E-Reader zur Leseinsel der unabhängigen Verlage – Frankfurter Buchmesse 2019 - CulturBooks Verlag - kostenlos E-Book

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Beschreibung

Die Leseinsel der unabhängigen Verlage 2019 gibt’s jetzt auch zum Mitnehmen. Der kostenlose E-Reader präsentiert die Texte, Autoren und Verlage der diesjährigen Veranstaltungen auf der Leseinsel während der Frankfurter Buchmesse 2019 und bietet auf über 500 Seiten eine umfangreiche, einmalige Übersicht über die Herbstproduktion vieler spannender Independent-Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Leseinsel in Halle 4.1 D36 ist eine Initiative der Kurt Wolff Stiftung, unterstützt von der Frankfurter Buchmesse und der taz.

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Seitenzahl: 597

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Die Leseinsel der unabhängigen Verlage gibt’s jetzt auch zum Mitnehmen.Unser kostenloser E-Reader präsentiert die Texte, Autoren und Verlage der diesjährigen Veranstaltungen auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage während der Frankfurter Buchmesse 2019. Die Leseinsel in Halle 4.1 D36 ist eine Initiative der Kurt Wolff Stiftung, unterstützt von der taz; der E-Reader wird umgesetzt von CulturBooks.

Leseinsel der unabhängigen Verlage

Ein E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2019

Inhaltsverzeichnis
Mittwoch, 16. Oktober 2019 10:00 Uhr - 18:00 Uhr
Mi, 10:00 Uhr: Wieser Verlag präsentiert Milenko Goranović
Mi, 10:30 Uhr: KLAK Verlag präsentiert Viktorie Hanišová
Mi, 11:00 Uhr: Arco Verlag präsentiert Andreas Steffens
Mi, 11:30 Uhr: Arco Verlag präsentiert Walter Serner
Mi, 12:00 Uhr: Die Kurt Wolff Stiftung präsentiert den neuen Katalog "Es geht um das Buch 2019/20"
Mi, 12:30 Uhr: Conbook Verlag präsentiert Miriam Spies
Mi, 13:00 Uhr: panel discussion Peripheral literature – a new perspective
Mi, 14:00 Uhr: Verlag Berg und Feierabend präsentiert Hermann Schmidt / Miriam Bernhardt / Manfred Bissinger
Mi, 14:30 Uhr: Verlag Hermann Schmidt präsentiert Dr. Kerstin Foell / Robert Stolle
Mi, 15:00 Uhr: Transit Verlag präsentiert Siegbert Schefke
Mi, 15:30 Uhr: Drava Verlag präsentiert Ditha Brickwell
Mi, 16:00 Uhr: Edition Tiamat präsentiert: Klaus Bittermann im Gespräch mit Doris Akrap (taz)
Mi, 16:30 Uhr: Größenwahn Verlag feiert Jubiläum! 10 Jahre Größenwahn Verlag
Mi, 17:30 Uhr: Mons Verlag präsentiert Ray Lavallee / Judith Silverthorne
Donnerstag, 17. Oktober 2019 09:30 Uhr - 18:00 Uhr
Do, 9:30 Uhr: AvivA Verlag präsentiert Alma M. Karlin
Do, 10:00 Uhr: panel discussion: South East Asia - Buyers markets with exciting content to sell
Do, 11:00 Uhr: Elfenbein Verlag präsentiert Arthur Machen
Do, 11:30 Uhr: Literaturverlag Droschl präsentiert Thomas Stangl
Do, 12:00 Uhr: Jung & Jung Verlag präsentiert Nadine Schneider
Do, 12:30 Uhr: Berenberg Verlag präsentiert Katharina Hacker
Do, 13:00 Uhr: taz und Westend Verlag präsentieren Ulrike Herrmann
Do, 13:30 Uhr: Mirabilis Verlag präsentiert Reinhard Kuhnert
Do, 14:00 Uhr: Büchner Verlag präsentiert: Welchen Feminismus brauchen wir? Bascha Mika im Gespräch
Do, 14:30 Uhr: Schöffling Verlag präsentiert Berit Glanz
Do, 15:00 Uhr: ebersbach&simon präsentiert Unda Hörner
Do, 15:30 Uhr: speak low präsentiert: ›Angst vor Lyrik‹
Do, 16:00 Uhr: BücherFrauen e.V.: Bücherfrauen aus Norwegen im Gespräch
Do, 17:00 Uhr: Ehrung der BücherFrau des Jahres 2019 Sandra Uschtrin (Verlegerin)
Freitag, 18. Oktober 2019 10:00 Uhr - 18:30 Uhr
Fr, 9:15 Uhr: Willkommen in Spanien! Frühstück mit Vorstellung des neuen Übersetzungsförderungsprogrammes
Fr, 10:00 Uhr: panel discussion Women Literature – trend topic or niche
Fr, 11:00 Uhr: Ch. Links Verlag präsentiert Jens van Tricht
Fr, 11:30 Uhr: Konkursbuch Verlag präsentiert Regina Nössler
Fr, 12:00 Uhr: Verlag Das Wunderhorn präsentiert Poesie der Nachbarn: Italien
Fr, 12:30 Uhr: CulturBooks Verlag präsentiert Maria Kjos Fonn
Fr, 13:00 Uhr: Verbrecher Verlag präsentiert Enno Stahl
Fr, 13:30 Uhr: Peter Hammer Verlag präsentiert Imagine Africa 2060
Fr, 14:00 Uhr: taz-Veranstaltung: ›Linke, Frauen, Ostdeutsche, Migranten, Arbeiterkinder … – Hier noch jemand Opfer?‹
Fr, 15:00 Uhr: Konkursbuch Verlag präsentiert Liebesleben-Performance
Fr, 15:30 Uhr: Haymon Verlag präsentiert Christoph W. Bauer
Fr, 16:00 Uhr: Verlag Die Brotsuppe präsentiert Sabine Gisin
Fr, 16:30 Uhr: Frankfurter Verlagsanstalt präsentiert Susanne Gregor
Fr, 17:00 Uhr: Frankfurter Verlagsanstalt präsentiert Stefan Scheufelen
Fr, 17:30 Uhr: Be.bra Verlag präsentiert: ›Bauhaus. Eine fotografische Weltreise‹
Fr, 18:00 Uhr: Verlag Das Wunderhorn präsentiert: Zeitgenössische Lyrik aus Norwegen‹
Samstag, 19. Oktober 2019 09:30 Uhr - 18:30 Uhr
Sa, 09:30 Uhr: Guggolz Verlag präsentiert Tarjei Vesaas
Sa, 10:00 Uhr: Friedenauer Presse präsentiert Gábor Schein
Sa, 10:30 Uhr: Comic-Battle Team Norwegen VS Team D-A-CH
Sa, 11:00 Uhr: Mitteldeutscher Verlag präsentiert Zoltán Böszörményi
Sa, 11:30 Uhr: Büchergilde Gutenberg präsentiert Carlos Franz
Sa, 12:00 Uhr: Palmartpress präsentiert Peter Wortsman
Sa, 12:30 Uhr: Verlag Voland & Quist präsentiert Frank Rudkoffsky
Sa, 13:00 Uhr: Passagen Verlag präsentiert Valentin Groebner
Sa, 13:30 Uhr: Verbrecher Verlag präsentiert Philipp Stadelmaier
Sa, 14:00 Uhr: taz-Wahrheitsclub unter dem Motto: ›Die Wahrheit wickelt wilde Wikinger ein‹
Sa, 14:30 Uhr: Lenos Verlag präsentiert: Junge Stimmen aus Gaza
Sa, 15:00 Uhr: Pendragon Verlag präsentiert Kerstin Ehmer
Sa, 15:30 Uhr: AvivA Verlag präsentiert Shelagh Delaney
Sa, 16:00 Uhr: Matthes & Seitz Berlin präsentiert Philipp Schönthaler
Sa, 16:30 Uhr: Drachenhaus Verlag präsentiert: Chinesische Märchen und Mythen
Sa, 17:00 Uhr: Ulrike Helmer Verlag präsentiert Laura Lay
Sa, 17:30 Uhr: Verlag Klaus Wagenbach präsentiert Markus Behr
Sa, 18:00 Uhr: Edition Contra-Bass präsentiert Anne Beaumanoir
Sonntag, 20. Oktober 2019 09:30 Uhr - 15:30 Uhr
So, 9:30 Uhr: MaroVerlag präsentiert Pia Klemp
So, 10:00 Uhr: Picus Verlag präsentiert Bastienne Voss
So, 10:30 Uhr: Mirabilis Verlag präsentiert Jörg Sader
So, 11:00 Uhr: kookbooks präsentiert Charlotte Warsen
So, 11:30 Uhr: Open House Verlag präsentiert Robert Musil und E.T.A. Hoffmann
So, 12:00 Uhr: zu Klampen Verlag präsentiert Marion Tauschwitz
So, 12:30 Uhr: Conte Verlag präsentiert Hans Gerhard
So, 13:00 Uhr: Wallstein Verlag präsentiert Kai Weyand
So, 13:30 Uhr: Weidle Verlag präsentiert Helga Flatland
So, 14:00 Uhr: taz und und Ch. Links Verlag präsentieren: ›Angriff auf Europa. Die Internationale der Rechtspopulisten‹
So, 14:30 Uhr: Ulrike Helmer Verlag präsentiert: Antje Schrupp im Gespräch über ›Schwangerwerdenkönnen‹
So, 15:00 Uhr: Pendragon Verlag präsentiert Alexander Häusser
So, 15:30 Uhr: Büchergilde Gutenberg präsentiert Hans Traxler

Mittwoch, 16. Oktober 201910:00 Uhr - 18:00 Uhr

Mi, 10:00 Uhr: Wieser Verlag präsentiert Milenko Goranović: ›Das Rot, das nach Asche riecht‹

Wieser Verlag

Der Wieser Verlag hat vor 30 Jahren begonnen Literatur aus dem Europäischen Ost zu verlegen, den vielen Literaturen ihres Raumes Gesicht zu geben, als er die slowenische, kroatische, serbische, albanische, bulgarische, rumänische, ungarische, tschechische, slowakische und polnische Literatur herauszugeben begann, war die Sowjetunion noch nicht Vergangenheit, Jugoslawien noch nicht von einem Krieg zerstückelt und die Europäische Union in der heutigen Form unerreichbar. Da haben wir alle das Hoffen gelernt. Da hatten wir die Ahnung einer vielstimmigen Welt im Sinne gehabt, von der die Autorinnen und Autoren in ihren Büchern, ihren Versen, ihren Erzählungen und ihren Träumen berichteten und wie sie deren Übersetzerinnen und Übersetzer ins Deutsche herüberbrachten. Zur

Über das Buch

Am Mittwoch, dem 4. Juni 1968 Punkt 16.25 Uhr kam es in Sarajevo zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Studenten und der Polizei. Die Studenten wollten das baufällige Gebäude des ehemaligen Gefängnises „Beledija“ erstürmen. Unter den Studenten auch ein verliebter Schüler der Bautechnischen Schule am Zirkusplatz. Doch dann zog ein Gewitter auf, ein gewaltiger Wolkenbruch, mit Wind und Hagel. Schlimm. Trotzdem nichts Besonderes, wenn … Wenn nicht ein neunjähriger Junge ein altes Heft kurz vor dem Unwetter an einem vermeintlich sicheren Ort versteckt hätte. Und wenn die Polizei nicht genau dieses Heft gesucht hätte. Und wenn dieses Heft – plüschgrün mit goldgeprägten Weinblättern darauf – nicht das Letzte gewesen wäre, was von der Bauhauskünstlerin Ida Špieler übrigblieb …

Basierend auf einem realen historischen Hintergrund erzählt der Roman Das Rot, das nach Asche riecht von dieser Bauhauskünstlerin. Und von ihrem Heft. Und von ihrem Leben. Und von dem Jungen, der das Heft stahl. Und erklärt, warum ein verliebter Schüler die Beledija erstürmen wollte. Und warum ein leuchtendes Rot nach Asche riecht und warum der Erzähler all das heute, viele Jahre danach, erzählen muss. Es ist eine Erzählung von der Vergangenheit und von der Gegenwart, von Hoffnung und Enttäuschung, von Liebe und Hass, in einem Wort: eine Erzählung aus Sarajevo.

Über den Autor

Milenko Goranović: Geboren 1955. Von 1974 bis 1980 studierte er an der Universität Sarajevo Theaterwissenschaften, Weltliteratur und Schauspielkunst. Anschließend arbeitete er als Theaterautor, Regisseur und Schauspieler. Während des bosnischen Bürgerkrieges war er Leiter des Kammertheaters 55 in Sarajevo. 1994 kam er nach Deutschland, wo er zunächst in Stuttgart und danach in Mülheim an der Ruhr als Theaterautor, Regisseur, Schauspieler, Dramaturg und Manager aktiv war. Seit 2007 lebt er in Berlin und arbeitet als freier Autor. Zuletzt bei Wieser: Vom Winseln der Hunde (2016)

Auszug aus Milenko Goranović: Das Rot, das nach Asche riecht

DAS PLÜSCHGRÜNE HEFT 1 Jula

Das erste Mal sah ich Jula vor vier Jahren. Es war ein trüber Vormittag, Regen. Oktober. Winterkälte. Jemand klopfte an meine Tür. Wer soll denn schon so früh am Tag etwas von mir und Katja wollen? Eine junge Frau, verloren in einem dicken Mantel, Strickkäppchen, Sneakers, Jeans, entschuldigt sich, fragt, ob ich der und der wäre, lächelt dann erleichtert, sagt, sie hätte mich lange gesucht. Sie wäre übrigens auch eine Berlinerin, aber sie käme gerade aus Sarajevo. Sie heiße so und so. Danach schwieg sie, als ob mir ihr Name etwas sagen sollte. Ich konnte mich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben, weder in Sarajevo noch sonst wo, sie sprach kein Bosnisch, sondern Deutsch, sah trotzdem fremd aus, ich war müde, Katja krank, der Tag trüb, das Treppenhaus zugig, also sagte ich, danke schön, ich habe keine Zeit.

Doch bevor ich die Tür schließen konnte, fügte das Strickkäppchen hinzu, sie wolle ein Buch über die Beledija schreiben. Ich habe die Tür wieder geöffnet. Die Beledija lag mir im Magen, unverdaut seit Jahrzehnten, oder an den Nieren, ich weiß nicht, wo – und diese junge Frau wusste das. Irgendwie. Sie knipste dann das Licht noch einmal an, ich konnte sie jetzt besser sehen, ihr Gesicht war mir noch immer unbekannt, oder jetzt erst richtig, doch jetzt wusste ich, es war keine Verwechslung. Sie heiße Jula Geljo, wiederholte sie, ich müsse mich bestimmt an ihren Vater erinnern. Erst dann begann ich langsam zu begreifen, wer sie war. Sie hatte ich tatsächlich noch nie gesehen. Ihren Vater aber schon.

Geljo Ćopo war ein Architekt, ein guter, der überall gearbeitet hatte und es auch weiterhin hätte tun können, im Westen wie im Osten, er hätte auch gut in Zagreb bleiben können, aus seinem Namen hätte man schwer seine Ethnie herausgelesen, aber er kam nach Sarajevo. Im August 1992 wurde er erschossen.

Die alte Ordnung war weg, die neue war noch nicht da, alles in der Schwebe, alles möglich. Es wurde geliebt und gehasst, Liebeslieder gesungen, Märchen erzählt, Schädel zertrümmert, Kinder verkauft, Hoffnung, Kollaps, Umbruch, Aufbruch, alles. Anarchie, eine Riesenwelle schwappte damals von irgendwoher nach Sarajevo über, der Mob jaulte und jauchzte, quasselte von Freiheit, die von unten kamen nach oben und umgekehrt, alles durcheinander und ich mittendrin; ohne mein Zutun bekam ich eine Position, die ich ganze 97 Tage ausüben durfte: Ich war der Stellvertreter des Direktors der Städtischen Museen, klingt groß, war nichts, ich war nur im falschen Moment am richtigen Ort, oder umgekehrt, so wie es mein ganzes Leben lang war, stillstehen, geschehen lassen, warten. Und ich hatte den richtigen Namen für die komplizierte Arithmetik der Postenverteilung. Aber zu sagen hatte ich nichts, zwischen all den Kriminellen und Waffenschiebern, ohne Geld, ohne Unterstützung, keine Partei, keine Macht, ich war nur ein Platzhalter. Und auch das nur auf Abruf. Ich war ja nur ein Buchhalter. Doch der Posten schützte vor Einberufung. Auch nicht schlecht, wenn es zum Krieg kommt. Also habe ich „ja“ gesagt. Zwei, drei Tage später entdeckte ich einen Richterspruch, der ein Jahr davor ergangen war und besagte, dass die alte Beledija als Immobilie den Städtischen Museen gehört. Davor gab es ein jahrzehntelanges Geschachere, wem warum die Beledija gehört und was daraus entstehen sollte.

Ich habe dann Geljo Ćopo in Zagreb angerufen, erzählt, wer ich bin, was ich will, erklärt, dass er sich jetzt gerne seinen alten Wunsch erfüllen könne, er könne jetzt die alte Beledija umbauen, vielleicht zu einem Ausstellungsort machen, ein Haus der Geschichte, oder so, die Stadt hätte nichts dagegen, aber es fehle das Geld. Das neugewählte Stadtparlament wäre zwar bereit, einen Teil der Kosten zu übernehmen, ich kannte auch ein paar Leute, wir könnten gemeinsam den Rest des Geldes suchen, was er davon halte.

Ich hätte gar nicht so viel reden müssen, Geljo Ćopo wäre nach Sarajevo gekommen, auch wenn er alles selber hätte bezahlen müssen. Auch er hatte eine alte Rechnung mit der Beledija offen, noch aus der Zeit, als er Schüler an der Bautechnischen Schule in Sarajevo war. Das hatte er selber mehrfach in Interviews erzählt; nichts würde er so gerne in seiner Geburtsstadt anpacken wollen wie die alte Beledija. Das Rad der Geschichte könne man nicht zurückdrehen, aber den Foltergeist könne man schon bändigen, jedenfalls sichtbar machen. Wir sollen versuchen, eine andere, schönere Geschichte zu erzählen, auch die wäre da, man muss nur an der Oberfläche ein bisschen kratzen, man muss nur wollen. So oder so ähnlich hat er es gesagt. Später hat er mir erzählt, dass man seinen Großvater sieben Tage lang in der Beledija auf den Kopf schlug und anschließend aus dem Fenster im dritten Stock warf, 1936, oder 1937. Es ist schon eine Weile her, an alle Details kann ich mich nicht mehr erinnern.

Mit Geljos Zusage habe ich dann der Stadt den Vorschlag gemacht, die Beledija in mehreren Phasen umzubauen, zunächst nur ein Ausstellungsort im Erdgeschoss, dann peu a peu den Rest und am Ende, so etwa 1996 oder 1997, auch die Glaskuppel draufzusetzen, so wie es vom ersten Baumeister Moritz Berger geplant war; auch da rannte ich weit geöffnete Türen ein: Das alte Gefängnis, die Beledija, bröckelte seit dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin, offiziell leer, inoffiziell voll besetzt, Menschen, Tiere, Autos. Ein Unterschlupf für Junkies, Taschendiebe, Gemüsehändler, Flüchtlinge, sogar für einen Automechaniker, der hatte sogar den Gefängnishof besetzt. Deswegen bekamen die Städtischen Museen es überhaupt zurück, man wusste nichts mit der Immobilie anzufangen. Aber wenn man so einen Ort in etwas Sinnvolles umwandelt, und dann mit so einem Architekten, so kostengünstig, so schnell, das wolle man gerne unterstützen. Das hat mir der neue Bürgermeister persönlich versprochen.

Nun ja, seine politische Karriere war noch kürzer als meine. Als er noch an der Macht war, verlangte er, der Bürgermeister, von mir, dem Stellvertreter, einen Vorschlag zu unterbreiten, was man wie in der alten Beledija machen könnte, damit da endlich etwas Sinnvolles entstehe, damit wir in fünf, zehn Jahren sagen können: Ja, Sarajevo ist jetzt viel, viel schöner, alles ist besser. Eigentlich hat er das nicht von mir verlangt, zwischen uns gab es behördlich einen ziemlich großen Abstand, er hatte den Vorschlag vom neuen Kulturamtschef erwartet und der wiederum vom Direktor, dessen Stellvertreter ich war, aber die waren bereits weggespült worden, wie gesagt, es war jene seltsame Periode, in der man an einem Tag himmelhoch fliegt, am nächsten schon im Straßengraben verendet. Also habe ich es gemacht. Ja, richtig, ziemlich gestrig, ein Fünfjahresplan war das – und ja, ich habe wirklich geglaubt, dass es möglich wäre, den Foltergeist, von dem Geljo sprach, aus diesem finsteren Gebäude zu verbannen. Der Bürgermeister und die ganze Stadt dachten ähnlich, alles wurde ganz schnell genehmigt und noch schneller ad acta gelegt, man solle erst einmal abwarten, was morgen käme.

Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Geljo und ich genauso gehandelt hätten. Aber wir wollten nicht warten. Der Automechaniker kam zuerst dran, er hat natürlich zunächst gelacht, sich dann geweigert, den Räumungsgesuch überhaupt anzunehmen, dann angenommen, dann geflucht, danach gebettelt, es hat ihm nicht geholfen, das Gesetz war auf unserer Seite. Als wir mit der Polizei kamen, musste er seine Autos woanders unterbringen; mit den Flüchtlingen wollten wir uns Zeit nehmen, mussten wir auch. Da war nicht so klar, wer und wann die Genehmigung erteilt hatte. Aber uns ging es sowieso nicht um das ganze Gebäude. Die Eingangshalle war jetzt leer, und da wollten wir starten und dann nach und nach die weiteren Räume befreien, eine Befreiung von innen heraus, bis wir die ganze alte Beledija frei bekämen, damit wir dann richtig beginnen könnten.

Er hat mir auch die Kopien der alten Pläne des ersten Baumeisters Moritz Berger gezeigt. Nicht zufällig nannte man ihn „Meister der Gespinste.“ Denn alles, was sich dieser Moritz Berger vorgestellt hatte, war zart und zauberhaft. Lichtdurchflutet. Danach war ich noch mehr überzeugt, dass wir das Richtige tun. So habe ich selber die alten Ölkanister und verrosteten Schrauben weggeschafft, den Boden geschrubbt, Geljo Ćopo stand auch nicht nur daneben, er hat persönlich den Pinsel genommen, ist auf die Leiter gestiegen und hat alles weiß angestrichen. Auch er selber wusste, dass wir nicht unendlich viel Zeit hatten. Die Eröffnung der leeren Galerie war für den 6. April 1992 geplant, ein bisschen deswegen, weil wir die Stunde Null suggerieren wollten und noch mehr, weil wir gar nicht so sicher waren, was wir da alles ausstellen sollten. Wichtig war, sich der Trostlosigkeit entgegenzustellen. Aber kurz vor dem Eröffnungstermin kam der Automechaniker zurück, mit fünf Autos, in jedem Auto fünf Kerle, alle bewaffnet, ich war nicht dabei. Geljo schon. So, sagte der Automechaniker, du schuldest mir 22.345 DM für jeden Monat, in dem ich nicht gearbeitet habe, geh nach Hause und komm mit dem Geld zurück. Oder soll ich meine Leute zu dir schicken?

Als ich den Bürgermeister aufsuchen wollte, gab es ihn nicht mehr, er war weggescheucht worden, zwei Tage später wurde auch ich weggespült und der ganze Fünfjahresplan mit mir, alles wurde einfach vergessen, es gab Wichtigeres zu tun. An diesem Tag fielen die ersten Granaten, vor unserer Galerie standen bereits Sandsäcke aufgetürmt, das war jetzt das weißgestrichene Hauptquartier der Polizeieinheit, deren Kommandant der Automechaniker war.

Nun, so ist es im Leben, mal verliert man langsam, mal geht das ganz schnell, trotzdem dachte ich und wohl auch Geljo, all das wäre nur ein vorläufiger Knick, sobald der Krieg vorbei wäre, würden wir dort weitermachen können, wo wir stehengeblieben waren. Wir müssten uns jetzt nur in Geduld üben, haben wir gedacht. Wir haben sogar weitergearbeitet. Eigentlich nur weiter gesponnen, aber das weiß ich erst jetzt. Einmal hatte er sogar mit einem Stück Kohle auf die weiße Wand gezeichnet, wie die neue alte Beledija mit der Glaskuppel dereinst aussehen würde. Bei mir im Keller. Bei Kerzenlicht. Da hatten wir Raum genug. Erst jetzt merke ich, wie absurd diese Höhlenmalerei war. Damals hätte ich wegen der Schönheit heulen können.

Er kam oft zu mir, fast jeden Tag und wir begannen endlich auch darüber zu brüten, worüber wir eigentlich davor hätten brüten müssen, nämlich was da drin ausgestellt werden soll. Solange ich mich erinnern kann, war die Beledija ein finsteres, halbverfallenes, verlassenes Gebäude, kein Knast mehr und trotzdem noch immer ein Unort, oder erst recht dadurch ein Unort geworden, weil er verlassen war. Verlassen, aber nicht leer. Mitten in der Cˇ aršija, gleich neben dem Rathaus, so zentral, dass man es nicht nicht-sehen konnte, auch wenn man nicht hinschaut, zu groß, zu hässlich, zu voll, und vor allem, zu lange ein Knast gewesen, in dem jeder mal drin war, ob als Gefangener oder als Henker, egal, das spielt keine Rolle. Jeder wusste, was die Beledija ist, aber keiner wusste, wie man damit umgehen sollte. Wegschleifen – geht nicht, ein Mahnmal, nicht wegschleifen genauso wenig, vergessen erst recht nicht, so eine Halbruine kann man einfach nicht übersehen, eine offene Wunde. Es blieb wie ein Stück trockenes Brot, das einem im Hals steckenbleibt, schlucken – geht nicht, ausspucken noch weniger. Es gab auch niemanden, der einen auf den Rücken klopft. Aber wie zeigt man das? Wie erzählt man diese Geschichte? Die leeren, weißen Wände, das könnte irgendwie für die Eröffnung noch in Ordnung sein, aber was und wie weiter? Ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Luft, auch ohne Licht, ohne alles kann der Mensch aushalten, nur ohne Geschichten nicht. Und dann noch in Sarajevo. Doch wie viele Geschichten muss man in Sarajevo erzählen, damit ein Abgrund zugeschüttet wird?

Eine vernünftige Antwort haben wir natürlich nicht gefunden, wie auch, auch uns wurde langsam klar, dass wir zunächst das Ende des Krieges abwarten sollten, denn es könnte am Ende auch so kommen, dass dereinst nicht wir zwei, sondern der Automechaniker der zukünftige Erzähler wird; in dem Fall, sagte Geljo, werden wir zwei in unserer Galerie ganz prominent aufgehängt werden. Und zwar nur, wenn es gut läuft. Er hatte einen guten Humor. Doch bald konnten wir uns nicht mehr so oft treffen, der Krieg nahm an Fahrt auf, Geljo hatte auch ein kränkliches Kind, das wusste ich, eine Tochter, da hat man andere Sorgen; später sah ich ihn fast gar nicht mehr, am Ende wusste ich überhaupt nicht, ob er noch in Sarajevo war, er wollte unbedingt versuchen, mit dem kränklichen Kind rauszukommen, ich dachte nicht mehr an ihn, ich hatte auch andere Sorgen.

Doch eines Tages fand er wieder zu mir, verprügelt, geschlagen, mit blutunterlaufenen Augen, die Nase gebrochen, mit zerquetschter Hand, einen schmutzigen Verband um die gebrochenen Finger. „Mein Kind, mein Kind, meine Tochter.“

Die Kerle des Automechanikers hatten ihn gefunden. Ich wollte wissen, wer genau, wo, wie, aber davon wollte er nicht reden. Das war nicht sein Problem, er hatte Angst um sein Kind. Er hat nicht ein einziges Mal erwähnt, dass sein Kind ein Adoptivkind war, noch weniger, dass seine Tochter dunkelhäutig wäre, also konnte ich Jula dann gar nicht mit ihm in Verbindung bringen, als sie 22 Jahre später an meine Tür klopfte.

...

Auszug aus Milenko Goranović: Das Rot, das nach Asche riecht. Roman. Wieser Verlag, Oktober 2019. Seiten: 280. Preis: 21,00€ Print, 14,99€ E-Book. Zur Verlagsseite.

Mi, 10:30 Uhr: KLAK Verlag präsentiert Viktorie Hanišová: ›Anežka‹Moderation: Jörg Becken

Klak Verlag

KLAK ist der Verlag für zeitgenössische Themen in Literatur, Sachbuch und Jugendbuch. Inhalte die das Profil des Verlages deutlich machen, können mit folgenden Begriffen umrissen werden: modernes Leben, Kulturlandschaft, Erinnerungskultur, Vergangenheitsaufarbeitung, Diktaturerfahrung, Europa, Transformationsprozesse, Migration und Minderheitenkulturen. Zur

Über das Buch

Julies Zukunft sah vielversprechend aus. Karriere, Freunde, Weltreisen, urbaner Lebensstil. Aber die biologische Uhr tickt und ihr Kinderwunsch bleibt unerfüllt. Nicht ganz legal adoptiert sie ein unerwünschtes Roma-Kind, Anežka-Agnes, dessen Herkunft sie verschweigt. Gefangen in einem stereotypen Käfig vorgegebener Lebensformen, vergiftet das Netz aus Lügen die Beziehung von Mutter und Tochter. Als Agnes das Geheimnis entdeckt, eskaliert die Situation und das Drama nimmt seinen tragischen Lauf…

Einer der stärksten tschechischen Prosatexte der letzten Jahre. Gnadenlos und unter die Haut gehend leuchtet Viktorie Hanišová die neuralgischen Punkte der Gesellschaft aus. Zur Verlagsseite.

Über die Autorin

Viktorie Hanišová, 1980 geboren, ist Prosaschriftstellerin, Übersetzerin und Fremdsprachenlehrerin. Sie studierte Anglistik und Germanistik und veröffentlichte bisher drei Romane, in denen sie Fragen der modernen Familie und Gesellschaft kontrovers verarbeitet. Ihr Debütroman "Anežka" erschien 2015 in Tschechien und zur Frankfurter Buchmesse 2019 erstmals auf Deutsch im KLAK Verlag.

Mi, 11:00 Uhr: Arco Verlag präsentiert Andreas Steffens: ›Landgänge – Mensch und Meer‹

Arco Verlag

Mit dem Typoskript von Fritz Beer unterm Arm nahm der Arco Verlag 2002 schon im Vorortzug in London Fahrt auf – lesend, mitunter sogar lachend. Zum ersten Autor, damals 91, gesellten sich u. a. Georg Kreisler, Ludvík Kundera und Peter Demetz. Arco – benannt nach dem Prager Café, mit Barlachs ›Buchleser‹ im Schilde und Kurt Wolff am Herzen – behauptet sich als Heimat für Exilliteratur und literarische Moderne wie von Debora Vogel, Vladislav Vančura, Hagar Olsson, Endre Ady, Jeghische Tscharenz, Jíři Orten, Francesc Pujols, Antonío Pedro, Oscár Domínguez oder Gilberto Owen. Die Belletristik findet mit der Reihe ›Arco Wissenschaft‹ ein starkes Gegenüber. Zur Verlagsseite.

Über das Buch

Als Bichette, die »Tigerin« und ungekrönte Königin unter den kleinen Huren von Paris, auf Fec trifft, ist es um sie, ist das Unglaubliche geschehen: scheinbar »bezähmt«, verfällt sie ihm, mit Haut und Haaren – und er ihr: »Die folgenden Tage verbrachten sie ununterbrochen beisammen. Ebenso die Nächte.« Auftakt zu einem gefährlichen Spiel, das in den Luxushotels und Casinos von Nizza und Monte Carlo einer Eskalation entgegenwirbelt – mit einer ungeahnten, grotesken Wendung am Montmartre …

Serners Tigerin war – wegen ihrer Erotik und ihres grandiosen Argots – so herausfordernd, daß mit ihr kurzer Prozeß gemacht werden sollte: Nur gingen Beschlagnahmungen und ein Verbotsversuch »zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« von 1931 nach hinten los. Den Gutachter Alfred Döblin beeindruckte der Roman als »ausgezeichnetes Kunstwerk« und Max Herrmann-Neiße begeisterte sich für die Geschichte um ein »Liebespaar der anrüchigen Sphäre … mit den Erregungen und Eklats«. Desungeachtet ging das Kesseltreiben gegen Walter Serner, Autor dieses vielleicht ungewöhnlichsten Liebesromans deutscher Sprache, gnadenlos weiter.

Über den Autor

Walter Serner – »größenwahnsinniger Außenseiter« (Tristan Tzara) des DADA, enger Freund von Christian Schad, der sein Werk illustrierte – gab seiner Umgebung Rätsel auf, und über sein Verschwinden aus dem Kulturbetrieb um 1927 wurde wild spekuliert. Aufgewachsen im böhmischen Karlsbad als Walter E. Seligmann, lebte Serner während des Ersten Weltkriegs in der Schweiz, dann in Paris und ab 1921 in Berlin. Werke wie Zum blauen Affen. Dreiunddreißig hanebüchene Geschichten (1921), Der elfte Finger. Fünfundzwanzig Kriminalgeschichten (1923), Der Pfiff um die Ecke. Zweiundzwanzig Spitzel- und Detektivgeschichten (1925), Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen (1927) begründeten – neben der Tigerin – seinen vorübergehenden Ruhm. Schon ab 1925 im Visier antisemitischer Hetze wurde Serner, der zuletzt in Prag lebte, aus im August 1942 nach Theresienstadt und dann nach Riga deportiert, wo er mit seiner Frau erschossen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte die Wiener Gruppe Serner für sich; der beste Serner-Kenner, Thomas Milch, machte ihn mit seinen lange vergriffenen Werkausgaben wieder zugänglich.

Auszug aus Andreas Steffens: Landgänge – Mensch und Meer

Das Unvermeidliche

Es ist erstaunlich, wie sehr Menschen über sich staunen können. Das bin ich? Bin ich auch? Kann sogar dieses? Aber auch: Wie konnte ich nur? Noch mehr Anlässe, als über sich selbst, gibt es, sich über andere zu wundern: Wie können sie nur?

Das Erstaunlichste am Menschen aber ist, daß er sich selbst, als Mensch, das Seltsamste ist. Sein Erstaunen ist Befremden, noch in der Freude über eine Leistung, die gelang, obwohl sie unwahrscheinlich schien. Sich seiner bewußt werdend, wird er sich zum Fremdesten, das er kennt.

Viel des Unheimlichen ist, doch nichts

Ist unheimlicher als der Mensch.

Das jagt über das graue Meer

Vor dem winterlichen Föhn

Dahin unter stürzenden Wogen

Gewölbe sicher ans Ziel.

Der Göttinnen heiligste, die Erde,

Die ewig quellende, die nie müde,

Quält er mit kreisendem Pfluge, jahrein, jahraus

Wenden auf ihr die Gespanne.

(Sophokles, Antigone, 41)

Den Anfang in der Entstehung menschlichen Selbstbewußtseins macht die Erfahrung der Selbstbefremdung. Anthropologie wird der Versuch werden, die elementare Selbstungewißheit des Menschen in gesicherte Kenntnis seiner Lebensbedingungen aufzulösen. Und daran immer wieder scheitern, weil Menschen sich in den Verhältnissen, die sie miteinander eingehen, unentwegt Anlaß zu gegenseitiger Befremdung geben. Denn die Verwirrung, die etwa die Zeugenschaft einer von anderen begangenen Untat auslöst, beruht auf der unwillkürlichen Übertragung ihrer Möglichkeit auf einen selbst: ist man ehrlich mit sich, wird man sich fragen, ob man dazu nicht auch fähig sein könnte.

Wie könnte dann gewiß sein, daß nicht alle so handeln könnten, wie einer es tut, wenn doch alle derselben Art sind? Haben an derselben Substanz des Menschlichen gleichermaßen teil, die gut, wie die, die böse handeln? Oder gibt es gute und böse Menschen? Ist man gut oder böse? Oder wählt man, sich so, oder so zu verhalten?

Die sehr späte Idee einer Gemeinsamkeit des Menschlichen geht aus der sehr langen Erfahrung hervor, daß im Handeln der Menschen etwas nicht stimmt; etwas, das dem widerspricht, was sie sind. Etwas, von dem man sich wünscht, daß es einem nicht zustoßen möge. Schließlich: daß man es nicht selbst auch wird tun müssen. Schon vor aller Gesetzlichkeit regt sich ein Unrechtsempfinden elementarer Verfehlung. Das Menschenmögliche ist nicht durchweg das Menschengerechte.

Zu den Verlusten, die der Untergang des Christentums nach sich zog, gehört die Ermutigung, die sein Grundmythos vom Sündenfall als Urhandlung der Wahlmöglichkeit übte, indem er die Freiheit des Menschen als die Möglichkeit bestimmte, sich zwischen dem Gebotenen und dem Verbotenen entscheiden zu können. Das Menschliche steht in der Unausgesetztheit des Zwanges, sich mit jeder Handlung entscheiden zu müssen, auf dem Spiel. Freiheit ist der Zwang, zu wählen, was man davon sein will, was man sein kann, weil man ein Mensch ist.

Den Unterschied bestimmt kein Gesetz, sondern das elementare Empfinden, das eine Untat auslöst, zu verletzen, was alle miteinander allein dadurch verbindet, daß sie existieren. Aus ihm erst entsteht das Grundbedürfnis nach Gesetzlichkeit. Die Verbote der Sittengesetze legen fest, welche Wahl die falsche sein soll.

Die zivilisatorischen Erfolge der Neuzeit haben diese Urbedingung humaner Selbstbestimmung immer mehr überdeckt und diese in die Selbstgerechtigkeit verwandelt, die alles für gut hält, allein, weil es möglich ist. Ermutigt durch den anhaltenden Zwang, den die Weltbedingungen des Daseins üben, das, was der Mensch kann, ständig zu erproben und zu erweitern, um sein Überleben in einer Welt zu gewährleisten, von der er nie sicher sein kann, daß sie nicht doch feindlich ist. Aus dem Wesen, das sich zu dem entscheiden muß, was es kann, um sich nicht zu verfehlen, wurde das Wesen, das sich entscheidet, zu sein, was es will und kann, weil es eingesehen hat, nie genug zu können. An die Stelle der Wahl aus den Möglichkeiten, die Substanz des Menschlichen zu bewähren, wurde der Anspruch auf die Wahl der Substanz. Der Mensch der Neuzeit ist entschlossen, durch seine Handlungen zu bestimmen, was er ist, statt sie so zu wählen, daß sie sein Sein erfüllen, weil er dieses nie gut genug kennen kann, um die richtige Wahl zu treffen. Denn die Bestimmungen seines Seins, die er jahrtausendelang nur von Priestern erfuhr, deren Verstrickung in die Unmenschlichkeiten der Macht sie unglaubwürdig machte, konnten auf Dauer ihre metaphysische Aufgabe, die Selbstbefremdung zu beheben, nicht erfüllen. Das Bündnis der Transzendenz mit den Mächten der Immanenz mußte mit seiner Wirkung, die Selbstbefremdung noch zu steigern, indem die Unerbittlichkeit der Sittengesetze selbst jenes elementare Empfinden der Verfehlung des Menschlichen unentwegt erneuerte, den Anspruch auf Selbstbestimmung übermächtig werden lassen. Das ›Geschöpf‹ muß der ›Menschheit‹ weichen.

Die Voraussetzung, das Menschliche wäre durch Zugehörigkeit zur Gattung ›Mensch‹ schon bestimmt, auf der dieser Anspruch fußt, wird im Zeitalter der Entmythologisierung jedoch gerade durch alle Erfahrungen menschlicher Selbstbefremdung in Frage gestellt, die menschliche Handlungen verursachen. Die Nutzungen der Autonomie der freien Selbstverfügung des Menschen in den Akten menschlicher Verfügung über Menschen stellen diese Autonomie als Wesensbestimmung des Menschen wieder in Frage. Wer über sich erschrickt, tut es, weil er sich das Menschliche verfehlen spürt; wen ein anderer entsetzt, erschrickt darüber, daß nicht alle es so erfüllen, wie alle es voneinander als Regel des Miteinanderlebens erwarten.

Sind wir also wirklich, wovon ein jeder in seiner Selbstgewißheit überzeugt ist, es zu sein, und vom anderen selbstverständlich erwartet, darin geachtet zu werden? Noch in der Verneinung durch einen unseresgleichen, finden wir uns im anderen wieder. Und entdecken, was wir uns untersagen müssen, um sein und bleiben zu können, was wir sein wollen. Die Scham, ein Mensch zu sein, die einen angesichts der Verbrechen der Geschichte und unserer Lebenswelten ergreifen kann, beruht darauf. Eine Untat, die einer begeht, die einen nicht nur an dessen Menschsein zweifeln läßt, bezeugt dieses ebenso, wie das Entsetzen, das sie verurteilt. Nicht alle können alles; aber alles, was Menschen können, ist Teil des Menschenmöglichen: auch der gute kann böse handeln, wie der böseste auch ein Mensch ist.

An diesem Widerspruch scheitert ein Denken, das den Menschen ausschließlich vom Menschen her sieht. Der Hinweis, den Sophokles‘ Urgedanke der Anthropologie enthält, daß das befremdende Erstaunen des Menschen über sich selbst mindestens so viel mit der Welt, wie mit dem Menschen zu tun hat, wird zum Schlüssel für ihre mögliche Neubegründung. Das Problem der »Antigone« ist eines der Ethik, des rechten Handelns; wird aber verhandelt vor dem Hintergrund der Weltbedingungen, unter denen gehandelt wird, für die die Elemente des Meeres und des Erdbodens stehen. Das Un-Verständnis des Menschen stammt aus seinem Verhältnis zur Welt. Genauer: aus dem Un-Verhältnis der Welt zu ihm. Ihr anzugehören, macht sie nicht zum Garanten dessen, was er ist; nötigt ihn aber dazu, zu erfüllen, was sie ihm abverlangt, um in ihr sein zu können.

Das fremde Meer ist das erste ihrer Elemente, an das der antike Tragöde in seiner Aussprache der Elementarverwunderung über den Menschen denkt; an das ihm angestammte Land erst als zweites. Die Spannung zwischen Meer und Land enthält die Antwort auf die Frage, warum das unheimlichste aller Wesen sich so schwer tut, sich zu verstehen. Die Unheimlichkeit des Meeres, die der Mensch bezwingt, indem er sich hinein- und hinauf begibt, spiegelt die Unheimlichkeit als Essenz seiner Selbstwahrnehmung in der Welt, die ihm so fremd ist, daß er sie als Erde quält, die ihn doch nährt. Will Anthropologie zuletzt nicht immer wieder zurückmünden in die Selbstbefremdung, die das Bedürfnis nach ihr auslöst, kommt es darauf an, sie in Beziehung zu der Weltfremdheit zu setzen, die die Urerfahrung des Menschen ist (vgl. Steffens, Ontoanthropologie). Denn keine Errungenschaft der Kultur, die als Reaktion auf sie entsteht, ist stark genug, sie aufzuheben.

Das Erstaunen darüber, daß es Seefahrt gibt, Menschen das ihnen als Landbewohnern so unheimliche Weltelement des Meeres nicht nur aus sicherem Abstand bestaunen, hat Hans Blumenberg in seiner Studie über die älteste Daseinsmetaphorik entfaltet. Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen (Blumenberg, Schiffbruch, 9).

Das klingt, als wäre es nicht nur das den Lebensbedingungen des Menschen Angemessenere, es zu unterlassen. Mehr noch: als wäre es auch möglich. Das nach dem Elementarmaß, Gefahren zu meiden, offensichtlich Gebotene, an Land zu bleiben, wäre jedoch nur dann das Sinnvollere, weil Lebensgemäßere, wenn es möglich wäre. Das aber ist angesichts der Seefahrt als einer der wenigen großen Konstanten in der Geschichte der Menschheit offenbar nicht der Fall. Zu verstehen, warum, wird zur Probe eines Vernunftverständnisses, das das Denken als Mittel des Menschenlebens begreift: Wie kann das Unvernünftige unentwegt geschehen, wenn das Vernünftige doch bekannt ist?

Nur, wenn es unvermeidlich ist. Wenn die Vernunft ihren Widerspruch nicht nur enthält, sondern seiner sogar bedarf. Nicht alles, was man auch lassen könnte, ist deshalb auch vermeidbar. Unvernünftig zu handeln, obwohl er vernünftig ist, muß ein Zwang der Welt sein, den sie am Menschen übt.

Blumenberg hat darauf verzichtet, seinen Befund über den Aspekt des Überlebens hinaus zu einer Theorie zu führen, die erklären könnte, warum Menschen, statt dessen Geboten und Impulsen ausschließlich zu folgen, Handlungen in ihre Lebensvollzüge aufnehmen, die wie die Seefahrt ständiger Lebensgefahr aussetzen, und das Erstaunliche daran auf sich beruhen lassen. Ganz im Einklang mit ihren Begründern Platon und Aristoteles, die im Staunen den Ursprung der Philosophie sahen. Was wiederum erstaunlich ist, da er ihnen sonst kaum folgte.

Inzwischen läßt sich einschätzen, daß sein Verzicht nicht nur auf der Engführung seiner Studie als Beitrag zur philosophischen Metaphernkunde beruhte. Zur selben Zeit, als Blumenberg die Metaphorologie von einer ›Hilfswissenschaft‹ der Begriffsbildung zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt erweitert (Blumenberg, Schiffbruch, Anhang: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, 83), arbeitet er sich an der Frage ab , ob eine phänomenologische Anthropologie möglich sei: ob das ›Dasein‹ aus dem ›Bewußtsein‹ bestimmbar gemacht werden kann. Während er die Metaphorologie anhand des Schiffbruchs als ›Paradigma einer Daseinsmetapher‹ ins Anthropologische wendet, bleiben seine gleichzeitigen Bemühungen um die Begründbarkeit von Anthropologie in dem Befund stecken, daß diese nicht dadurch möglich wird, daß sie unvermeidlich ist. Schließlich erschöpfen sie sich in der Aporie der Unentbehrlichkeit des Unmöglichen. Selbstverständnis zu haben, bestimmt den Menschen als ein Wesen, das sich den Kategorien der Gattungswesentlichkeit entzogen hat. Die Geschichte, in ihrer vermeinten anthropologischen Ergiebigkeit, ist ein Komplex von Identitätsbildung und Fremderfahrung: Der da handelt und leidet, ist immer ein Mensch, der wir sein könnten, wären wir nicht konsequent der, der es nicht ist; aber zugleich ist es der, den zu begreifen uns auferlegt, ein nur in seinen und nicht unseren Möglichkeiten stehendes Subjekt zu akzeptieren. Daß der Mensch, nach dem Wort des Protagoras, das Maß aller Dinge sei, bedeutet eben gerade nicht, der eine sei das Maß des anderen (Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 261).

Die Daseinsmetaphorik, mit deren Erörterung die Metaphorologie die Grenze zur Anthropologie überschreitet, wird zum kompensierenden Vorgriff auf einen Ersatz für ihre sich als unmöglich erweisende Leistung einer Begriffsbestimmung ›des‹ Menschen. Was er ist, gibt der Mensch selbst nicht zu erkennen.

Aber muß es deshalb dabei bleiben, zu beschreiben, wie er ist, und sich wahrnimmt?

Ich will einen Schritt weiter gehen, und das vordergründig so Unsinnige der Seefahrt als ein anthropologisches Tiefensymptom zu verstehen versuchen. Das Unsinnige wird verständlich als das Unvermeidliche, zu dem seine Ausgesetztheit im Unverfügbaren der Welt den Menschen geradezu zwingt. Nur um den Preis der Qual, die er ihr als Landwirtschaft antut, kann ›Mutter Erde‹ ihn nähren, wie eine Frau durch die lebensbedrohliche Qual der Geburt ihres Kindes hindurch Mutter wird. Der Preis des Lebens ist der Zwang, den die Welt an ihm übt, es einsetzen zu müssen, um es zu bewahren. Um sich dazu zu ertüchtigen, setzen Menschen sich immer wieder Gefahren aus, die sie leicht vermeiden könnten, und verschaffen sich längst überwundene künstlich neu, etwa, indem sie Gebirge besteigen, statt sie durch die Tunnel zu durchqueren, die sie bauten. Hindernisse müssen sein, damit sie keine mehr sein müssen.

Der Mensch muß unternehmen, was ihm widerspricht, weil die Welt, in der er lebt, ihm widerspricht. Er kann es aber nur deshalb, weil zwischen ihm und ihren Fremdheiten auch Gleichartigkeit besteht. Seine Daseinsmöglichkeit beruht darauf, die Widerstände, die die Welt ihr entgegensetzt, zu überwinden. Weil es gefährlich ist, zu leben, muß das Leben sich in Gefahr begeben, um lernen zu können, sie zu bestehen. Er muß; also kann er. Aber nur, weil alles, worauf er dabei trifft, ihm in den Tiefen gemeinsamer Weltzugehörigkeit auch entspricht, gelingt es ihm auch. Nichts ließe sich von ihm bewältigen, was es nicht auch zuließe.

Die Leistung der Seefahrt ist ein ebenso früher wie gewaltiger Erfolg des Menschen, sich der gewaltigen Übermacht der Welt, die nichts so sehr repräsentiert wie das Meer, nicht nur stellen, sondern seinen Daseinserfordernissen dienstbar machen zu können. Dieses Verhältnis bezeugt die in ihrer Variationsfülle unerschöpfliche maritime Daseinsmetaphorik genau. Die Beziehung des Menschen zum Meer offenbart, in welchem Verhältnis er sich prinzipiell zur Welt befindet. Das Meer macht ihn auf ganz besonders eindrückliche Weise bekannt mit ihren Seinseigenschaften, die die Bedingungen der Möglichkeit seiner Existenz sind.

Dafür spricht besonders, daß keine der Kulturen, die Berührung mit dem Meer haben, jemals auf Seefahrt verzichtete. Daß sie es nicht besser gewußt hätten, kann nicht die Antwort darauf sein, die das Erstaunen darüber weckt, warum nicht. Es verliert sich mit der Einsicht, daß das vom Leben zu Vermeidende als Teil seiner Bedingungen zugleich das Unvermeidliche ist. Wir müssen wollen, das zu können wir uns kaum zutrauen dürfen. Der Wille zum Unmöglichen verwirklicht das Mögliche. Das belegt die Unwahrscheinlichkeit der Seefahrt wie sonst nichts. Sie bezwingt die Gefahren des Meeres, ohne sie doch zu überwinden. Nichts wird im Umgang mit dem Meer ein für alle Mal geleistet, sondern steht mit jedem Mal aufs Neue bevor. Zwischen Können und Tun liegt ein Meer und auf seinem Grunde die gescheiterte Willenskraft (Ebner-Eschenbach, Aphorismen, 22).

Erkennbar werden wir uns selbst im Widerspruch zu dem, was uns verneint. Aber etwas kann uns nur verneinen, wenn es uns zugleich entspricht. Unsere Verneinung enthält unsere Bestimmung; im Widerspruch gegen sie, tritt diese hervor.

...

Auszug aus Andreas Steffens: Landgänge – Mensch und Meer. Arcor Verlag. Seiten: 250. Preis: 18,00€ Print. Zur Verlagsseite.

Mi, 11:30 Uhr: Arco Verlag präsentiert Walter Serner: ›Die Tigerin‹

Arco Verlag

Mit dem Typoskript von Fritz Beer unterm Arm nahm der Arco Verlag 2002 schon im Vorortzug in London Fahrt auf – lesend, mitunter sogar lachend. Zum ersten Autor, damals 91, gesellten sich u. a. Georg Kreisler, Ludvík Kundera und Peter Demetz. Arco – benannt nach dem Prager Café, mit Barlachs ›Buchleser‹ im Schilde und Kurt Wolff am Herzen – behauptet sich als Heimat für Exilliteratur und literarische Moderne wie von Debora Vogel, Vladislav Vančura, Hagar Olsson, Endre Ady, Jeghische Tscharenz, Jíři Orten, Francesc Pujols, Antonío Pedro, Oscár Domínguez oder Gilberto Owen. Die Belletristik findet mit der Reihe ›Arco Wissenschaft‹ ein starkes Gegenüber. Zur Verlagsseite.

Über das Buch

Für das Denken ist es nicht gleichgültig, wo es geschieht. Europas Kultur entstand an den Küsten des Mittelmeeres. Die europäische Idee des Menschen ist auch eine der großen Wirkungen, die das Meer seit Urzeiten auf das Bewußtsein übt. Dieser für unsere Geistesgeschichte folgenreichen Beziehung widmet sich Andreas Steffens und versammelt Spuren der Meeresfaszination von der Antike bis in die Gegenwart zur Kontur einer Anthropologie des Meeres.

Das Dasein des Menschen auf der Erde ist mit den Meeren enger verbunden, als die Selbstverständlichkeit, daß er nur an Land existieren kann, vermuten ließe. Wer sich dem Meer aussetzt, den erwartet eines der letzten Abenteuer: Begegnung mit sich selbst. Das Meer läßt einen spüren, wer, auch, was man ist. Es ist eine Fremdheit, der wir uns anvertrauen, obwohl wir sie fürchten. Trotz seiner Schrecken erkennen wir uns in ihm wieder. Wie weniges sonst belehrt das Meer darüber, daß der Mensch unter Bedingungen existiert, denen er ausgesetzt bleibt, die er nutzen, aber nicht beherrschen kann. Der Mensch begibt sich aufs Meer, um das Land zu gewinnen, auf dem er sein kann, was er ist. Der Sinn der Seefahrt ist der Landgang.

Auf seinen Streifzügen durch die Jahrhunderte europäischer Kulturgeschichte begleiten den Autor antike, klassisch-moderne und zeitgenössische Autoren, darunter: Epikur, Seneca, Ovid, Immanuel Kant, Jules Michelet, Heinrich Heine, Georg Simmel, Joseph Conrad, Herman Melville, Hermann Broch, Paul Valéry, Karl Wolfskehl, Reinhold Schneider, Wolf von Niebelschütz, Alessandro Barrico, Claudio Magris, Anne Weber, Durs Grünbein, José Saramago, A.L. Kennedy, Sulamith Sparre, Michel Serres und Alban Nikolai Herbst.

Über den Autor

Andreas Steffens – Philosoph und Schriftsteller; 1957 in Wuppertal geboren. Zahlreiche wissenschaftliche, kunstkritische und literarische Veröffentlichungen, darunter Poetik der Welt (1995), Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen (1999); Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren (2011). Im Arco Verlag erschien zuletzt Die Narbe oder Vom Unerträglichen. Versuch über Unglück.

Auszug aus Walter Serner: Die Tigerin

I

Kein Mensch wußte, wovon er eigentlich lebte. Das ist zwar in den maßgebenden Kreisen von Paris die Voraussetzung dafür, ernst genommen zu werden; der Umstand aber, daß man Fec weder spielen sah, noch je in deutlicher Gesellschaft eines weiblichen Wesens, kurz niemals in einer jener Situationen, welche immerhin gewisse Anhaltspunkte für etwaige Einkünfte bieten, hatte die im allgemeinen unvorteilhafte Folge, daß man ihn nicht ernst nahm. Man hielt ihn für einen jener posthumen Idealisten, die zwischen Fourier und Bakunin hausieren und in irgendeiner tiefen Mission dünne Revenüen beziehen; oder für einen bedauernswerten Dilettanten, der im geheimen an einem umstürzlerischen Werk arbeitet; oder für einen kleinen Spezialisten, dessen Ressort schon eines Tages sich enthüllen würde; oder sogar für einen verschämten Arbeiter; viele aber hielten ihn schlankweg für einen Trottel.

Groß und allgemein war deshalb die Verblüffung, als man Fec plötzlich an der Seite der schönen Bichette sah, die ihn öffentlich mit allen Zeichen wilder Gunst umgab. Und nach wenigen Tagen war es gänzlich außer Zweifel, das Unglaubliche war geschehen: Bichette hatte ihren Meister gefunden, Bichette, die Tigerin, war – gezähmt.

Sie hatte diesen Beinamen nicht nur erhalten, weil er im allgemeinen auf sie zutraf, sondern weil sie ihn tatsächlich vollauf rechtfertigte: sie war ausschweifend, grausam, hinterlistig, ja oft niederträchtig und von einem unhemmbaren Hang zum Vagabondieren besessen. Sie hatte kupferrotes Haar, schwarze von bläulichem Weiß umschlossene Augen und besaß jene scharfen Farben, welche die Pariserin sich anschminkt, teilweise von Natur aus. Sie trug zu jeder Jahreszeit Rock und Bluse, selten ein Brusttuch und nie einen Hut, ihre Stimme war, obwohl im Grunde rauh, dennoch schneidend und von seltener Suggestivität. Sie sprach nur Argot, den sie durch eine große Zahl höchst eigenwilliger Wortbildungen vermehrt hatte. Drei Männer waren ihretwegen ins Gefängnis gekommen, zwei hatten sich ihretwegen erschossen und der unzählbare Rest ihrer Liebhaber, die sie alle nach wenigen Nächten abgeschüttelt hatte, ohne von Beschwörungen oder Drohungen sich imponieren zu lassen, wäre ausnahmslos auf das kleinste Zeichen hin, zu allem bereit, zu ihr zurückgekehrt. Sie war unter ihren Kolleginnen verhaßt, weil sie nie Geld verlangte. Die Männer drängten es ihr auf oder wertvolle Geschenke oder was sie eben hatten. Ihr Stolz war grenzenlos, ihr Hohn gräßlich und forderte man sie nur durch ein fast unmerkliches Lächeln heraus, so raufte sie mit jedem, wer immer es auch sein mochte, und mit einer Geschicklichkeit, die sie gefährlich machte. Das, was fast jedem Weib zumindest einmal im Leben widerfährt, einem Mann, sei es auch nur für kurze Zeit, zu verfallen, war deshalb bei Bichette etwas geradezu Unglaubliches.

Es verstand sich, somit von selbst, daß die Neugierde in den Montmartre-Cafés Formen heftigster Aufregung annahm. Jeder wollte die Basis dieses Verhältnisses kennen. Die kühnsten Hypothesen schwirrten über die Tische hin. Alle wurden als zu primitiv oder zu gewöhnlich verworfen; sonderlich in Ansehung Fecs, der plötzlich, in den Augen aller zu einer im höchsten Maße bemerkenswerten Persönlichkeit aufgestiegen war, von der man sich nicht nur alles, sondern vielleicht noch ungeahntes Letzten versehen durfte.

Die Möglichkeit, daß Fec diesen Erwartungen entsprechen könnte, war zweifellos vorhanden, gleichwohl aber noch keineswegs begründet: Bichettes Kapitulation hatte sich auf eine Weise vollzogen, die ebenso einfach war wie gewöhnlich.

Es war bei ›Léon‹ gewesen, einer kleinen, nur von Kokotten, Zuhältern und verwandten Jünglingen frequentierten Brasserie auf dem Boulevard de Clichy.

Bichette war gegen vier Uhr morgens in Begleitung eines die herkömmlichen Körperdimensionen seiner Rasse beträchtlich überschreitenden Japaners erschienen, hatte an der Bar hinter einander vier Gläser Weißwein hinuntergegossen und sich, hierauf gelangweilt auf eine Bank geworfen.

Der Japaner setzte sich demütig neben sie und liebkoste hündisch ihre kleine kräftige Hand.

Sie entriß sie ihm und versetzte ihm einen Stoß gegen den Kopf, so daß er beinahe zu Boden gefallen wäre.

Er blieb nun schweigend und dumpf neben ihr sitzen, die bewegungslos vor sich hin stierte.

Fec, der all das beobachtet hatte, machte, mehr aus Langeweile als aus Spott dem Japaner ein Zeichen, zu ihm zu kommen.

Der erhob sich sofort, sehr erfreut, seiner nicht gerade schmeichelhaften Situation entgehen zu können.

Als der riesige Leib auf seinen Tisch zu sich bewegte, fiel Fec ein, daß er Bichette beleidigt hatte, und da er ihre Rauflust kannte, war er neugierig auf das, was etwa folgen würde. Während er den Japaner allerlei Belangloses fragte, ließ er Bichette nicht aus den Augen.

Sie stand denn auch nach wenigen Minuten langsam auf und schlenderte, nachlässig in den Hüften sich drehend, an Fecs Tisch heran.

Der Japaner schwieg augenblicks und beglotzte scheu seine schmutzigen Hände»

Fec, doch ein wenig nervös geworden, fing an, halblaut zu singen: »J'ai une femme qui aime les animaux, ça c'est rigolo, ça c'est rigolo ...«

Bichette griff schnell und fest in seine Haare, riß seinen Kopf nach hinten, starrte ihm wütend in die

Augen und zischte: »Scheinst mich nicht zu kennen ... Wer bist du überhaupt, hein?«

Da Fec, den der Haarboden heftig schmerzte, nicht antwortete, schrie sie den Japaner an: »Woher kennst du denn diesen Schnock?« (Eigene Wortbildung Bichettes.)

Der Japaner schwieg, verlegen die schmalen Lippen von den gelben Zähnen ziehend.

Bichette, welche die Bewegungslosigkeit Fecs zu verwirren begann, ließ seinen Kopf fahren. »Schlingue! ... Und du, gelber Idiot, kannst bleiben, wo du bist.« Hierauf verließ sie, die Schultern rollend, sehr langsam das Lokal.

Der Japaner wollte ihr folgen.

Fec aber hielt ihn zurück, indem er ihm, ohne besondere Absicht, lediglich einem begreiflichen Ärger nachgebend, mitteilte, wer mit Bichette öfter sich zeige, bekäme es bald mit der Polizei zu tun …

***

In der nächsten Nacht saß Fec an demselben Tisch.

Gegen vier Uhr morgens kam Bichette. Allein.

Nach einer Viertelstunde winkte sie Fec, der, sehr im Zweifel über ihre Absichten, einige Sekunden verstreichen ließ.

Dann sah er Bichette nochmals an. Und bemerkte um ihren Mund jenen gewissen Ausdruck, den alle Frauen haben, wenn sie einen Mann wollen. Das entschied. Er erhob sich, schob, die Hände in den Hosentaschen, auf den Fußspitzen sich durch die Tische und ließ sich, gewählt umständlich, an Bichettes Tisch nieder, ohne sie auch nur anzublicken.

Bichette rauchte, die Backen blähend, sah Fec auf die Fingernägel und sagte schneidend: »Bei mir gibts keine geholten Sachen. Merk dir das!«

Fec rührte sich nicht, während er knurrte: »Ich hatte mir gar nichts dabei gedacht.«

Bichettes Lippen warfen sich höhnisch. Dann lachte sie mit dem Atem. »Scheinst noch nicht viel gegouapt zu haben. Hast ja Hände wie ne Laus.«

Fec lächelte ein wenig. »Wenn du mit mir kommen willst, ist mirs recht. Wenn nicht, dann geh ich.«

Bichette musterte ihn kurz, aber scharf und war erstaunt, bemerken zu müssen, daß er augenscheinlich es genau so meinte, wie er es gesagt hatte. Noch zögerte sie. Ihr Stolz begann vor der Möglichkeit, es könnte eine Erniedrigung sein, sich zu regen. Dann aber warf es sie innerlich herum: gerade ihr Stolz gebot ihr, diese harte Männlichkeit so untertan zu entlassen wie alle Vorgänger.

»Eh ben«, fragte Fec, an seiner Mütze rückend. »Bleib!«

***

Unterwegs ergriff Fec Bichettes Handtäschchen.

»Silber?«

»Ja.«

»Ein schönes Stück.« Fec wog es in der hohlen Hand. »Fürchtest du nicht ...?«

»Taf?« Bichette blinzelte. »Bei mir nicht. Und dann ... mich, beroupt man nicht.«

Fec gelang es, nicht zu lächeln. Aber es zwang ihn, sich ganz von fern zu melden. »Ah, es gibt Leute, denen gegenüber sämtliche Standpunkte verfehlt sind. Meist hält man sie für naiv.«

Bichette schwieg lange. Endlich sagte sie gedehnt: »Sind es manchmal trotzdem.«

Fec räusperte sich und warf, wissend, daß er sie damit ärgerte, kurz hin: »Du liebst wohl die sogenannten feinen Kerle.«

Bichette verkniff häßlich die Lippen. »Nein.«

»Hm. Ein sogenannter feiner Kerl ist ja auch furchtbar langweilig.«

»Wie jeder.«

»Auch ein sogenannter feiner Mensch?«

»Die? Die sind ja überhaupt zum Verrecken.«

»Famos!« Fec zog lächelnd sein Halstuch fester. »Du liebst also – die Tiere.«

Bichette zuckte verächtlich die Schultern.

»Schnock!«

»Übrigens habe ich mir gar nichts dabei gedacht«, sagte Fec ruhig.

Bichette spie aus.

***

In dem schmutzigen Aëro-Hotel in der Rue Puget bewohnte Bichette ein kleines verräuchertes Zimmer im vierten Stock.

Sie zog sich sofort aus. Und mit einer Geschwindigkeit, die jedem andern geschmeichelt hätte.

Fec befand sich noch in seiner Hose, als Bichette bereits nackt auf dem Bett lag.

Unwillkürlich betrachtete er ihren Körper.

Das Gesicht abwendend, fragte Bichette leise: »Bin ich schön?«

»Ja.« Fec zog sich aus, ohne sich zu beeilen.

Als er sich auf den Bettrand setzte, griff Bichette ihm zwischen die Schenkel und öffnete rund die Lippen.

So nahm er sie langsam und fest in seine Arme …

Um acht Uhr morgens schliefen sie noch nicht und hatten kein Wort weiter gesprochen.

Im neun Uhr sagte Bichette mit zitternder Stimme: »Laß mich jetzt.«

Fec machte Anstalten, das Bett zu verlassen.

»Kannst hier schlafen, wenn du willst.«

Fec legte sich wortlos auf die Seite und schlief ein.

***

Die folgenden Tage verbrachten sie ununterbrochen beisammen. Ebenso die Nächte. Sie sprachen fast nichts mehr. Nur von Zeit zu Zeit streichelte Bichette Fecs Hand. Oder sie spielte mit seinen Haaren. Oder mit seiner Mütze.

Am fünften Tag aber, morgens gegen neun Uhr, bekam sie einen Weinkrampf.

...

Auszug aus Walter Serner: Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte. Arcor Verlag, September 2019. Seiten: 210. Preis: 20,00€ Print. Zur Verlagsseite.

Mi, 12:00 Uhr: Die Kurt Wolff Stiftung präsentiert den neuen Katalog "Es geht um das Buch 2019/20"

Der Katalog 2019

"Es geht um das Buch", der Katalog der Kurt Wolff Stiftung, liegt in seiner dreizehnten Ausgabe vor. Das wunderschöne graphisch aufwendig gestaltete Nachschlagewerk vereint erneut mehr als 60 Porträts unabhängiger Verlage aus Deutschland. Lassen Sie nicht nur sich sondern alle Liebhaber des schönen Buchs zu wichtigen Büchern verführen, die man haben muss.

Über die Kurt Wolff Stiftung

Die Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene wurde im Oktober 2000 von unabhängigen Verlegern und vom damaligen Kulturstaatsminister Michael Naumann gegründet. Der Name der Stiftung erinnert an den bedeutenden Verleger des deutschen Expressionismus, der von 1887 bis 1963 lebte und mit dem Kurt Wolff Verlag unter anderem in Leipzig wirkte. Die Stiftung wurde im Dezember 2000 als gemeinnützig anerkannt und eingetragen. Im Januar des folgenden Jahres konnte sie ihre Arbeit aufnehmen. Seit März 2002 hat die Kurt Wolff Stiftung ihren Sitz im Haus des Buches in Leipzig.

Ziele der Kurt Wolff Stiftung

Die Kurt Wolff Stiftung versteht sich als Interessen­vertretung unabhängiger deutscher Verlage. Die Zusammenarbeit mit anderen kulturellen Einrichtungen im In- und Ausland, vor allem aus dem Verlagswesen, dem Buchhandel, dem Bibliothekswesen und der Presse sowie mit Autorinnen und Autoren und anderen Kulturschaffenden ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit der Stiftung. Dabei werden Netzwerke geknüpft, internationale Kontakte hergestellt und Analysen, Konzepte, Empfehlungen sowie politische Forderungen im Verlagsbereich erarbeitet. Auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig finden regelmäßig Diskussionsrunden unabhängiger Verlegerinnen und Verleger unter der Leitung der Stiftung statt. Auf der Leipziger Buchmesse wird jährlich, vom Kuratorium der Kurt Wolff Stiftung ausgewählt, der Kurt Wolff Preis für das Lebenswerk, für das Gesamt­schaffen oder das vorbildhafte Verlagsprogramm eines deutschen oder in Deutschland ansässigen unabhängigen Verlages vergeben. Außerdem wird einem weiteren Verlag der Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung für ein herausragendes Einzelprojekt zuerkannt. Zur Webseite.

Mi, 12:30 Uhr: Conbook Verlag präsentiert Miriam Spies: ›Im Land der kaputten Uhren. Mein marokkanischer Roadtrip‹

Conbook Verlag

Die Bücher von CONBOOK setzen da an, wo Reiseführer an ihre Grenzen stoßen: bei Geschichten von und über Menschen, ihren Begegnungen mit anderen Kulturen und den ganz großen Abenteuern. Unsere Bücher versorgen die Leserinnen und Leser mit dem Rüstzeug für die eigene Weltenbummelei – ob als Reise oder als Urlaub im Kopf. Zur Verlagsseite.

Über das Buch

Als ihr zu Hause die Luft wegbleibt, ergreift Miriam Spies mitten im Winter die Flucht nach Marokko. Denn wo kann man sich besser von deutscher Ordnung erholen als hier: Funktionierende Uhren sind in Marokko ebenso selten wie verbindliche Fahrpläne. Preise werden verhandelt, Hilfsbereitschaft ist selbstverständlich.

Mit einem Minimum an Geld, Plan und Gepäck macht sie sich auf die Reise durch ein Land, dessen Winter kalt und verregnet sind. Mal übernachtet sie in einer Studenten-WG, mal bei einer traditionellen marokkanischen Familie, mal im Hippie-Hostel. Ihr Reiseroman erzählt vom Unterwegssein durch eine fantastisch fremde Welt, von kauzigen Reisebegleitern, Minutenfreundschaften, schlaflos durchwachten Nächten und skurrilen Lebenswegkreuzungen.

Ihre Reise führt sie nach Nador, Tanger, Chefchaouen, Essaouira, Marrakesch, Casablanca und Rabat. Die großen historischen Stätten wie den Djeema el Fna sucht sie ebenso auf wie die dunklen Ecken, die man angeblich besser meidet. Doch umgeben von Bettlern und Veteranen, Krämern, Löwenmüttern und Studenten lernt Miriam bald: In Marokko reist man nie allein.

Über die Autorin

Miriam Spies, 1982 in Mainz geboren, studierte Germanistik, Kulturanthropologie und Buchwissenschaft. Sie ist Autorin des Buchs Das ist DAF. 2014 reiste sie zum ersten Mal auf den Spuren der Beatgeneration nach Tanger. Seitdem war sie jedes Jahr mindestens einmal dort. Zur Autorinnenseite.

Auszug aus Miriam Spies: Im Land der kaputten Uhren. Mein marokkanischer Roadtrip

Es ist eigenartig mit unserer Erinnerung. Es gibt Menschen, die uns eine ganze Weile auf unserem Lebensweg begleiten, ohne auch nur die geringste Spur in unserer Erinnerung zu hinterlassen. Und andere, deren Blick wir nur ganz zufällig im Vorübergehen streifen, brennen sich für immer in sie ein. So wie der alte Mann im Nachtbus nach Essaouira, der mir in manchen Momenten ganz unvermittelt in den Sinn kommt.

Ich hing schon seit vier Tagen in der Hölle von Chefchaouen fest und musste dringend hier weg. Dieses Blau zog mich langsam, aber sicher in einen Wahnsinn hinein, den ich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Es rief meinen Verstand zu sich – und mein Verstand folgte mit dem sicheren Fußtritt eines Schlafwandlers auf einem Giebel. Dass das nicht mehr lange gut gehen würde, stand außer Frage. Es hätte mich auch nicht verwundert, hätte mir jemand gesagt, dass ich mich längst nicht mehr diesseits, sondern bereits jenseits des Blaus befand. Genau wie all die Einheimischen, die wahrscheinlich bereits vor Jahrhunderten von ihm verschluckt worden waren und nun ihr Dasein auf dem Grund des Zeitmeeres fristeten, um dort Ewigkeit für Ewigkeit mit seelenlosen opiumleeren Augen als Wächter des Blaus zu dienen. Ein paradoxes System sich selbst erhaltender Zerstörung. Ob das alles ein bisschen wahnsinnig klingt? Nun, ich sagte ja bereits ... ich musste dringend in ein anderes Blau verschwinden. Oder noch besser: in gar keins.

Da ich langsam anfing, von innen Moos anzusetzen, entschied ich mich spontan, nach Essaouira weiterzufahren. Das schien mir zum einen weit genug weg von Chefchaouen, zum anderen weit genug weg von der Kälte und dem Regen des Nordens. Wird schon Gründe geben, warum Frank Zappa, Jefferson Airplane, Living Theatre und die Rolling Stones alle in Essaouira waren. Ich bin zwar durchaus geneigt, all jenen ebenfalls einen latenten Wahnsinn zu attestieren, nur dass der vermutlich nicht durch Marokko ausgelöst wurde. Der berühmteste Wahnsinnige der Stadt aber, mit dem man sich bis heute schmückt, war Jimi Hendrix. Legenden und Geschichten, die sich um seinen Aufenthalt ranken, gibt es so viele wie Plastiktüten im Meer. Meine liebste davon aber ist die, dass Hendrix in einem rauschhaften Anflug von Eingebung die Wände seines Zimmers mit Songtext-Fragmenten überzogen haben soll. Das allein wäre noch keine Geschichte wert.

Erst Hendrix᾽ resolute Zimmerwirtin, die ihn empört dazu verdonnerte, den Raum wieder in seinen Ausgangszustand zu versetzen, machte es zu einer. Denn: Marokkanischer Dschinn sticht amerikanischen Gitarrengott – und so überpinselte Hendrix artig sein Gekritzel. Ob die Anekdote stimmt oder nicht, spielt eigentlich wie bei jeder guten Geschichte keine Rolle. Apropos Hendrix und gute Geschichten: Unlängst erzählte mir jemand, dass noch nie auch nur ein einziger Musiker an seinem eigenen Erbrochenen verschieden sei. Hendrix zum Beispiel sei an einem schnöden Käsebrötchen erstickt. Sein Manager habe aber geistesgegenwärtig entschieden, dass ein solcher Abgang einem Ausnahmetalent wie Hendrix nicht würdig und der Mythenbildung nicht zuträglich sei, und so kurzerhand die Story vom Exitus durch Rock ’n’ Roll aus dem Ärmel geschüttelt. Guter Mann. Aber ich schweife ab.

Während ich also über den Marktplatz lief und darüber nachdachte, wie ich am besten von hier weg kam, klingelte mein Handy. Dran war Khalil. Er wollte wissen, wo ich war, und als ich sagte, dass ich mittlerweile in Chefchaouen sei, setzte er nach: »Und wo da?« Mir war zwar schleierhaft, was er mit dieser Information anfangen wollte, aber schließlich antwortete ich: »In der Nähe des großen Baums.« (Wer schon mal in Chaouen war, wird bezeugen können, dass das ernsthaft eine äußerst präzise Ortsangabe ist.) »Und du?«, fragte ich höflichkeitshalber zurück. »Hinter dir«, bekam ich als Antwort. Immer diese marokkanischen Sinnsprüche!

»Gut in Rabat angekommen?«, beharrte ich auf meiner Frage. »Dreh dich um!«, beharrte Khalil auf seiner Antwort. War das jetzt so gesamtlebensweltlich gemeint oder doch eher religiös oder am Ende sogar ... Ich erschrak fast zu Tode, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. Entsetzt drehte ich mich um und schaute in das lachende Gesicht von ... Khalil.

Ja, toll. Vor kaum einer Woche hatten wir uns tränenreich verabschiedet und uns geschworen, dass wir uns someday, somewhere down the road wiedersehen. Und jetzt stand er einfach so hinter mir. So hatten wir nicht gewettet. Er hatte noch zwei Freunde, Hanane und Younes, im Schlepptau, und plötzlich war das Blau gar nicht mehr so wahnsinnig schlimm. Trotzdem nahm ich das Angebot dankend an, am Abend mit dem Auto mit nach Rabat zu kommen, um dort noch einen letzten Bus Richtung Essaouira zu bekommen. Aber wie das immer so ist mit marokkanischen Autofahrten und Zeiteinschätzungen: Ankunftszeit ist, wenn man da ist. Und da waren wir, als der letzte Bus längst abgefahren war.

Also bekam ich ein Bett bei Hananes Familie angeboten und den Vorschlag unterbreitet, dass wir am nächsten Tag alle zusammen Richtung Süden fahren würden. Deal. Auch das ausgedehnte Frühstück ließ ich gerne über mich ergehen. Und dass ständig Verwandte vorbeikamen, die sich alle mal die Deutsche angucken wollten, hatte durchaus Unterhaltungswert, zumal meine Aufgabe in nichts weiter bestand, als dekorativ auf der ausladenden Sofalandschaft zu lümmeln, mir unaufhörlich Tee nachschenken und Gebäck auftischen zu lassen und gelegentlich so was wie »Autobahn« zu sagen. Gegen Nachmittag aber spürte ich, wie mich etwas auf die Straße zog. Was war mit unserem Deal? Wollten wir nicht weiter? Immerhin wurde mir auf mein Drängen hin die Stadt gezeigt, die mich allerdings – Hauptstadt hin oder her – nicht sonderlich beeindruckte.