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Immer wieder verschwinden Kinder - ausschließlich Jungen - und die Polizei tritt auf der Stelle. Erst, als der abgehalfterte Ex-Star der Polizei, Frank Girot, Daniel und seiner Freundin Hannah begegnet, kommt Bewegung in die Sache - denn Daniel kann durch die Zeit sehen. Schnell aber sind Girot, Daniel und Hannah im Visier eines skrupellosen Kinderschändernetzwerks - und während eine junge Liebe entsteht, ziehen am Horizont der Zukunft dunkle Wolken auf...und das Trio kämpft nicht nur gegen eine Seite des Gesetzes. Ein dunkler Thriller voller Verrat, Liebe und Verlust.
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Seitenzahl: 626
Veröffentlichungsjahr: 2024
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ECHO
Ralf Brandt
Roman
Eigenverlag
Covergestaltung via ideogram.ai
© 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Meiner Mutter gewidmet
Allen Müttern gewidmet.
Erster Teil
Verlorene Jungs
Das Leben ist kurz, weniger wegen der kurzen Zeit, die es dauert, sondern weil uns von dieser kurzen Zeit fast keine bleibt, es zu genießen.
(Jean-Jacques Rousseau)
21. November
1
Der Mann saß in einem silbergrauen Mercedes. Regen prasselte auf das Autodach und der Wind wehte pfeifend um die Karosserie, draußen herrschten keine fünf Grad und jeder, der es irgendwie einrichten konnte, versuchte, diesem Wetter so schnell als irgend möglich zu entkommen. Trotzdem saß der Mann seit über einer Stunde in seinem Auto, den Motor ausgeschalten, obwohl das bedeutete, dass auch die Heizung nicht lief.
Der Mann trug einen Anzug, der ebenfalls silbergrau, nur ein paar Nuancen dunkler als sein Wagen war, darunter ein schwarzes Hemd nebst passender Krawatte. Vor der Kälte schützte ihn ein anthrazitfarbener langer Mantel mit Bronzeknöpfen, in den sich der Mann tief zurückgezogen hatte, um der eindringenden Kälte Paroli zu bieten. Wagen und Mann sahen sehr gepflegt aus. Der Mercedes wies trotz des Wetters kaum einen Spritzer Matsch auf, der Innenraum war von jedem Staubkorn befreit und die Holzvertäfelung an den Innentüren und am Armaturenbrett war kratzerfrei und poliert. Der Mann selbst war frisch rasiert, seine kurzen, schwarzen Haare mit den vereinzelten, wie eingewirkt scheinenden silbrigen Ansätzen waren zugleich ordentlich und doch lässig mit Wachs in Form gebracht, seine auf den Knien trommelnden Fingernägel sauber und kurzgeschnitten. Hätte man unter Mantel und Anzug sehen können, wäre einem kein überflüssiges Gramm Fett ins Auge gesprungen, nur gut trainierte Muskeln, die das Hemd gelegentlich anspannten - nicht einmal der für dieses Alter typische kleine Wohlstandsbauch wäre auszumachen gewesen.
Der Mann war tief in seinen Sitz gerutscht, tief genug, um nur dem aufmerksamen Betrachter aufzufallen - und er kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass es kaum je einen aufmerksamen Betrachter geben würde -, aber nicht so tief, dass er das Gebäude nicht mehr sehen könnte, das er im Auge hatte. Das große Haus lag fast schon idyllisch in einer Art kleiner Parkanlage, der Weg zum Haupteingang war gesäumt mit Ahornbäumen, deren Blätter inzwischen weitestgehend abgefallen und von einem fleißigen Hausmeister zusammengefegt waren. Hinter den Bäumen standen vereinzelte Hecken und kleine Bäume und dazwischen allerlei Spielgeräte: Hier eine Rutsche, dort ein Klettergerüst und dem Haupteingang am nächsten ein Schaukelgestell mit vier Schaukeln, die im Wind ungleichmäßig in alle Richtungen fliehen wollten.
Das Haus selbst war ein typischer Backsteinbau, wie es so viele dieser Art gibt, mit einer großen, zweiflügligen Tür nebst Türbogen, vielen herbstlich geschmückten Fenstern und einem Dach, dessen Ziegelrot sich nicht gut mit dem Rot der Backsteine vertragen wollte. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, waren fast alle Fenster erleuchtet, schließlich ließen die dunklen, tiefhängenden Wolken, die seit mehreren Tagen am Himmel festgenagelt und deren Wasservorräte endlos schienen, nur eben genug Licht durch, dass die Vögel am Morgen noch erwachten und ihr Tagwerk verrichteten. Und so deprimierend die Außenwelt auch schien, dieses beleuchtete Haus umgab eine Aura des Lebens und der Freude, selbst der ernste, verwaschen steinerne Schriftzug »Grundschule« über der geschwungenen Pforte konnte nicht davon ablenken, dass hier gelacht, getobt und gespielt wurde.
Der Mann sah dies alles aufmerksam an, genauso, wie er es in den letzten Wochen immer wieder angesehen hatte. Tag für Tag, aber in immer unterschiedlichen Fahrzeugen (die meisten von AVIS oder Hertz, heute war er endlich und zum ersten Mal in seinem eigenen Auto hier - auch wenn es nicht seine Nummernschilder waren, die vorn und hinten angebracht waren) von immer unterschiedlichen Stellen aus. Nervös schaute er auf die Uhr des Mercedes. Es war fünf Minuten vor zwei. Noch fünf Minuten, bis die Klingel einem weiteren Tag ein Ende machte, noch fünf Minuten, bis die Kinder herauskamen und entweder von ihren Eltern abgeholt werden würden oder sich selbst auf den Heimweg machten.
Er hatte nicht vor, Kevin hier schon anzusprechen. Zu viele Zeugen, zu viele Möglichkeiten. Er kannte den Heimweg des Jungen und wusste genau, wo er ihn erwischen wollte. Was er nicht wusste, wessen er sich absolut sicher sein musste, war, dass der Junge auch wirklich da war. Dass er auch wirklich den üblichen Heimweg nehmen würde und nicht etwas sein Vater ihn abholen würde, wie es in den letzten drei Wochen zweimal geschehen war. Das wäre das Ende seines Planes, und er wusste, es musste heute sein oder nie. Er fühlte sich langsam unbehaglich, trotz der vielen Vorsichtsmaßnahmen beobachtete er diese Schule und Kevin schon sehr lange und es würde das Glück zu sehr herausfordern, hier noch länger zu bleiben.
2
Als er die Schulklingel dumpf durch die geschlossenen Scheiben des Mercedes hörte, richtete sich der Mann etwas auf und sah klopfenden Herzens zur Tür. Dutzende Kinder kamen lärmend und lachend den Weg entlang gestürmt und fächerten sich nach dem Gartentor nach rechts und links und geradeaus und auf die wartenden Eltern hinzu auf. Der Mann schaute angespannt auf den Weg, der nach links wegführte, dort würde Kevin seiner Erwartung nach abbiegen, wenn er Richtung seines Elternhauses wollte. Er fühlte, wie ihm der Schweiß an den Seiten und am Rücken entlanglief als sich die Reihen der Kinder lichteten und Kevin noch immer nicht zu sehen war. Gerade, als er begann zu fürchten, dass all seine Bemühungen in den letzten Wochen umsonst gewesen sein könnten, schlenderte der Junge müßig aus dem Schulhaus und den Parkweg entlang. Seine Tasche trug er in einer Hand und ließ sie immer wieder gegen sein rechtes Knie fallen, mit welchem er die Tasche tretend malträtierte. Sein rotgrüner Schal hing sehr weit aus seinem blauen Parka heraus und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der deutlich sagte, dass dies alles war, aber nicht sein Tag.
Er bog nach links ab, wie erwartet, trat trotzig in jede Pfütze, die er finden, ruinierte sich Turnschuhe und Jeans, und trottete so ohne jede Eile die Straße entlang.
Der Mann lächelte und atmete mit einem Seufzer, dessen er sich gar nicht bewusst war, tief aus. Nun, da es doch schien, als ginge alles seinen Gang, fiel jede Nervosität von ihm ab, bemächtigte sich seiner eine tiefe und kalte innere Ruhe. Er ließ den Mercedes an und fuhr gemächlich in eine Seitenstraße, die parallel zum Laufweg des Jungen führte. Er beschleunigte etwas und bog drei Kreuzungen später in eine weitere Seitenstraße ab, in der der Junge ein paar Minuten später auftauchen müsste. Er holte seine Ausrüstung vom Rücksitz und schaute gelassen in den Rückspiegel, während er darauf wartete, mit der Show beginnen zu können.
Der Mann freute sich auf Kevin, obwohl er nicht einmal wusste, wie der Junge wirklich hieß. Er nannte ihn einfach Kevin, weil er fand, dass er wie ein Kevin aussah. Er hatte in den letzten Wochen den Weg des Jungen immer weiter nachverfolgt, jeden Tag nur ein kleines Stück, damit Kevin keinen Verdacht schöpfen konnte, hatte ausgeharrt, gewartet und beobachtet - und heute sollte der Tag sein. Die Straße war mit Bedacht ausgewählt, so oft er hier stand, nie hatte er um diese Zeit einen anderen Menschen gesehen, außer Kevin nicht einmal andere Kinder, die von der Schule kamen. Und so schlug sein Herz umso höher, als er im Rückspiegel einen braunen Lieferwagen hinter sich halten sah. UPS, ausgerechnet heute! Der Mann sank in seinen Sitz zurück, versuchte, sich unsichtbar für den Lieferanten zu machen, der ungeduldig vor einer Tür stand, die nicht geöffnet wurde und verfluchte ihn innerlich in jeder ihm bekannten Sprache, einschließlich des Wichsers, der das Paket bestellt hatte und das Arschloch, das das Paket so aufgegeben hatte, dass es genau heute genau hier ankommen musste. Der Mann zwang sich, tief und langsam zu atmen, er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und fürchtete, zutiefst verdächtig auszusehen, sollte der Lahmarsch von UPS-Mann zufällig einen genaueren Blick in das Auto vor ihm werfen.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, klebte der fast schon faschistoid braun eingekleidete Lieferant einen Zettel an die Tür (sicherlich mit einer bekloppt fröhlichen Nachricht wie »Ihr freundlicher UPS-Lieferservice hat Sie heute leider nicht antreffen können...« oder etwas ähnlich Infantilem), trug das lächerlich kleine Päckchen zurück in den Lieferwagen und fuhr an ihm vorbei und ein paar hundert Meter weiter vorn um eine Ecke - natürlich ohne zu blinken, Lieferdienst eben.
Keine Minute später sah der Mann, der sich eben wieder aufgerappelt hatte und noch dabei war, seine Gedanken wieder in geordnete und vor allem ruhige Bahnen zu lenken, im rechten Außenspiegel den Jungen in die Straße biegen. Der Mann atmete tief durch, haderte kurz mit sich, ob er nicht doch einen anderen Zeitpunkt wählen sollte und entschied nach einem weiteren Blick in den Rückspiegel, dass es heute sein musste. Dass es genau jetzt sein musste.
3
Er faltete den Stadtplan, der die ganze Zeit geduldig auf seinem Schoß gelegen hatte, hastig auseinander und behielt den Jungen im Rückspiegel im Auge, der immer noch gegen seine Tasche tretend und immer noch mit grimmigem Gesichtsausdruck langsam näherkam. Als Kevin den Mercedes passierte, ließ er - wieder ganz die Ruhe - das elektrische Fenster der Beifahrertür hinab gleiten.
»Hey, Junge! Hey, du, kannst du mir bitte kurz helfen?«
Der Junge fuhr ärgerlich herum, in seinem Gesicht spielte sich ein kurzer Kampf ab, ob er einfach weitergehen sollte oder nicht, der autoritäre Klang in der Stimme bewegte ihn aber doch dazu, sich dem offenen Fenster zu nähern und fragend in das Auto zu schauen.
»Was denn?«, fragte er.
»Ich glaub, ich hab mich total verfahren«, sagt der Mann in dem großen Auto ganz verlegen, »wo in aller Welt bin ich hier?«
Der Mann sagte das mit einer genau abgepassten Mischung aus Verzweiflung und bitterer Belustigung, einem Tonfall, der dem Kind klarmachen sollte: »Was bin ich doch für ein Riesen-Vollidiot!«, der genau das bewirkte, was er bewirken sollte: Der Junge grinste.
»Sie sind in der Birkenstraße«, meinte der Junge, der sich an das Fenster lehnte und den offensichtlich verzweifelten Mann, dem schon Schweißperlen auf der Stirn saßen, leicht spöttisch ansah.
»Birke, Birke...«, murmelte der Mann und hielt den übergroßen Stadtplan ungelenk vor seinem Mantel. »Ich sehe hier keine Birkenstraße...«
Der Junge beugte sich etwas durch das Fenster und versuchte, erwartungsgemäß, einen Blick auf die Karte zu erhaschen, die durch ihre vielen Falze und Kniffe schon von Natur aus völlig verknittert war.
»Du musst dich nicht so verrenken, mein Junge...ich bin dir sehr dankbar, dass du mir helfen möchtest, du darfst dich auch gern mit reinsetzen!«, murmelte der Mann in einem, wie er hoffte, recht unbeteiligtem Tonfall, während sein Blick weiter suchend über den Stadtplan glitt.
»Mein Vater meint, ich soll nie zu Fremden ins Auto steigen«, gab der Junge zu bedenken und schaute unschlüssig auf den Mann.
Dieser drehte sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu dem Jungen und ließ den Ansatz eines Lächelns seine Mundwinkel umspielen. »He, das sollte nur ein Angebot für deine Bequemlichkeit sein...ich wollt dir auch keine Schokolade oder so anbieten, um ehrlich zu sein, hätte ich nicht mal Schokolade da.«
Das Kind kicherte, noch immer unschlüssig.
»Hör mal, du kannst auch da draußen im Regen stehen bleiben, ich dachte nur, hier ist es trocken und im Sitzen auch bequemer...«
Der Junge überlegte kurz, sah dem Mann in das wohlgeschnittene Gesicht, das schon wieder suchend über der Karte zu brüten schien, sah nichts Böses dort und öffnete die Tür, um sich in den Beifahrersitz zu setzen.
»Geiles Auto haben Sie«, staunte er, als er die Holzvertäfelung und den Bordcomputer sah.
Der Mann drehte sich kurz zu dem Jungen und lächelte.
»Danke, hat mich auch eine ordentliche Stange Geld gekostet. Wie heißt du, mein Junge?«
»Cal.«
»Von Calvin?«
»Ja, genau.«
Der Mann lächelte in sich hinein. ›Da war ich ja ganz nah dran‹, dachte er. Unauffällig betätigte er mit der linken Hand den Verriegelungsmechanismus des Mercedes. Der Junge beugte sich etwas über die Karte und suchte nach einem bekannten Punkt.
»Da!«, sagte er, »hier sind wir, das ist die Birkenstraße!«
Der Mann folgte dem Finger des Kindes mit seinem eigenen, genoss die kurze Berührung ihrer Fingerspitzen und lächelte den Jungen an.
»Okay, und von hier aus muss ich zum Rathaus.«
Der Junge aber interessierte sich nicht mehr für die Karte, sondern schaute wieder auf die Mittelkonsole.
»Hat das Ding da nicht ein Navigationsgerät, Mister?«
Das Navi, verdammt!
Der Mann drückte den Anlasser, schaltete das automatische Getriebe auf »D« und löste die Handbremse. Der Junge - Calvin, nicht Kevin - griff ruckartig zum Türgriff und musste feststellen, dass er gefangen war. Der Mann gab Gas und die Angstschreie des Kindes wurden vom Dröhnen der aufheulenden gut 260 Pferde unter der Haube des Autos völlig verschluckt.
16.November
1
»Das gibt es nicht!«
Das war ihr einziger, ihr beherrschender Gedanke, als sie wieder aus der kleinen Kammer stieg, die ich mit Bettlaken und Tischdecken stümperhaft gebildet hatte.
Ihre Augen schauten mich mit einer Mischung aus kindlichem Staunen, ungläubigem Entsetzen und einem Quäntchen von Angst an. Sie rührte sich eine lange Weile überhaupt nicht und war doch mit dem ganzen Körper in Bewegung. Sie zitterte wie das buchstäbliche Espenlaub in einem Herbststurm, ob vor Panik oder vor Erregung wusste ich nicht. Ich konnte mich selbst ob dieser unerwarteten Reaktion einen Moment lang kaum rühren, ich konnte sie nur ansehen, wie sie da, keinen halben Meter von mir entfernt, stand und mich ebenfalls anstarrte. Wie nach jedem Trip nahm ich jedes Detail, jede Farbe und jede Bewegung viel intensiver wahr als sonst, die ebene, zarte Haut ihres Gesichtes, das viel jugendlicher wirkte als es mit seinen knapp 30 Jahren hätte dürfen, das sanfte Beben ihrer bemerkenswert schönen Brüste, nur ein wundervoller Teil dieses Körpers, dem man nie geglaubt hätte, dass er einst eine Schwangerschaft hinter sich hatte, das Funkeln ihrer fast flaschengrünen Augen unter dem glatt geschnittenen haselnussbraunen Pony - jedes Detail an ihr wurde mir in den paar Sekunden, in denen keiner von uns beiden zu einer Bewegung fähig war, wunderbar und unauslöschlich ins Hirn geprägt. Ich hätte mich in diesem Augenblick in sie verlieben können, wäre ich es nicht schon längst gewesen.
»Du könntest mich beim Duschen beobachten...«
Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen. Nicht lüstern, nicht hämisch, sondern weil dieser Gedanke so wundervoll egozentrisch war. Ich machte einen Schritt auf sie zu und zog ihren immer noch zitternden Körper an mich, legte meine Hand an ihren Hinterkopf und drückte sie fest an mich. Sie ließ es geschehen und ich spürte, wie sie langsam, aber nachdrücklich den Kopf schüttelte und versuchte, wieder einen klareren Gedanken zu fassen als den, den sie gebetsartig mehrmals vor sich hingesprochen hatte.
Schließlich löste sie sich von mir (was ich mit einigem Bedauern zur Kenntnis nahm, für mich war die Erfahrung aus Gewohnheitsgründen ja längst nicht mehr so aufwühlend und sie an meiner Brust zu spüren war viel intensiver als der sehr kurze Trip, den wir gemacht hatten), trat einen Schritt zurück, wobei sie aber meine Hände hielt und fast schmerzhaft drückte und schaute mich mit diesen wundervollen, immer noch weit aufgerissenen Augen an.
»Habe ich das wirklich gesehen gerade?«, fragte sie sehr leise und lies meine Augen nicht aus ihren.
»Hannah, das hast du«, antwortete ich, immer noch lächelnd, »glaub es oder nicht, aber das hast du.«
Eine ihrer Hände ließ mich los und wanderte zu ihrem Kopf, wo sie leicht durch das mit frech eingestreuten fast goldenen Highlights versehene Haar fuhr und die Ordnung der Frisur, die am Hinterkopf in einem Pferdeschwanz endete, durcheinanderbrachte.
Ich konnte ihr ihre Reaktion nicht verübeln. Das Programm lief nur ein paar Minuten, da flehte sie mich an, zurückzukehren, aufzuhören, und natürlich erfüllte ich ihr diesen Wunsch. Und mit knapp sechs Minuten hatte sie deutlich länger durchgehalten als ich bei meinem ersten Trip - nur die Ohnmacht, die mich zu Boden schickte, sorgte dafür, dass ich länger geblieben bin.
Ich zog sie leicht an der Hand, die immer noch in meiner lag, Richtung Sofa, drückte sie sanft, aber bestimmt in die Kissen und gab ihr einen sanften Handkuss.
»Ich bring dir jetzt erst einmal eine Cola, dann reden wir.«
Und bevor sie auch nur die Chance hatte, zu antworten, war ich schon in die Küche entschwunden und atmete tief durch. Das leise Prasseln des andauernden Regens sollte mich beruhigen, tat es aber nicht. Mir war ein wenig übel, daher setzte ich mir noch einen Tee auf und die Menge an Tropfen heißen Wassers, die neben der Tasse landeten, verrieten auch meine Aufregung. Fünf Jahre bin ich mit diesem Geheimnis schwanger gegangen, nicht meine Eltern, nicht meine Freunde, nicht irgendwelche Behörden - niemand wusste auch nur im Entferntesten, was ich gefunden hatte, welche Entdeckung mir Zufall und ein wenig Programmierkenntnisse geboten hatten, und nun saß die Frau, die eindeutig nicht meine Freundin war, obwohl sie es (in meinen Augen) hätte sein sollen, auf meinem Sofa, versuchte zu verstehen, was ihre Augen ihr gezeigt hatten und war sich vermutlich noch gar nicht bewusst, was dieses Gesehene eigentlich bedeutete. Und ich kam erst langsam zur Erkenntnis, welche Verantwortung ich ihr jetzt auferlegen musste - welches Schweigen.
2
Ich trug die kalte Cola und meinen dampfenden Tee zurück in mein kleines Wohnzimmer und erstarrte kurz in der Tür, als ich zum Sofa blickte. Sie war weg. Der Platz, auf dem ich sie zurückgelassen hatte, war leer. Ich spürte eine leichte Panik in mir aufsteigen und mein Kopf begann sofort einen Notfallplan zu erstellen, wie ich sie am schnellsten erreichen könnte, wie ich sie am sichersten davon abbringen könnte, herumzuerzählen, was vor nicht ganz einer halben Stunden geschehen war.
Ich überlegte, wo ich mein Handy gelassen hatte, in dem ihre Nummer eingespeichert war (noch vor 10 Jahren hätte ich die Nummer auswendig gewusst, aber die Zeiten, in denen man Telefonnummern im Kopf statt im Handy speichert, sind eindeutig vorbei), wollte mich gerade umdrehen, da ich meinte, es in der Küche gesehen zu haben, als sie vor mir stand.
Das Ergebnis war erwartungsgemäß - heißer Tee ergoss sich aus der Tasse, die meine erschreckte Hand nicht mehr gerade halten konnte, über ihr weinrotes Top und auf meine Füße und von da aus in den ohnehin unrettbar fleckigen, ursprünglich mausgrauen Velourteppichboden. Hannah selbst quiekte erschreckt in einer Oktave, die sie bei allem Stimmtraining nicht bewusst hätte erreichen können, machte einen schnellen Satz rückwärts, mit den Kniekehlen an die Tischplatte und setzte sich sehr ungraziös auf das Holzbrettchen mit dem halben Sandwich, das mein Mittagessen dargestellt hatte und vor lauter Aufregung über ihren Besuch (und den Grund ihres Besuches) weder aufgegessen noch weggeräumt war.
Ich stand noch immer im Türrahmen, mit nasser Hose und der Teetasse auf halb acht, sie saß, obenherum durchweicht, im Sandwich auf meinem Wohnzimmertisch und so blickten wir uns an. Ich hätte es nicht besser planen können. Wie auf Kommando fingen wir beide an zu lachen, ich ließ die Tasse fallen und hielt mir den Bauch, sie rutschte vergnügt auf den Resten meines Mittagessens herum und kicherte wie irr und ich fühlte die Anspannung der letzten Minuten förmlich physisch von mir abfallen und konnte sehen, dass es ihr genauso ging. Sie sah mich mit Tränen in den Augen an, die Wangen gerötet, blickte auf die ordentlich stehend gelandete Tasse und wieherte wieder los, ich betrachtete laut lachend die Mayonnaise, die unter ihrem Po hervorquoll und konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten - wäre der Türrahmen nicht in greifbarer Nähe gewesen wäre ich hilflos auf den Knien gelandet und hätte mich in einer stehenden Pfütze lauwarmen Kräutertees gewälzt. Allein die Vorstellung verschlimmerte den Lachanfall noch und ich spürte, wie mir die Tränen in Sturzbächen über die Wangen liefen und mein Zwerchfell versuchte, meinem Körper zu entfliehen bevor es noch mehr Qualen zu erleiden hätte.
Ich torkelte wild lachend in die Küche, schnappte mir zwei Geschirrtücher und hielt sie unter den kalten Wasserstrahl der Spüle. Ein Handtuch presste ich mir sofort in mein überhitztes Gesicht, das andere trug ich ins Wohnzimmer und reichte es Hannah. Dankbar nahm sie es, bedeckte ihr ganzes Gesicht damit, und allmählich ging auch ihr Lachen in ein Kichern über, während sie sich die rechte Hand an den Bauch hielt, der vermutlich genauso schmerzte, wie meiner es tat.
Ihr Kichern ging in einen Schluckauf über, der sie wiederrum zum Kichern brachte, und ich konnte sehen, wie sie mit sich kämpfte, die Contenance wiederzuerringen. Sie legte sich das nasse Handtuch ins Genick und schaute mich mit gespielt ernster Miene (schon ruiniert durch den andauernden Schluckauf) an:
»Daniel...wenn du mich aus meinen Klamotten bekommen willst hättest du dir auch einen anderen Trick ausdenken können!«
Grinsend sah ich sie an - wohl wissend, dass ihr meine Gefühle ihr gegenüber unausgesprochen doch völlig klar waren - und erwiderte: »Warum? So wie ich das sehe stehe ich kurz vor der Vollendung meines Planes...«
Das brachte ihren Gesichtsausdruck wieder zum totalen Einsturz, sie kicherte wieder los und schlug sich das Handtuch beinah ins Gesicht.
»Bitte...nichts mehr zum Lachen...ich kann nicht mehr«, japste sie zwischen ihren Hicksern, »bring mir irgendwas zum Anziehen und zieh dir auch eine neue Hose an, das hält ja kein Mensch aus, wie du rumläufst!«
Ich war der festen Meinung, trotz nassen Flecks auf der Hose immer noch anständiger als sie auszusehen, behielt ihrem Zwerchfell zuliebe diese Ansicht jedoch für mich und kramte aus meinem Kleiderschrank eine Trainingshose und ein T-Shirt für sie heraus.
»Ich fahr dich dann nach Hause«, versprach ich ihr, als sie die Klamotten skeptisch beäugte, »für jetzt wird's gehen und rumlaufen musst du so nicht.«
3
Ich ging ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen und ihr die Zeit und Privatsphäre zu geben, ihrerseits die Kleider zu wechseln. Die durchnässte Jeans und Boxershort trug ich ins Badezimmer und warf sie direkt in die Waschmaschine. »Willst du irgendwas einweichen?«, rief ich ihr von dort aus zu.
»Nicht nötig«, schallte es zurück, »aber ich könnte eine Plastiktüte brauchen für die Klamotten. Und wage es nicht zu lachen, wenn du mich siehst!«
Schon beim Gedanken daran musste ich wieder lächeln und gab zurück: »Ich tu mein Bestes, kann aber nichts versprechen.«
Ich hörte ein Kichern aus dem Wohnzimmer, schloss die Waschmaschine und ging ins Wohnzimmer zurück. Lachen musste ich nicht, aber das Grinsen in meinem Gesicht fühlte sich wie an die Ohren geheftet an. Der Anblick war aber auch zu niedlich: Hannah saß auf meinem Sofa in meinem für sie viel zu großen schwarzen Metallica-Shirt, mit meiner Trainingshose, die unvorteilhaft und trotzdem - oder gerade deswegen - unglaublich sexy an ihr aussah und völlig wirrem Haar. Ich spähte auf den Klamottenhaufen neben dem Tisch, offenbar war auch ihr BH zu nass, denn jener - rot, mit Spitze und Transparentträgern - lag obenauf. Sie sah meinen Blick, errötete bis zu den Haarwurzeln und nuschelte: »Sag nichts!«
Ich schluckte einmal kräftig, um mir jeden möglichen Macho-Kommentar zu ersparen, der die Stimmung möglicherweise verdorben hätte, packte ihren Kleiderhaufen in die alte Woolworth-Tüte und ließ mich seufzend neben sie aufs Sofa fallen.
Ich drehte meinen Kopf nach rechts in ihre Richtung, blickte in ihr wunderschönes Gesicht, welches bezaubernd rotfleckig und tränenverschmiert war (ein bisschen Spaß ist offenbar Gift für jeden Mascara) und versuchte, das Kichern sein zu lassen. Sie blickte mir unverwandt zurück in die Augen, den Mund leicht geöffnet und ich hatte praktisch keine andere Wahl als sie in meine Arme zu ziehen und meine Lippen mit ihren verschmelzen zu lassen.
Wie sich zeigte, hatte ich doch noch genug Kraft.
4
Ich traute mir kaum, die Augen wieder zu öffnen.
Es war ein Gefühl, wie in einem Traum zu wandeln. Als ob alles, was um mich herum geschah, nicht wirklich passierte und nur Teil einer Inszenierung war, in der mir eine Nebenrolle zugedacht wurde.
Ich war nie, was man einen Frauenheld nennen würde, einfach weil ich nie das war, was man einen Frauentyp nennen würde. Ich verfügte nicht über nennenswerte Muskeln (dafür auch nie über nennenswerte Fettreserven, meinem Körper war es egal, wie er sich versorgte, Hauptsache es war reichlich genug, meinen unruhigen Geist zu versorgen, und so wurden unnötige Muskeln ebenso schnell aufgezehrt wie überflüssiges Fett), ich hatte dünnes, schütteres Haar, welches schon zum Ende der Pubertät erste graue Strähnen produzierte. Wenn ich versuchte, mir einen Dreitagebart wachsen zu lassen sah ich nicht cool aus, sondern mitleiderregend, kurz: Ich verfügte nie über ein körperliches Merkmal, das die Damenwelt zu einem zweiten Blick veranlasst hätte. Dabei hatte ich nie Probleme damit, Frauen anzusprechen oder emotional für mich zu gewinnen - dummerweise ist der Weg ins Herz einer Frau noch lange nicht der Weg ins Bett einer Frau, und so schmachtete ich seit früher Jugend wieder und wieder im Bester-Freund-Status. Und ist der erst einmal erreicht, ist die sexuelle Komponente praktisch ausgeschlossen. Entsprechend überschaubar war die Anzahl meiner festen Partnerschaften (dafür hielten diese auch grundsätzlich lange), ebenso wie die Anzahl der Frauen, mit denen ich im Bett war.
Ein Erlebnis, das ich noch nie hatte, war jedenfalls, eine Frau dazu zu bekommen, mit mir einfach nur der Lust, des Sexes wegen zu schlafen.
Umso unwirklicher erschien mir der Anblick, als ich mich endlich überwinden konnte, meine während des Orgasmus geschlossenen Augen zu öffnen. Aber da war sie. Hannah saß immer noch auf mir, schaute mich mit funkelnden, feuchten Augen an, die Mundwinkel zu einem zarten Lächeln nach oben gezogen, in hinreißender Nacktheit. Meine Hände glitten über die samtweiche Haut ihres Rückens, ich spürte jedem darunter liegenden Wirbel nach und hoffte, dass das Grinsen, welches ich in meinem eigenen Gesicht spürte, nicht gar zu dämlich aussah. Sie beugte sich nach vorn, gab mir einen Kuss auf die Nase und legte ihren Kopf dann an meine Schulter, mit dem Mund an meinem Ohr und flüsterte nur: »Danke«.
Ich erschauerte leicht als ihr Atem mich da kitzelte und drückte sie kurz an mich.
»Brauchst du eine Zahnbürste für heut Abend?«, fragte ich sie leise und hoffte, dass sie den Wunsch, mit ihr die Nacht zu verbringen, daraus würde ableiten können.
»Ich kann nicht«, erwiderte sie, und so sehr ich mir das Gegenteil gewünscht hätte, so sehr freute mich das echte Bedauern, das ich in ihrer Stimme hören konnte. »Ich muss Jonas abholen und kann ihn ja wohl schlecht mit hierherbringen.«
»Zwischen dir und Boris läuft es wohl nicht so gut?«, erkundigte ich mich, worauf sie ihr Gesicht zu mir drehte und mich mit einer fast unheimlichen Mischung aus Verbitterung und Belustigung ansah.
»Was glaubst du?«, fragte sie mich und ließ die Hand, die nicht die Zigarette hielt, sanft über meinen Bauch gleiten, »denkst du, ich würde hier mit dir liegen, wenn es auch nur den Hauch einer Chance gäbe, dass diese Ehe noch zu retten wäre?«
Ich schaute auf den Ring an der Hand, die nur wenige Zentimeter über meinem nackten Penis lag und schüttelte leicht den Kopf.
Natürlich hatte ich bereits Gerüchte gehört, und auch Hannah selbst hatte es verschlüsselt bereits anklingen lassen, dass ihr inzwischen fast fünfjährige Ehe nicht die glücklichste war. Da ich aber immer der Meinung war, Tratsch ist so lange Blödsinn, bis entweder ein direkt Beteiligter mir etwas erzählt oder eindeutige Ereignisse eintreten, hatte ich diese Gerüchte zwar mit leichter Hoffnung aufgenommen, sie aber nie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Nun aber lag der Beweis hier, eben noch auf und nun neben mir.
»Warum bist du dann noch bei ihm?«, fragte ich völlig naiv und bemerkte schon, als die Frage meinen Mund verließ, dass ich das nicht so unverblümt hätte in den Raum stellen dürfen.
Ihre Hand zog sich von mir zurück und sie raffte die Decke etwas über sich und blies den letzten Rauch ihrer Zigarette zur mir abgewandten Seite, bevor sie die Kippe im Aschenbecher ausdrückte.
»Tut mir leid«, sagte ich sofort und fühlte mich unbehaglich.
»Nein, ist schon gut«, widersprach sie, »ich mag mich deswegen selber nicht, daher ist mir die Frage unangenehm. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich es sonst machen soll! Solange ich noch studiere, habe ich kein Einkommen, ich werde ihm aber Jonas nicht überlassen, und kann alleine nicht mal mich selbst ernähren, vom Kind ganz zu schweigen. Und bevor es Jonas an irgendwas fehlt, verbring ich lieber noch zwei Jahre mit diesem Scheusal...«
Sie verstummte und ich sah eine einzelne Träne an ihrer Wange herabrinnen. Und ich verstand. Boris war ausstudiert und hatte eine unkündbare Stelle als Beamter bekommen. Er brachte das Geld nach Hause. Er bezahlte die Miete, das Essen, ja selbst Hannahs Studienunterlagen und die Zigarette, die sie in meinem Aschenbecher hinterlassen hatte. Ihn zu verlassen wäre ein Schritt in eine finanziell völlig unsichere Zukunft; ein Schritt, den die Frau Hannah vermutlich jederzeit gegangen wäre - und den die Mutter Hannah ihrem Kind nie antun könnte. Meine Damen, meine Herren: Ein ausgewachsenes Dilemma.
»Könnten deine Eltern nicht...?«, begann ich zögernd und legte meine Hand auf ihre.
»Ach, die haben selber kaum genug«, antwortete sie entmutigt. »Wenn ich darauf vertrauen könnte, dass er den Unterhalt anstandslos bezahlen würde, wäre das ja auch genug, aber ich bin mir sicher, ich müsste es einklagen, und wovon sollte ich solange leben?«
Ich drückte ihre Hand etwas und freute mich, als sie das Drücken erwiderte.
»Das ist ja wirklich eine ungünstige Konstellation«, meinte ich lahm.
Sie lachte bitter. »Ich sollte mir einfach irgendeinen stinkreichen Typ suchen, glaub ich...«
Ich hatte das Gefühl, mich aufsetzen zu müssen, damit der Stich in meinem Herzen nicht durch den Rücken mein Bett zerstörte.
»Ach Hannah...ich würde dir ja helfen, wenn ich könnte...«, sagte ich, wohl wissend, dass ihr klar war, dass ich das ziemlich genaue Gegenteil eines stinkreichen Typs war.
Das Lächeln, mit dem sie mich daraufhin bedachte, war süß genug, dass ich dafür einmal um die Welt gelaufen wäre, nur um es noch einmal sehen zu können.
»Du hast mir geholfen. Das war mein erster Orgasmus seit Monaten...«, sagte sie und schaute mich verschmitzt an.
Ich kicherte leise und musste einfach fragen: »Lässt du Boris nicht mehr?«
»Das ist Teil unseres Problems!«, antwortete sie, »er wollte nie!«
Mein erstauntes Gesicht muss Bände gesprochen haben.
»Jetzt schau nicht so«, lachte sie, »Boris nimmt...naja...Medikamente, und irgendwas da drin tötet scheinbar seine Libido. Ich hab wirklich alles versucht, ihn scharf zu machen, aber er bekommt ihn gewöhnlich nur hoch, wenn er sich Sachen anschaut, mit denen ich nichts zu tun haben will...«
Ich konnte ihr ansehen, dass sie jetzt auf die Frage wartete, was das für Sachen waren oder aber, was sie ihm denn angeboten hatte, aber ich schaute sie nur ruhig an und schwieg, bis sie fortfuhr:
»Diese Ehe wurde genau sechs Mal vollzogen«, konstatierte sie mit gespielter Ruhe.
»Sechs? Das...aber...«, stammelte ich zutiefst erstaunt, »und...Jonas?«
Sie kicherte leise. »Jonas ist Boris' Sohn. Dass der gezeugt wurde, ist ein Wunder, ich will gar nicht wissen, wie die Wahrscheinlichkeiten dafür standen, aber er hat die Statistik eindeutig nach Punkten geschlagen!«
Ich grinste sie breit an. »Nun denn, Madam, es war mir eine Ehre, Ihnen dieses Vergnügen zu bereiten!«, sagte ich gestelzt mit meinem besten adligen Gesichtsausdruck.
Erleichtert stellte ich fest, dass sie das wieder zum Lachen brachte und ihre Hand sich wieder auf meinen Körper stahl.
»Ein Vergnügen war es auf jeden Fall«, strahlte sie mich an.
»Okay«, bemerkte ich, »alles, was man braucht, um Hannah ins Bett zu bringen ist ein Ausflug in eine Welt, die es nicht mehr gibt!«
5
Das brachte die streichelnde Hand an meiner Brust wieder zum Erstarren. Unwillkürlich musste ich auflachen.
»Sag bloß, daran hattest du jetzt gar nicht mehr gedacht?«, fragte ich sie.
»Das hab ich wirklich nicht«, antwortete Hannah erstaunt. »Und das geht…egal wo und wann…?«
»Egal wo und wann«, bestätigte ich.
»Dann will ich mal etwas aussuchen!«
Ich schaute sie vergnügt an. »Sehr gern, ich brauche Datum, Zeit und Koordinaten, dann kann’s los gehen, wann immer du willst.«
»Beim nächsten Mal«, erwiderte sie bedauernd, »Ich muss wirklich gleich los und mein Kind versorgen und da, wo ich hinwill…nun ja, das dauert eine Weile.«
»Hannah, erinnerst du dich noch, was ich dir vorhin gesagt hab?«, fragte ich sie. »Es dauert immer vier Minuten, egal wie lange es in der Kammer dauert.«
Hannah schaute mich ungläubig an.
»Selbst wenn man, sagen wir…einen ganzen Monat erlebt?«
»Selbst wenn es zehn Jahre sind«, meinte ich, »es dauert immer vier Minuten.«
»Wie kann das sein?«, fragte sie konsterniert.
»Ich ähm…«, brachte ich stotternd zu Stande, »ich habe keine Ahnung.«
Ihre Hand kraulte vergessen über meine Brust und sie sah mir grübelnd in die Augen.
»Wenn ich dir also jetzt Datum, Zeit und den Ort sage können wir da hin und sind in vier Minuten wieder da?«
»Genauso ist es, und du musst dir nicht mal etwas anziehen, wenn du nicht möchtest«, erwiderte ich frech und strich über ihren Po.
Sie kniff mir leicht in die Brustwarze und streckte mir die Zunge raus. »Dafür hab ich auf jeden Fall nicht nochmal Zeit«, sagte sie, und fügte geheimnisvoll und leise an: »Im Moment…«
Ich lächelte ihr in das wundervolle, von ihren atemberaubenden Haaren wild eingerahmte Gesicht.
»Woher bekomme ich denn die Koordinaten?«, fragte sie mich.
»Aus jeder Navigationssoftware«, meinte ich, »gib bei Google Maps den Ort so genau wie möglich ein, da kannst du dann auch die Zahlen abfragen.«
»Okay«, rief sie enthusiastisch, »ich befrag kurz mein Handy und komm dann zu dir.«
Ich hatte den Quasi-Rausschmiss schon verstanden, neckte sie aber noch ein wenig mit der Feststellung: »Meinst du nicht, es ginge schneller, wenn ich das mache? Ich bin da inzwischen geübt drin, sag mir einfach, wo du hinmöchtest.«
»Das ist eine Überraschung«, sagte sie lakonisch und verschränkte ostentativ die Arme vor der Brust, um mir klarzumachen, dass jede Diskussion überflüssig ist. Ich drückte ihr noch einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze und holte ihr Handy aus dem Wohnzimmer.
»Verrätst du mir wenigstens schon Datum und Zeit?«, fragte ich sie, »dann kann ich den Computer damit schon füttern.«
»Nope!«, sagte sie liebenswürdig, während sie sich so drehte, dass ich nur noch ihren Rücken sah, der ihr Handy vor neugierigen Blicken abschirmte. »Das werde ich eingeben, du musst mir dann nur zeigen, wo.«
Ich verdrehte gespielt melodramatisch die Augen (was sie gar nicht mitbekam), verließ das Zimmer und stellte mit einigem Erstaunen fest, wie viel Autorität mir selbst gegenüber ich in der letzten Stunde eingebüßt hatte. Hannah sagt »So soll es geschehen!«…und so geschah es dann auch. Nicht, dass ich mir in dem Moment darüber Sorgen machte, aber ich frage mich, ob die Dinge einen anderen Lauf genommen hätten, wenn nicht meine Hormone, sondern meine Vernunft den Umgang mit dieser Frau gesteuert hätten.
6
Ich zog mir ein T-Shirt und meine Jeans über, setzte mich an den PC und startete das vorher unterbrochene Programm völlig neu. Die leeren Felder leuchteten in geheimnisvollem Gelb und ich fragte mich, was mich jetzt erwarten würde.
Ungeduldig stand ich auf, goss mir noch ein Glas Orangensaft ein und wartet auf Hannah.
Ein paar Sekunden später kam sie ins Zimmer, hinreißend nur mit meinem viel zu großem Shirt und ihrem Slip bekleidet und hielt den Zettel so gegen ihren Bauch, dass ich auch wirklich nichts erkennen konnte.
Mit einem süffisanten »Das ist aber lieb von dir!« nahm sie mir das fast unangetastete Glas Saft aus der Hand, leerte es mit drei kräftigen Schlucken, drückte mir das leere Glas wieder in die Hand (nicht ohne schelmisch dabei zu grinsen) und schaute mich fordernd an. »Wo geb ich das jetzt ein?«
Ich nahm sie an der Hand und ging mit ihr zum Computer zurück.
»Das Datum ist einfach«, meinte ich zu ihr und deutete auf die entsprechenden Felder, »die Zeit auch, du musst sie nur sekundengenau eingeben, sonst tut sich gar nichts, aber die Koordinaten gebe ich ein, die musst du mir ansagen.«
»In Ordnung«, antwortete sie, »also das stand da so da: drei, sieben, Punkt, sieben, eins, vier, fünf, acht, vier, Komma, Minus, eins, zwei, zwei,…«
»Stopp!«, sagte ich, »da musste ich das Feld wechseln, alles ab Minus nochmal bitte.«
»Okay, eins, zwei, zwei, Punkt, drei, acht, fünf, null, vier, neun.«
Ich machte große Augen. »Das ist in Amerika, oder?«
»Verrat ich nicht.«
»Du bist ein unmöglich freches Weib!«, erklärte ich ihr fröhlich.
»Ist mir bewusst«, sagte Hannah schulterzuckend, »Darauf hast du dich jetzt eingelassen, leb damit. Und jetzt sag mal, wie es weitergeht.«
Ich sammelte kurz meine Gedanken, die bei all den Bedeutungen von »darauf eingelassen« und den möglichen langfristen Auswirkungen völlig durcheinandergekommen waren, und deutete wieder auf den Bildschirm.
»Da das Datum, alle Zahlen zusammen ohne Punkt und Komma, also so, dass du dann eine achtstellige Zahl da stehen hast; und daneben die Zeit, gleiches Prinzip, Stunde, Minute, Sekunde jeweils zweistellig aneinander. Und bitte keine andere Taste drücken, gestartet wird erst, wenn wir beide bereit sind.«
Sie sah mich leicht ängstlich an, schien etwas fragen zu wollen – eventuell sogar etwas, worauf ich keine Antwort hatte, und was dazu hätte führen können, dass sie es sich anders überlegt hätte -, schluckte kurz hart und drehte sich zum Computer.
»Nicht gucken!«, befahl sie und ich drehte mich pflichtschuldigst mit dem Rücken zu ihr und inspizierte die Kammer nochmal.
Als sie zu mir kam, positionierte ich sie sanft so, dass wir beide unter der metallischen Kuppel standen, die über unserem Kopf hing. Und ich war aufgeregt. Obwohl ich diese Trips nun schon über zwei Jahre machte, war es immer wieder aufregend. Diesmal umso mehr, einerseits, weil Hannah warm und nah an mir stand (mehr Platz wäre auch nicht gewesen), andererseits, weil ich zum ersten Mal keine Ahnung hatte, wohin die Reise gehen würde.
Ich nahm mir den Kontrollblock von der Wand, legte Hannah einen Arm um die Hüften, sah ihr ins Gesicht und fragte: »Los?«
Sie küsste mich fest auf den Mund. »Los!«
Ich schloss die Augen und drückte den Startknopf.
1966
Das Erste, was mir auffiel, war die tiefstehende Sonne zwischen sehr dunklen Wolken, die mich blendete, sobald ich die Augen wieder geöffnet hatte.
Das nächste waren die vielen Autos. Wobei es weniger die Anzahl der Fahrzeuge war, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern vielmehr die Autos an sich. Europäer, der ich bin, war das größte, was ich mir an Autos vorstellen konnte, ein dicker Wagen aus den Bayerischen Motorenwerken oder ein großer Mercedes, eher gewöhnt war ich Mittelklasseautos und Kleinwagen (wie meinen eigenen Corsa). Was sich aber hier versammelt hatte, waren kaum mehr Autos - das waren Schiffe, deren Benzinverbrauch ich nicht einmal wissen wollte. Alle waren auf Hochglanz poliert und spiegelten das späte Sonnenlicht tausendfach wider.
Dieser Parkplatz (und nichts anderes war es, wo wir gelandet waren) hätte das Herz eines jeden Oldtimerfans bis zu den Ohren schlagen lassen - immer vorausgesetzt, man war Fan der amerikanischen Wagen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre.
Ich schaute neben mich und lachte laut auf. Hannah war direkt auf dem absurd langen Heck eines quietschgelben (abgesehen von recht ausgedehnten Rostpartien) Edsel gelandet und stand da steif und erhaben vor Unsicherheit wie eine römische Göttinenstatue – das heißt, abgesehen von der Kleidung, natürlich. Ich bedeutete ihr mit den Händen, zu mir zu kommen.
»Aber wie soll das gehen?« fragte sie mich verwirrt.
»Spring einfach«, antwortete ich, »dir kann hier nichts passieren. Denk immer daran, es ist nicht echt.«
Hannah bewegte sich unsicher und versuchte, von dem Schiff, das sich Auto nannte, herunterzuklettern.
»Das geht nicht, ich spür nicht, wo ich gerade bin«, klagte sie.
»Deswegen sollst du einfach springen«, erwiderte ich kichernd. Natürlich hatte ich gut Lachen, ich kannte das alles ja schon, vor allem dieses eigenartige Gefühl, nicht zu spüren, ob man aufwärts oder abwärts geht oder auf welchem Untergrund man gerade läuft. Bei meinen ersten Trips hatte ich mich genauso unsicher angestellt.
Ich stellte mich vor sie und hielt die Arme auf: »Ich fang dich!«, versprach ich ihr, und das löste ihre Erstarrung etwas. Sie drückte die Knie durch und sprang – und ich tat so, als würde ich sie auffangen, obwohl sie in einem durchaus realen Sinn gar keinen Höhenunterschied überwunden hatte.
»Oh Gott, daran muss man sich echt gewöhnen«, stöhnte sie.
Ich schaute mich um. Eine Menge Menschen liefen in etwas, was man unschwer als typisch amerikanisches Stadion identifizieren konnte. Ich konnte den Wind um die Autos und Mauern pfeifen hören und sah, dass diese Leute allesamt mindestens eine Windjacke anhatten und jene ihnen an den Körpern wedelten.
Als ich den Kopf drehte, um Hannah zu fragen, warum sie zu einem Baseballspiel wollte sah ich, dass sie mit offenem Mund genau dieselben Beobachtungen machte. Sie schaute an sich herunter.
»Ich höre den Wind, ich sehe den Wind, ich friere aber nicht!«, stellte sie fest. »Wie kann das sein?«
Ich nahm ihre Hand und drehte sie zu mir.
»Denk immer daran«, erinnerte ich sie, »dass das alles hier nur ein Echo ist, eine Reflektion, wenn du so willst. Du bist nicht ganz wirklich hier. Du siehst eine Reflektion und du hörst ein Echo und es war echt hart, die beiden Dinge zu synchronisieren, das kann ich dir flüstern – aber Wind, der irgendwann gepustet hat, reflektiert nicht, und dein Körper ist eigentlich immer noch in meiner Wohnung und da ist es warm und deshalb wird dir nicht kalt.«
Ich lächelte sie an. »Du wirst der Versuchung wahrscheinlich genauso wenig widerstehen können wie ich und fühl dich frei, es zu versuchen, aber: Du kannst nichts anfassen, niemand kann dich sehen und niemand kann dich hören. Du bist körperlich nicht da, und wenn du jemandem im Weg stehst, geht der einfach durch dich durch.«
Trotz meines Hinweises, dass sie in meiner warmen Wohnung war, schauerte Hannah bei diesen Worten.
»Die gehen durch mich durch? Das ertrag ich nicht! Wie fühlt sich das an?«
Ich konnte mir mein Lachen nur schwer verkneifen wusste aber, dass es an der Stelle nicht angebracht gewesen wäre.
»Hannah – das ist Licht und das ist Ton. Du bist Musikerin, ich weiß, dass du weißt, was ein Ton ist, und ich weiß, dass du auch weißt, dass sich Licht ebenfalls in Wellen bewegt. Diese Wellen treffen dich in jeder Sekunde deines Lebens genauso wie hier. Stell dir vor, du bist im Kino und Will Smith läuft auf der Leinwand auf dich zu.«
Hannah schaute mich jetzt so ernst und ängstlich an, dass ich kurz schlucken musste.
»Also…eigentlich kommt Will ja nicht von der Leinwand, sondern aus dem Projektor oben. Und wenn du dich in diesen Strahl stellst, läuft der Film ja trotzdem weiter, das Licht kommt eben nur nicht mehr bis zur Leinwand, sondern bleibt sozusagen an dir hängen. Und genauso ist es hier auch. Diese Leute gehen nicht wirklich durch dich durch. Es sind Projektionen. Und wenn du im Strahl dieser Projektion stehst, wirfst du eben einfach einen Schatten, aber der Film wird dadurch nicht aufgehalten. Er läuft einfach weiter, genau wie im Kino, nur dass dieser Film nicht auf einer Fläche läuft, sondern um dich herum. Sozusagen das ultimative 3D.
Aber du wirst gar nichts dabei merken, genauso wenig, wie du etwas riechen wirst oder eine Temperatur fühlen. Was du siehst, ist längst passiert – und wenn ich mir die Schiffe hier so ansehe, ist es vor mindestens fünfzig Jahren passiert, und du kannst es weder beeinflussen noch kann es dich beeinflussen. Es ist ein Film, okay?«
Sie sah mir so tief in die Augen, dass ich genau erkannte, was sie tat: Sie prüfte meine Augen auf Wahrheit. Scheinbar fand sie nichts Verdächtiges in ihnen, sie nickte und drückte sich kurz an mich.
»Du musst mich ja für ein echt ängstliches Gänschen halten«, murmelte sie an meiner Brust.
»Yes, Ma’am, ein Gänschen«, bestätigte ich feixend.
Hannah schaute mich mit blitzenden Augen an. Ich lächelte.
»Du hättest mich mal sehen sollen, als ich das erste Mal unterwegs war. Ich hab mich kaum zu Rühren getraut und damals war auch der Ton noch aus einer ganz anderen Zeit als das Bild, das passte alles nicht zusammen. Du hältst dich großartig, mein erster Trip endete mit einer Beule, weil ich mir beim ohnmächtig werden den Hinterkopf angeschlagen hatte.«
Hannah sah mich wieder prüfend an. »Kein Schmus?«
»Kein Schmus«, bestätigte ich ernsthaft.
Sie streckte den Zeigefinger aus und piekte mir grinsend in den Bauch.
»Also bist du auch ein Gänschen!«, kicherte sie.
»Nö«, widersprach ich im Brustton der Überzeugung, »ich hab noch nie eine Gans gesehen, die vor Schiss in Ohnmacht gefallen wäre.«
Ich blinzelte ihr zu, was sie zum Lachen brachte.
»So, jetzt verrat mir aber endlich, was wir in einem Baseballstadion wollen?«, forderte ich.
Wieder landete ihr Zeigefinger in meinem Bauch – und kurz darauf ihre Lippen auf meinen, was ich ungleich angenehmer fand – und sie schüttelte den Kopf.
»Komm einfach mit!«
Mit diesen Worten nahm sie mich an der Hand und zog mich in Richtung des großen Tores, durch das die Menschen strömten. Kurz bevor wir so weit um das Gebäude gegangen waren, dass ich eine Chance hatte zu erkennen, ob eine Tafel über dem Eingang mich vielleicht erleuchten könne, stoppte Hannah und hielt mich am Arm fest.
»Warte mal«, sagte sie, »wenn die Menschen durch uns gehen können, weil sie nur Licht sind…können wir dann nicht auch einfach durch die Wand gehen?«
Das saß.
Ich starrte Hannah sprachlos an, begann zu kichern, dann zu lachen und schließlich musste ich mich hinhocken, um nicht vor Lachen aus den Schuhen zu fallen. Hannah sah mich verwirrt von oben an, und gerade, als ich mich etwas beruhigt hatte schaute ich nach oben, erwischte aus meiner Perspektive einen direkten Blick in ihren Schoß und brach direkt wieder in schallendes Gelächter aus.
Nachdem sich auch diese Lachsalve in hilfloses Kichern auflöste, schloss ich die Augen, um wieder aufstehen zu können, ohne noch einen Blick auf Donald Duck werfen zu müssen, der in Hannahs Schoß mit rotem Kopf und der Sprechblase »What’s so funny???« offenkundig bester Laune war. Natürlich tauchte dieses Bild unwillkürlich auch vor meinen geschlossenen Augen auf und ich hatte Mühe, mich zu beherrschen und fragte mich, wann ich das letzte Mal an einem einzigen Tag so viel gelacht hatte. Ich konnte mich nicht erinnern.
Ich sah Hannah mit tränenden Augen an, sah die Sorge in ihrem Gesicht – ob diese Sorge meinem Gesundheitszustand oder meiner Geistesverfassung gegolten hatte, weiß ich bis heute nicht – und schüttelte mich noch etwas in schmerzhaftem Kichern.
»Das muss aufhören«, japste ich, »das hält das stärkste Zwerchfell nicht aus…«
Hannah stemmte die Arme in die Hüften und funkelte mich an.
»Verrätst du mir wenigstens, was so lustig war?«
»Du meinst, abgesehen von einer kurz vor der Explosion stehenden Ente auf deinem Slip?«, kicherte ich, und Hannahs gespielt strenger Gesichtsausdruck zerfiel nun ihrerseits in ein breites Grinsen.
»Ja, abgesehen davon…und wenn du Herrn Duck nochmal näherkommen willst, solltest du aufhören, mich auszulachen!«
Schon am Tonfall erkannte ich, dass sie das nicht böse meinte und ihr Gesicht sprach Bände dazu (ich überlegte sogar kurz, ob ich es wagen sollte, Herrn Duck sofort wenigstens einen Kurzbesuch abzustatten, ließ es dann aber doch bleiben…wer weiß, wozu das geführt hätte, und meine Bauchmuskeln waren gerade alles andere als einsatzbereit).
»Hannah…«, keuchte ich, »ich hab dich nicht ausgelacht. Im Gegenteil, ich habe mich ausgelacht! Ich mach das jetzt seit zwei Jahren oder so…und war immer bemüht, durch offene Türen zu gehen…«
Bei dieser Feststellung musste ich sofort wieder kichern.
»Tjaaa,«, stolzierte Hannah, »ich bin halt doch nicht so doof, wie ich manchmal scheine.«
Ich nahm ihre Hand und meinte »Du bist nicht doof, und du scheinst nicht doof, und du hast Recht. Also….wahrscheinlich Recht. Du erinnerst dich an das Auto, auf dem du gelandet bist? Du warst obendrauf. Und bist nicht einfach runtergefallen. Wenn du jetzt wieder zu dem Auto gehen würdest, könntest du vermutlich einfach durchgehen. Ich glaube aber auch, dass du genauso wieder auf das Heck klettern könntest. Ich weiß auf jeden Fall sicher, dass ich bei meinen Trips schon oft Treppen gestiegen bin, statt einfach durch das Holz zu laufen. Und Berge hoch statt mitten durch. Das ist einer der vielen Aspekte, die ich selber nicht verstehe.
Aber ja, ich glaube, dass wir genauso gut einfach durch die Wand gehen können.«
Hannah strahlte mich voll offensichtlichem Stolz an, nahm meine Hand in ihre und streichelte sie.
»Aber du bist echt. Und ich auch, oder?«, fragte sie.
»Nicht wirklich hier, aber so echt wie irgend möglich«, konnte ich sie beruhigen. »Nur bedenke, dass ich von dem, was in der Kammer wirklich passiert, wenig Ahnung habe. Ich hatte eine Vermutung, die drei Jahre lang ergebnislos geblieben ist. Dann plötzlich hatte es funktioniert, aber der Ton stimmte nicht. Die Variable hat mich nochmal fast ein Jahr gekostet – aber warum wir nun wirklich hier sind, in der Vergangenheit, und warum die Dinge so sind, wie sie sind…ich bin Verkäufer, kein Physiker.«
»Okay«, entschied sie und deutete auf das Stadion, »ich frage jetzt auch nicht mehr nach dem Warum, ich will jetzt nur noch da rein!«
Ich war erstaunt über ihren Mut. Denn statt wie noch vor zehn Minuten durch den Autopark wie durch ein Labyrinth zu schlängeln, lief sie jetzt, mich energisch an der Hand hinter sich herziehend, einfach durch die Karossen durch.
Hannah steuerte zielstrebig auf die Mauer zu und ich konnte sehen, wie sie vor mir darin fast verschwand – aber eben nur fast. Etwas wie ein Schatten blieb sichtbar, machte alles um sie herum weniger konstant, weniger real und mir wurde überdeutlich mein eigener Vortrag bewusst: Es ist alles nur Licht. Viel Zeit, darüber nachzudenken, hatte ich indes nicht, da Hannah meine Hand fest im Griff behielt und ich hinter ihr in die Wand stolperte, direkt auf einen ziemlich hohen Geräuschpegel zu.
Wir kamen direkt unterhalb einer der Tribünen heraus, über uns hörten wir das Trampeln von Füßen und den Geräuschpegel, den eine große Menschenmenge immer zu machen scheint: Ein konstant lautes Summen wie in einem überdimensionierten Glas voller Wespen.
Der Himmel über uns war inzwischen vollständig dunkel geworden und die Geschwindigkeit der umherflatternden Zettel und Popcorntüten ließ auch hier im Stadion auf einen mäßigen bis mittelstarken Wind schließen. Das Geräusch der schnellen Luft, die durch die Tribünen fegte, vermischte sich fast schon unheilvoll mit dem Geräusch der Menschenmenge.
Je näher wir uns aber dem hell ausgeleuchteten Spielfeld näherten, desto definierter wurde ein anderes Geräusch, welches sich alsbald als Musik herausstellte – und zwar keine der schlechten Art. Ich kannte den Titel nicht und auch die Stimmen der Sängerinnen kamen mir nicht bekannt vor, die Art der Musik, der leicht obszöne Beat, ließ mich aber annehmen, dass wir irgendwo mitten in den Sechzigern gelandet waren.
Als wir unter der Tribüne hervorkamen (oder besser gesagt durch den unteren Teil der Tribüne einfach durchliefen) standen wir am Rand eines großen Spielfeldes. Abgesehen von einer Bühne im Bereich der zweiten Base und ein paar am Rand herumlungernden Gestalten, die unzweifelhaft als wahre Klischeeroadies erkennbar waren, war das Feld sehr leer.
Ich hielt Hannah am Arm fest. »Was bitte ist das hier?«, rief ich ihr über den Lärm hinweg zu.
»Das wirst du schon noch sehen, sei nicht so verdammt ungeduldig!«, schrie sie mit vor Aufregung geröteten Wangen und glänzenden Augen zurück und versuchte, mich weiterzuziehen.
»Ist das ein Rockkonzert ohne Stehplätze?«, fragte ich sie und hielt sie noch auf.
Hannah grinste mich breit an: »Das ist normal gewesen 1966!«. Sie überlegte kurz, was sie da gerade gesagt hatte, küsste mich sehr fest, rief: »Scheiße, ist das geil!« und zog mich einfach mit sich in Richtung der Musik. Die Bühne selbst war ein sehr eigenartiges Konstrukt wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte: Ungefähr zehn Meter breit, aus einem recht abenteuerlichen Brettergestell bis auf Schulterhöhe nach oben gezogen – und damit zirka einen Meter siebzig hoch –, mit einer Treppe auf der rechten Seite und einem wenig vertrauenerweckenden Gesamteindruck. Das Eigenartigste aber war ein Maschendrahtzaun, der einmal um die Bühne herumging und dessen Ende höher als die Bühne selbst war, so dass die Musiker, in diesem Fall drei recht ansehnliche junge Damen mit dunklen Haaren nebst Begleitband, wie in einen Käfig eingesperrt wirkten.
Hannah blieb knapp zwei Meter vor dieser Bühne stehen und schaute gebannt den Musikern zu, die eine Art Folksong mit zwei Akustikgitarren und einem absolut phänomenalen Kontrabass spielten, zu dem die (für das Wetter eindeutig zu knapp bekleideten) Sängerinnen im Call and Response-Verfahren eindringlich sanft sangen. Ich schaute mich währenddessen im Stadion um und versuchte zu ergründen, was genau Hannah an genau diesem Konzert gereizt haben mochte.
Das Stadion war etwa zur Hälfte gefüllt, was mich zu der Vermutung veranlasste, dass es zwar ein Ereignis, nicht aber ein Großereignis sein konnte, die Besucher erschienen mir hauptsächlich als junge Erwachsene, dazwischen aber auch etliche Teenager und ganze Familien mit Kindern, ein durch und durch normales Publikum für ein Rockkonzert, wie man es auch heutzutage erwarten würde. Natürlich abgesehen von den Frisuren (von triefendem Schmalzkopf bis Hippievorstufe alles) und den Klamotten (Männer wie Jungs: Hemden, Hosen mit Hosenträgern und längere Jacken; Frauen und Mädchen: Röcke und bauschige Blusen, wobei ein paar Mutige hier schon in Hosen zu sehen waren).
Ich blickte wieder zu Hannah, die auf dem weiten leeren Feld, und in ihrem viel zu großen Shirt obendrein, ziemlich verloren aussah, sich aber hingerissen im Takt der Musik wiegte und alles andere, inklusive mir, wie ich mit einem Stich amüsierter Eifersucht bemerkte, vergessen hatte.
Die Musik war intensiv und ehrlich, riss mich jetzt aber auch nicht so sehr vom Hocker, dass ich den Grund für Hannahs Auswahl hätte erkennen können. Ich stellte mich neben sie, schaute eine Weile der Band zu und dann fragend zu Hannah, die immer nervöser zu werden schien.
»Was genau wird hier passieren?«, schrie ich ihr direkt ins Ohr.
Hannah lächelte nur weise, legte mir den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte leicht den Kopf.
Die Band auf der Bühne kündigte ihren letzten Titel an, und diesmal war es eine Nummer, die ich kannte:
›The night we met I knew I...needed you so‹ - Be my Baby, obwohl mir der dazugehörige Bandname partout nicht einfallen wollte. Aber scheinbar ging es vielen der Anwesenden genauso wie mir, war bei den Titeln vorher noch ein allgemeines Grundrauschen des Publikums zu vernehmen, konnte ich jetzt mehr und mehr Mädchen ekstatisch kreischen hören. Mehrere Zuhörer waren auch von ihren Plätzen aufgesprungen und tanzten. Und wie sie tanzten: Körper und Köpfe wild von rechts nach links schwingend, den Kopf dabei immer leicht geneigt, als wollten sie aufpassen, dass sich die Füße nicht verknoteten, die Arme dabei rudernd in der Luft.
Ich drehte mich grinsend zu Hannah und wollte sie darauf aufmerksam machen. Ihr verklärter Blick in die Menge ließ mich aber wissen, dass sie das selbst schon gesehen hatte und nicht halb so lustig fand wie ich, sondern es rundheraus liebte.
Sie fing meinen Blick auf und zog mich an sich. Sie wollte tanzen. Dummerweise war das etwas, was ich nie gelernt hatte und woran ich auch bis dato nie Interesse hatte. Ich versuchte mein Bestes, aber Hannahs leicht verstörter Gesichtsausdruck brachte mich aus dem letzten bisschen Takt, den ich meinem Körper aufzwingen konnte, so dass ich nur verschämt lächelte und entschuldigend die Schultern nach oben zog. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, rief mir ins Ohr »Das üben wir lieber ein andermal« und küsste mich.
Die Damen verabschiedeten sich von der Bühne und ein schmalzhaariger Ansager betrat das Podium. Er bat um eine Viertelstunde Geduld, dann ginge es mit dem Hauptact des Abends weiter. Diese Ankündigung löste bei Hannah wie dem ganzen Rest des Publikums einen Kreischanfall aus. Sie stellte sich neben mich, schlang einen Arm um meine Hüfte und legte den Kopf an meine Brust.
»Wenn ich umkippe, weck mich bitte ganz, ganz schnell wieder auf!«, sagte sie.
Ich konnte ihren Körper vor Aufregung beben spüren und so langsam steckte sie mich mit Ihrer Nervosität an. Die Roadies entfernten einen Teil der Technik von der Bühne und stellten andere Technik dafür auf, ein ziemlich fülliger Mann sprach »Check, one, two« in eines der Mikrofone, nickte zufrieden trotz der Rückkopplung und wiederholte das bei zwei anderen Mikrofonen.
Nach fünf Minuten waren die Arbeiten erledigt und kurze Zeit geschah gar nichts, außer dass dich Hannah immer wieder nervös umdrehte und den Hals in Alle Richtungen verrenkte.
»Du bist ja völlig aus dem Häuschen«, kicherte ich zu ihr.
Sie hüpfte beinah vor mir herum. »Gleich«, presste sie hervor.
Praktisch im selben Moment brandete ein unglaublicher Jubel und Applaus auf. Hannah drehte sich ruckartig um, so dass sie die Bühne im Rücken hatte. Ich drehte mich mit und konnte erst einmal überhaupt nichts sehen, da die Scheinwerfer direkt auf uns gerichtet waren und mich blendeten.
Dann lösten sich aus dem grellen weiß langsam Schatten, die sich als eine Gruppe von Menschen herausstellten. Drei dieser Menschen trugen Instrumente, drei weitere waren, ihren Mützen nach zu urteilen, Polizisten.
Währenddessen wurde das Kreischen von den Tribünen ohrenbetäubend und in meiner eigenen Aufregung spürte ich Hannahs Hand kaum, die sich in meinen Arm krallte.
Als aus den Schatten endlich Gesichter wurden, war es an mir, weiche Knie zu bekommen.
Die Band kam direkt auf uns zu und weder Hannah noch ich waren in der Lage, uns wegzubewegen. Die vier Musiker lächelten und winkten mal nach rechts, mal nach links und liefen dann durch uns durch. Das war der Moment, in dem Hannahs Knie nachgaben und ich löste mich gerade rechtzeitig aus meiner eigenen Starre um meinen Arm um sie zu legen und sie zu halten.
Hannah sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Das...das...John Lennon ist eben durch mich durchgelaufen...«, keuchte sie aus einem Gesicht, das zu etwa gleichen Teilen milchweiß und hektisch rot war.
Ich sah sie besorgt an. »Aber sonst ist alles in Ordnung?«, rief ich ihr über den Geräuschpegel des Stadions zu, den jeder Ohrenarzt für Körperverletzung gehalten hätte.
Sie straffte sich in meinen Armen und stellte sich hoch auf.
»Mehr als in Ordnung«, rief sie zurück, jetzt wieder mit mehr Farbe und einem Lächeln im Gesicht, für das ich hätte töten können.
Sie drehte sich, noch immer fest an mich geklammert, zur Bühne, auf welcher alle vier Beatles gerade ihre Positionen gefunden hatten.
Es war ein unglaubliches Gefühl, das zu sehen. Nur zwei Meter von uns entfernt stand die größte Band aller Zeiten. John Lennon und Paul McCartney standen direkt nebeneinander, Harrison stand etwas versetzt dahinter und Ringo Starr saß aufrecht und mit aufmerksamem Blick an seinem Schlagzeug und hielt bereits beide Hände mit den Drumsticks nach oben. Alle vier hatten noch ihre makellos geschnittenen Pilzkopffrisuren und winkten noch einmal ins Publikum. Auch wenn ich nicht erwartet hätte, dass das Publikum hierfür noch Reserven hatte, fand es doch ein weiteres Crescendo und ich fragte mich langsam, wie viel von dem, was gleich auf dieser Bühne passieren würde, noch auf den obersten Reihen ankommen mochte.
Lennon flüsterte McCartney etwas ins Ohr, die beiden traten jeweils ein paar Schritte zur Seite, so dass sie vor ihren Mikrofonen standen. Ohne ein weiteres Wort öffnete Lennon den Mund - woher auch immer er den richtigen Ton hatte (ich hatte niemanden gesehen, der auf der Gitarre einen Ton vorgegeben hätte), er passte haargenau zur Instrumentalisierung, die nach dem a-capella-Auftakt einsetzte - und schrie/sang mit seiner unverwechselbaren Stimme »Just let me hear some of that Rock an Roll music...«.
Die Hölle brach los im Stadion. Die schnelle, hart gespielte Musik, Lennons markante Stimme und das taumelnde, kreischende Publikum lieferten sich einen Wettstreit. Die strategisch sehr günstig platzierten Lautsprecher sorgten für eine Rundumbeschallung, die schreienden Menschen dafür, dass es kein nennenswertes Echo gab - alles war technisch so perfekt eingerichtet, wie die Bühne amateurhaft aussah.
Hannah hatte sich derweil von mir gelöst und war auf ihrem eigenen Trip, singend, tanzend, fast schwebend. Ich, der ich Musik schon immer lieber unbeweglich genossen hatte, schaute abwechselnd zur umgitterten Bühne und zu Hannah, von Hannah zur Bühne und wünschte, ich hätte mehr als meine zwei Augen, weil ich keinen Moment von beidem verpassen wollte.
Nach dem zweiten Titel, She's a woman, ging ich zu Hannah, deren Haare ebenso wild abstanden wir ihre Augen blickten und drehte sie so zu mir, dass ich ihre Aufmerksamkeit hatte.
»Du kannst auch direkt auf die Bühne, wenn du möchtest«, rief ich ihr zu.