere verstorbene Mutter so selten lachte.«
»Verlasse jetzt augenblicklich den Raum! Ich könnte mich sonst vergessen!« schrie Graf Andreas mit dunkelrotem Gesicht. »Ja, du hast recht. Wir haben uns niemals verstanden. Du hast dich ja schon mit zehn Jahren gegen mich aufgelehnt, als ich dich ins Internat stecken wollte. Geh jetzt! Doktor Novatius wird dir mitteilen, wann du mit der Auszahlung deines dir zustehenden Erbteiles rechnen kannst.«
Rochus wich keinen Schritt zurück, obwohl der Vater jetzt unmittelbar vor ihm stand. Er fürchtete den zornfunkelnden Blick nicht, sondern antwortete in ruhigem Ton: »Darum sollst du dir keine Sorgen machen, Vater. Nur die mir von Mutter hinterlassene Summe aus ihrem persönlichen Besitz hätte ich gerne… Und nun wünsche ich dir und Stephan alles Gute.« Er drehte sich um und verließ den Raum.
Graf Andreas ließ sich müde in einen Sessel sinken und barg den Kopf in seinen Händen. Keuchend ging sein Atem, und seine Lippen bewegten sich, aber sie brachten kein Wort hervor. Er ließ seinen Sohn gehen und rief ihn nicht zurück.
*
Der D-Zug war mit Urlaubsreisenden überfüllt. Aber als Ina Trautberg in Miesbach in die Kleinbahn umgestiegen war, hatte sie ein Abteil für sich allein.
Das Getriebe der vielen Menschen um sie her war eine Art von Einsamkeit gewichen, an die sich die schlanke dunkelhaarige Ina erst noch gewöhnen mußte. Sie haßte zwar das Geschiebe und Gedränge, aber es hatte ihr dennoch wohlgetan und sie abgelenkt von manch schweren Gedanken.
Etwas gelangweilt betrachtete sie das bunte Plakat der Bahnverwaltung. »Wir fahren immer sicher und schnell«, stand da zu lesen, und sie konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken, denn schüttelnd und schaukelnd bewegte sich eben der Zug durch die grüne Wiesenwelt des Alpenvorlandes. Es kam ihr vor, als wenn er direkt asthmatisch dahinkeuchte. Er schien schon ganz schöne Steigungen überwinden zu müssen, und die schrillen Pfiffe, die er wegen der zahlreichen schrankenlosen Bahnübergänge ausstieß, klangen fast wie Hilferufe.
Es konnte wohl nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Gleichmäßig trommelte ein erst vor kurzem überraschend aufgekommener Gewitterregen an die Fensterscheibe des Abteils und lief in dünnen Rinnsalen über das blanke Glas.
Ina erhob sich und preßte ihr zartes Gesicht dicht an die Scheibe. Eine Weile stand sie so und starrte in die Landschaft hinaus, über die sich ein Regenbogen spannte. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute, und in ihre glänzenden Augen stiegen tatsächlich Tränen, die sie jedoch entschlossen fortwischte.
Langsam setzte sie sich wieder, strich mit graziöser Bewegung das nachtdunkle Haar aus der Stirn, hielt dann die Hände im Schoß gefaltet und sah müde vor sich hin. Ihr blasses Gesicht wirkte reifer, als es einem Menschen von sechsundzwanzig Jahren zukam.
Jetzt fuhr der Zug klappernd über eine Weiche und wurde wesentlich langsamer. Der Zugschaffner ging durch den Wagen.
»Gleich halten wir in Wildenstein, Fräulein!« vernahm Ina seine freundliche Stimme.
Sie dankte mit einem zurückhaltenden Lächeln und ließ es gerne geschehen, daß er ihren Koffer aus dem Gepäcknetz herunterholte. Sie legte das bunte Seidentuch um den Hals und hüllte sich in den leichten Popelinemantel, den sie sich ganz nach ihrem eigenen Geschmack geschneidert hatte.
Als der Zug hielt, hob ihr der Schaffner den Koffer aus dem Wagen und winkte ihr freundlich zu. Sie war die Einzige, die hier ausstieg. Etwas hilflos stand sie da. Sie sah wohl das saubere Stationsgebäude mit dem roten Ziegeldach und las die Aufschrift ›Wildenstein‹, aber weit und breit zeigte sich kein Haus. Wohin ihre Augen auch schweiften – nur Wiesen und Felder, dazwischen einige kleinere Baumgruppen und dahinter die dunkle Wand des Waldes.
Glücklicherweise hatte nun der Regen wieder nachgelassen. Der Mann mit der roten Dienstmütze hatte ihren Blick richtig gedeutet. Nachdem sich das Züglein langsam wieder in Bewegung gesetzt hatte und schwer keuchend hinter der nahen Biegung verschwand, kam er gemächlich heran.
»Ja, Fräulein, das ist leider so bei uns. Die Bahnstation liegt eine gute halbe Stunde außerhalb des Dorfes. Aber Sie haben einen schönen Weg durch den Wald. Gleich hinter dem Bergrücken sehen Sie übrigens schon das Schloß, dann ist es gar nimmer weit.«
Ina fröstelte es, innen und außen. Sie schlug den Mantelkragen hoch, streifte jetzt erst die hellbraunen Lederhandschuhe über und straffte ihre schlanke Gestalt. Etwas mühsam hob sie den Koffer auf und machte sich auf den Weg, den ihr der Bahnbeamte gezeigt hatte. Wenn ich doch telegrafiert hätte, brauchte ich mich jetzt bestimmt nicht so abzuplagen, ging es ihr durch den Kopf. Graf Rochus hätte mich sicher abholen lassen. Wie er wohl aussieht?
Sie versuchte es, sich von dem Mann, der ihr einen so freundlichen Brief geschrieben hatte, ein Bild zu machen, und während sie in Gedanken bereits auf Schloß Wildenstein weilte, ging sie mit ruhigem, ausgreifendem Schritt durch den Wald. Der schmale Weg stieg leicht an. An beiden Seiten erhoben sich in schweigender, beklemmender Majestät dickstämmige Fichten und Tannen, deren Gezweig im Regen dampfte. Als sie ein Stück gegangen war, mündete der Waldweg in eine schmale Straße ein. Ina mußte öfters stehenbleiben, denn der Koffer wurde immer schwerer. Aber da vernahm sie plötzlich lautes Peitschenknallen und Räderrasseln. Sie trat an den Wegrand, um den Wagen vorbeizulassen.
Es war ein leichter Einspänner, von einer schlanken Fuchsstute gezogen, der rasch herankam. Ein junger Bursche führte die Zügel leicht in der Hand. Er hatte ein scharfgeschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, aus dem eine große Hakennase herausragte. Malerisch saß ihm ein grüner Jägerhut mit einer bunten Feder in verwegenem Winkel auf dem Kopf. Als das Gefährt auf gleicher Höhe mit Ina war, griff der Bursche in die Zügel und brachte den Wagen zum Stehen.
»Wollen Sie mitfahren, Fräulein?«
Ina zögerte ein wenig.
»Gerne, wenn ich darf«, sagte sie dann. Warum sollte sie sich zieren?
Der Bursche sprang flink vom Wagen und hob ihren Koffer hinauf. Dann war er auch Ina beim Aufsteigen behilflich und schwang sich neben sie. Schon knallte die Peitsche wieder, und die Fuchsstute nahm den gewohnten Trab wieder auf.
Eine Weile saßen die beiden jungen Menschen schweigend nebeneinander. Dann fragte der Bursche: »Wohin wollen Sie denn eigentlich?«
»Nach Schloß Wildenstein.«
»So, aufs Schloß? – Machen Sie einen Besuch?«
»Nein, nein. – Ich soll dort als neue Sekretärin anfangen.«
»Und da hat man Sie nicht einmal von der Station abgeholt? Ist wieder ganz typisch für den Alten. Ja, wenn Graf Rochus noch da wäre!«
»Ich war leider so unklug und habe meine Ankunft nicht mitgeteilt. Es konnte ja niemand wissen…«
Der Bursche nickte zustimmend.
Ina wollte ein paar Fragen an den fremden Burschen richten, aber sie tat es doch nicht. Schließlich konnte sie nicht den erstbesten Menschen, der ihr begegnet war, über Schloß Wildenstein ausfragen.
Deswegen war der Faden des Gesprächs zwischen den beiden schon wieder abgerissen aber der sympathische Bursche schien nicht einer von den Redseligen zu sein.
Sie hatten unterdessen die ersten Häuser des Dorfes erreicht.
»Sehen Sie! Da drüben liegt das Schloß!« Der Bursche deutete mit der Peitsche nach links und ließ das Pferd in eine Seitenstraße einbiegen, die wiederum leicht anstieg. »Ich muß zwar nach Bruckegg hinunter, und es ist ein kleiner Umweg für mich, aber ich fahre Sie hinauf. So ein schwaches Geschöpf und so ein schwerer Koffer…«
»Aber das – das kann ich doch nicht annehmen«, stotterte Ina und war doch froh über sein Angebot.
»So! Da wären wir«, sagte der Bursche wenig später, sprang vom Wagen und holte den Koffer herunter. »Ich bin der Bichler- Hannes vom ›Sonnenblick‹. Wenn Sie einmal der Weg zum Jochberg hinüberführt, müssen Sie bei uns einkehren.« Etwas leiser setzte er noch hinzu: »Lassen Sie sich von dem alten Tyrannen da drin nicht alles gefallen!«
»Vielen Dank fürs Mitnehmen, Herr Bichler!«
Nun stand Ina vor dem schmiedeeisernen, kunstvoll gefertigten Tor mit dem Wappen derer von Wildenstein darüber: ein Helm, darunter zwei gekreuzte Schwerter von Rosen umrankt. Das Schloß mit seinen beiden Rundtürmen war erst im Frühling neu geputzt worden, denn hell leuchteten seine Mauern.
Zögernd ging Ina über den Kiesweg der breiten Terrasse zu, spürte den Duft des frischgemähten Rasens und warf einen Blick auf die viereckigen Beete von Vergißmeinnicht. Sie bewunderte den niedrigen Buschflieder und freute sich an dem satten Grün der Linden und Ulmen.
Während sie sich in ihren Gedanken ganz dieser ausgeglichenen Ruhe hingab, die über dem Schloßpark lag, war sie bei der Terrasse angekommen, wo der alte Diener Joseph sie mit seinem gewohnt mißtrauischen Blick in Empfang nahm.
Graf Andreas hatte inzwischen eben einen Berg von Rechnungen und Belegen vor sich liegen, die er kontrollieren wollte. Sein Bleistift glitt über das Papier, und seine Miene hellte sich zusehends auf, da alles auf Heller und Pfennig stimmte.
»Hätte ich mir ja gleich denken können«, brummte er. »Der Rochus hat doch noch niemals für sich gewirtschaftet. Wenn er nur nicht gar so aufsässig gewesen wäre…« Er wurde in seinen Gedanken durch ein bekanntes Klopfen an der Tür unterbrochen. »Ja, herein!« rief er ungeduldig.
Der alte Diener, der auf der Schwelle stand, sagte mit seiner monotonen Stimme: »Ein Fräulein Trautberg möchte Sie gerne sprechen, Herr Graf. Sie sagt, es sei in einer dienstlichen Angelegenheit. Darf ich Sie hereinlassen?«
»So?« Das klang recht unfreundlich. »Ich kenne weder den Namen Trautberg, noch könnte ich mir vorstellen, in welcher Angelegenheit sie kommt.« Graf Andreas schüttelte den Kopf. »Soll hereinkommen!« knurrte er dann ärgerlich. Schon beugte er sich wieder über die Papiere, addierte einige Zahlen und war so in seine Arbeit vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie Ina eintrat.
Sie blieb an der Tür stehen.
»Grüß Gott, Herr Graf! Mein Name ist Ina Trautberg. Ich möchte mich hiermit zum Dienstantritt melden.«
Der Graf hob den Kopf. Seine Augen zogen sich unmerklich zusammen, als er Ina musterte. Er hatte die Gabe, sich in wenigen Sekunden ein scharfumrissenes Bild von einem Menschen zu machen. Sein schneller Blick umfaßte Inas ganze Erscheinung.
Das Bemerkenswerteste an ihr waren zweifellos die großen dunklen Augen, die klar und offen auf ihn gerichtet waren und doch von einer seltsamen, rätselhaften Tiefe zeugten.
»Zu welchem Dienst wollen Sie sich denn bei mir melden?«
Diese unfreundliche Frage schnitt Ina ins Herz.
»Als die neue Sekretärin«, erwiderte sie trotzdem mit fester Stimme.
»Sekretärin? – Da hat sich wohl jemand einen schlechten Scherz mit Ihnen erlaubt. Ich brauche keine Sekretärin. Die dafür anfälligen Arbeiten macht seit Jahr und Tag die Kleebach.«
»Ja, aber Sie haben doch die Stelle im Deutschen Anzeiger ausgeschrieben. Ich habe mich darum beworben, und Sie haben mir auch schriftlich zugesagt.« Ina entnahm ihrem Handtäschchen einige Briefe und hielt sie dem Grafen hin.
Der Graf entfaltete langsam das erste Schreiben und hatte den Inhalt schnell überflogen.
»Natürlich!« brummte er und wies mit dem Finger auf die Unterschrift. »Der Herr Rochus hat wieder einmal selbständig gehandelt, ohne mich nur mit einer Silbe davon in Kenntnis zu setzen.«
Ina bemerkte, wie sich das Gesicht des Grafen verfärbte. Sein Atem keuchte, als er losdonnerte: »Da müssen Sie sich eben von Rochus von Wildenstein anstellen lassen. Der ist aber leider nicht mehr hier. Ich werde Sie nicht brauchen.«
Unwillkürlich fielen ihr die Worte des Bichler-Hannes ein. Dieser Mann, der hier schaltete und waltete, schien tatsächlich ein Tyrann zu sein. Plötzlich stieg eine Welle des Zorns in ihr auf.
»Sie machen sich’s sehr leicht, Herr Graf. Abgesehen davon, daß ich die Strapazen der Fahrt hierher ganz umsonst auf mich genommen haben sollte, wäre da noch einiges zu klären, bevor ich wieder zurückfahre.«
In ihren Augen blitzte es auf, und sie hatte ganz gegen ihre Gewohnheit mit einem heftigen Ruck den Kopf in den Nacken geworfen. Sie senkte auch den Blick nicht, als der Graf nahe an sie herantrat und seine Augen sie zu durchbohren schienen.
Für einen flüchtigen Augenblick wurde die Falte zwischen seinen Brauen wieder sichtbar, ein Zeichen, daß das Barometer auf Sturm stand, dann aber glättete sich plötzlich seine Stirn.
»Sie können natürlich im Schloß übernachten, und ich werde Ihnen eine entsprechende Entschädigung zukommen lassen, aber…«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Stephan, der jüngste Sohn des Grafen, stand auf der Schwelle.
»Verzeihung, Papa! Ich wollte nicht stören.« Dann verbeugte er sich leicht vor Ina.
»Dein Herr Bruder hat sich da wieder etwas geleistet. Will, ohne mich zu fragen, eine Sekretärin einstellen! – Kümmere du dich jetzt um Fräulein Trautberg! Sie wird müde sein. – Von mir aus können Sie auch ein paar Tage hierbleiben«, wandte er sich nun an Ina.
»Wenn Sie mich nicht einstellen wollen, reise ich auch sofort wieder ab. Ich habe weder Zeit noch Geld, um hier Urlaub zu machen! Ich habe mir die Sache überlegt. Ich verzichte auf Ihre Entschädigung. Sie sollen nicht glauben, daß man mit einer gewissen Geldsumme alles erledigen kann. Ich werde mit dieser Enttäuschung fertig. Der Empfang hier war eine eiskalte Dusche auf den freundlichen Brief des Herrn Rochus.«
Graf Andreas holte tief Atem. Er wollte schon wieder auffahren. Eine solche Sprache war er keinesfalls gewohnt. Aber irgendwie verspürte er, daß dieses sympathische Mädchen, das da vor ihm stand, eigentlich im Recht war.
Er holte eine dicke Zigarre aus der Tasche, schnitt die Spitze ab, entzündete sie langsam und tat ein paar tiefe Züge. Versonnen sah er dem Rauche nach, der kräuselnd in die Höhe stieg.
»Wenn ich mir erlauben darf, Papa!« ließ sich Stephan nun vernehmen. »Tante Kleebach kann es wirklich nicht mehr schaffen, schon wegen ihrer Augen nicht. Ich möchte dich nicht kränken, aber in diesem Fall hat Rochus wirklich recht gehandelt.«
Stephan Wildenstein war ein hübscher Bursche. Groß gewachsen wie der Vater, zeigte er auch sonst in seinem äußeren Erscheinungsbild eine auffallende Ähnlichkeit mit ihm. Nur sein Antlitz wirkte etwas weicher, war nicht so von Kraft, Herrschsucht und Stolz gezeichnet.
Etwas ängstlich blickte er nun an dem Gesicht des Vaters vorbei. Er fürchtete wohl eine harte Zurechtweisung und war deshalb nicht wenig erstaunt, als er dessen Stimme vernahm, in einem Tonfall, den er nur höchst selten kannte.
»Also – wenn Sie jetzt noch bei uns bleiben wollen, Fräulein Trautberg…«
Sie nickte und griff zögernd nach der Hand, die ihr der Graf entgegenstreckte. Dabei stellte sie fest, daß er sogar lächeln konnte.
*
Inas Zimmer lag im linken Flügel des Gutshauses, wo auch der neue Verwalter wohnte, der wenige Stunden nach ihrer Ankunft hier eingezogen war.
Wie ein Schmuckkästchen wirkte der nicht allzu große Raum, in den durch ein modernes, breites Fenster viel Licht und Sonne hereinflutete.
In der Mitte stand ein rechteckiger Tisch aus Lindenholz mit vier Stühlen, links das Bett und ein breiter Schrank, gegenüber eine kleine Kommode und eine bequeme Couch. Über der Kommode hing ein großer Spiegel in breitem Barockrahmen. Die hellen Vorhänge, die feingemusterten Tapeten und der zart getönte Teppich verbreiteten echte Wärme.
Ina hatte den ersten Arbeitstag hinter sich. Sie warf sich müde und abgespannt auf die Couch und dachte über alles nach, was sie an diesem Tag erlebt hatte.
Ich sollte eigentlich noch einen Spaziergang machen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Schnell sprang sie auf und trat vor den Spiegel. Sie strich zuerst ihr lindgrünes weitschwingendes Baumwollkleid zurecht, kämmte sich und betrachtete lange prüfend ihr Gesicht. Es wirkte blaß und abgehärmt, aber das war kein Wunder, da sie ja erst vor drei Wochen das Krankenhaus nach einer schweren Lungenentzündung verlassen hatte. Kein Wunder auch, daß alles andere nicht spurlos an ihr vorübergegangen war, was sie im vergangenen Jahr durchzustehen hatte. Das bitterste war wohl die Enttäuschung, die ihr ein Mann bereitet hatte, den sie mit allen Fasern ihres jungen, reinen Herzens geliebt hatte. Aber noch schlimmer waren der unerwartete Tod des Vaters und die langwierige Krankheit der Mutter gewesen.
Ina verspürte eine eigenartige Enge in ihrem Halse, fühlte die Tränen aufsteigen, und es wollte sie ein ungeahntes Heimweh nach der Mutter überfallen. Aber nein, sie wollte sich heute nicht unterkriegen lassen. Mit wirbelndem Schwung war sie bei der Tür und stürmte aus dem Haus.
Ziellos schlenderte sie über schmale Wiesenpfade und an Feldrainen entlang. Der rötliche Sonnenball stand schon bedenklich nahe dem Horizont, aber von abendlicher Kühle war eigentlich noch nichts zu spüren. Im Gegenteil! Die Luft zitterte noch von dem heißen Brodem des vergangenen schwülen Tages. Bewegungslos hingen die Zweige an den Bäumen, denn kein Lüftchen regte sich.
Ina hatte einen schmalen Waldweg erreicht und sah plötzlich die gleißende Fläche eines kleinen Sees vor sich auftauchen. Welch eine wunderbare Badegelegenheit, dachte sie voller Freude. Jetzt wird es mir hier in Wildenstein noch einmal so gut gefallen! Sie überlegte, ob sie nicht sofort umkehren sollte, um ihre Badesachen zu holen und noch an diesem Abend ein erfrischendes Bad zu nehmen. Aber dann entschied sie sich doch anders und lief noch einige Schritte weiter auf den See zu, um gleich darauf staunend innezuhalten.
Durch das Grün der Zweige erkannte sie zwei Gestalten.
Es war Stephan von Wildenstein mit einem Mädchen, das einen grellroten Badeanzug trug. Der junge Graf frottierte eben mit einem großen Handtuch seinen Körper ab, und das Mädchen schien mit einer ähnlichen Tätigkeit beschäftigt zu sein. Die beiden hatten wohl gar eine richtige Auseinandersetzung, denn Ina erkannte es an ihren Gesten und an ihren erregten Stimmen. Sie konnte alles genau verstehen, was sie sich – vermeintlich ohne Zeugen – zu sagen hatten.
»Ich fürchte, du vergreifst dich im Ton, Franziska«, schrie der junge Graf.
»Ach! Franziska sagst du auf einmal…?« höhnte das Mädchen. »Sonst bin ich immer deine Franzi.«
»Wenn du nicht anders mit mir sprechen willst, gehe ich sofort nach Hause. Ich habe sowieso keine Zeit und auch keine Lust mehr.«
»Mich ins Jagdhaus einzuladen, dazu hast du immer Lust gehabt, du Schuft, du!«
»Ich verbitte mir, Franziska…«
»Du hast dir gar nichts zu verbitten. Du hast dich höchstens daran zu erinnern, was du mir alles versprochen hast.«
Ina fühlte sich nicht besonders wohl in ihrer Lauscherrolle. Sie brauchte aber nicht zu befürchten, daß sie hier entdeckt wurde, wenn sie sich still verhielt. Da vernahm sie schon wieder die Stimme des jungen Grafen, die nun merklich ruhiger klang.
»Eine Heirat habe ich dir nie versprochen, Franzi.«
»Nicht direkt, aber – aber nach all dem, was geschehen ist, mußte ich doch annehmen…«
»Da bist du eben einem gefährlichen Irrtum erlegen.«
»Wunderbar! Wie leicht dir das fällt, mir so etwas ins Gesicht zu schleudern! Ja, ich glaube nun selber schon, daß es so ist, wie du sagst. Ich habe immer gedacht, der Name Wildenstein bedeutet Ehre und Anständigkeit. Glaubst du, ich weiß es nicht, daß du dich seit Wochen schon mit dem Fräulein von Wernberg triffst? Und du bildest dir ein, man kann eine Franziska Bichler wie ein Spielzeug benützen, und wenn man es satt hat, wirft man es in die Ecke? Ich warne dich! Glaube ja nicht, daß ich mich so ohne weiteres abwimmeln lasse.«
»Franzi! Ich bitte dich. Dramatisiere die Dinge doch nicht!«
»Ich dramatisiere gar nichts. Ich sehe die Dinge nur so, wie sie sind. Du gehörst mir. Ich warne dich…«
»Du drohst mir etwa?« rief Graf Stephan jetzt unbeherrscht. »Da hast du aber den falschen Weg eingeschlagen. Ich bin kein kleiner Bub mehr, der sich fürchtet. Mußt mich halt verklagen, wenn du meinst, ich hätte dir die Ehe versprochen. Mir ist jedenfalls nichts davon bekannt. Aber ich habe es satt, mir deine Drohungen und unberechtigten Vorwürfe noch länger anzuhören.«
»Was? – Habe ich dich betrogen oder du mich? Aber die Leute haben schon recht mit all dem, was sie von dir behaupten. Es ist wirklich verwunderlich, daß du der Bruder von Rochus bist. Dich hätte dein Vater aus dem Hause jagen sollen!«
»Ach, laß mich doch in Ruhe!« schrie Stephan wütend und ging einfach davon.
»Du wirst noch an mich denken!« rief ihm Franziska zornig nach, und Ina merkte, wie ihre Worte in Tränen erstickten.
Sie blickte dem Mädchen, das nun auch fortging, noch lange nach. Ja, die Liebe bringt nicht nur Freude, dachte sie. Das habe auch ich schon erfahren müssen. Eine Weile stand sie noch da, bevor sie an den Heimweg dachte. Es überkam sie ein leichter Unwille, weil sie die beiden belauscht hatte, aber schließlich konnte sie doch nichts dafür, daß der Zufall sie um diese abendliche Stunde hierher geführt hatte.
Aber als sie bereits im Bett lag, schwirrten ihr immer noch die seltsamsten Gedanken durch den Kopf.
*
Stephan von Wildenstein stand auf der Terrasse des Schlosses und betrachtete die Glyzinien und den wilden Wein, der sich am Rand der Terrasse emporwand. Ab und zu warf er einen Blick auf die gepflegten Rabatten, die Ziersträucher und die Bäume. Aber seine Gedanken waren weit weg.
Er war selber erstaunt, auf welche Höhe ihn die Liebe zu Franziska Bichler getragen hatte. Jedenfalls war das, was vor ihr gewesen war, ein bedeutungsloses Flirten gewesen. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie alles werden sollte, war mit Franzi einfach in ein Boot gestiegen und hatte sich treiben lassen, ohne nach einem Ufer Ausschau zu halten.
Freilich hatte er sich auch schon einige Male gefragt, ob er sie heiraten sollte. Sie war schön, sehr schön. Der Aufenthalt im Internat hatte sie sogar ein wenig hochmütig gemacht. Aber der Vater würde niemals seine Einwilligung zu einer solchen Verbindung geben. Ein Graf und die Tochter eines Gastwirts? Außerdem würde sie kaum mehr als fünfzigtausend Mark mitbringen, und das war auf alle Fälle viel zu wenig.
Nun, die Unterredung am Waldsee drunten hatte wenigstens eine Entscheidung gebracht. Freilich hatte Stephan sich eine Trennung von Franzi anders vorgestellt, aber sie wollte es ja nicht anders. Es war vielleicht am besten so, denn das Mädchen konnte ihm wirklich gefährlich werden. Er hatte jetzt noch ihre drohenden Worte in den Ohren.
Ein bißchen gesitteter hätte sie sich schon aufführen können, dachte er und ärgerte sich, daß sie ihn in so unschöner Form mit Rochus verglichen hatte. Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß sie auch damit recht gehabt hatte. Rochus war wirklich ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle. Eigentlich war es schade, daß Rochus Wildenstein verlassen hatte. Schließlich hätte für ihn, den jüngeren, auch Gut Waldstein genügt.
»Kann mir nicht vorstellen, daß alles so bleiben soll. Wildenstein braucht Rochus’ Hand«, brummte er, drehte sich um und ging zu dem großen Gutsgebäude hinüber, um im Büro einige Anweisungen zu geben, wie ihm der Vater schon vor zwei Stunden aufgetragen hatte.
Er fuhr ein wenig zusammen, als er Ina nicht allein antraf, wie er es als sicher angenommen hatte.
»Guten Morgen allerseits!« grüßte er betont freundlich. »Das ist aber ordentlich, daß sich unsere gute Tante Kleebach immer noch ein bißchen der neuen Sekretärin annimmt. Ich glaube allerdings, daß sich Fräulein Trautbert schon eingearbeitet hat.«
»Mein lieber Junge«, begann Fräulein von Kleebach, eine sehr weitentfernte Verwandte des Gutsherrn, mit ihrer näselnden Stimme, »ich wundere mich eher über dich, daß du seit kurzem so viel und so oft im Büro zu tun hast. Das war doch früher nicht der Fall. – Fräulein Trautberg«, setzte sie um einen Ton lauter fort, »ich muß Sie allen Ernstes vor diesem Charmeur warnen.«
»Aber Tantchen, das ist nicht fair von dir«, lachte er und trat nahe an Ina heran. Er trug eine helle Flanellhose über dem Gürtel blähte sich ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen. Er war groß und schlank und wirkte trotz seiner achtundzwanzig Jahre wie ein großer Junge, der eben aus der Schule entlassen worden war. »Ich habe folgende Aufträge meines Vaters zu übermitteln«, begann er nun betont ernst. »Fräulein Trautberg, Sie sollen heute noch schriftlich im Sägewerk wegen der Lieferung der Bretter für die beiden neuen Scheunen anmahnen, die noch diese Woche fertiggestellt werden sollen. Außerdem sollen Sie in der Mühle anfragen, wieviel Zentner Weizen noch heute geliefert werden können. Ferner möchten Sie bitte bei Freiherrn von Schartegg anrufen, ob die Tauschgeschichte wegen des Waldes am Zirnberg nicht noch Zeit hätte bis nach der Ernte.« Er griff nun in die hintere Hosentasche und zog einige Papiere heraus. »Hier sind die Unterlagen. Soll ich diktieren?«
Fräulein von Kleebach blickte Stephan aus großen Augen an. Von dieser Art kannte sie ihn noch gar nicht.
»Gib mir das Zeug! Ich werde alles andere veranlassen. Und jetzt marsch – hinaus! Störe uns nicht bei der Arbeit!«
Stephan nahm diese Aufforderung des alten Fräulein keinesfalls ernst. Er lächelte nur, und seine Augen waren unverwandt auf Ina gerichtet.
Sie trug eine bezaubernde weiße Spitzenbluse mit losen, kurzen Ärmeln und einem dezenten Ausschnitt, die einen wundersamen Kontrast zu ihrem dunklen Haar hervorrief. Es hatte den Anschein, als hätte auch ihr Gesicht heute ein wenig mehr Farbe als sonst.
Gerade jetzt steckte ein Mädchen von etwa achtzehn Jahren den Kopf zur Tür herein.
»Fräulein von Kleebach möchte ins Schloß hinüberkommen. Doktor Karthoff ist da, aber er hat heute nicht viel Zeit.«
»Hat er den neuen Tee dabei wegen meiner Galle? Ja, da muß ich sofort…«, erwiderte Fräulein von Kleebach ganz aufgeregt und trippelte schon zur Tür, nicht ohne zuvor Stephan noch einmal mit einer unmißverständlichen Handbewegung angedeutet zu haben, er solle endlich auch verschwinden. Er kümmerte sich aber nicht im Geringsten darum. Im Gegenteil!
Er setzte ein freches Lachen auf und schien sich mächtig zu freuen, daß der störende Dritte weggerufen worden war.
»Finden Sie es eigentlich nicht scheußlich, Fräulein Trautberg, an einem solch herrlichen Tag hier drinnen sitzen zu müssen?«
Er hatte sich leicht an den Schreibtisch gelehnt und spielte mit einem Bleistift. Unbekümmert richtete er seine Augen auf Inas Blusenausschnitt.
»Sie sollten mich wirklich nicht von der Arbeit ablenken. Fräulein von Kleebach hat schon recht.«
»Buuuuh…!« tat er künstlich aufgebracht. »Sind Sie tatsächlich von einem derartigen Arbeitsgeist beseelt, oder können Sie mich nicht leiden?«
Sie konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Sie blickte ihm offen ins Gesicht, und als er sie jetzt schallend anlachte, mußte sie sich seinem Lachen ergeben. So bezwingend, so ansteckend wirkte es auch bei ihr, deren Gesicht sonst von einem stillen, feierlichen Ernst gezeichnet war.
»Sie haben mir doch selber eben erst einen Stoß Arbeit vorgesetzt und…«
»Jaja, und Sie werden heute bestimmt noch damit fertig.«
»Sie haben wohl gar nichts zu tun? Oder nützen Sie die Gelegenheit, weil Ihr Herr Vater auf der Jagd ist?«
»Erraten! Die Katze ist aus dem Haus, und Thurner, der würdige Nachfolger unseres tüchtigen Lorenzen, arbeitet für zwei. Es wäre übrigens gar nicht auszudenken, wenn alle Leute so gewissenhaft wären wie Sie. Ich versichere Ihnen, wenn Sie so schön brav bleiben, wird Ihnen mein Vater bestimmt schon im nächsten Monat Ihr Gehalt aufbessern.«
»Wie Sie reden!« Ina tat ganz entrüstet. »Haben Sie überhaupt schon einmal einen Menschen ernst genommen?«
»O doch, Sie beispielsweise. Sie muß man ja ernst nehmen. Mein Vater hat Sie übrigens bereits mächtig gelobt. Nicht nur die Art, wie Sie gleich bei Ihrer Ankunft hier aufgetreten sind, hat ihm imponiert, auch Ihre präzise und saubere Korrespondenz hat ihm seine Anerkennung abgerungen. Und das will schon was besagen! Er findet sonst selten ein gutes Wort oder eine Anerkennung.«
Er hatte plötzlich seine Hand auf ihrem Unterarm, und sein Blick ruhte unverwandt auf der feingezeichneten Rundung ihrer Lippen, aber Ina zog ruckartig ihren Arm zurück.
»Bitte, lassen Sie das!«
»Sie sollten nicht so abweisend zu mir sein, Fräulein Ina! Eigentlich haben Sie Ihre Stellung doch mir zu verdanken…«
»Und wenn es so wäre! Das gibt Ihnen noch lange kein Recht, zudringlich zu werden und mich noch länger von der Arbeit abzuhalten.«
»Verzeihung, gnädiges Fräulein! Ich wußte nicht…« Dabei machte er ein so übertrieben bekümmertes Gesicht, daß sie unwillkürlich wieder lachen mußte.
»Ich bewundere Sie, Graf Stephan! Ich…«
»Herrlich! Das hat noch niemand zu mir gesagt!«, freute er sich knabenhaft.
»Aber Sie haben mich noch gar nicht ausreden lassen«, schmollte sie. »Ich wollte sagen, ich bewundere Ihre…«
»Lebenskunst«, lachte er erneut dazwischen. »Das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?«
Sie konnte sich nicht verhehlen, daß ihr diese lockere, selbstsichere Art Stephans gefiel. Es kostete sie jetzt tatsächlich ein wenig Überwindung, ein ernstes Gesicht aufzusetzen.
»Warum schauen Sie mich schon wieder so ernst an?« fragte er gleich.
»Weil Sie nur spotten können.«
»Ach, es kommt mir vor, als könnten Sie es mir nie im Leben verzeihen, daß ich Ihnen soeben einige Minuten gestohlen habe. Freilich, mein Bruder Rochus wäre bestimmt sofort gegangen, wenn Sie ihn so schön davonkomplimentiert hätten wie mich.«
Ina starrte vor sich hin. Der Name Rochus, den sie immer wieder zu hören bekam, obwohl der junge Graf nach einem schweren Zerwürfnis mit dem Vater das Schloß verlassen hatte, bedeutete auch ihr bereits etwas Besonderes. Er war es doch, der sie eigentlich nach hier geholt hatte.
»Wissen Sie, Fräulein Ina, ich kann nicht so gut philosophieren wie mein Herr Bruder. Ich kann auch nicht so verständnisvoll über Kunst und ähnliche Dinge reden. Ich bin so ungefestigt, daß mich jede kleine Verlockung des Lebens aus dem Gleichgewicht schleudert. Ich liebe die Sonne und das Wasser. Und Sie würden erröten, wenn Sie noch mehr hörten, was für einer ich bin. Ich liebe die Jugend, ich liebe die Mädchen!«
Sie lachte belustigt über dieses Bekenntnis, aber sie fand im Augenblick kein passendes Wort der Erwiderung.
»Wenn man Sie ansieht, Fräulein Ina, so verrät Ihr blasses Gesicht nur allzudeutlich, daß Sie Sonne, Luft und Wasser viel zu wenig genießen.« Er hatte den Bleistift weggelegt und blickte in ihre dunklen Augen. »Und deswegen sollten Sie auf mich hören und sich mir anvertrauen, um dem eigentlichen Sinn des Lebens nachzuspüren.«
»Was soll ich darunter verstehen?«
»Daß ich Sie zum Beispiel eben eingeladen habe, mit mir einmal zum Waldsee zu gehen, um ein kühles Bad zu nehmen.«
»Und was dann?«
Die Augen, die aus seinem sonnengebräunten Gesicht strahlten, schauten sie unverständig an.
»Haben Sie Angst vor mir? Wir können ja den Verwalter mitnehmen.«
Da lachte sie hell auf. Zum erstenmal seit langer Zeit hatte sie wieder aus vollem Herzen gelacht. Ihr Blick fiel auf seine verächtlichen Lippen. Komisch, dachte sie, sie passen zu seinen ungeschminkten Worten.
»Ich will mir’s überlegen«, murmelte sie und erschrak, denn damit hatte sie ihm eigentlich schon zugesagt.
*
Der Wettergott hatte es diesmal mit der Erntezeit ausnehmend gut gemeint. Ein Tag nach dem anderen spannte sich in wolkenloser Bläue über das Land. Alle Hände hatten zu tun, die reichliche Ernte zu bergen. Auch Stephan ritt nun jeden Tag über die Felder und kontrollierte im Auftrag des Vaters die Arbeit.
Ina hatte ihn schon die ganze Woche nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte wohl seine Einladung zu einem Bad im Waldsee ganz vergessen, aber sie wußte nicht, welche Sorgen sein Herz bewegten.
Es war ein lauschiger Abend. Sie saß auf einer kleinen Bank in der Nähe des Springbrunnens. Sie stützte den Kopf in die Hände und sah traumverloren vor sich hin. Ihr Gesicht wirkte müde und war heute besonders blaß. Der Glanz ihrer Augen schien erloschen.
Sie öffnete das kleine moderne Handtäschchen und entnahm ihm einen Brief, den ihr heute der Postbote gebracht hatte. Sie las ihn schon zum wiederholten Male.
»Mein liebes Kind«, schrieb ihre Mutter. »Du sollst wissen, daß ich den ganzen Tag an Dich denke. Wie hast Du Dich eingewöhnt auf Schloß Wildenstein? Wie sind die Menschen zu Dir? Tausend Fragen möchte ich an Dich stellen, und ich zähle die Tage bis zu Deinem nächsten Besuch… Du sollst aber nicht glauben, daß ich ungeduldig bin, wenn das nicht bald sein kann. Doktor Hartlieb und Schwester Maria umsorgen mich so gut, daß ich es ihnen niemals werde danken können. Hartlieb hat neulich etwas von einer Operation angedeutet. Ich bin zwar nicht ganz klug daraus geworden, aber ich bin seitdem doch ein wenig beunruhigt. Ob ich überhaupt noch einmal gesund werde? – Ach, jetzt habe ich Dir ganz gegen meinen Willen wieder das Herz schwer gemacht! Verzeih mir, mein liebes Kind…«
Ina fuhr mit dem Taschentuch leicht über die Augen. Die Mutter fragte, ob sie noch einmal gesund werde – dabei gab es kaum noch eine Hoffnung. Sie schob den Brief wieder in das Täschchen und erhob sich, um zum Gut hinüberzugehen. Ihre Schritte ließen die sonst so beschwingte Anmut ganz vermissen.
Sie blieb stehen, denn sie sah Graf Andreas vom Schloß herunterkommen. Am liebsten wäre sie ihm ausgewichen, denn sie wollte jetzt mit keinem Menschen sprechen. Aber da stand der Graf auch schon vor ihr.
»Ein wunderschöner Abend heute«, sagte er beiläufig. »Es freut mich, daß Sie jede freie Stunde in der frischen Luft verbringen, Fräulein Trautberg. Sie sehen übrigens gar nicht gut aus.«
Ina senkte den Kopf.
»Ist Ihnen einer zu nahegetreten?«
Sie schüttelte den Kopf und blickte ihm offen ins Gesicht. Er sah daher die blauen Schatten, die um ihre Augen lagen, und die feinen, kaum sichtbaren Fältchen, die sich um ihre Mundwinkel eingegraben hatten.
»Es ist etwas anderes, Herr Graf«, begann sie nun mit leiser Stimme. Plötzlich hatte sie das Gefühl, daß ihr der Graf in diesem Augenblick bestimmt eine Bitte nicht abschlagen würde. »Es ist gut, daß ich Sie noch getroffen habe. Ich habe einen Brief erhalten. Dürfte ich Sie um Urlaub übers Wochenende bitten?«
»Liebeskummer? – Will er Ihnen untreu werden?« versuchte der Graf zu scherzen. »Aber Sie sind doch kaum drei Wochen bei uns!« Als er ihre glanzlosen Augen sah, aus denen sie ihn traurig anblickte, spürte er, daß sein Scherz fehl am Platze war. »Verzeihen Sie, Fräulein Trautberg! Ich wollte Sie nicht kränken. Man ist natürlich leicht versucht, bei jungen Leuten so etwas anzunehmen, aber ich sehe schon… Im Übrigen gebe ich Ihnen gerne ein verlängertes Wochenende. Außerdem steht es mir gar nicht zu, in Sie zu dringen, warum Sie…«
»Ich möchte Ihnen trotzdem nichts verheimlichen, Herr Graf«, fiel sie rasch ein. »Meine Mutter liegt schwer krank in der Klinik und freut sich schon lange auf meinen Besuch. Ich hätte auch sonst noch ein bißchen was zu erledigen in der Stadt.«
»Aber da können Sie doch mit Stephan fahren. Er hat da irgend so ein Treffen mit seinen ehemaligen Schulkameraden aus dem Gymnasium. Da muß er wenigstens rechtzeitig wieder zurückkommen, und Sie haben die Fahrtkosten gespart.«
»Danke!«
»Also – Kopf hoch, kleines Fräulein! Es wird nicht so schlimm sein mit Ihrer Mutter. Sie müssen mir dann am Montag gleich Bericht erstatten.« Er klopfte ihr leicht auf den Arm. »Wenn Sie sonst einmal einen Wunsch haben, Fräulein Trautberg, wenden Sie sich am besten gleich an mich! Ich schätze übrigens Ihre ausgezeichnete Arbeit.«
Sie stand da und schämte sich ein wenig. In ihren Augen war er plötzlich gar nicht mehr der Tyrann, als der er von allen Seiten geschildert wurde. Man tat ihm zweifellos unrecht. Sie mußte unwillkürlich an Stephan denken. Er hatte also wirklich nicht geflunkert. Der Graf hatte sie tatsächlich gelobt, und das tat ihr in dieser Stunde besonders wohl.
Während sie langsam dem Gutsgebäude zuschritt, hatte Graf Andreas bereits den Weg ins Dorf eingeschlagen. Mit langen, weitausholenden Schritten hatte er den oberen Dorfteil umgangen und bog nun in einen schmalen Weg ein, der schnurgerade auf die Pfarrkirche wies.
Aber sie war nicht sein Ziel. Obwohl er in seinem Leben kaum einmal den Sonntagsgottesdienst versäumt hatte, wäre es dennoch auffallend gewesen, wenn er jetzt, am Abend und mitten in der Woche, das Gotteshaus betreten hätte. Er kannte seine Christenpflicht, machte nicht viel Worte, sondern zeigte durch die Tat, was er seinem Namen schuldig war. Das neue Jugendheim, das erst vor kurzem in Wildenstein eingeweiht worden war, war zum Beispiel sein Werk, und Pfarrer Hauser konnte noch viele Beispiele anführen, wo der Graf sehr tief in die Tasche gegriffen hatte, wenn es galt, irgendwo dringend zu helfen.
Jetzt stand er vor dem Pfarrhof.
»Dieser alte Kasten ist eine Schande für die ganze Umgebung«, brummte er, bevor er die Türglocke läutete. »Aber der Hauser ist ja so ein Dickschädel.«
Die Schwester des Pfarrherrn öffnete ihm. »Grüß Gott, Andreas!«
»Grüß dich, Tina!«
»Wir haben schon gedacht, du kommst heute nicht mehr. Hast dich überhaupt in letzter Zeit recht selten gemacht.« Tina Hauser öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
Aus einem modernen Teakholzsessel erhob sich die schlanke Gestalt des Pfarrherrn, der sofort auf den Grafen zutrat und ihm die Hand entgegenstreckte. Sie begrüßten sich herzlich, und der Graf ließ sich auf die breite Couch nieder und streckte die Beine gemütlich von sich.
»Hab schon gedacht, du hast uns ganz vergessen«, ließ sich der Pfarrer gutmütig spöttelnd vernehmen. »Oder hast du gar ein schlechtes Gewissen?«
»Jetzt flötete der Hauser schon in denselben Tönen wie seine ehrwürdige Schwester«, lachte Graf Andreas gut gelaunt. Er holte eine Zigarre aus der Joppentasche und bot sie dem Freunde an.
Zwischen den beiden Männern bestand seit fast fünf Jahrzehnten eine feste Freundschaft. Nicht nur Graf Andreas von Wildenstein war hier geboren, auch Pfarrer Hans Hauser war in diesem Dorf zur Welt gekommen – als Sohn des Schmiedes Markus Hauser.
Zwischen den beiden hatte sich eigentlich schon während der Volksschulzeit eine herzliche Freundschaft entwickelt, denn der junge Grafensohn ging genauso in die Dorfschule wie die anderen Buben und Mädchen. Aber seitdem Hans Hauser den Andreas einmal aus der wilden Bubenhorde befreit hatte, die sich an dem jungen Grafen rächen wollte, weil ihr Vater wegen Diebstahls und Wildfrevels aus den Diensten des Schloßherrn entlassen worden war, war der Freundschaftsbund schon so fest geknüpft, daß er schwerlich noch zu lösen war. Dadurch hatte Hans Hauser auch Zutritt zum Schloß gefunden, und als der alte Graf auf die Intelligenz des Schmiedesohnes aufmerksam wurde, ließ er nicht locker, bis auch der Hans aufs Gymnasium geschickt wurde.
Graf Andreas und Hans Hauser hatten nun zusammen die Lateinschule besucht und ihr Abitur bestanden. Sie waren zur gleichen Zeit zum Militär gegangen und dann auf die Hochschule. Während Graf Andreas Landwirtschaft studierte, hatte Hans Hauser ganz unerwartet die theologische Fakultät bezogen. Auf Drängen des Freundes hatte er sich später um die Pfarrstelle seines Heimatdorfes beworben und sie auch erhalten.
Seitdem war kaum eine Woche vergangen, ohne daß die beiden Männer nicht wenigstens an einem Abend beisammen gewesen wären. Manchmal kam der Pfarrherr hinauf ins Schloß, aber öfters besuchte ihn der Graf im Pfarrhaus. Sie plauderten über dies und jenes, spielten auch ab und zu eine Partie Schach oder politisierten.
So war es auch heute. Tina Hauser brachte eben eine Flasche Wein und zwei Gläser.
»Bring nur noch ein Glas, Tina!« forderte der Graf, aber die Schwester des Pfarrherrn winkte ab und entschuldigte sich mit unaufschiebbarer Arbeit. In Wirklichkeit ahnte sie, daß die beiden Männer Dinge zu besprechen hatten, die sie nicht unbedingt zu wissen brauchte.
Nachdem die beiden Freunde einen tiefen Schluck genommen hatten, meinte der Pfarrer leichthin: »Also – du hast wirklich kein schlechtes Gewissen, Andreas?«
»Ich wüßte nicht. Ach so, du meinst die Geschichte mit Rochus? Na ja, ich glaube, es ist für uns beide besser so.«
Der Pfarrer nahm die Brille ab und putzte sie umständlich.
»Meinst du nicht, daß du da ein bißchen zu voreilig gehandelt hast?«
»Warum hat er sich vor den Lorenzen gestellt. Er hat – er ist ja selber gegangen. Hätte ich ihn halten sollen?«
»Ja.«
Der Graf sah in das schmale, kluge Gesicht seines Freundes, der ruhig weitersprach: »Ich habe nichts gegen den Stephan, aber dein Besitz braucht den Kopf und die Hand von Rochus. Stephan wird es nicht leicht haben, wenn du ihm einmal Gut Waldstein übergibst. Abgesehen davon, daß er dir noch andere Sorgen machen wird, weil du ihm Dinge nachsiehst, die…«
»Was soll das heißen?«
»Verstehe mich nicht falsch, Andreas! Ich brauche es eigentlich nicht besonders zu betonen, daß ich in solchen Dingen mehr als großzügig urteile. Aber Stephan sollte doch nicht immer wieder den Mädchen den Kopf verdrehen und sie dann sitzenlassen.«
»Da kann ich ihn schon verstehen«, lachte der Graf. »Ich war auch einmal achtundzwanzig. Aber die Wernberg wird ihn schon an die Kette nehmen. Du kannst dich darauf verlassen.«
»Hoffentlich recht bald, damit ihm nicht der Bichler aufs Dach steigt wegen seiner Franzi.«
Graf Andreas hatte die letzten Worte seines Freundes nicht beachtet. Seine Gedanken weilten bei Rochus, der inzwischen beim Grafen Auersperg eine Stelle als Verwalter angenommen hatte.
»Meinst du im Ernst, daß ich Rochus hätte halten sollen?«
»Verzeih, Andreas! Aber eine dümmere Frage hast du noch niemals an mich gerichtet.«
»Er hat sich immer gegen mich gestellt und deshalb gar nichts anderes verdient. Na ja, man könnte ja… Nun, ich bin ihm ja gar nicht mehr böse, aber er soll ruhig eine Zeitlang in der Fremde bleiben.«
»Du hast eigentlich nur einen einzigen Fehler, Andreas. Du bist ein großer Dickschädel und willst allen deinen Willen aufzwingen. Aber du hast dabei ganz vergessen, daß Rochus aus deinem Holz geschnitzt ist. Er wollte ebenfalls nicht ein Quäntchen von seinem Standpunkt abgehen, und da mußte es zum Bruch kommen.«
»Was reden sie denn im Dorf über uns?«
»Nichts Gutes über dich. Das Schlagwort von dem alten Tyrannen geht wieder um.«
»Na, du und die Tina werden den falschen Gerüchten schon Einhalt gebieten. Wenn Rochus nur den ersten Schritt täte! Übrigens – alter Tyrann? Da muß beides falsch sein, denn ich habe mich noch nie so jung gefühlt wie in den letzten Tagen.«
»Wie bist du denn mit deiner neuen Sekretärin zufrieden?«
»Hat Rochus mir ins Haus geschickt. Ich habe sie zuerst gar nicht gewollt, aber sie ist ein tüchtiges Mädel. Das wäre eher etwas für Stephan als die Wernberg, die aussieht, als ob der leiseste Lufthauch sie umblasen könnte.«
Als der Graf noch weiter von den Fähigkeiten und Vorzügen Inas schwärmte, richtete Pfarrer Hauser seine Augen hinter den scharfen Brillengläsern lange auf den Freund.
»Man könnte fast annehmen, du siehst das Mädel selber gern, weil du gar so sehr von ihr schwärmst.«
»Du bist heute tatsächlich ganz verändert, Andreas«, bekräftigte auch die gerade eintretende Schwester des Pfarrers.
Graf Andreas lachte.
»Ja, zugegeben – ich bin heute guter Laune. Aber das hat andere Gründe. Ich habe drunten am Zirnbrg ein paar Hektar Wald für billiges Geld erworben. Endlich habe ich meinen großen Wunsch erfüllt. Meine schönsten Hirsche sind immer dort hinübergewechselt. Schartegg brauchte Geld, und da habe ich zugegriffen.«
»Geh, Tina, bring noch eine Flasche! Wenn er von der Jagd anfängt, bleibt er schon noch ein Stündlein.«
»Ja, Hans! Aber du mußt in den nächsten sechzig Minuten vergessen, daß du ein Pfarrer bist.«
Aus dem Stündlein wurden zwei, und die Uhr auf dem Kirchturm hatte schon die Mitternachtsstunde angezeigt, als Graf Andreas das Pfarrhaus verließ und langsam dem Schloß zustapfte.
*
Es war ganz früh am Morgen. Die Nebel woben noch in dünnen, feinen Schleiern über den taunassen sattgrünen Wiesen. Als der Tag überall zu neuem Beginnen erwachte, lag die Stadt bereits ein gutes Stück hinter ihnen.
Das rote Sportcabriolet, das Stephan von Wildenstein fuhr, hatte eine wunderbare Straßenlage, dennoch blickte Ina besorgt auf die Tachometernadel, die immer höher kletterte und jetzt schon bei hundertzwanzig pendelte.
»Sie sollten nicht gar so schnell fahren!« mahnte sie mit leicht vibrierender Stimme. »Wir sind doch so frühzeitig weggefahren, daß wir zeitig in Wildenstein sein können, ohne daß Sie andauernd mit durchgetretenem Gaspedal zu fahren brauchen.«
»Stimmt! Aber wenn wir ein Stündchen für eine angenehme Rast herausholen könnten, schadet es auch nichts.«
Sie schwieg. Weil es noch recht kühl war, hüllte sie sich fester in ihre dunkle Wildlederjacke und zog den Knoten des buntfarbenen Seidentuches an, mit dem sie den Kopf bedeckt hatte.
Sie waren bereits eine gute Stunde gefahren. Stephan hatte das Tempo keineswegs gedrosselt. Nun führte die Straße durch einen Fichtenwald, der nach einigen Kilometern einen langgezogenen See freigab. Auf seinen kräuselnden Wellen spielten die Sonnenstrahlen.
»Ist es nicht ein prächtiges Bild!« vernahm Ina unvermittelt die tiefe Stimme Stephans. »Hier könnten wir eine kleine Pause einlegen.« Ohne auf ihre Antwort oder Zustimmung zu warten, hatte er schon den Wagen auf kurzem Bremsweg zum Stehen gebracht. »Ich muß nämlich meine Glieder noch ein bißchen strecken«, sagte er, sich gleichsam entschuldigend. »Heute nacht habe ich kaum ein Auge zugemacht. Ich muß Ihnen übrigens noch dankbar sein, daß Sie meinen Vorschlag, erst heute früh zu fahren, angenommen haben.«
Sie sprang aus dem Wagen, öffnete ein wenig ihre Lederjacke, unter der ein gelber Pullover zum Vorschein kam, und dehnte ihre schlanke Gestalt in der Morgensonne.
»Wie schön es hier ist!« rief sie laut.
Er ließ sein Feuerzeug aufspringen und zündete sich eine Zigarette an. Er schien gelangweilt den blaugrauen Rauchkringeln nachzublicken. In Wirklichkeit glitt sein Blick über Inas schönes, ernstes Antlitz und über ihren schlanken Körper.
»Schade, daß wir unsere Badesachen nicht dabei haben. Ihre Einladung zum Waldsee haben Sie sowieso wieder vergessen, Graf Wildenstein!« Sie hatte ihre trüben Gedanken verscheucht und gestand sich gerne ein, daß er mit seinen geistvollen und witzigen Bemerkungen in erster Linie dazu beigetragen hatte, jegliches Grübeln zu vergessen.
Sie tat ein paar Schritte in Richtung des Sees. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß in den nächsten Sekunden etwas passieren mußte, wenn sie in unmittelbarer Nähe des jungen Grafen blieb.
Stephan war ihr bereits nachgelaufen. Nun stand er vor ihr. Er packte sie bei den Armen und keuchte mit hochrotem Gesicht: »Ich liebe Sie, Ina!« Und ehe sie es verhindern konnte, hatte er sie auch schon auf den Mund geküßt.
Sie schob ihn nicht gerade sanft von sich, und er schaufelte nervös mit gespreizten Fingern sein dichtes Haar zurück und stand ein wenig hilflos da. Er kam ihr vor wie ein Junge, der einen großen Topf Erbsen ausgeschüttet hat und sich nun vergeblich bemüht, sie alle wieder einzusammeln. Nach allen Richtungen wanderten seine Augen, dann strich er sein Jackett zurecht und putzte an der hellen Flanellhose herum. Dabei entfiel ihm die Sonnenbrille, und als er sich viel zu hastig nach ihr bückte, glitt er auf dem abschüssigen Boden auch noch aus und wäre beinahe in den See gefallen.
Sie konnte nun ihr Lachen nicht mehr unterdrücken.
»Ich weiß, ich – ich habe mich wenig taktvoll benommen, Fräulein Trautberg«, stammelte er. »Aber Sie sollten mich trotzdem nicht auslachen.«
»Das tue ich keinesfalls. Ich habe mich nur eben an Ihr Geständnis erinnert, das Sie mir neulich so unaufgefordert im Büro gemacht haben. Sie haben sich eben einmal geirrt. Ich gehöre nicht zu der Gruppe von Menschen oder – sagen wir offen – zu den Mädchen, die…« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Er schien ihr plötzlich zu banal. »Vielleicht bin ich nur derselbe Typ wie Franzi Bichler«, ergänzte sie leichthin, ohne ihn anzusehen.
Er zuckte zusammen. Aus seinem Gesicht war alle Farbe entwichen.
»Ich bin neulich ungewollt Zeuge Ihrer Auseinandersetzung am Waldsee gewesen«, erklärte sie.
Mit verlegenem Gesicht nahm er einen langen Zug aus seiner Zigarette, die er sich mit etwas zitternden Fingern angezündet hatte. Ohne ein Wort zu sagen, ging er zum Wagen zurück.
Als Ina gehorsam wieder neben ihm Platz genommen hatte, betrachtete sie sein Profil. Fast tat er ihr ein bißchen leid. Er kam ihr vor, als wollte er im nächsten Moment laut aufheulen. Sie sprachen lange kein Wort. Nach etwa einer halben Stunde bogen sie in eine Straße ein, die in zahlreichen Kurven leicht anstieg, so daß Stephan notgedrungen langsamer fahren mußte. Es konnte nicht mehr sehr weit nach Wildenstein sein.
»Wie heißt eigentlich dieses schöne Schloß mit den beiden Rundtürmchen da drüben?« fragte Ina unvermittelt, weil sie das bedrückende Schweigen einfach nicht mehr ertragen konnte.
»Das ist Schloß Wernberg.«
»Wernberg…? Moment mal! Wo habe ich eigentlich diesen Namen schon einmal gehört?«
»Wahrscheinlich am Waldsee drunten«, erwiderte er scharf.
»Hier sollten wir kurz anhalten«, verlangte sie. »Ich meine, von hier aus hat man einen herrlichen Blick ins Land hinaus.«
Gehorsam ließ er das Gas weg, drückte auf die Bremse und hielt. Seine Lippen hatten sich zu einem spöttischen, ironischen Lächeln verzogen.
»Sehen Sie – da drüben! Welch ein herrliches Bild…!« Sie wies mit ausgestrecktem Arm auf ein Birkenwäldchen, aus dem in wildem Galopp ein Reiter hervorsprengte und auf die Straße zuhielt.
»Das ist Bettina!« entfuhr es Stephan.
Jetzt hatte auch sie bereits erkannt, daß es kein Mann war, der diesen schlanken Apfelschimmel ritt.
»Die geht aber wild ins Zeug«, murmelte sie. »Sieht fast so aus…«
Sie vernahmen bereits die scharfen Zurufe der Reiterin. Aber man konnte nicht entnehmen, ob das Pferd damit zur Eile oder zum Einhalten aufgefordert wurde. Eine Staubwolke stieg hoch. Für einige Sekunden verschwanden Roß und Reiterin in einem kurzen Hohlweg.
»Verrückt!« knurrte Stephan.
Nun setzte das Pferd zum Sprung über einen Steinwall an, aber es klappte nicht. Die Reiterin flog aus dem Sattel und blieb am Boden liegen. Das Pferd trabte noch ein paar Meter weiter machte gehorsam kehrt und näherte sich wiehernd seiner Herrin, als ob es sich wegen seines Versagens entschuldigen wollte.
Mit wenigen Sätzen waren Stephan und Ina bei dem Steinwall.
»Bettina! – Um Gottes willen! Was ist geschehen?« keuchte der junge Graf.
Bettina von Wernberg versuchte sich halb aufzurichten, sank aber mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zusammen. Leise wimmernd strich sie mit ihrer Hand über Unterschenkel und Knöchel.
»Du, Stephan? Wo kommst du denn her? Und natürlich schon wieder ein neues Techtelmechtel! Du bist unverbesserlich!«
Ina blickte der rassigen, grazilen Baronesse offen in die Augen. Dann kniete sie neben ihr nieder. Ihr Versuch, den Stiefel abzuziehen, gelang auf Anhieb. Wenn auch Bettina von Wernberg vor Schmerz aufgeschrien hatte, so atmete Ina dennoch auf. Sofort tastete sie mit behutsamer Hand über Unterschenkel und Knöchel.
Sie hatte ein besonderes Geschick dafür. Hatte sie doch schon als Gymnasiastin dem Vater in der Praxis geholfen und schließlich auch einige Semester Medizin studiert, bevor der Tod des Vaters und die Krankheit der Mutter sie gezwungen hatten, das Studium aufzugeben und Geld zu verdienen.
»Der Unterschenkel ist gebrochen, Fräulein…«
»Wernberg heiße ich«, ergänzte die Baronesse.
»Beim Knöchel läßt sich leider nichts Genaues feststellen. Tut es sehr weh?«
Bettina von Wernberg schüttelte den Kopf und blickte Ina aus dankbaren Augen an.
»Wir müssen versuchen, das Bein zu schienen«, forderte Ina. »Ich habe in Ihrem Wagen einige Zeltstangen gesehen, Herr Graf.«
Sie stürmte zur Straße, wo der Wagen stand, und war in wenigen Sekunden wieder zurück. Mit Hilfe einiger Taschentücher und des großen bunten Seidentuches, das Ina um den Kopf getragen hatte, war das Werk bald vollbracht.
Behutsam trugen sie die verletzte Baronesse zum Wagen.
»Aufs Schloß oder gleich ins Krankenhaus?« fragte Stephan.
»Diese Frage war völlig überflüssig, Herr Graf«, stellte Ina sachlich fest. »Sie kümmern sich um das Pferd, und ich bringe Fräulein von Wernberg ins Krankenhaus. Man darf nichts versäumen.«
»Irgendeine Sache muß Gothewind sehr erschreckt haben«, stammelte Bettina von Wernberg. »Ich verstehe immer noch nicht!«
»Aber Bettina, du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Jedermann weiß, wie du reiten kannst. Bei allem Mut bist du doch noch niemals leichtsinnig gewesen.«
»Danke Stephan!«
»Ich komme auf dem Rückweg nach Wernberg und hole Sie von dort ab, Herr Graf«, rief Ina, legte den Gang ein und brauste mit aufheulendem Motor davon.
Stephan stand noch lange wie angewurzelt da. Dann tätschelte er den Apfelschimmel und schwang sich hinauf. Gedankenverloren trabte er Schloß Wernberg zu.
*
Ina wartete die Untersuchung der Baronesse ab, denn sie wollte auf dem Rückweg auf Schloß Wernberg eine, wie sie hoffte, beruhigende Nachricht überbringen.
Dadurch waren einige Stunden vergangen, und weil sie die gastfreundliche Einladung des Barons Wernberg nicht gut ablehnen konnte, kamen Stephan und Ina ganz gegen ihren Willen erst am späten Nachmittag nach Wildenstein zurück.
Der Wagen hielt vor dem Gutsgebäude.
»Ach, die Herrschaften sind schon zurück!«
Stephan riß den Kopf herum, und Ina blickte überrascht auf Stephans Vater, der langsam auf den Wagen zutrat.
»Habe ich dir nicht ausdrücklich aufgetragen, am Montag abend zurück zu sein? Aber meine Anweisungen kümmern dich anscheinend nicht!«
Stephan spürte, daß das Barometer wieder einmal auf Sturm stand, denn der Vater hätte ihn sonst niemals in Gegenwart eines anderen so hart angefahren. Er versuchte ein betont gleichgültiges Gesicht aufzusetzen, denn er schämte sich vor Ina.
»Ich denke, du wüßtest bereits, wohin Ungehorsam und Aufsässigkeit führen«, donnerte der Graf schon wieder los.
Wahrscheinlich wieder kein Jagdglück gehabt, dachte Stephan, sonst wäre er bestimmt nicht so schlecht gelaunt.
»Thurner mußte ich nach Waldstein hinüberschicken, weil der dortige Verwalter krank ist. Das hast du doch gewußt! Aber trotzdem hast du wieder über den Zapfen gehauen, um irgendwelchen Abenteuern nachzugehen. Ich habe sowieso noch einiges mit dir zu besprechen. Wenn ich geahnt hätte, daß du den ganzen Tag nicht mehr erscheinst, wäre ich wenigstens dageblieben. Was werden die Leute schon gearbeitet haben! Es wird höchste Zeit, daß ich auch bei dir andere Saiten aufziehe.«
Stephan mußte an sich halten, um nicht aufzubrausen. Er hatte es zwar nur selten gewagt, dem Vater zu widersprechen, sondern es immer verstanden, auf diplomatische Weise jeden Gegensatz zu glätten. Aber die Art, wie ihn der Vater in Gegenwart Inas zurechtwies, duldete es nicht, alles schweigend hinzunehmen.
»Meinen Sie nicht, Herr Graf, daß es ratsamer wäre, erst nach den Gründen zu fragen, warum es zu dieser Verspätung kam?« ertönte die furchtlose Stimme Inas, bevor Stephan zu Wort kommen konnte.
Graf Andreas wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte Ina an. Noch niemand seiner Angestellten hatte es gewagt, in einem solchen Ton mit ihm zu sprechen. Diese Worte des Mädchens bedeuteten direkt eine Herausforderung, eine Kampfansage, denn Ina senkte keineswegs die Augen unter seinem Blick.
»Was waren das denn dann für Gründe, wenn man fragen darf?«
»An sich hätten wir freilich schon gestern fahren sollen. Wir dachten allerdings, es würde genügen, wenn wir heute morgen hier ankämen. Deshalb sind wir schon bei Tagesanbruch in München losgefahren. Aber in der Nähe von Schloß Wernberg…«