Echo - Jan Christophersen - E-Book

Echo E-Book

Jan Christophersen

4,5

Beschreibung

Der lang erwartete neue Roman des Autors von "Schneetage" Er ist ein Weggeher, sie eine Zuhausebleiberin, und trotzdem sind sie Freunde: Während einer Klassenfahrt an die polnische Ostsee im Spätsommer 1989 nimmt die Geschichte zwischen Gesa und Tom, dem Gitarristen der Schulband, ihren Anfang, später trennen sich die Wege der beiden und kreuzen sich doch immer wieder. Tom konzentriert sich auf seine Musikerkarriere und reist mit seiner Band um die Welt. Gesa bleibt in Flensburg, gründet eine Familie und ist da, wenn ihr alter Freund zu Besuch kommt. Ihr Gästezimmer im Gartenhaus wird Toms Ankerpunkt, dort hören die beiden zusammen Musik und teilen die alte Nähe. Zwischen Toms seltenen Besuchen sind die Postkarten, die er Gesa von unterwegs schreibt, ihre einzige Verbindung. Eines Tages steht für Toms Band ein wichtiger Auftritt bevor, der den musikalischen Durchbruch bedeuten könnte. Doch es kommt anders als geplant, und die Freundschaft zwischen Tom und Gesa wird auf eine harte Probe gestellt. Mit großem Einfühlungsvermögen und viel Spannung zwischen den Zeilen entwickelt Jan Christophersen die Geschichte zweier Menschen, die eigentlich Seelenverwandte sind, aber doch nie ganz zueinanderfinden. Gekonnt fängt der Autor das Schwanken zwischen Nähe und Distanz ein; er erzählt von genutzten und ungenutzten Möglichkeiten, von den Grenzen, die zu einer Persönlichkeit gehören, und davon, wie schwer es ist, füreinander da zu sein, ohne den anderen zu verletzen.

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mare

JAN CHRISTOPHERSEN

ECHO

Roman

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter

http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2014 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Simone Hoschack, mareverlag

Coverabbildung © Svante Oldenburg, Trigger Image

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung eBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-306-4

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-204-3

www.mare.de

Inhalt

EINS 1989

1

2

3

4

5

6

7

ZWEI 1999

1

2

3

4

5

6

7

DREI 2004

1

2

3

4

CODA

Über das Buch

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Liebe Gesa,

wieder mal unterwegs. Wirst Du mir glauben, dass ich im Moment keinen Schimmer habe, von wo nach wo? So weit ist es gekommen. Dabei habe ich, als wir die Stadt verließen, aus dem Seitenfenster nach einem Ortsschild Ausschau gehalten, aber Per fuhr zu schnell. Irgendwas mit O. Und wir fahren nach – Irgendwo. Keine Ahnung. Ich kann mir denken, was für ein Gesicht Du machen wirst, wenn Du das hier liest: Unterwegs von Irgendwo nach Irgendwo.

Hattet Ihr früher eigentlich eine Schaukel in Eurem Garten? Gerade habe ich mir eine ganze Zeit lang den Kopf darüber zerbrochen.

Gruß, T

Motiv: Schlafender Eisbär. Irgendwo, Mitte 1995

EINS

1989

1

Die zweite Grenze an diesem Tag, die sie passieren mussten auf ihrer Fahrt Richtung Osten, und wieder ging es nicht voran. In der vergangenen halben Stunde hatte sich ihr Bus kaum fünfzig Meter bewegt. Von den eigentlichen Grenzanlagen waren bislang nur Lichter in der Abenddämmerung zu erkennen, und während sie eingekeilt zwischen polnischen Lkws standen, kam die Autokolonne neben ihnen deutlich schneller vorwärts. Nicht Wenige aus dem Bus nutzten die Gelegenheit, um auf dem Seitenstreifen zu rauchen. Ein paar von den Jungs sprangen zum Pinkeln über die Leitplanke in den Graben. Keines der Mädchen traute sich das.

Als Gesa ausstieg und sich draußen umschaute, sah sie ihn neben den anderen am Straßenrand stehen. Jemand musste ihm eine Zigarette zwischen die Finger gesteckt haben. Tom rauchte nicht, soweit sie wusste. Die Zigarette brannte, ohne dass er einen Zug davon nahm; an der Spitze hatte sich ein längerer Ascherest gebildet, den er erfolglos abzuschütteln versuchte. Seine Hand bewegte sich auf und ab. Konnte es sein, dass er zum ersten Mal eine Zigarette in der Hand hielt? Als er aufsah und sie am Bus entdeckte, wollte Gesa seinem Blick zunächst ausweichen, aber dann bedeutete sie ihm doch durch eine tippende Bewegung des Zeigefingers, wie er die Asche loswürde. Er machte es ihr nach, schnippte die Asche ab, lachte. Sie sah weg.

»Einsteigen«, rief jemand. Es kam nicht aus dem Bus, sondern von der Straße weiter vor ihnen. Dort tauchte Wilsto zwischen zwei Lkws auf, Mathelehrer, krauser Schnauzer, und schaufelte mit den Armen, als müsste er sie alle antreiben. »Es geht weiter.«

Seine Mission war also ein Erfolg gewesen. Gesa drehte sich um und stieg die Stufen hoch, zurück in den Bus. Ihr Platz war weit vorne, in der dritten Reihe hinter dem polnischen Fahrer. Von hier aus hatte sie vorhin das Gespräch der beiden Lehrer verfolgt, die den Versuch wagen wollten, die Grenzkontrollen zu beschleunigen. Wilsto war daraufhin losgeschickt worden, in der Jackentasche die »Sonderkasse«, die alles andere als ein Geheimnis war. »Viel Glück«, hatten einige ihm zugerufen, als er sich die Jacke überzog, und er hatte sie mit gespielter Verärgerung angesehen und den Finger auf die Lippen gelegt: »Dass ihr mich ja nicht verpfeift.«

Applaus brandete auf, als er nun zurück in den Bus kam. Er winkte ab, sagte etwas zu dem Fahrer, und die Tür schloss sich hinter dem Letzten, der einstieg. Es war Tom, wie Gesa bemerkte. Ohne Rücksicht auf Verluste steuerte der Fahrer den Bus auf die Autospur und folgte der Kolonne Richtung Grenze. Mit einem Mal ging es erstaunlich schnell, die Grenzbeamten waren bereits zu sehen, Vopos, gleich dahinter die Polen.

»Danke.«

Gesa blickte auf, im Gang neben ihr stand Tom, und sie tat so, als hätte sie ihn nicht verstanden.

»Für eben«, sagte er. »Draußen.«

»Setz dich besser hin.«

»Klar.«

Toms Platz war nicht weit von ihrem entfernt, zwei Reihen hinter ihr auf der anderen Gangseite, und kaum dass er saß, schob er sich den Kopfhörer, den er um den Hals trug, über die Ohren und stellte den Walkman an. Sie sah das nicht, hörte aber das metallische Klirren. Viel Schlagzeug, wenig Bass, sehr laut. Gesa verzog das Gesicht, nicht über die Musik, die sie nicht kümmerte, sondern über sich selbst. Es sollte ihr schließlich egal sein, was Tom tat, und bis zu diesem Zeitpunkt war es das auch gewesen.

Ihr Bus wurde einfach durchgewinkt, und nach dem atemlosen Schweigen, das geherrscht hatte, als sie die Grenze passierten – die grimmig aussehenden Vopos draußen vor ihren Verschlägen, die nicht eben freundlicheren polnischen Beamten –, kreischte die ganze Gruppe los. Zwei Dutzend Kehlen johlten und brüllten, eine Anspannung entlud sich. Vorne zeigte sich die Salewski, Deutschlehrerin, lange braune Haare, gewellt, spitze Nase, stützte ihre Ellenbogen auf die Rückenlehne ihres Sitzes und wartete, bis das Geschrei verebbt war.

»Das war dann also die DDR«, sagte sie. Gelächter. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Unser Fahrer meint, dass es noch etwa vier Stunden dauert. Wenn nichts dazwischenkommt, müssten wir gegen ein Uhr in Stolp sein.«

»Swuu-upsk«, rief jemand von hinten. »So heißt das jetzt.«

»Richtig. Słupsk. Nur damit ihr Bescheid wisst.«

Dann setzte sie sich wieder.

Den ganzen Tag waren sie schon unterwegs, obgleich es zunächst nicht so ausgesehen hatte, als ob sie überhaupt loskommen würden. Morgens um halb sechs auf dem Schulparkplatz in Flensburg war der Reisebus aus Polen, der aus Sparsamkeitsgründen gechartert worden war, defekt gewesen. Es war ein eierschalfarbenes Ungetüm, dessen Seiten mit einem in Brauntönen gehaltenen Farbband verziert waren, von Rostrot über Ocker und Braun bis Dunkelbraun. Turystczny stand auf der Frontanzeige; niemand wusste genau, was das bedeutete noch wie man es aussprach, irgendwas wie »Touristen« vielleicht? Als sie alle nach und nach mit ihren Eltern eintrafen, lag der Fahrer gerade unter dem Bus und schraubte mit öligen Maulschlüsseln herum. Ein Schlauch war anscheinend gerissen, Benzin, Bremsflüssigkeit; Genaues war seinen Ausführungen nicht zu entnehmen, aber alles »kein Problem«. Eine Stunde veranschlagte er für die Reparatur, unter Umständen zwei, bestimmt nicht mehr. Fast dreieinhalb Stunden waren es am Ende geworden, und nur wenige Eltern hatten so lange ausgeharrt.

Da standen sie nun frühmorgens auf dem Schulparkplatz und warteten. Zu tun gab es weiter nichts. Das Gepäck war, um eine pünktliche Abfahrt zu gewährleisten, größtenteils am Vorabend verladen worden, unten die Koffer und oben, im hinteren Drittel des Busses, die Carepakete für die Gastfamilien. Eine Mutter mit Kurzhaarschnitt hatte den Vorschlag für die Pakete bei einem der Organisationstreffen aufgebracht und auch gleich die passende Liste ausgeteilt. Darauf waren die Dinge notiert, die jeder Teilnehmer auf die Reise mitnehmen sollte: Kaffee, Tee, Dosenobst, Zucker, Schokolade, Toilettenpapier – wegen der vermutlich ärmlichen Verhältnisse, in die sie alle bei den polnischen Familien kämen, und vor allem als Zeichen des Dankes für die Gastfreundschaft. Niemand konnte etwas dagegen einwenden, und so war nun das komplette hintere Drittel des Busses vollgestellt mit diesen Paketen, alle ordentlich verklebt und mit Namen beschriftet.

Als Tom mit seinem Vater auf dem Schulparkplatz eintraf, stellte er seinen Gitarrenkoffer und Verstärker zu den Instrumenten der Schulband, deren sperriges Equipment als einziges noch am Morgen verladen wurde, und begrüßte die anderen Musiker. Er war als gerade Fünfzehnjähriger der mit Abstand jüngste Teilnehmer der Fahrt, als Einziger kein Oberstufenschüler. Nachdem Gesa von ihrer Mutter auf Toms Ankunft aufmerksam gemacht worden war, ließ sie ihn nicht mehr aus den Augen, und dabei bemühte sie sich, sein längliches Gesicht, die braunen, etwa kinnlangen Haare und seinen Gang, der etwas Federndes hatte, mit dem Bild in Einklang zu bringen, das sie von ihm im Kopf gehabt hatte. Aber im zurückliegenden Jahr, in dem sie sich nicht ein Mal bewusst gesehen hatten, musste etwas mit ihm passiert sein, eine Veränderung, die ihr entgangen war. So wie er da stand, hätte sie ihn aus dem Gedächtnis jedenfalls nicht beschrieben. Jünger hatte sie ihn in Erinnerung gehabt, kindlicher auch.

Toms Vater kam gleich zu ihnen herüber, Uwe Bille, der älteste und beste Freund ihrer Mutter. Noch aus Schultagen kannten sich die beiden, Goetheschule selbstverständlich, wie auch alle ihre Kinder, sie umarmten sich, und Gesa fiel die Dringlichkeit auf, mit der Herr Bille ihre Mutter an sich drückte.

»Nett von dir, dass du das machst«, sagte Herr Bille zu Gesa. »Wüssten wir nicht, dass du dabei bist, hätten wir Tom bestimmt nicht mitfahren lassen.«

»Schon in Ordnung«, sagte Gesa, obwohl das nicht stimmte. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt noch einmal die Diskussion aufzuwärmen, die sie mit ihren Eltern in den vergangenen Wochen wiederholt geführt hatte. Dass es ihr die ganze Fahrt versauen werde, wenn sie auf Tom aufpassen müsse. – Ach, so schlimm werde es schon nicht sein. – Dass sie keine Lust habe, Kindermädchen für ihn zu spielen. – Tom sei doch nur zweieinhalb Jahre jünger als sie, und er freue sich so auf die Fahrt. Undsoweiter. Dafür war es nun zu spät. Mittlerweile hatte Gesa ja auch eingewilligt.

Herr Bille verabschiedete sich, wünschte ihr viel Spaß und ging zu Tom hinüber, Gesas Mutter folgte ihm nach kurzer Verabschiedung, und während die beiden Erwachsenen bei Tom standen und mit ihm sprachen, sah er zu ihr herüber. Er hatte eine Unbefangenheit an sich, die Gesa sofort wütend machte. Er guckte einfach zu ihr hin, und nichts an ihm verriet, ob er sich bewusst war, was sie für ihn auf sich nahm.

»Hallo«, sagten seine Lippen, und sie nickte bloß.

Sie sorgte dafür, dass er im Bus nicht neben ihr saß. Meike war ihre Sitznachbarin, jedenfalls anfänglich, bis sich während der Fahrt alle verteilten. Tom aber hatte auch gar keine Anstalten gemacht, in ihrer unmittelbaren Nähe zu sitzen, sondern seinen Rucksack auf eine leere Bank irgendwo hinter ihrer geschmissen und sich dort hingesetzt. Kurze Zeit später lief bereits hörbar sein Walkman. Als Gesa sich während der Fahrt durch Schleswig-Holstein einmal nach ihm umsah, unterhielt Tom sich gerade über die Rückenlehne hinweg mit Per, dem Schlagzeuger der Schulband. Sie selbst las die meiste Zeit, Hesse, Narziß und Goldmund, schon zum zweiten Mal.

Dann kamen sie an die erste Grenze, Schlutup-Selmsdorf. Gesa konnte nicht anders, als im Heranfahren ihren Fotoapparat hervorzuholen und einige Aufnahmen von den Grenzanlagen zu machen, von der grauen Betonwand, den gebogenen Straßenlaternen, dem Grenzpfosten, den Überwachungstürmen und den Kameras. Heimlich tat sie das, hinter vorgehaltener Hand, und dabei bemerkte sie Tom, der stehend über den Sitz seines Vordermannes gebeugt genau wie sie einige Fotos schoss. Bis der Bus vor einem der Zollgebäude hielt, blieb er in dieser Haltung, ganz ungeniert, als wäre es selbstverständlich.

Keiner sagte etwas, als sich die Bustür öffnete und gleich darauf ein Vopo und ein Grenzer einstiegen. Nach kurzem Wortwechsel mit den Lehrern schoben sich die beiden Männer durch den Gang nach hinten, die Blicke immer wieder unter die Sitze gerichtet. Der Vopo war bewaffnet, eine Maschinenpistole klapperte über seiner Schulter.

»Was sind das für Pakete?«, fragte der Grenzer, und Wilsto eilte zu ihm und überreichte eine Kopie der Inhaltsliste.

»Das sind Mitbringsel für die polnischen Gastfamilien«, sagte er. »Alle Pakete haben den exakt gleichen Inhalt.«

Der Grenzer überflog den Zettel, wippte dabei über Fußspitze und Hacke vor und zurück. »Und was soll das Ganze?«

Die Frage überraschte Wilsto, er nuschelte etwas Unverständliches.

»Ich will da mal einen Blick reinwerfen.« Der Grenzer klopfte gegen eines der Pakete.

»Hier im Bus?«

»Draußen. Und in eines von da unten auch.« Mit einem Stiefel deutete er wahllos auf die unterste Reihe.

»Wir bringen Ihnen die sofort raus«, sagte Wilsto.

Er machte den Beamten Platz und beauftragte zwei Jungen, die Sache zu übernehmen: »Per, Sascha, ihr macht das, ja?« Natürlich stürzte ein Teil des Stapels beim Herausziehen der Pakete zusammen. Niemand lachte, obwohl es zum Lachen war.

Die Pakete mussten in das Zollgebäude getragen werden. Wilsto eilte den Jungen hinterher, die Mappe mit den Reisepässen in der Hand, und blieb selbst im Gebäude, während Per und Sascha gleich wieder zurückkamen.

»So wie die drauf sind, wollen die am liebsten gleich alles hier auseinandernehmen«, sagte Sascha. »Die sind ziemlich nervös.«

Jemand sagte: »Werfen wir die Pakete doch einfach aus dem Bus und lassen sie hier liegen, dann gibt es keinen Ärger. Ist sowieso lächerlich, die Idee.«

»Bisschen spät«, sagte Per.

Nach einer ganzen Weile kam Wilsto zurück in den Bus. Er sah aufgewühlt aus und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht.

»Kann einer von euch zufällig gut Schreibmaschine tippen?«, fragte er.

Niemand sagte etwas.

»Es ist so weit alles in Ordnung, aber die Herren da drinnen bestehen auf einer getippten Teilnehmerliste. Adressen, Reisepassnummern, all das. Die Liste müssen wir selbst anfertigen. Sonst lassen die uns nicht weiter. Wenn ich das mache, dauert es ewig. Also: Wer kann?«

»Ich«, sagte Tom.

Wilsto sah ihn nur kurz an. »Keiner sonst?«

»Ich mach das gern«, sagte Tom. »Hab gerade einen Schreibmaschinenkurs hinter mir.«

»Wie du meinst«, sagte Wilsto. »Dann komm mal mit.«

Tom erhob sich von seinem Sitz, und als er an Gesa vorüberging, war sie kurz versucht, ihn aufzuhalten, aber im letzten Moment vertiefte sie sich dann doch wieder in das Buch auf ihrem Schoß, tat zumindest so.

»Die sehen wir so bald nicht wieder«, rief jemand weiter hinten, während Tom und Wilsto im Zollgebäude verschwanden. »Vielleicht auch nie mehr.« Einige lachten, und Gesa war froh, dass die Salewski und nicht sie es war, die darauf sagte: »Darüber macht man keine Scherze.«

Nach knapp zwanzig Minuten kamen die beiden zurück. Sie trugen die Pakete bei sich, die ihnen im Bus gleich abgenommen und nach hinten durchgereicht wurden. Im Gegensatz zu Wilsto, der auf eine eigentümliche Art durcheinander wirkte, machte Tom einen vollkommen unbekümmerten Eindruck. Er setzte sich wortlos auf seinen Platz und holte etwas zu trinken aus dem Rucksack.

Und schon ging die Fahrt weiter. Kaum im Land, sahen sie den ersten Trabbi des Tages, lindgrün war er. Einige winkten dem Fahrer zu, der jedoch nicht reagierte. Als Gesa sich nach Tom umblickte, hatte er die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Sie hätte sich gewünscht, dass auch ihr das gelänge, aber sie wusste, dass sie kein Auge zutun würde, nicht jetzt, nicht hier, nicht unterwegs.

Von der Stadt war wenig zu erkennen, vereinzelte Laternen brannten. Soweit Gesa es sehen konnte, fuhren sie über eine breitere Straße, die gesäumt war von vierstöckigen Gebäuden aus Backstein, auch Plattenbauten, vielen Bäumen, dann hin und her durch schmale Straßenfluchten, bis sie vor einem roten Gebäude hielten. Das musste die Schule sein.

»Wir sind da«, sagte die Salewski vorne, und überall wurden Arme in die Höhe gereckt. Die Allermeisten hatten die letzten Stunden der Fahrt verschlafen.

Über einen Treppenabsatz traten Leute aus der Schule und kamen näher. An der Straße öffneten sich die Türen einiger Autos, und während im Bus zusammengepackt wurde, rief die Salewski letzte Anweisungen nach hinten: »Gepäck ausladen, Pakete rausbringen, dann Verteilung aller Schüler auf die Familien, wie besprochen.«

Jemand klopfte von außen an die Scheibe, eine Frau im grauen Mantel, die Bustür wurde ihr geöffnet. Die Frau, blondiertes Haar, dicke, spiegelnde Brillengläser, begrüßte zunächst die Lehrer und wandte sich anschließend an alle: »Willkommen in Słupsk! Wir haben euch schon erwartet?« Es klang wie eine Frage. Dazu ein rollendes R, spitzes I, lang gezogenes E. »Mein Name ist Odija, Maria Odija. Ich bin Deutschlehrerin hier an der Schule und für euch, wie sagt man, zuständig? Draußen werden wir euch gleich mit euren Gastfamilien zusammenbringen. Morgen lernen wir uns dann alle kennen? Das steht auch so auf den Plänen, die ihr bekommen haben müsstet? Also, kommt, kommt.«

Der Ablauf draußen war alles andere als geordnet. Während sich die Ersten ihre Gepäckstücke zusammensuchten, die der Busfahrer auf den Gehweg stellte, und vorne die Carepakete ausgeladen wurden, las die Odija laut Namen von einem Blatt ab, zeigte auf Schüler, auf Eltern, ein Stimmengewirr aus Deutsch, Polnisch und Englisch lag in der Luft. Manche verluden bereits ihr Gepäck in Kofferräume, andere schleppten das Equipment der Band in aller Eile die Treppenstufen hinauf in die Schule. Gesa stand bei den Koffern und konnte nicht aufhören, über den Geruch zu rätseln, den sie hier wahrnahm. Er war ungewohnt, fast moorig, gleichzeitig aber auch mineralisch. Als sie ihren eigenen Koffer entdeckte und sich gerade danach bücken wollte, tippte eine Hand von hinten gegen ihren Rücken. Sie drehte sich um, ein schmales Mädchen, kurzhaarig, Gesa erkannte sie von dem Foto, das sie zu Hause bekommen hatte.

»Du bist Gesa?«

»Und du bist Agnieszka?«

»Tak. Aga.«

Sie sahen sich an. Gesa verstand nicht.

»Aga.« Das Mädchen zeigte auf sich und dann auf einen Wagen am Straßenrand. »Meine Mutter wartet.«

»Und Tom? Was ist mit dem?«

»Er ist schon im Wagen«, sagte Aga. »Er hat auch diese Pakete von euch dabei. Wir können also los? Das hier ist dein Koffer?« Gesa nickte, und Aga nahm ihren Koffer und trug ihn zum Wagen.

Von der Rückbank blickte Tom Gesa entgegen. Er hatte seinen Gitarrenkoffer auf den Knien liegen und hob diesen an, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Enger als nötig drückte er sich gegen seine Seitentür, als wollte er möglichst viel Platz zwischen ihnen lassen.

»Blazejewisz, Dorota.« Auf dem Fahrersitz drehte Agas Mutter sich um und reichte Gesa die Hand.

»Gesa Lehnart.« Sie überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Dzień dobry.«

»Mówisz po polsku?«

Gesa wusste nicht zu antworten, sie hob entschuldigend die Schultern. Agas Mutter lächelte und startete den Wagen.

Sie mussten nicht weit fahren, ein paar Mal nur bogen sie ab. Obwohl Gesa sich darauf konzentrierte, glaubte sie nicht, den Weg zurück noch einmal finden zu können. Sie bemühte sich, im Vorbeifahren die Straßennamen zu erkennen, aber es war aussichtslos. Es dauerte einfach zu lange, die Worte zu entziffern. Die Straße, in der sie in einer Lücke parkten, begann mit einem P. Aga zeigte auf das Haus direkt vor ihnen. »Erster Stock«, sagte sie.

So leise wie möglich trugen sie das Gepäck hinauf. Kaum hatten sie die Wohnung betreten, flüsterte Aga: »Mein Vater schläft schon. Er muss früh zur Arbeit.« Sie zeigte nacheinander auf zwei Türen: »Badezimmer. Euer Zimmer.«

Gesa war sprachlos, ihr Mund öffnete sich von allein, und sie hätte sich weit besser gefühlt, wenn ihr der Schock über diese Nachricht nicht so ohne Weiteres anzusehen gewesen wäre. Tom und sie in einem Zimmer? Damit hatte sie nicht gerechnet, und sie war selbst überrascht, was diese Aussicht bei ihr bewirkte.

»Wir haben leider nur das eine Zimmer für euch«, sagte Aga. »Mein Zimmer. Ich schlafe im Wohnzimmer? Das ist hoffentlich kein Problem für euch?«

Tom sah Gesa von der Seite an. Sie spürte das und nickte.

»Dobrze. Also schlaft gut. Wir frühstücken um acht und gehen dann in die Schule. Um neun Uhr müssen wir dort sein?«

Aga verschwand in den Raum, in den ihre Mutter zuvor die Pakete getragen hatte, die Küche wahrscheinlich, und Tom öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und ging hinein. Gesa blieb auf dem Flur stehen und spürte ihren Pulsschlag im Hals. Sie war tatsächlich aufgeregt. Aus ihrem Koffer nahm sie Kulturtasche und Schlafanzug und betrat das Badezimmer. Sie fand den Lichtschalter nicht, fasste zwei Mal daneben. Irgendwie, so schien es, war sie heute nicht sie selbst, den ganzen Tag schon nicht.

Der Grund dafür war keineswegs rätselhaft, er lag auf der Hand. Es erstaunte Gesa lediglich, dass ihr der Vorfall von damals noch immer so präsent war. Bis vor Kurzem hätte sie nicht behaupten können, dass sie sich besonders daran erinnerte. Erst seit Toms Eltern gefragt hatten, ob sie sich vorstellen könnte, während der Polenfahrt ein Auge auf Tom zu haben, der mit der Schulband daran teilnehmen würde, und mit ihm gemeinsam bei der Gastfamilie zu wohnen, war alles wieder da gewesen, zunächst als vages Gefühl, dann jedoch, seit heute Morgen, seit ihrem Wiedersehen auf dem Schulparkplatz, als bloße Wut. Während sie sich umzog und die Zähne putzte, tauchten nach und nach die Bilder von damals vor Gesas innerem Auge auf, und sie wehrte sich nur halbherzig dagegen. Seltsam war, dass Markus, Toms älterer Bruder, so unscharf blieb. Ihn sah sie nicht vor sich. Dagegen war der Rest klar und deutlich. Ihr Zimmer, das heruntergezogene Rollo, die mit einem roten Tuch abgedunkelte Nachttischlampe, und sie auf dem Bett, auf Markus, nur halb zugedeckt. Es war nicht ihr erstes Mal; langsam begann es, Spaß zwischen ihnen zu machen. Nur sie bemerkte den Lichtkegel, der von der Zimmertür kam. Und während sie sich weiter auf Markus bewegte, blickte sie zur Tür. Tom. Er stand da. Beobachtete sie. Wahrscheinlich hatte er sich unten bei den Erwachsenen, die irgendeinen Geburtstag feierten, gelangweilt und im Haus nach seinem Bruder und ihr gesucht. Da stand er also. Und da blieb er stehen. Viel zu lange. Gesa bewegte sich auf Markus. Und Tom ging nicht weg. Sie konnte es nicht fassen, konnte aber auch nicht aufhören. Versuchte, ihn zu ignorieren. Fluchte innerlich. Schlimm für sie war, dass ihr Körper anders reagierte als ihr Kopf. Als sie wieder aufsah, war Tom verschwunden, aber die Tür war nur angelehnt, nicht geschlossen wie zuvor. Sie hatte sich das nicht eingebildet.

Nie wieder hatten Markus und sie es miteinander getan, wenn Tom in der Nähe hätte sein können. Wenige Wochen danach war es aus gewesen zwischen ihnen. Bis heute hatte Gesa nicht darüber nachgedacht, aber nachträglich schien es ihr, als bestünde ein Zusammenhang zwischen der Trennung von Markus und dem Vorfall von damals. Natürlich stimmte das nicht; es war ungerecht, das zu denken. In Wirklichkeit war es einfach schlecht gelaufen zwischen Markus und ihr. Angeblich studierte er jetzt irgendwo im Süden. Gesa wusste nicht einmal, wo, es war ihr auch egal. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und schaute noch einmal in den Spiegel.

»Ganz ruhig«, sagte sie zu sich selbst. »Das ist lange her.«

Im Zimmer hatte Tom es sich auf einer Liege bequem gemacht, die unter dem Fenster stand. Mit seiner E-Gitarre auf dem Schoß lag er da, strich kaum hörbar über die Saiten. Er hatte sich bereits umgezogen, seine Kleider lagen in der Ecke. Shorts und T-Shirt trug er, wirkte darin beinahe dürr, und die Haut an seinen Beinen war hell, sodass sich der Verlauf der Adern darunter erahnen ließ.

Ihr Bett stand neben dem Schreibtisch an der Längsseite des Zimmers, blumengemusterte Bettwäsche, die Nachttischlampe auf dem Bord darüber brannte.

»Bad ist frei«, sagte Gesa.

Tom legte die Gitarre in den geöffneten Instrumentenkoffer, nahm Zahnbürste und Zahnpasta und stand auf. Eine Tablettenschachtel bemerkte Gesa auf dem Kleiderhaufen, weiß, irgendein Name, nichts Auffälliges, und als sie beide voreinanderstanden, blickte Gesa Tom fest in die Augen oder versuchte es zumindest.

»Keine Angst«, sagte er. »Du brauchst hier nicht auf mich aufzupassen. Ich komme allein zurecht. Und du …« Er stockte, schien nicht weiterzuwissen. Seine stochernde Art zu sprechen hatte Gesa beinahe vergessen. »Du machst deinen Kram«, sagte er dann, »ich meinen.«

»Klingt gut.«

Gesa legte sich in ihr Bett, und kaum war Tom draußen, löschte sie das Licht.

2

Bereits auf der Treppe konnte Gesa Musik hören, ein Wummern, das aus einem der Klassenzimmer am Ende des Ganges kam und immer wieder nach kurzer Zeit abbrach, nur Schlagzeug und Bass, nicht die gesamte Band. Entweder probten sie dort gerade einen Einsatz oder den Schluss eines Stückes, das war so nicht zu erkennen. Es war zu dumpf, was durch die Tür nach außen drang. Gesa blieb einen Moment auf dem Flur stehen, lauschte, wartete die nächste längere Unterbrechung ab und trat dann leise ein.

Die Tische und Stühle waren an die Wände gerückt, um Platz in der Mitte zu schaffen. Den meisten Raum nahm das Schlagzeug ein, das zu groß für diese Umgebung wirkte. Per saß dahinter, und obwohl er gerade etwas mit dem Bassisten Erik besprach, dessen Verstärker gleich neben dem Schlagzeug aufgebaut war, blickte er als Einziger zur Tür, als Gesa eintrat, und nickte ihr zu. Möglichst unauffällig schob sie sich an den Tischen entlang in den hinteren Bereich, achtete bei ihren Schritten auf die bunten Kabel, die kreuz und quer verliefen, und musste einen Bogen um das Keyboard herum machen, Annes Instrument, die im Schneidersitz dahinter auf dem Boden hockte und in einen Collegeblock schrieb. Anne blickte nicht einmal auf, obwohl sie Gesas Vorbeigehen bemerkt haben musste.

»Seid ihr oben schon fertig?«, fragte Per und klopfte mit den Sticks auf seine Oberschenkel.

»Fast«, sagte Gesa.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Klassenzimmers drehte Tom in Zeitlupe den Kopf. Seine Gitarre war leise gestellt, aber er spielte etwas, strich mit den Fingern über die Saiten, den Mund leicht geöffnet. Sein Blick war nach innen gerichtet, sodass Gesa nicht sicher war, ob er sie wirklich wahrnahm. Sie setzte sich auf einen der Tische und zog die Beine an den Körper.

»Was macht ihr oben denn eigentlich genau?«, fragte Per.

»Heimatkunde«, sagte sie, und Per schob die Unterlippe vor. »Deutsch-Polnisches eben.«

»Sind die Polen dabei?«, fragte er.

»Die dürfen zwischendurch Referate halten. Geschichtliches aus Słupsk. War mal eine Hansestadt. 600 Jahre deutsch. Und schön. Klein-Paris. Dann Hitler, Stalin. Das volle Programm. Aber jetzt erzählt die Odija gerade, was in den nächsten Tagen so ansteht.«

»Und was wird das sein?«

»Nicht viel. Morgen fahren wir mit dem Bus an die Küste, da gibt es berühmte Dünen. In der Nähe werden wir auch übernachten, in einem Feriendorf, alles aus Holz. Sonntagabend gibt es eine Party irgendwo. Montagmorgen habt ihr euer Konzert in der Schulaula. Und dann geht’s auch schon wieder nach Hause.«

»Das wussten wir doch alles«, sagte Per.

»Eben. Deshalb bin ich da auch weg.«

Erik unterbrach ihr Gespräch. »Wollen wir jetzt noch proben oder nicht?«

»Sicher«, sagte Per. »Ich bin bereit.«

Er zählte an – »eins, zwo, sieben, neun« –, und Schlagzeug und Bass begannen, zusammen zu spielen, in einer Lautstärke, die Gesa für einen Augenblick den Atem nahm. Wenige Takte waren es nur, die sie mehrfach wiederholten. Erik schien an seinem Basslauf zu feilen, ihn dem Rhythmus anzugleichen. So ganz passte das nicht zusammen, was selbst Gesa heraushören konnte. Für Bässe hatte sie sich allerdings immer schon begeistert. Wäre sie musikalisch gewesen, hätte sie als Instrument mit Sicherheit den E-Bass gewählt. Vor einiger Zeit, als sie ein Stück im Radio gleich nach den ersten Basstönen erkannt hatte, was ihr sonst nie gelang – etwas von Police war es gewesen –, war ihr aufgefallen, dass sie unbewusst stets auf den Bass achtete. Für sie war er beinahe so wichtig wie der Text. Erik versuchte sich, zusehends verzweifelter, an einer Tonfolge, die zusammen mit dem Becken gespielt werden musste. Immer wieder kam er nach wenigen Tönen raus.

»Kacke«, sagte er irgendwann, und Per hielt inne. »Da verknoten sich mir die Finger.«

Mit einem Mal hörte Gesa Toms Stimme hinter sich, dumpf und undeutlich. Sie kam aus den Boxen, die auf den Ecktischen standen. »Wir spielen es einfach noch einmal durch«, sagte er. Er sprach in ein Mikrofon, und an der Art, wie die anderen auf seine wenigen Worte reagierten, erkannte Gesa, dass er die Band offenbar leitete.

Anne legte ihren Block weg, erhob sich und blickte zu ihm hin. »Von wo denn?«

»Von vorn«, sagte Tom, wieder durchs Mikrofon.

Dann war auch seine Gitarre zu hören, die Lautstärke baute sich in Sekunden auf, schwoll an, um sogleich voll da zu sein. Es fiepte aus seinem Verstärker. Das gehörte schon zum Stück. Per schlug gegen die Becken, Eriks Bass dröhnte dazu. Dann setzten alle ein, und Gesa presste ihre Hände flach auf die Ohren. Die Musik klang nun abgedämpft und so, als würden alle mit einem Mal etwas tiefer spielen. Die einzelnen Geräusche aus den unterschiedlichen Richtungen konnte Gesa kaum auseinanderhalten. Sie musste die Instrumente ansehen, um ihnen die Töne zuzuordnen. Längere Zeit blickte sie auf die Gitarre, auf Toms Handbewegungen, und auf einmal fiel ihr ein, wann sie ihn das erste und bislang einzige Mal hatte spielen sehen.

In der Turnhalle war das gewesen, vor einigen Jahren, zur Einschulungsfeier eines neuen Jahrganges. Sie selbst war als Mitglied der Theater-AG dabei gewesen, die ein kleines Stück aufführen sollte, eine Szene aus der Feuerzangenbowle – Pfeiffer mit drei f, ’ne Dampfmaschin –, und ihre Aufgabe hatte darin bestanden, an einer Stelle um die Ecke zu schauen, unschuldig zu gucken und den Jungs zuzuwinken. Das war schon alles gewesen. Die neuen Schüler saßen andächtig auf ihren Plätzen und lachten brav, wenn ihre Eltern lachten. Gleich nach ihrer Aufführung war als Abschluss der Veranstaltung die neu gegründete Schulband angekündigt worden, die extra für diesen Anlass drei Stücke einstudiert hatte. Unter Beifall traten die Bandmitglieder auf – hauptsächlich Leute aus ihrem Jahrgang: Per, Erik, die üblichen Verdächtigen –, aber dann erkannte sie auch Tom an der Gitarre. Das verblüffte sie. Obwohl sie sich mehrmals im Jahr auf gemeinsamen Feiern der Eltern begegneten, zu Geburtstagen, zu Silvester, hatte Gesa nicht gewusst, dass Tom Gitarre spielte.

Als einziges Bandmitglied stand Tom seitlich zum Publikum. Womöglich versuchte er so, seine Gesichtsröte zu verbergen, die Gesa noch aus der hintersten Reihe auffiel. Nie blickte er auf seine Gitarre; seine Finger spielten, während er zu Boden oder zu Wilsto schaute, der an der Seite stand und bemüht unauffällig bei den Einsätzen half. Die Stücke waren Gesa nicht im Gedächtnis geblieben, Schulbandmusik: Sag mir, wo die Blumen sind, Knockin’ on Heaven’s Door, so was. Sie erinnerte sich lediglich an Tom, an seine schmale Gestalt von der Seite, und wie er einmal abtauchte, mitten im Stück, in der Hocke nach etwas auf dem Boden suchte, um dann erneut einzusetzen. Hinterher gab es angemessenen Beifall und Rufe nach einer Zugabe, woraufhin die Band eins der zuvor gespielten Stücke wiederholte.

Während des Abbaus traf Gesa dann hinter der Bühne auf Tom. Er war gerade damit beschäftigt, Kabel einzurollen, und seine Gitarre hing noch immer über seiner Schulter.

»War das dein erstes Konzert?«, fragte sie.

»Das erste Mal, ja«, sagte er, und sie musste über die unschuldige Art lachen, mit der er das herausgebracht hatte.

»War doch gut.«

»Danke.«

Sie blickte auf seine Gitarre, sah noch einmal genauer hin, bevor sie sagte: »Da ist ja Blut.«

»Was?«

»Da.« Sie zeigte hin. »Auf deiner Gitarre.«

Es waren winzige, vereinzelte Spritzer, die sich unter den Saiten verteilt hatten. Auf dem weißen Untergrund war das genau zu erkennen.

»Oha.« Er starrte auf seine Hand. Auch dort Blut. An mehreren Fingern war die Haut eingerissen, Zeige- und Mittelfinger bluteten noch. »Ich hab beim Spielen mein Plektron verloren und … nicht wiedergefunden.«

»Hast du denn nichts gespürt? Das muss doch wehgetan haben.«

»Weiß nicht.«

Sie reichte ihm ein Taschentuch, das er sich um die Finger wickelte. Unbeholfen wischte er mit der verbundenen Hand über die Gitarre, aber die Blutspritzer waren bereits getrocknet.

»Geh du dir erst mal die Hände waschen und hol dir Pflaster«, sagte Gesa. »Und auf dem Rückweg bringst du Toilettenpapier mit. Ich schau solange, was ich hier tun kann.«

»Klar«, sagte er, nahm die Gitarre ab und lehnte sie gegen den Verstärker. »Klar.«

All das fiel Gesa mit einem Mal wieder ein, nicht nur als Erinnerung, sie konnte es bildlich vor sich ablaufen sehen. Ob die Gitarre, die Tom spielte, noch die gleiche war wie damals? Jedenfalls war es auch jetzt eine schwarz-weiße Stratocaster. Im Musikunterricht hatten sie das Wort einmal gelernt, in Instrumentenkunde, als es um »moderne Instrumente« gegangen war, und sie hatte es tatsächlich nicht wieder vergessen. Während Tom spielte, konzentriert, immer im Blickkontakt mit Per, sah sie sich vor seiner Gitarre sitzen, damals, auf den Knien, ein mit Spucke befeuchtetes Taschentuch in der Hand, mit dem sie über die Blutspritzer wischte. An die Farbe, die das Tuch nach und nach annahm, konnte sie sich genau erinnern: Hellrot, fast Rosa.

Die Band hielt überraschend inne, und alle sahen zur Tür, die sich geöffnet hatte. Aga schaute herein, ihr Blick blieb an Tom hängen, und sie sagte: »Entschuldigung, bitte.« Sie zögerte. »Alle sind schon in die Stadt gegangen. Wir müssen langsam hinterher? Ich führe euch? Tak?«

»Klar«, sagte Tom.

Erik fluchte. Er war mehr als unzufrieden mit seiner heutigen Leistung und drückte verärgert auf einen Schalter an seinem Verstärker.

»Das wird schon«, sagte Tom zu ihm. »Wir haben morgen Abend ja noch eine Probe in diesem Feriendorf.«