Echtzeitalter - Tonio Schachinger - E-Book
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Echtzeitalter E-Book

Tonio Schachinger

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Beschreibung

«Ein Roman, der grundsätzlich den richtigen Ton trifft, zwischen spöttischer Distanz, Analyse und Einfühlung, sodass sich das herzerwärmende Tschick-Gefühl von Wolfgang Herrndorf einstellt.» ORF Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? Tonio Schachinger erzählt von einer Jugend zwischen Gaming und Klassikerlektüre, von Freiheitslust, die sich bewähren muss gegen flammende Traditionalisten – und von dem unkalkulierbaren Rest, der nicht nur die Abschlussklasse 2020 vor ungesehene Herausforderungen stellt. Dabei sind die Wendungen so überraschend, sein Humor so uneitel und nahbar: Echtzeitalter ist Beispiel und Beweis für die zeitlose Kraft einer guten Geschichte. Und ein großer Gesellschaftsroman.

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Seitenzahl: 464

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Tonio Schachinger

Echtzeitalter

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft ist das Gamen, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Nach dem Tod seines Vaters wird für ihn aus dem Hobby eine Notwendigkeit. Ohne dass jemand aus seinem Umfeld davon wüsste, ist Till mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? Im Abschlussjahr 2020 kommt für Till, in der Schule und im Leben, alles noch einmal anders als gedacht.

 

Tonio Schachingers Roman führt von Erfahrungen, die fast alle teilen, bis an Orte, zu denen die meisten von uns keinen Zugang haben. Dabei sind seine Schritte so überraschend, der Humor so uneitel und nahbar: Echtzeitalter ist Beispiel und Beweis für die zeitlose Kraft einer guten Geschichte. Und ein großer Gesellschaftsroman.

Vita

Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, war für den Rauriser Literaturpreis nominiert und wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet. Tonio Schachinger lebt in Wien.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung Bertram Hasenauer, Untitled, 2020, Acryl auf Leinwand, 90x70cm, Foto: Jürgen Baumann

ISBN 978-3-644-01446-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

1

Sieht man diesen Ort zum ersten Mal, das Schloss mit der schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite, den Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, seinem bewaldeten Hügel und seiner Grotte, dann ist die Mauer, die ihn umgibt und deren Höhe je nach Steigung der Argentinier- und Favoritenstraße zwischen zwei und vier Metern schwankt, wahrscheinlich das Letzte, was einem auffällt. Warum sollte man auch an die Mauer denken beim Tag der offenen Tür? Die Kinder sehen ja so viel anderes, die Tennis- und Beachvolleyballplätze, das Hallenbad, den Parkettturnsaal, die Multifunktionshalle, die Sala terrena und, wenn sie ihren Blick nach unten auf die eigenen Füße richten, den Steinboden, dessen große Platten über die Jahrhunderte von Tausenden Schlapfen glatt geschliffen wurden.

Außerdem zeigt man den Kindern die Fußballplätze, die zwei Funcourts, den Hartplatz, den Firsty-Platz und vor allem den Großen Platz, der auf allen Fotos abgebildet ist und dem Park, gemeinsam mit der ihn umgebenden Laufbahn, etwas Offizielles, etwas Highschoolhaftes verleiht, auch wenn sie nach dem Tag der offenen Tür nie wieder dort spielen werden, weil der Große Platz Gegenstand eines seit Jahren andauernden Rechtsstreits ist, dem mit dem Hinweis: Platz gesperrt, Betreten auf eigene Gefahr! Rechnung getragen wird.

Von alldem wissen die zukünftigen Marianisten noch nichts. Man erzählt ihnen vom Fremdsprachenangebot, von Schulreisen, Austauschprogrammen, sogenannten Unverbindlichen Übungen, in denen die Schüler jeder denkbaren Leidenschaft von Schach über Skifahren bis Aquaristik nachgehen können, aber man zeigt ihnen nicht die Stelle beim Konferenzzimmer, an der trotz einer zusätzlichen Schicht Farbe noch immer der Name des ehemaligen Erziehungsleiters durchscheint, begleitet von den Worten: du Kinderficker!

Den Firsty-Platz zeigt man ihnen zwar, aber ohne zu erklären, was das ist, ein Firsty, was es bald für jeden von ihnen bedeuten wird, von Älteren als Firsty behandelt zu werden, ein ganzes Jahr lang, und dass sie selbst sich gegen alle Vorsätze in diese nach Alter gegliederte Nahrungskette einfügen und schon ein Jahr später den neuen Firstys gegenüber genauso verhalten werden: Weil sie anderen nicht ersparen wollen, was ihnen nicht erspart geblieben ist.

Der Waldplatz ist nicht einmal Teil der Tour, dieser hinterste und schlechteste aller Fußballplätze, der keine Banden und keine Netze hat, in dessen Mitte ein einzelner Baum steht, der gleichzeitig aber auch der beste Platz ist, weil man sich nirgendwo sonst auf dem Schulgelände weiter von allem anderen entfernen kann und weil direkt dahinter, beim Theater Akzent, in Sichtweite der Nuntiatur, der päpstlichen Botschaft, die beste Stelle liegt, um über die Mauer zu klettern.

 

Wenn die Kinder wieder nach Hause kommen und ihre Eindrücke mit den Eltern besprechen, das Marianum mit anderen Schulen vergleichen, Pro-und-Kontra-Listen anfertigen, um eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen, erwähnt kein Einziger von ihnen die Mauer. Auch Till nicht, ein kleiner rothaariger Junge, dem sie sehr wohl aufgefallen ist, der sie angeschaut, sie wahrgenommen hat, im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, für die sie nicht mehr war als eine altmodische Theaterkulisse, ein in grauen Pastelltönen zum Horizont führender Übergang.

2

Es wäre aber falsch, Tills abweichenden Eindruck mit einer besonderen Auffassungs- oder Beobachtungsgabe zu begründen, ihm die Hellsichtigkeit zu attestieren, jetzt schon zu erkennen, was den anderen erst mit 14 oder 15 wirklich ins Auge stechen wird, nämlich dass sie, anders als andere Jugendliche aus anderen Schulen, hier eingesperrt sind und dass die Mauer dabei eine sehr pragmatische Rolle spielt. Es liegt auch nicht daran, dass Till sich schon bei der Aufzählung der Fußballplätze, erst recht aber bei ihrer Besichtigung langweilt, keinen Elfmeter schießen will, noch weniger, als er dazu gedrängt wird, Probier es doch einmal! Trau dich!, so wie immer alle zum Fußball gedrängt werden, als gäbe es nichts anderes auf der Welt, bis er sich schließlich doch fügt, weil das Warten der anderen hinter ihm einen Druck erzeugt, den er von Sprungtürmen und Wasserrutschen im Schwimmbad kennt, wo umzudrehen und gedemütigt abzusteigen irgendwann gleich unmöglich ist, wie zu springen.

Seine Beine werden beim Anlaufnehmen so lang, dass er Höhenangst bekommt, während das Tor immer weiter schrumpft und die Arme des Tormanns in die Breite wachsen, und er stolpert schließlich über seine eigenen Füße, ohne den Ball zu berühren.

Till steht auf und denkt keine Sekunde darüber nach, ob das gerade peinlich war. Es ist Samstag, und als seine Mutter ihn mit einem «So, jetzt müssen wir aber wirklich los!» aus seinem Zimmer geholt und die paar Hundert Meter zu der Schule gebracht hatte, lagen schon drei Stunden Assassin’s Creed hinter ihm, weshalb er sich noch immer in diesem angenehmen, von der realen Welt losgelösten Zustand befindet, den das Eintauchen in andere Welten erzeugt. Wenn man in einem Computerspiel zu etwas fähig ist, sei es Wände klein zu schlagen und mit dem gewonnenen Holz Treppen in den Himmel zu bauen oder als Parcoursläufer jedes erdenkliche Hindernis zu überwinden, kann es passieren, dass man in der Realität dieselben ganz konkreten Möglichkeiten sieht wie im Computerspiel.

Wie langweilig ist es im Vergleich, darüber nachzudenken, ob man wirklich Latein, Französisch und Russisch lernen, ob man in dieses sogenannte Halbinternat gehen und jeden Tag erst um 17 Uhr 30 nach Hause kommen möchte, ob man sich wohlfühlt zwischen all den Fußballern und Volleyballerinnen, zwischen Kindern, die sich schon mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restliches Leben über tun werden: in grüne Polohemden und braune Segelschuhe, rosa Poloblusen und weiße Jeans. Wie langweilig erscheint alles im Vergleich zu Kunstwerken, an denen Hunderte Menschen über Jahre gearbeitet haben, damit sie uns so gut wie möglich unterhalten.

Vielleicht ist es normal für ein Kind, das seine Vorstellung von Internaten den Harry-Potter-Filmen und den Harry-Potter-Computerspielen verdankt, einen Ort zu sehen, an den es nicht gehört, und sich vorzustellen, es könne der dorthin passende Mensch werden. Vielleicht denkt Till auch einfach nicht darüber nach, weil er sich während der Besichtigung vorstellt, wie er vom Boden zur Dachrinne und von dort zum oberen Fenstersims springt, auf das höhere Nebengebäude klettert, über die Dächer zur Karlskirche läuft, um von ihrer Kuppel einen Köpfler mit angelegten Armen hinunter zu machen. Jedenfalls fühlt er sich gut, als seine Mutter und er am Abend mithilfe einer objektiven Liste errechnen, dass das Marianum für ihn die beste Option ist. Und seine Mutter freut sich, ihn betreut zu wissen, während sie Vollzeit arbeiten geht.

 

Namhafte Absolventen sagen nichts über die Institution aus, die sie hervorgebracht hat, und in einer kleinen Stadt wie Wien ergeben sie sich im Lauf der Zeit von selbst. Das Gymnasium Wasagasse hat Friedrich Torberg, Erich Fried und Stefan Zweig, das Akademische Gymnasium Arthur Schnitzler, Lise Meitner und Erwin Schrödinger, das Schottengymnasium Johann Nestroy, Johann Strauss und Ernst Jandl. Und so hat eben auch diese Schule gewisse Menschen, auf die sie verweisen kann, je nachdem, woher der gesellschaftliche Wind gerade weht. Auf Karl Lueger, zum Beispiel, war man früher deutlich stolzer als heute, und die Namen Hermann von Trenkwald und Fritz Hamburger fallen gar nicht erst oder verschwinden hinter den Namen derjenigen, die wegen Menschen wie ihnen emigrieren mussten.

Um andere momentan Inopportune kommt man leider nicht so leicht herum, denn wenn schon der SA-Obersturmführer-Großvater hier war, dessen Abschneiden bei den Olympischen Spielen 1936 zur allgemeinen Enttäuschung die Überlegenheit seiner Rasse eher widerlegte als bewies, und der Vater, der rechtskräftig wegen Leugnung des Holocausts verurteilt wurde, und schließlich auch der Sohn, dessen Präpotenz der österreichischen Demokratie unfreiwillig einen großen Dienst erweisen wird, kann man als Schule nicht viel machen, um sich zu distanzieren.

Doch die Deutschnationalen und Rechtsradikalen sind am Marianum nicht stärker vertreten als im Rest Österreichs, wo sie quer durch alle sozialen Klassen circa 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, und wollte man die hier vorherrschende Geisteshaltung identifizieren, wäre es eher der Opportunismus. Ein typischer Absolvent dieser Anstalt ist jemand, der den vorhandenen Besitz seiner Familie weiter vergrößert, der als Arzt, Anwalt oder Unternehmer die Praxis, Kanzlei oder Firma seines Vaters übernimmt, dem es für seine gesamte Lebenszeit als Rebellion genügen wird, mit 17 seinen über das Hemd gelegten Pullover schräg über eine Schulter zu binden statt symmetrisch über beide.

Till wird nie so sein.

Es wäre auch gar nicht so schlimm, wenn Till hier falsch ist, denn die Schule ist groß genug, um einen durchrutschen zu lassen, einem, zwar eher aus Nachlässigkeit als aus Toleranz, den Freiraum zu gewähren, wenn schon nicht gefördert, dann zumindest in Ruhe gelassen zu werden.

Das heißt: Sie wäre es, ginge Till in die 1A oder die 1C, in die 3B oder die 5D, in jede andere Klasse als diese 1B. Denn während die Schule seit Jahren darauf hinarbeitet, ihrem Elitismus ein möglichst menschliches Antlitz zu verpassen, gibt es einen Menschen, der sich allen Anforderungen der modernen Welt, allen Kompetenzorientierungen gegenüber verhält wie ein unbeugsames gallisches Dorf. Und weil dieser Mensch Klassenvorstand, Deutsch- und Französischlehrer, Tutor und an drei von fünf Nachmittagen auch Nachmittagsbetreuer der 1B ist, müssen auch Till und seine Klassenkollegen Gallier sein: Bewohner einer Exklave von der Wirklichkeit.

3

Wien zieht Sonderlinge an. Es gibt kanonisierte Sonderlinge wie Helmut Seethaler, der seit Jahrzehnten gegen die Wiener Linien prozessiert, um seine Gedichte mit Tixo an die Wände von Bushaltestellen zu kleben, den Bierkavalier, der aus irgendeinem Zwang heraus Frauen in der U-Bahn fragt, ob sie mit ihm ein Bier trinken gehen wollen, sich aber im seltenen Fall einer Zusage sofort wegdreht und die nächste Frau anspricht. Es gibt den König vom Sudan, einen älteren Mann mit schwarzem Anzug, roter Krawatte und rotem Barett, der am Schottentor residiert, zwei Doktortitel von der Universität von Alexandria hat und ein Megafon; es gibt die Oma im 6. Bezirk, die einen vergeblichen Kampf gegen Graffitis führt und mit einem Kübel brauner Farbe und einem Pinsel jeden Schriftzug übermalt, egal welche Farbe das Haus hat, von Hausbesitzern verklagt wird, denen die braunen Rechtecke noch hässlicher erscheinen als die Schmierereien, und die, zumindest in den Augen des Staates, im selben Ausmaß Vandalin ist wie die Vandalen, die sie bekämpft.

Das Besondere an Wien sind aber nicht seine originellen Außenseiter, nicht das Lercherl von Ottakring, der winzige, immer schon alt gewesene Mann im Pepitasakko, der früher auf der Kärntner Straße mit seiner Falsettstimme Vogelgesänge imitierte, oder Waluliso, nach dem inzwischen sogar eine Brücke im FKK-Bereich der Neuen Donau benannt ist, und auch nicht die Obdachlosen oder die Drogensüchtigen, die Junkies, die im 7. Bezirk Gedichte verkaufen, in kindlicher Schreibschrift verfasst und kopiert, manche schön und traurig, andere traurig und furchtbar.

Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte. Menschen, die eben nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in geschützten Bereichen mit beschränkter Haftung ihren Jobs nachgehen: in Magistraten, Privatschulen oder bei der Polizei, auch wenn sie psychisch prekäre Leben führen. Jeden Tag können sie die Beherrschung verlieren, weil sie sich daran gewöhnt haben, in einem kleinen Biotop nach eigenem Belieben die Regeln zu schreiben, die andere zu befolgen haben, und erst wenn sie einmal außerhalb ihres gewohnten Umfelds eskalieren, wenn sie, zum Beispiel, im Filmmuseum während eines Bergman-Films auf eine amerikanische Studentin einprügeln, weil sie ihrer Meinung nach zu laut gewesen ist, wenn sie in der Straßenbahn jemandem mit ihrem Schirm ins Bein stechen, jungen Schriftstellerinnen systematisch anzügliche Gedichte per Mail schicken, wenn sie zu schreien beginnen, weil jemand in einem geschlossenen Raum aus einer Plastikflasche trinkt, erst dann wird für alle offensichtlich, was jene, die einem solchen Menschen ausgeliefert sind, längst wussten, nämlich, dass es sich um einen Wahnsinnigen handelt, um jemanden, der über niemanden bestimmen sollte.

4

Der Dolinar, Tills Klassenvorstand, dessen Aussehen seine Schüler wie das von Lord Voldemort beschreiben würden, obwohl er mit seinem schütteren rotblonden Haar und der Knollennase eher aussieht wie der Tintenfisch, den Spongebob immer so nervt, der Dolinar, der immer Schwarz trägt und im Winter weite Lodenmäntel, die ihn wie eine Fledermaus wirken lassen, ist so ein Wahnsinniger.

Seinen Klassen eilt seit dreißig Jahren ein spezieller Ruf voraus. Vonseiten der Direktion schätzt man die überdurchschnittlich guten Noten, die niedrigste Drop-out-Rate, das tadellose Benehmen seiner Schüler, ihre Unauffälligkeit, ihre Verschwiegenheit. Nachvollziehbar also, dass die Direktorin, die neben ihrer Tätigkeit als Schulleiterin und Vorsitzende der ÖVP-Frauen Döbling auch Lehrerin für Geschichte ist und als solche eine einzige Unterstufenklasse zu unterrichten hat, nach Möglichkeit eine Dolinar-Klasse auswählt. Nirgendwo sonst kann sie sich zahmer Schüler so sicher sein. Wenn sie den Raum betritt, sitzen die Dolinar-Kinder schon alle an ihren Plätzen, stehen innerhalb von einer halben Sekunde auf, halten den Mund, setzen sich erst wieder, wenn man es ihnen sagt, und dass sie das nicht in erster Linie aus Respekt vor ihr, sondern aus Angst vor ihrem Klassenvorstand machen, ist der Direktorin, so wie allen anderen Lehrern, egal.

Darüber, wie genau der Dolinar das Fehlverhalten seiner Schüler sanktioniert, damit sie so viel braver sind, denken seine Kollegen wenig nach. Erstens spüren die meisten kein Mitleid mit Kindern, die schon mit elf wissen, dass sie mehr erben werden, als ihre Lehrer je verdienen könnten, und das auch zeigen, wenn sie die Chance dazu bekommen, die unglaublich herablassend und brutal sein können, und zweitens weiß niemand außer seinen Schülern, wie es in den Dolinar-Klassen wirklich zugeht.

Was zumindest die Direktorin wissen könnte, ist, dass die 1B im weiteren Verlauf ihrer Schulzeit ebenso wie alle anderen Dolinar-Klassen zuvor in einer einzigen Statistik ein herausragend schlechtes Ergebnis aufweisen wird, nämlich in jener der besuchten Freifächer und Unverbindlichen Übungen, und dass es sich dabei um keinen Zufall handelt. Der Dolinar verbietet seinen Schülern, Freifächer und Unverbindliche Übungen zu belegen, er verbietet ihnen den Kontakt zu anderen Klassen, verbietet ihren Eltern, sich in seine Erziehung einzumischen, er verbietet jede schlechte Leistung, in Deutsch oder Französisch ebenso wie in irgendeinem der anderen Fächer, und jegliche Disziplinlosigkeit. Jedes ausgebliebene Grüßen auf dem Gang, jedes zu langsame Aufstehen, jedes zu rasche Gehen wird bestraft.

 

Vergehen werden mit Aufsätzen geahndet. 300 Wörter Über das Fußballspielen in geschlossenen Räumen, 250 Wörter Wie man richtig grüßt, 450 Wörter Über das Öffnen und Schließen von Türen. Mit den Jahren steigert sich die Wortanzahl kontinuierlich, sodass man wenigstens an einem oder zwei Tagen, in Extremfällen sogar bis zu zwei Wochen, schreibend in der Klasse nachsitzen muss, während die anderen in den Park oder in einen der Aufenthaltsräume gehen. Danach verbessert der Dolinar den Aufsatz, gibt ihn zurück, und man verbringt noch einen Tag damit, für jeden schweren Fehler drei Sätze zu schreiben, die dann ebenfalls wieder verbessert werden.

Das sind Tage, an denen es zehn Stunden lang kein Aufatmen gibt. Zuerst der Unterricht, dann ein schnelles Essen, dann der Aufsatz, irgendwann Studium, also Hausaufgaben machen und lernen, wobei der Dolinar einen weiterhin im Auge behält. Um vier Uhr darf man für 15 Minuten hinunter zum Buffet, eine Semmel und eine Schoko- oder Vanillemilch holen, und dann weiter Studium, in völliger Stille, bis der Dolinar um halb sechs, viel öfter aber erst um drei viertel, manchmal sogar erst um Punkt sechs zusammenpacken und nach Hause gehen lässt. Dann ist man ein freier Mensch bis acht Uhr am nächsten Tag.

In Wahrheit ist man aber auch dann nicht frei, denn bewegt man sich durch Wien, besteht immer die Möglichkeit, den Dolinar irgendwo zufällig zu treffen. Man kommt zum Beispiel um halb zehn aus dem Apollo-Kino, und plötzlich steht er vor einem, und es ist ganz genau so, als wäre man in der Schule, das Machtgefälle bleibt bestehen, und was am nächsten Tag in der Deutsch- oder Französischstunde passieren wird, kann man sich ausrechnen, denn das Erziehungssystem vom Dolinar basiert auf dem Sprichwort, man könne nicht mit einem Hintern auf zwei Kirtagen tanzen, und abends unterwegs zu sein gilt als Kirtag, als Ablenkung von der Schule, als Zeichen, dass man glaubt, man habe schon genug gelernt, eine Verfehlung, die nicht toleriert werden darf.

Der Dolinar braucht die volle Aufmerksamkeit, deshalb, so meint er, muss er das Leben seiner Schüler einschränken, und er braucht sie nicht nur für Grammatik und Orthographie, die in sein Aufgabengebiet gehören, oder für all die anderen Themen, die er unterrichtet, weil sie ihn persönlich interessieren, obwohl sie überhaupt nicht in die Zuständigkeit eines Deutsch- und Französischlehrers fallen, Belcanto-Opern etwa, europäische Herrscherfamilien und die Katholische Kirche, Ballett und Architekturgeschichte, sondern vor allem für einen Bereich, der durchaus zu seinen Lehrinhalten gehört, den er aber ganz anders interpretiert, als im Lehrplan vorgesehen: die Literatur.

5

Es beginnt in der allerersten Deutschstunde mit einem Gedicht von Ernst Jandl, «ottos mops», einem Text, der schon seit Jahrzehnten verlässlich alle Schüler zum Lachen bringt, spätestens wenn es heißt: ottos mops kotzt. (In besonders verdorbenen Jahrgängen lachen sie sogar schon acht Verse vorher.) Die anschließende Hausaufgabe besteht für jede neue Generation darin, den Inhalt des Gedichts in eigenen Worten nachzuerzählen.

Eine Woche später wird gemeinsam das erste von über vierzig der berühmten, ehemals dottergelben, inzwischen leider in einem, laut Dolinar, viel zu modernen Zitronengelb erscheinenden Reclamhefte bestellt, die seine Schüler in den nächsten acht Jahren lesen müssen. Es handelt sich um Oscar Wildes Der glückliche Prinz und andere Märchen, ein Buch also, das für Elfjährige noch greifbar, aber schon etwas schwerer zu verstehen ist, weil es Worte wie Linnen und Katarakt enthält, die sie beim Lesen unterstreichen und in ihr Fremdwörterheft übertragen müssen, aus dem der Dolinar jederzeit unangekündigt abprüfen kann.

Erst beim nächsten Buch, Wilhelm Hauffs Das kalte Herz, zeigt sich, dass Ernst Jandl eine falsche Fährte war, ein Trick, um nicht zu sagen: eine bewusste Irreführung, denn noch mehr als Oscar Wilde verweist Hauff darauf, dass Literatur in dieser Klasse nicht die Aufgabe zukommt, ihre Lebenswelt abzubilden oder sie zu amüsieren; Schüler haben vielmehr ihren Erfahrungshorizont dem anzupassen, was durch den Reclam-Verlag als wertvolle Literatur definiert ist, und altersgerecht bedeutet in Zukunft Frank Wedekind oder Das Leiden eines Knaben, nicht Ernst Jandl.

Der Dolinar gehört nicht nur zu der Minderheit von Deutschlehrern, die überhaupt noch Zeit für Literatur aufwenden und mit ihren Schülern mehr als die kurzen Textausschnitte im Deutschbuch und den Faust lesen, sondern innerhalb dieser Minderheit zur noch kleineren Gruppe derjenigen, die sich eher ein Bein abhacken würden, als in ihrer Klasse Hermann Hesse oder Daniel Glattauer durchzunehmen. Einige zeitgenössische Autoren mögen einen Wert haben, Handke, Jelinek, sind aber, laut Dolinar, gerade deshalb für Schüler zu kompliziert. Andere Namen, der von Michael Köhlmeier etwa, gelten in Dolinars Kosmos geradezu als Schimpfwort, spätestens wenn sie sich anmaßen, die Sagen des klassischen Altertums neu zu übertragen und Poseidon Sachen sagen zu lassen wie: «Aha, heruntergemacht hat er mich also.»

Nein, die Sagen des klassischen Altertums liest man von Gustav Schwab, weil es seit Schwabs Zeiten, der deutschen Klassik, vielleicht sogar seit der griechischen Antike, mit der Sprache stetig bergab ging, und jeder Versuch, einen alten Text zu modernisieren, ein Bühnenstück neu auszulegen, widerstrebt dem Dolinar bis in die innersten Fasern seines Herzens.

 

Die drei goldenen Regeln, nach denen er seine Klassenlektüre auswählt, lauten: nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist. Bricht er selbst diese Regeln, wie für den Tod in Venedig, den es nur als Fischer-Taschenbuch gibt, oder für die Übersetzungen von Jane Austen, Puschkin oder Federico García Lorca, kann eine besondere, biographisch begründete Vorliebe für die Themen des Textes oder seinen Autor vermutet werden.

Franz Innerhofers Schöne Tage und Felix Mitterers Kein Platz für Idioten stehen unter dem größten Druck, ihren Platz im Kanon zu rechtfertigen. Beide sind nach 1945 geschrieben worden, eine Ausnahmestellung, die sie mit nur zwei anderen Büchern teilen: Bernhards Heldenplatz und Hochwälders Das heilige Experiment.

Mit jedem dieser Texte möchte der Dolinar seinen Schülern etwas sagen, und je mehr seiner Regeln er zu brechen bereit ist, desto wichtiger ist es ihm. Mit Innerhofer und Mitterer möchte der Sohn Kärntner Bauern seinen verwöhnten Wiener Schülern zeigen, welcher Brutalität er selbst als Kind am Land ausgesetzt war, aber auch den Stolz, den er spürt, dass die tiefste und grausamste Provinz in Österreich die größte Literatur hervorgebracht hat. Hochwälder soll sie lehren, dass es noch ein zweites Österreich im Verborgenen gibt, einen Kanon der Unmodernen, Konservativen, und Bernhard, dass man auf Hass und Verachtung mit Hass und Verachtung antworten muss.

 

Trotz ihrer thematischen Verdienste reichen die Genannten natürlich nicht an die wirklich Wichtigen heran, an Schiller und Lessing, Stifter und Grillparzer. Der Autor ist, mag es auch überall sonst anders sein, beim Dolinar größer als sein Werk. Oder anders gesagt: Werke sind groß, wenn sie von großen Autoren stammen. Und groß waren Autoren, bevor sie anfingen, die Sprache kaputt schlagen zu wollen. Vor Büchner.

Der Dolinar lebt in der Vorstellung, es sei für Menschen, deren Eltern es sich leisten können, sechshundert Euro Schulgeld pro Monat zu zahlen, wichtig, einen Mörike, einen de La Motte Fouqué und einen Anzengruber gelesen zu haben, nicht um daraus «etwas mitzunehmen», wie man es neuerdings ausdrückt, sondern um sagen zu können, man kenne es. Um es einzuordnen. Jaja, Anzengruber, Sozialdrama, Das vierte Gebot.

Und das ist im Grunde auch, was er nach acht Jahren extensiver Klassenlektüre bei seinen Schülern erreicht, nach endlosen Stunden, in denen sie sich durch Stifter oder Thomas Mann gequält haben, abgeprüft und fertiggemacht wurden: dass sie sagen können, ja, Kabale und Liebe hab ich gelesen, und Kabale heißt in etwa das Gleiche wie Intrige. Er will höhere Söhne (und seit 2002 auch höhere Töchter) für die Salons ausbilden, in denen Kapital und Kultur aufeinandertreffen, um über Kleist oder E.T. A. Hoffmann zu debattieren, und weiß in Wahrheit selbst, dass die vermögende Klasse sich nur noch sehr marginal für Kunst interessiert, und wenn, dann für Malerei oder Film oder Architektur, für Kunstrichtungen, bei denen Geld einen Vorteil verschafft, aber niemals für Literatur.

Dementsprechend verhält es sich mit der Ausbildung, die seine Schüler erhalten, wie mit den Bankern, die nach Westpoint geschickt werden: Nicht was sie dort einüben, macht sie später erfolgreich, sondern dass sie gelernt haben, alles zu ertragen, was von ihnen verlangt wird, und alles zu erlernen, egal wie unwichtig es ist.

Schon Monate nach der Matura wissen die meisten Absolventen so gut wie nichts mehr über Wilhelm Tell und Das Kloster bei Sendomir, aber man kann sie noch Jahrzehnte später nach einer relevanten Papstfamilie der Renaissance und ihrem Wappen fragen, und sie werden zumindest die Barberini mit ihren Bienen nennen können und, mithilfe des Merkspruchs «Kliometerthal Euerurpokal», zumindest fünf der neun Musen, und sie werden sogar irgendwie stolz auf diesen Umstand sein.

Auch das gehört zur Erfahrung, die viele in militärischen Institutionen machen und nur wenige hier, in der bekanntesten Privatschule des Landes, bei ihrem ambitioniertesten Lehrer: dass man seine Leidenszeit im Nachhinein verklären muss, weil man sie schließlich überstanden hat, und dass einen das mit den anderen verbindet, die ebenfalls nicht daran zugrunde gegangen sind, womit weniger die Sechstklässlerin gemeint ist, die sich in Tills erstem Jahr aus dem Fenster im dritten Stock stürzt, sondern all jene, deren Näheverhältnis zum Tod weniger offensichtlich ist.

 

Viele ehemalige Dolinar-Schüler kommen ihn später besuchen, lassen ihn Entwürfe für Hochzeitseinladungen und Todesanzeigen auf Fehler durchsehen, holen seinen Rat ein, erzählen ihm von ihren Problemen, und nichts widert Till und seine Klassenkollegen mehr an als diese Rückkehrer, die nachmittags an ihre Klassentüre klopfen und sich behandeln lassen, als wären sie noch immer seine Schüler.

Nicht einmal die aus der 8D, die den Dolinar als Deutsch- und Französischlehrer kennen, aber nicht als Nachmittagsbetreuer, Tutor und Klassenvorstand, die also einen ungefähren Eindruck von seinen Arbeitsmethoden erhalten haben, ohne ihm vollständig ausgeliefert gewesen zu sein, und jetzt, da sie die Schule fast überstanden haben, seine Erziehung zu rechtfertigen beginnen, nicht einmal sie werden von Till und seinen Kollegen so verachtet wie die zurückkehrenden Ehemaligen. Denn die müssten es wissen.

Sie müssen genauso gelitten haben, denselben ungeschriebenen Regeln unterworfen gewesen sein, und zwar nicht so, wie die 8Dler für sechs Stunden in der Woche, sondern immer. Sie müssten wissen, wie falsch es ist, in einem Zustand permanenter Angst aufzuwachsen, unfreier als alle anderen um einen herum, unfähig, die Situation irgendwem begreiflich zu machen, und dennoch kommen sie zurück, setzen sich dem Dolinar gegenüber und verzichten auf das Einzige, was ihnen am Ende bleibt, das, woran sich Till ebenso klammert wie die meisten anderen in seiner Klasse und viele Generationen von Schülern vor ihnen: die Würde, nach der Matura nie wieder mit dem Dolinar zu tun zu haben.

6

Till ist niemand, der sich in den Vordergrund drängt. Im Gegenteil, Till genießt den Hintergrund. Sieht er sich die Harry-Potter-Filme an, dann stellt er sich nicht vor, Harry oder Ron oder Hermine zu sein, sondern einer von den Schülern, die nie namentlich erwähnt werden, die nur einmal kurz auf der Treppe an ihnen vorbeigehen, im selben Speisesaal sitzen, aber nie gegen Lord Voldemort kämpfen oder auf Drachen reiten müssen. Jemand, der einfach zur Schule geht und irgendwann damit fertig ist.

 

Die Kunst des Nichtauffallens besteht darin, sich nicht an die eigene Individualität zu klammern und alles, was man mag oder wovon man glaubt, es sei einem wichtig, als austauschbar zu begreifen. Till ist ein Naturtalent darin. Es kostet ihn keine Überwindung, die Mütze wegzuwerfen, die in der Volksschule sein Markenzeichen gewesen war und wegen der ihn nach wenigen Wochen ein Siebtklässler beim Büro des Schulwarts vor allen dort versammelten Schülern bloßstellte. Es macht ihm nichts aus, sich Timberlands zu kaufen, wie alle anderen sie haben, und ebenso wenig, sich eine Zugehörigkeit zu suchen. Denn alleine zu sein: Das ist auffällig.

Till wird Teil der Gruppe derer, die sich nicht für Fußball interessieren und deren erste gemeinsame Aktivität darin besteht, jeden Winkel des Schulgeländes zu erkunden, weil einige von ihnen meinen, es müsse reihenweise interessante Geheimnisse bergen. Sie fertigen Karten von den Geheimgängen an, die sie entdecken, dem, der die Krankenstation und den Gang mit der Glockentür verbindet, der Treppe im dritten Stock hinter den Musiksälen, von der sie glauben, sie führe zur Diplomatischen Akademie, obwohl sie in den Zigarrensalon des Absolventenclubs führt.

Auch als alles erkundet ist, bleiben sie eine Einheit. In jeder Turnstunde und an jedem Nachmittag, wenn die Fußballer Fußball spielen, sind sie der Pool, aus dem sich die Interessenten aller anderen Aktivitäten rekrutieren, bis sich neue Subgruppen bilden, die Basketballer, die Gamer, die Fantasy-Fans und diejenigen, die im Park spazieren gehen und miteinander reden.

Till gehört seitdem zu den Gamern, er geht mit Fritzi, dem Jungen, der neben ihm sitzt und deshalb so etwas wie ein Freund ist, in den Informatiksaal und spielt dort auf den schrottigen Computern oder im Park auf seinem Handy. Er schreibt Dreier in Deutsch und Einser in Mathematik und schafft es, vom Dolinar weder gehasst noch geliebt, also weder dafür bestraft zu werden, kein Talent zu besitzen, noch dafür, nicht genug aus seinem Talent zu machen.

Während die Fußballer schon in der allerersten Woche einen Aufsatz schreiben müssen, weil sie nach der großen Pause zu spät in die Deutschstunde kommen, dauert es bis zu Tills erster Übung zwei Monate. Er ist nicht involviert, als die Fußballer einen der ausgeblichenen Canaletto-Drucke von der Wand schießen und ihn ohne Glas wieder aufhängen, in der Hoffnung, der Dolinar würde es nicht bemerken. Er sitzt im Informatiksaal, während sie Strafaufsätze schreiben, und durch diese Nachmittage im Informatiksaal, insbesondere durch ein langes Gespräch über die Entscheidungsfindung von KIs, weckt Till das Interesse des Mathematiklehrers Gruber.

 

Man muss sich den Gruber, Tills Vizeklassenvorstand, als einen großen hinkenden Mann vorstellen, der zum Dolinar im gleichen Verhältnis steht wie Sancho Pansa zu Don Quijote, der beschwichtigt und ausgleicht und im festen Glauben lebt, er arbeite einem Genie zu. Der Gruber betreut, neben seinem Unterricht und seinen Nachmittagsaufsichten in der Dolinar-Klasse, die Website der Schule und den Informatiksaal und führt bei alldem eine Mauerblümchenexistenz. Er versucht, die Bedeutung seiner Fächer hochzuhalten, lebt aber in ständiger Frustration darüber, dass sie niemandem sonst bewusst ist und vonseiten der Schulleitung zwar betont, aber nie gefördert wird. Wenn ein Schüler, wie Till, einfache Programmierketten lesen kann oder einen alternativen Lösungsweg zur Berechnung eines Prismas findet, fühlt es sich für den Gruber an, als fiele ein vereinzelter Regenschauer auf den Wüstenboden seiner Berufung, und seine Begeisterung sprießt schneller und offensichtlicher, als man es ihm je zugetraut hätte.

 

So erhält Till seine Zuordnung. Er gehört fortan zum Volk der Zahlenmenschen, das in der Dunkelheit lebt, Brillen trägt und auf Bildschirme starrt, den Menschen, ohne die es vermutlich keine Brücken und keinen Buchdruck gäbe, gegenüber denen ein Kulturmensch wie der Dolinar dennoch bestenfalls Mitleid verspürt, weil der Gegenwert ihrer Arbeit, sogar in der Summe, für ihn nicht heranreicht an jedes beliebige Gemälde von Rembrandt.

Für den Dolinar gibt es keine Grautöne, sondern nur gesättigtes Weiß und lichtschluckendes Schwarz, Frauen und Männer, Kunst und Mathematik, Vergangenheit und Zukunft, Dinge, die wertvoll, und Dinge, die belanglos sind. Seine Welt besteht aus Kontrasten, und der Kontrast zwischen Kultur und Naturwissenschaft ist für ihn um nichts weniger scharf als der zwischen Gut und Böse oder zwischen Ja und Nein.

Wenn der Gruber also alle paar Jahre einen Schüler findet, der ein Talent für Mathematik oder Informatik hat und dennoch an dieser Schule gelandet ist, wo drei lebende Fremdsprachen und Latein verpflichtend sind, schreibt der Dolinar diesen Schüler für sich ab.

Till bleibt die ersten beiden Schuljahre vergleichsweise unbehelligt. Würde man die Tage addieren, die andere aus seiner Klasse mit Strafaufsätzen verbracht haben, die Unterrichtsminuten, die vom Dolinar aufgewendet wurden, um sie fertigzumachen, ist Till einer derjenigen, die am besten davongekommen sind.

Erst in der dritten Klasse findet Tills angenehmes Leben im Hintergrund ein Ende.

7

Es beginnt damit, dass Französisch als Fach dazukommt. Das ist das erste Unheil, denn im Gegensatz zu Englisch, Deutsch und Latein, wo sich Till tatsächlich, wie es der Note entspricht, befriedigend schlägt, in Latein manchmal sogar gut, ist er, laut Dolinar, in Französisch «eine Null» und muss, ohne dass sich an seinem Verhalten sonst etwas geändert hätte, ab der allerersten Schularbeit im Oktober die Konsequenzen tragen.

 

Das zweite Unheil nimmt seinen Anfang in etwas Schönem: Till hat einen Freund gefunden. Georg geht in Tills Parallelklasse, verbringt seine Nachmittage ebenfalls im Informatiksaal, schneidet wie sein großes Vorbild Rafael Nadal die Ärmel aller T-Shirts ab und hat sehr viel Zeit. Wenn in der Dolinar-Klasse das zweite Studium stattfindet, also zwischen 16 Uhr 15 und 17 Uhr 30, haben Georg und seine Mitschüler eine zweite Freizeit. Sie können nach Belieben im Park Fußball spielen oder in den Informatiksaal gehen, so wie sie anscheinend alles machen können, wovon die Dolinar-Kinder träumen.

Während Till an einem Dienstag um zwei noch immer in der Klasse sitzt, weil der Dolinar die Stunde auch nach 25 Minuten nicht beendet, sondern sie weiter die Opern von Rossini und Bellini abprüft, installiert Georg heimlich Age of Empires 2 auf den ganz im Eck stehenden Computern des Informatiksaals.

Während Till einen kleinen Strafaufsatz schreibt, weil die Namen Rossini und Bellini für ihn so aussehen, als wären sie Spiegelungen voneinander, und er sich deshalb nicht merken kann, nach welchem von beiden ein Steak benannt ist, wartet Georg auf ihn im Informatikraum. Und nachdem sie eine halbe Stunde gegeneinander gespielt haben und Till zurückmuss, um weiter Hausaufgaben zu machen, Raimunds Verschwender zu lesen oder irgendein anderes Buch, von dem er nicht sagen könnte, ob er es nicht versteht oder ob es ihn nur nicht interessiert, recherchiert Georg neue Mods, die sie ausprobieren können, und schickt sie Till, der ihm verstohlen antwortet, das Handy hinter dem Reclam, das er zu lesen vorgibt, zusätzlich vor Blicken geschützt durch einen strategisch an der Kante des Tischs platzierten Bücherstapel, immer bereit, innerhalb einer Millisekunde zu reagieren, sollte der Dolinar plötzlich aufstehen.

Die Freundschaft zu Georg ist besonders, weil sie alles ausschließt, was sie eigentlich beinhalten sollte: sich selbstverständlich zueinander umzudrehen, wenn eine Arbeit in Zweiergruppen ansteht, nebeneinanderzugehen, wenn der Dolinar seine Klasse im Gänsemarsch zum Mittagessen führt, einander im Unterricht zu helfen und über die Lehrer zu schimpfen. Und obwohl Georg und Till nur eine halbe Stunde pro Tag miteinander verbringen, nur in den Turnstunden gemeinsam Unterricht haben und die unüberbrückbare Differenz ihrer Erfahrungen zwischen ihnen steht, weil Georgs Lehrer weitgehend normale Menschen sind, werden sie, soweit das eben möglich ist, Freunde.

 

Sie haben zwei gemeinsame Orte: den Informatiksaal, wo der Mathematiklehrer Gruber ihnen erlaubt, Age of Empires 2 zu spielen, obwohl die Installation von Programmen generell und Spiele, die das wiederholte Drücken bestimmter Tasten erfordern, verboten sind, und die Turnstunden beim Professor Betsch, in denen sie Gänseblümchen pflücken gehen.

Der Turnlehrer Betsch sieht nicht nur aus wie aus einer Neunzigerjahre-Doku von Elisabeth T. Spira, mit ledrig gebräunter Haut, als würde er den ganzen Sommer nackt auf der Donauinsel Fahrrad fahren, er gehört auch sonst zur alten Schule. Er lässt keine Leichtathletikübungen durchführen, kein Weitspringen, keinen Staffellauf, kennt keinen Lehrplan. Er lässt die Klasse entweder Liegestütze machen und laufen, oder – und das kommt deutlich öfter vor – er nimmt zwei Fußbälle und einen Basketball, wirft sie den Schülern hin, setzt sich auf eine Bank, von der aus er alles gut überblicken kann, und kaut, seit er dort nicht mehr rauchen darf, Nikotinkaugummis.

Bevor der Betsch ans Marianum kam, war er Turnlehrer in einer anderen katholischen Privatschule, dem Kollegium Kalksburg, gewesen und hatte dort Ende der Achtziger einen Schüler unterrichtet, der ihm unglaublich höflich, aber auch unglaublich direkt erklärte, er könne mit den beiden Optionen, Fußball und Basketball, nichts anfangen und müsse seine Zeit anders verbringen.

«Wissen Sie, sehr geehrter Herr Professor Betsch», soll der Schüler gesagt haben, so erzählte der Betsch jedenfalls die Geschichte, «das Dilemma, dem eine wahrhaft allgemeine Bildung nicht entkommen kann, liegt in der Unvereinbarkeit ihrer Ziele mit den Neigungen und Talenten der Schüler. Anders gesagt: Wären die Rollen zwischen Ihnen und mir vertauscht und ich der Lehrer eines Fachs, das Ihnen nicht liegt, von dem Sie zudem schon wissen, dass es in Ihrem weiteren Leben keine Rolle mehr spielen wird, dann würde ich versuchen, Ihnen einen Freiraum zu verschaffen. Ich würde zum Beispiel sagen, Sie dürfen auf den Gang gehen und dort Liegestütze machen, wenn Sie nicht mehr ruhig sitzen können. Sie verstehen inzwischen sicher, worauf ich hinauswill: Ich brauche eine dritte Option neben Fußball und Basketball, die mir erlaubt, dem nachzugehen, was in meinem Leben wichtig sein wird, und ich kann zu diesem Zeitpunkt bereits ausschließen, dass Ballsport dafür in Betracht kommt.»

Dieser Schüler, von dem der Betsch meint, er habe das alles genau so gesagt, war Daniel Kehlmann, damals zwölf Jahre alt, und weil der Betsch die Geschichte schon seit Jahrzehnten erzählt und immer weiter ausschmückt, hat er tatsächlich vergessen, was einmal ihr wahrer Kern war und in welchem Missverhältnis dieser wahre Kern zu seiner Version steht. Trotzdem verdanken Till und Georg Daniel Kehlmann, dass es für sie eine dritte Option gibt, neben den beiden Ballsportarten, dass sie Gänseblümchen pflücken gehen können, was im Grunde bedeutet, sie können machen, was sie wollen, solange sie sich dabei im Park aufhalten und nicht zu auffällig in ihre Handys schauen.

 

Ende Oktober, bevor es kalt genug ist, um in die Turnhalle zu übersiedeln, aber schon zu kühl, um in kurzer Hose und T-Shirt herumzusitzen, sodass Till und Georg sich beim Gänseblümchenpflücken tatsächlich bewegen müssen, um nicht zu frieren, beschließen sie, einen Plan in Angriff zu nehmen, über den sie schon lange geredet hatten. Sie drehen eine große Runde im Park, feilen an einstudierten Worten, schweifen aber jedes Mal in Träumereien ab, wie schön es sein könnte, ginge ihr Wunsch in Erfüllung.

Professor Betsch sitzt währenddessen auf seiner Bank und sieht sich auf dem Handy ein Video an, in dem Toni Polster zu mehr Toleranz aufruft und sagt, dass jeder so sein soll, wie er möchte, egal ob schwul oder lllesbisch oder, so wie er selbst, hundertzwanzig Prozent hetero.

Als Georg und Till ihn nach der Stunde beim Rauchereck abpassen und ihm erklären, dass ihre Klassen jeweils eine ungerade Anzahl an Schülern haben und beim Skikurs deshalb ein Doppelzimmer übrig bleiben wird, in dem ein Schüler aus der A- und einer aus der B-Klasse gemeinsam übernachten müssen, lächelt er nur. Betschs erste sexuelle Erfahrung geht zufällig ebenfalls auf einen Skikurs zurück, mit drei anderen Buben, und als Till und Georg ihm vorschlagen, sie könnten sich ein Zimmer teilen, nimmt er sofort an, die beiden hätten Ähnliches im Sinn.

Im Gegensatz zu seiner Gruppenmasturbation damals, die er unverfänglich findet, weil alle daran Beteiligten heterosexuell waren, geht der Betsch bei Till und Georg davon aus, sie seien schwul, so wie er es beim Kehlmann immer dachte und bei allen anderen, denen er erlaubt, Gänseblümchen zu pflücken und Liegestütze mit überkreuzten Beinen zu machen, und er fühlt sich sehr fortschrittlich, als zu hundertzwanzig Prozent heterosexueller Mann so empathisch mit seinen schwulen Schülern umzugehen.

Dieses neue Gefühl, das er Toni Polster verdankt, weil der auf den Punkt gebracht hat, was er selbst sich schon lange gedacht hatte, ohne es so treffend formulieren zu können, beflügelt den Betsch für mehrere Tage, und in der nächsten Turnstunde, als sie alle gemeinsam Liegestütze machen, sagt er, um dieser neuen Fortschrittlichkeit auch sprachlich Rechnung zu tragen, extra Frauenliegestütze zu dem, was Till und Georg und die anderen Unsportlichen machen, und nicht Homoliegestütze, wie früher.

 

Georg und Till reisen mit riesigen Koffern, riesiger Vorfreude und einem mittelgroßen Gefühl der Unsicherheit zum Skikurs. In den Koffern transportieren sie Laptops und Mäuse, LAN-Kabel, Kopfhörer und zwei Holzgestelle von Ikea, die Georgs Mutter gehören und für Frühstück im Bett gedacht sind, mit denen es aber auch möglich sein sollte, liegend AOE2 zu spielen.

Sie spielen zwischen dem Skifahren und dem Abendessen, zwischen dem Abendessen und der Nachtruhe und bis tief in die Nacht, völlig unbehelligt durch die Patrouillen der Turnlehrer, die ab zehn die Gänge entlangschleichen und mit den Vergehen der anderen Schüler – dem Rucksack voller Campari-Soda, den sie konfiszieren, dem Flascherl Poppers, das sie neben drei Jungs im Zimmer von zwei Bulgarinnen finden – so beschäftigt sind, dass sie sich nicht für das magere blaue Licht, das Schnaufen der erhitzten Laptops und das gedämpfte Flüstern aus Tills und Georgs Zimmer interessieren.

Sie spielen gegeneinander über das LAN-Kabel. Till wählt die Maya und Georg die Azteken, irgendwann wechselt Till zu den Wikingern und Georg zu den Franken, dann lassen sie beide den Zufall entscheiden, welches Volk sie spielen. Manche Matches dauern 45 Minuten, und es kommt ihnen trotzdem vor wie ein einziger Wimpernschlag, andere enden schon in der Dunklen Zeit, weil sie beide so aggressiv, so yolo an die Sache herangehen. Sie spielen 2v2 gegen andere über das gelegentlich aussetzende WLAN des Jugendsportheims, dann wieder gegeneinander über das LAN-Kabel, spielen die Nacht durch, schlafen beim Skifahren fast ein und im Sessellift tatsächlich, freuen sich den ganzen Tag darauf, am Abend wieder spielen zu können, spielen, bis ihre Laptops glühen, spielen so viel, dass Till zum ersten Mal das Gefühl hat, zusehen zu können, wie er besser wird, wie Sachen, die er monatelang nicht geschafft hat, plötzlich von selbst gelingen.

 

In der ersten Französischstunde nach dem Skikurs kommt der Dolinar früher als sonst, schon zehn Minuten nach Beginn der Stunde, in die Klasse, setzt sich auf seinen Platz und sagt eine Ewigkeit lang nichts. Er sieht abwechselnd Till und dessen Mitschüler Johannes Steiner an, kneift die Augen zusammen und sagt: «Ich hatte gerade ein sehr interessantes Gespräch mit dem Herrn Professor Betsch …»

8

Es gibt ein Limit dafür, wie oft man ein Wort aussprechen kann, bis es seine Bedeutung verliert und nur noch aus einzelnen abstrakten Lauten besteht. Till soll einen Absatz vorlesen, kommt aber nie über das erste Wort hinaus, er verbringt eine ganze Schulstunde mit diesem Wort, während 24 andere Kinder ihm zuhören.

«L’Oiseau», sagt der Dolinar.

«Lö Oseau», antwortet Till.

«Oa», sagt der Dolinar. «Oaso!»

«Aseau», antwortet Till.

«Oaseau», schreit der Dolinar.

«Osoa», wiederholt Till unter Gelächter.

«Plural», sagt der Dolinar.

«Lö soaseaus», sagt Till.

«Leh», bessert der Dolinar ihn aus. «Les oiseaux.»

«Lösoasos», sagt Till.

«Und du glaubst, dir was erlauben zu können?», fragt der Dolinar, als die Glocke zur nächsten Stunde läutet. «Du? Bringst keinen geraden Satz auf Französisch raus, aber glaubst, du kannst mit irgendwelchen A-Klasslern die ganze Nacht aufbleiben? Das war’s jetzt mit deinen Spompanadeln, Kokorda. Du kannst deine Freind am Obend treffen, aber nicht in der Schulzeit und sicher ned am Skikurs!»

 

Es gibt natürlich keine Liste, die darüber Auskunft gibt, wer es in der Dolinar-Klasse am schwersten hat, aber man könnte eine solche Liste anfertigen. Man könnte mit den psychologischen Strafen beginnen, mit Amir Khakpour, der ganz hinten auf einem Einzelplatz sitzt, mehr als zwei Meter hinter seinen Vorderleuten. Man könnte alle Schülerinnen und Schüler individuelle Listen anfertigen lassen und diese dann in einer Masterliste zusammenführen. Es gäbe zwar Diskrepanzen, denn die meisten Kinder würden sich selbst höher reihen als ihre Mitschüler, weil ihnen das eigene Leid näher ist als das der anderen. Dennoch stünden auf den ersten Plätzen bei allen dieselben Namen: Khakpour auf der 1 und dahinter, in unterschiedlicher Reihenfolge, Palffy, Steiner, Ertl, Blindstein und Ghisetti. Jeder von ihnen hat Anteile von Harry, Ron und Hermine, ist entweder klug und rebellisch oder doof und loyal oder verbringt als Einserschülerin ihre Zeit mit Kindern, die der Dolinar als schlechten Umgang erachtet.

Bis zur dritten Klasse hätte Till in allen imaginierten Listen auf einem der hintersten Ränge gestanden, vielleicht wäre er sogar vergessen worden oder zumindest einer derjenigen gewesen, deren Namen erst fallen, nachdem alle schon dachten, die Liste sei komplett, beim Durchzählen aber merken, dass doch noch jemand fehlt.

Durch Französisch ist Till von den Plätzen 22 bis 25 auf die Plätze 12 bis 17 vorgerückt.

Nach dem Skikurs lernt er, wie es ist, für einen Moment ganz oben zu sein.

9

Eine Scheidung ist wie eine Schachtel Pralinen, nur kann man bei Pralinen meistens relativ gut abschätzen, welche einem schmecken werden und welche nicht, während bei Scheidungen immer die Chance besteht, Pech zu haben. Pech ist zum Beispiel, dass Tills Mutter am Tag vor der Unterzeichnung des Scheidungsvertrags mit ihrem um einige Jahre jüngeren Arbeitskollegen Händchen haltend auf der Praterstraße gesehen wird und Tills Vater ihr daraufhin die einvernehmliche Scheidung verweigert, was zu vielen weiteren Komplikationen führt, denn eine Scheidung, die vor Gericht ausgefochten wird, ist, wie gemeinsam um eine Schachtel Pralinen herumzusitzen und zuzusehen, wie jede einzelne von Anwälten in der Mitte durchgeschnitten und einer Seite zugeteilt wird, heißt: sich darüber streiten, wie man Marzipan in Karamell umrechnet, Verpflichtungen in Urlaubswochen, Geld in Zeit.

Aus Tills Perspektive ist der neue Liebhaber seiner Mutter dennoch ein Glück, denn statt abends Arte zu schauen und Till zu fragen, wie sein Tag war, geht seine Mutter jetzt ins Kino oder tanzen; sie kommt erst spät in der Nacht zurück und manchmal gar nicht, schiebt Till nur sachte ins Bett, wenn er um zwei Uhr früh noch vor seinem PC sitzt, und behandelt ihn auch sonst immer mehr wie einen selbstständigen Mitbewohner und nicht wie ein Kind.

Tills Mutter sucht sich neue Beschäftigungen, und Tills Vater macht das, was Väter gerne tun, wenn sie ihre Kinder einige Zeit vernachlässigt haben, nämlich sich plötzlich sehr vehement in deren Leben einzumischen und ihnen zu sagen, was sich alles ändern muss. In Tills Fall geht es darum, wie viel Zeit er vor Bildschirmen verbringt, wie er sich ernährt, wer seine Freunde sind, wie wenig er sich für Sport interessiert, wie wenig Sport er macht und wie ungern er liest.

Weil sein Vater Steuertricks anwendet, um weniger als die ursprünglich vereinbarten Alimente zu bezahlen, beschließt seine Mutter, Till in den Semesterferien nicht mit ihm auf Skiurlaub fahren zu lassen. Es ist ein Dienstagabend, als sie ihren Ex-Mann darüber informiert. Till, der dienstags bei seinem Vater übernachtet, hört also nicht, wie sie es ihm sagt, sondern nur, was sein Vater im Gegenzug ins Telefon brüllt, nämlich dass diese Entscheidung das größte Verbrechen darstellt, das je an Till begangen wurde, den endgültigen Beweis, dass sie als Mutter keinerlei Interesse an Tills Wohl habe, dass sie, im Gegenteil, nur noch an die Erfüllung ihrer eigenen, immer schon egoistisch gewesenen Sexualität denke, obwohl dieses Kind, wie er Till nennt, nichts dringender brauche als eine Woche ohne Computerspiele, ohne seine Mutter und mit viel Bewegung.

 

Das größte Maß an Freiheit gab es in Tills Leben zwischen seinem achten und seinem zehnten Lebensjahr, an den goldenen Nachmittagen, als seine Mutter gerade wieder begonnen hatte, Vollzeit zu arbeiten, und Till früher aus der Volksschule nach Hause kam als sie. Er sperrte selbst die Tür auf, wärmte das Essen auf dem Herd, spielte Xbox, aß, sah fern, löffelte zum Dessert so viel Vanillepudding direkt aus dem Becher, bis ihm ein bisschen schlecht wurde. Er schaute zwei Folgen Malcolm Mittendrin und zwei Folgen Simpsons auf ORF1 und setzte sich schließlich kurz vor sechs an die Hausübungen. Wenn seine Mutter ihn beim Heimkommen dort sitzen sah, lächelte sie, streichelte ihm über den Kopf und dachte immer wieder daran, wie oft sie von ihrem Mann und etlichen anderen Menschen gehört hatte, man könne ein Kind nicht einfach so den ganzen Nachmittag allein lassen.

Dass Freiheit erst sichtbar wird, wenn sie fehlt, ist keine neue Erkenntnis. Neu ist sie nur für diejenigen, die plötzlich – sei es mit 12 Jahren oder mit 21 oder noch später – bemerken, dass ihr Leben immer mehr von Aufgaben bestimmt wird, deren Erledigung ihnen keine Freude macht, und die daraufhin erstmals darüber nachdenken, wie frei sie früher waren. Für Till verweist die Woche Freiheit, die er nicht mit seinem Vater verbringt, während der seine Mutter arbeiten geht und abends meistens noch etwas unternimmt, diese Woche, in der er seine Schultasche kein einziges Mal öffnet, auf die goldenen Nachmittage seiner Volksschulzeit, obwohl diese Nachmittage daraus bestanden, sich völlig dem Selbstverlust zu ergeben, während die Semesterferien seinen Fokus schärfen.

10

Till hat einige Hobbys ausprobiert. Er hatte Klavierunterricht, ist Tischtennis spielen gegangen, in den Judokurs und zu den Pfadfindern, und in seinem Zimmer kann man die Relikte all dieser Hobbys sehen: die zerfledderten Noten in seinem Bücherregal, den Judoanzug mit dem weiß-gelben Gürtel ganz unten im Kleiderschrank und, am offensichtlichsten, das Teleskop, das sein Vater ihm letztes Jahr in der Hoffnung geschenkt hat, Astronomie könnte vielleicht Tills Hobby werden, hätte er nur ein eigenes Teleskop.

Keiner dieser Beschäftigungen ist Till aus eigenem Antrieb nachgegangen, aber was heißt das schon, aus eigenem Antrieb? Wie soll er wissen, ob das kurze Aufflackern eines Interesses, das er spürt oder eben nicht, das ihn dazu bringt, bei etwas mitzumachen oder eben nicht, und der vorbeihuschende Schatten der Gleichgültigkeit, der ihn wieder aufhören lässt, Spiegelungen der Welt um ihn herum sind oder tiefere Hinweise darauf, was er wirklich will?

Tills Eltern kennen sich nicht gut genug aus, um einen Unterschied darin zu sehen, ob ihr Sohn mit dem Xbox-Controller in der Hand in seinem Sitzsack liegt und Radio Los Santos hört, während er auf einer Motocross-Maschine durch die Wüste fährt, oder ob er in völliger Stille stundenlang durch die Berge Alaskas reitet, um einen legendären Grizzly zu jagen, zu zerlegen und seine Einzelteile zu verkaufen.

Sie haben kein Gefühl dafür, ob er sich gerade mitten in einem Onlinematch oder an der zentralen Stelle einer Mission befindet, wenn sie sein Zimmer betreten und ihn bitten, kurz auf Stopp zu drücken, oder ob er nur so vor sich hin spielt, Menschen ersticht und über die Dächer von Damaskus flüchtet.

Ja, Tills Eltern könnten nicht einmal den fundamentalen Unterschied zwischen RTS-Spielen wie League of Legends, Dota oder Age of Empires erkennen, bei denen Till aufrecht an seinem PC sitzt und hoch konzentriert spielt, unfähig, einen anderen Gedanken zu fassen, weil er jede Sekunde in Echtzeit strategische Entscheidungen treffen und ausführen muss, und den Open-World-Spielen auf der Xbox, die ihm ermöglichen, sich treiben zu lassen.

Tills Eltern haben selbst nie irgendein Computerspiel genug verstanden, um Spaß daran zu haben, oder nie genug Spaß daran entwickelt, um es verstehen zu wollen. Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.

Trotzdem kauft Tills Mutter ihm GTA und Red Dead Redemption, denn auch die meisten anderen Eltern kaufen sie ihren Kindern, obwohl beide erst ab 18 freigegeben sind, und sie ist sich, auch wenn sie auf Ö1 immer wieder Gegenteiliges hört, sicher, dass Gewalt in Computerspielen nicht zu realer Gewalt führt, denn in Tills Wesen liegt keine Spur von Brutalität.

Erst als sie kurz vor den Semesterferien, ohne zu wissen, warum, abends vor seiner offenen Tür stehen bleibt und ihm einige Minuten zuschaut, statt gleich in ihr Zimmer zu gehen, kommen ihr Zweifel. Sie sieht, wie die von Till gelenkte Figur aus dem Spital entlassen wird, sich Waffen besorgt und wahllos auf Passanten zu schießen beginnt, auf Polizisten, die ihn zu stoppen versuchen, auf Sanitäter und Feuerwehrleute, sieht, wie er Granaten in Menschenmengen wirft, mit der Bazooka auf Polizeihubschrauber und FBI-Mannschaftswägen schießt, bis er irgendwann stirbt. Und wieder aus dem Spital entlassen wird und von vorne beginnt, auf die erstbesten Menschen zu schießen.

 

Das Missverständnis, das seitdem zwischen Till und seiner Mutter besteht, basiert darauf, dass sie seine digitalen Amokläufe als schlechtes Zeichen deutet, weil sie fürchtet, sie hingen mit der Scheidung zusammen, während er den Gedanken, spräche seine Mutter ihn aus, gar nicht verstünde, weil für ihn außer Frage steht, dass er seine Zeit nur dann mit bereits durchgespielten Open-World-Spielen verbringt, in denen er keine Missionen erledigt, sondern nur Dinge macht, die man in der echten Welt nicht machen darf, wenn er, für alles andere zu erschöpft, von der Schule nach Hause kommt.

In den Semesterferien verlagert sein Fokus sich vollkommen auf Age of Empires 2. Er spielt ranked, also auf einer nach ELO geordneten Rangliste gegen andere ihm zufällig zugeteilte Spieler seines Niveaus, und nicht gegen Georg, der mit seinen Eltern nach Hintertux gefahren ist. Er spielt auf seinem PC, der gerade so die Mindestanforderungen erfüllt, damit Dota oder League of Legends darauf laufen, der aber für ein zwanzig Jahre altes Spiel wie Age of Empires ein Mercedes ist, ein Ferrari, verglichen mit den Rikschas im Informatiksaal, und steigert seine ELO innerhalb einer einzigen Woche um unglaubliche dreihundert Punkte.

Am Anfang haben Georg und er wie Kinder gespielt. Sie spielten die Kampagnen, sie verwendeten Cheats für alles, was zu erreichen eigentlich harte Arbeit sein sollte. Sie tippten aegis in den Chat, und schon war jedes Gebäude mit einem einzigen Hammerschlag errichtet, sie tippten marco und polo und hatten die ganze Karte erkundet, holten sich durch Cheats riesige Mengen der vier Ressourcen, tippten how do you turn this on und erschufen blaue Shelby Cobras mit Maschinengewehren, die alles niedermähen.

Mit Cheats zu spielen ist wie Motorboot fahren, es macht sofort Spaß, wird aber schnell wieder fad. Dann muss man sich entscheiden: Bleibt man für den Rest seines Lebens ein Motorbootmensch, jemand, für den Glück darin besteht, auf einen Knopf zu drücken und sofort eine Wirkung zu sehen, oder lernt man segeln und fängt wieder ganz von vorne an.

 

Till und Georg lernten bald segeln, erarbeiteten sich ein Grundlagenwissen darüber, wie man die ersten paar Dorfbewohner auf Ressourcen verteilen sollte, dass man zuerst nur Nahrung sammelt, dann Holz und erst danach irgendwann Gold und Steine. Sie begannen, einzelne Völker immer wieder zu wählen, die Teutonen wegen ihrer Elite Teutonic Knights oder die Perser wegen ihrer Kriegselefanten, ohne zu bedenken, dass beide Einheiten zwar cool aussehen, aber nur in ganz wenigen Situationen die richtige Wahl sind. Sie wurden Amateure.

Georg war immer deutlich besser als Till, denn Georg konnte nicht nur jeden Nachmittag doppelt so lange AOE2 spielen wie Till, sondern übte auch an den Abenden, wenn Till kaputt in seinem Sitzsack lag und versuchte, alle Mega-Jumps bei GTA zu finden. Und wenn er wieder einmal gewonnen hatte, erklärte er Till seine Fehler: «Du hättest nicht so viele scouts producen sollen, wenn du schon siehst, dass ich gewalled bin! Das hat deine Castle-Time ur verzögert, und ich musste meinen Vorsprung bei den vils dann nur noch weiter ausbauen.»

Wenn Georg und Till über Age Of Empires reden, sagen sie nicht Dorfbewohner oder Plänkler, sondern vil oder skirm, denn das ist ja die Schönheit des Englischen: Man kann alles abkürzen und wird trotzdem verstanden. Statt Town Center sagt man TC, statt Cavallery Archer CA, während man im Deutschen Dorfzentrum oder Berittener Bogenschütze ebenso wenig abkürzen kann wie Schularbeit oder Konferenzzimmer.

Mag sein, dass Till und Georg wissen, was eine Reuse ist, vielleicht hat Till den Begriff sogar in seinem Fremdwörterheft stehen, weil er bei Undine vorgekommen ist. Das Wort fish-trap verstehen sie aber auf jeden Fall, und statt Reuse zu sagen, übersetzen sie es als Fisch-Falle zurück ins Deutsche.

«Hast du ihn gescoutet?» ist für sie ein normaler deutscher Satz. «Hast du ihn erspäht?» So spricht man vielleicht beim Dolinar, der von seinen Schülern verlangt, König wie Könich und übrig wie übrich auszusprechen. Aber nirgendwo sonst.