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Benjamin und sein Laptop waren unzertrennlich - bis ein schicksalhafter Autokauf in Lollar sein Leben ein jähes Ende setzte. Aus tiefer Verbundenheit legt seine Freundin Jessica ihm heimlich den Laptop in den Sarg. Kurz darauf geschieht das Unfassbare: Sie erhält eine E-Mail von ihm. Verwirrt, aber fasziniert, folgt sie den rätselhaften Botschaften. Mit Zugang zum Wissen der Toten aus dem Jenseits führt Benjamin sie zu den ungelösten Rätseln wie dem Tod ihrer Großmutter, Stonehenge und dem tragischen Unfall von Prinzessin Diana. Gemeinsam mit Professor Dr. Rolf Felbing aus Marburg begibt sie sich auf eine gefährliche Spurensuche. Doch die Antworten, die sie finden, sind bedrohlicher, als sie ahnt. Schauplatz des Thrillers ist die beeindruckende Landschaft des Lahntals und der Städte Gießen und Lollar.
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Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Alle in diesem Roman beschriebenen Personen, Orte und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, tatsächlichen Ereignissen oder existierenden Orten ist zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Werk dient ausschließlich der Unterhaltung und reflektiert keine realen Begebenheiten oder tatsächlichen Verhältnisse.
Die Verwendung von Namen, Organisationen, Institutionen oder geografischen Bezeichnungen erfolgt nur zu fiktiven Zwecken. Rechtsansprüche, die aus vermeintlichen Ähnlichkeiten abgeleitet werden könnten, sind ausgeschlossen.
Personenregister in alphabetischer Reihenfolge
Adamea, Medium
Anne Bentin, Patientin
Hanno Eckstein, KFZ – Händler
Professor Dr. Rolf Felbing, Dozent für Geschichte und Theologie Hartmut Drubost, Studienfreund Jan Gellert, Arbeitskollege von Marc Hapich
Mona Gerst, Chefin von Jessica
Benjamin Goldman, Grafiker, Freund von Jessica und bester Freund von Marc
Dirk Goldman, sein Vater
Petra Goldman, seine Mutter
Horst Grabort, geistlicher Leiter einer Glaubensgemeinde Karoline Haber & Andrea Duft, Glaubensgemeindemitglieder
Marc Hapich, Computerspezialist, bester Freund von Benjamin und Jessica Lars Klingmeyer, Chef von Marc und Ben
Jessica Keller, Freundin von Benjamin und Marc
Udo Keller, ihr Vater
Silke Keller, ihre Mutter
Sara Kronlei, Sekretärin von Prof. Dr. Felbing
Oliwa, Osteuropäische Pflegekraft Dr. Schlund, Arzt Renate Stein, Sekretärin Philipp Stirnberg, ein Freund
Mit jeder Geburt verlassen wir das Paradies. Mit jedem Tod holt es uns heim.
(Gerd Peter Bischoff)
I Ungewöhnliche Beziehung
II Räder der Sehnsucht
III Jenseitskontakte
IV Forschungsgefährten
V Einswerden
VI Schicksalswende
Er war zweifellos sein bester Freund. Eine Verbindung, tief wie die Dunkelheit der Nacht. Ein unsichtbares Band, das sie sicher durch jeden Abgrund führte. Jeder Augenblick, den sie miteinander verbrachten, war ein Geben und Nehmen - Treue in ihrer reinsten Form.
In Notfällen oder zu ungewöhnlichen Zeiten konnte er um Hilfe bitten. Sein Freund zögerte nie. Er war kein Mensch, sondern ein Laptop. Obwohl er nicht lebte, spielte dieser Laptop in seinem Alltag eine besondere Rolle. Er war sein Tor zur Welt, sein Werkzeug, um Träume zu verwirklichen und Hindernisse zu überwinden.
Wertvolle Einsichten wurden in einem geschützten Raum der Vertraulichkeit geteilt. Das Band war nicht nur eine Stütze, sondern auch ein Zufluchtsort für seine innersten Wünsche.
Benjamin war fasziniert von der Vorstellung eines sanften Übergangs ins Jenseits. Eine buddhistische Meditationspraxis, die bewusst vom Leben zum Tod führte. Nicht, weil er bevorstehendes Ableben fürchtete, sondern aus Neugier. Sein Freund durchforstete das Internet nach Antworten, ohne ihn je zu verraten.
Die beiden unternahmen Reisen von Gießen zum Nordkap und bis an die Südspitze Afrikas. So unkonventionell die Tipps auch schienen, gemeinsam wagten sie es. Ihre Vertrautheit war so eng, dass Benjamin sogar Ratschläge für zwischenmenschliche Beziehungen einholte.
In einem beruflichen Umfeld voller Intrigen war sein Freund ein leuchtender Wegbegleiter, welcher in der Dunkelheit den Weg wies. Er diente als Quelle der Weisheit und Zuversicht. Ihre musikalische Entdeckungsreisen führte sie zu Kompositionen, die Benjamin allein nie entdeckt hätte. Er zeigte ihm Werke, die Explosionen seiner Emotionen entfachte.
Es war eine unzerstörbare Freundschaft, geprägt von tiefem Respekt. Wie ein sorgsam gehütetes Geheimnis brauchte es lange, um sich zu offenbaren. Sein Freund förderte Benjamins geistiges Erwachen, das normalerweise ein Mensch erst in späteren Jahren erreicht wird.
Für Außenstehende mag es seltsam erscheinen, eine Maschine als besten Freund zu bezeichnen, für Benjamin war es eine ganz natürliche Verbindung. Eine Balance aus Wertschätzung und Kollegialität, die ihn durch das Dasein navigierte. Doch sein körperliches Verlangen galt Jessica.
Ihr Herzschlag hallte in ihm wider, und ihre Gegenwart übte eine eigentümliche Anziehungskraft aus. Ihre Sinne reagierten wie Seismografen auf Schwingungen und Energien, die den meisten verborgen blieben. Sie wagte sich auf Pfade, die die Grenzen der Vorstellungskraft sprengten.
In einer Menschenmenge leuchtete sie wie ein funkelnder Diamant. Mit ihrem blonden Haar und ihren anmutigen Gesichtszügen zog sie die Blicke der Männer auf sich. Ihr Lächeln verriet aber: „Ich bin vergeben.“
Wie ein Embryo im Mutterleib hatte der Laptop kein Gedächtnis. Er schwieg zu Benjamins Neugier. Ein stiller Zeuge seiner Gedanken und Wünsche.
Und so ging ihre Freundschaft weiter. Innig und stark über die Grenzen von Mensch und Maschine hinweg.
10. Mai 2023
In den behüteten Mauern ihrer geordneten Welt gedieh Jessica in einer Atmosphäre offener Vertrautheit, die ihre Eltern geschaffen hatten. Dann betrat Ben die Kulisse ihres Lebens und veränderte alles.
Bei einer Veranstaltung kreuzten sich ihre Wege und die Leidenschaft nahm ihre Sinne gefangen. Bens Erscheinung verband betörende Anziehungskraft mit einem einzigartigen Selbstbewusstsein. Der Zauber ihrer Begegnung durchdrang die Luft. Die Musik verstummte.
Ihre Körper und ihr Bewusstsein fanden sich auf geheimnisvolle Weise, als wären sie Magnete. Jessica spürte, dass Ben der Mensch war, mit dem sie eine Familie gründen und gemeinsam in eine aufregende Zukunft blicken wollte. Sie glaubte, das Unerklärliche gefunden zu haben, das ihre Leere füllen konnte, körperlich und seelisch.
Es schien, als fühle er genauso. Doch plötzlich und ohne Vorwarnung verschwand er.
Was danach geschah, beeindruckte Jessica zutiefst. So tief, dass sie es nicht wagte, darüber zu sprechen - außer mit Marc, Bens engstem Vertrauten. Sie gab alle dogmatischen Vorstellungen über körperliche und seelische Dimensionen auf.
Die Beziehung zu Ben widersetzte sich jeder Rationalität.
Ein einzigartiger Weg tat sich auf, den sie mit ihm beschritt. Zweifel an der Existenz eines Jenseits gab es nicht mehr. Diese unangreifbare Gewissheit war wie ein unerschütterlicher Fels und zerriss ihren Glauben. Sie musste eine neue Perspektive für ihr Dasein finden.
Mit jedem Tag, der verging, gewöhnte sie sich an den neuen Zustand - und nicht nur das, er wurde zu ihrer gelebten Realität. Ihre Verbindung entfaltete sich auf einer Ebene, die für die meisten Menschen unbegreiflich blieb - eine Dimension, die sie noch nicht ganz zu begreifen vermochte. Es gab keinen Unterschied zwischen Bill Gates, Mahatma Gandhi oder Prinz Charles. Sie erkannte die Bedeutung, als sie im Jenseits mit Bens Seele in Kontakt kam. Eine Offenbarung tiefer Erkenntnis.
Das Bedürfnis, es der Welt mitzuteilen, hatte sie längst überwunden. Trotz aller Hindernisse wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Beziehung in Ruhe und Intimität fortzusetzen. Der Geliebte an ihrer Seite war das Einzige, was zählte.
In den Schatten ihrer Gedanken war Ben für Jessica mehr als ein Mann - eine Melodie, die in der Tiefe ihres Seins weiterspielte, auch wenn die äußere Welt verstummt war.
26. März 2023, Gegenwart.
Der azurblaue Himmel verzauberte die Menschen an diesem Sonntagnachmittag. Ein Frühlingstag, wie man ihn sich nicht schöner vorstellen konnte. Benjamin, Jessica und Marc waren mit dem Fahrrad entlang der Lahn von Gießen über Lollar nach Fronhausen unterwegs. Die hügelige, von Wäldern durchzogene Landschaft bot nichts Spektakuläres. Man konnte die Seele baumeln lassen. Die Sonne tauchte die Natur in ein sattes Grün. Jeder Tritt in die Pedale fühlte sich an wie ein Flügelschlag. Die Drei spürten die Harmonie ihrer Freundschaft und genossen das Leben.
Das Grenzgebiet zwischen den Landkreisen Gießen und Marburg entpuppte sich als Kleinod ohne touristische Highlights. Die subtile Schönheit zog die Drei in ihren Bann. Die grünen Felder und knorrigen Bäume wirkten wie aus einem Gemälde.
„Schau dir das an“, sagte Marc und blieb stehen. Er näherte sich einem Fliederbusch, daneben lag ein sorgfältig angeordneter Strohhaufen. Ben und Jessica blieben stehen. Sollte das ein Huf sein? „Sei vorsichtig“, rief Jessica ihm zu. Marc schob mit einem Ast die Halme beiseite. Es war ein totes Schaf. Das schmutzige Fell stand ab und Schwärme von Fliegen bahnten sich ihren Weg durch das Maul ins Innere des Kadavers.
„Boah, ist das eklig!“ Jessica hielt sich das Gesicht mit den Händen zu. Ihr Humor verschwand und sie würgte.
„Was für ein Mensch macht denn so etwas? Ein Tier einfach hier abzulegen?“, entfuhr es Benjamin. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Vielleicht hat es sich von seiner Herde getrennt und nicht mehr zurückgefunden“, vermutete Marc.
„Bei uns gibt es keine Schafherden.“ Benjamin kam näher.
„Wir müssen es melden“, antwortete Jessica.
„Und wem?“ Marc runzelte die Stirn. Er zog sein Smartphone aus der Tasche, ging um den Kadaver herum und machte ein paar Fotos.
„Okay, weiter geht's, sonst ist der Sonntagnachmittag im Eimer“, schlug er vor.
Sie schwangen sich in die Sättel, doch die ausgelassene Stimmung kehrte nicht so schnell zurück. Benjamin trat in die Pedale und versuchte, den Vorfall hinter sich zu lassen.
„Igitt“, rief Jessica und spuckte. Sie fuchtelte mit der Hand vor dem Mund herum. Eine Fliege landete versehentlich in ihrem Mund.
„Was ist denn?“ Benjamin sah sie an.
„Wasser, schnell!“, stammelte sie.
Marc zerrte an seiner Satteltasche und reichte ihr eine Flasche. Jessica spülte sich den Mund aus und spuckte die Flüssigkeit mit einem Ruck ins Gras.
„Ich hatte einen abscheulichen Brummer im Hals“, keuchte sie, „mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, woher das Tier kommt.“ Sie rang nach Luft.
„Es kann nur besser werden“, erwiderte Benjamin und nahm seine Freundin in den Arm. „Alles wird gut.“
Sie beschlossen, ihre Räder weiter zu schieben. Nach einer Weile verließen sie das Feld und betraten einen Buchenwald, in dem sie der Duft des feuchten Bodens umgab. Ein Hase kreuzte ihren Weg, und als alle drei vor Schreck zusammenzuckten, lachten sie. Die Phantasie spielte ihnen einen Streich, aber die vertraute Harmonie stellte sich so schnell nicht wieder ein.
„Oh mein Gott, das sieht aus wie ein Fuß“, rief Jessica entsetzt.
Es handelte sich um ein aufgequollenes Stück Baguette.
Ihr durchdringendes Lachen blieb zwischen den Bäumen hängen. Es machte ihr Spaß, Männer zu erschrecken.
„Ich finde das nicht lustig!“ Marc presste die Lippen zusammen.
Ben schwieg. Er kannte ihre schwarz gefärbte Komik. Eine dunkle Seite, die in ihm ein Gefühl der Beklemmung auslöste. Diese Eigenschaft von ihr überfiel ihn immer wieder und zwang ihn, sich damit auseinanderzusetzen. Er bat sie mehrmals, damit aufzuhören. Aber sie konnte es nicht lassen.
Der Baumbestand veränderte sich. Unter die Buchen und Eichen mischten sich Gehölze, die nicht in diese Gegend gehörten. Es sah aus wie ein angelegter Parkweg, flankiert von zwei mächtigen Steinsäulen, die mit Moos bewachsen waren.
„Wir kommen näher“, flüsterte Marc und blieb stehen.
„Eine Szene wie aus einem Märchen und das vor unserer Haustür“, hauchte Jessica, während sie über die Baumstämme strich.
„Wie alt sind die wohl?“ „Einhundertsiebzig Jahre“, antwortete Benjamin und lächelte.
Marc sah seinen Freund an: „Was du alles weißt. Sind wir auf dem richtigen Weg?“ Benjamin nickte. Während des Studiums lernten sich die beiden kennen und teilten ihre Begeisterung für Computertechnik. Daraus entwickelte sich eine Beziehung, die bis heute hielt. In ihrem beruflichen Umfeld verbrachten sie viele Stunden vor dem Bildschirm. Die Schönheit der Natur auf diese Weise erleben zu können, war im Vergleich zur Büroarbeit etwas sehr Wertvolles.
Für beide stand schon früh fest: Es musste derselbe Arbeitgeber sein.
Marc stammte aus Heuchelheim, einem Ort in der Nähe von Gießen. Zur Verdeutlichung fügte er hinzu, dass die Stadt einst zum Römischen Reich gehörte, falls jemand den Ort nicht kannte. Benjamin wuchs im Gießener Stadtteil Wieseck auf, der noch dörflichen Charakter besaß. Dort kannte man sich noch über mehrere Straßen hinweg. Die Fachhochschule in Friedberg lag in unmittelbarer Nähe und so verbrachten sie auch ihre Freizeit zusammen. Marc und Benjamin ergänzten sich in ihrem Wissen. Ihr Wunsch erfüllte sich. Sie arbeiteten Seite an Seite. Eine europaweit tätige Grafikagentur eröffnete eine Niederlassung in Gießen. Sie gehörte zum Bereich des Werbedesigns für Discounter. Von Suppentüten über Schokoladencreme-Aufkleber bis zu Schnapsetiketten - eine abwechslungsreiche und gut bezahlte Arbeit.
Benjamin fiel es nicht schwer, Produktnamen zu erfinden, die wie die Originale klangen. Er fütterte den Computer mit seinen Ideen, wie eine Gans ihre Jungen. Marc sorgte dafür, dass das Herzstück des elektronischen Gehirns reibungslos funktionierte.
„Ich habe die Orientierung verloren“, rief Jessica und blickte in die Baumwipfel, als könne sie dort die Antwort finden.
Das Trio hatte eine Maxime verinnerlicht: Auf Radtouren kein Navigationsgerät - das erhöhte die Spannung und bescherte ihnen unentdeckte Wege und unvorhersehbare Abenteuer. Sie verließen sich auf eine Papierkarte, einen Kompass und den gesunden Menschenverstand.
Ben entfaltete das Papier: „Wir sind richtig.“
Hundert Meter vor ihnen tauchte eine mannshohe Buchsbaumhecke auf, umrankt von wildem Efeu.
Jessica blieb stehen: „Seht euch das an! Ich kann es nicht glauben!“ Inmitten der Bäume zeichnete sich die Silhouette eines kleinen Schlosses ab. Ein zweistöckiges Gebäude aus dunklem Stein erhob sich majestätisch vor ihnen. Zinnen rahmten ein flaches Dach ein, an den Ecken ragten vier Türme empor. Gotische Fenster zierten die Seiten des Gebäudes und verliehen ihm einen mystischen Charme.
„Das ist ja Draculas Haus, habt ihr so etwas erwartet?“, murmelte Marc.
„Und das direkt vor unserer Haustür. Ich habe mein ganzes Leben in Fronhausen verbracht, drei Kilometer Luftlinie von hier. Ich habe das Gebäude zwar schon von weitem gesehen, aber ich wusste aber nicht, dass es so imposant ist“, staunt Jessica.
„Warum ist das kein Besuchermagnet?“, fragte Ben.
„Keine Ahnung, das ist das Schloss Friedelhausen.
Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiger Vorhof, der von unregelmäßigen Mustern aus Naturstein durchzogen war.
Das von einem massiven Steinbogen gekrönte Eingangsportal öffnete sich wie das Maul eines Tieres.
Trauerweiden säumten den Weg. Die Freunde näherten sich dem Tor. Das Vogelgezwitscher verstummte.
„Die Bäume und alles drum herum sehen aus, als wären sie absichtlich wie ein Park angelegt worden“, bemerkte Marc.
„Keine Ahnung, meint ihr, da wohnt jemand?“, fragte Ben.
Jessica schüttelte den Kopf.
„Siehst du ein Auto oder ein Fahrrad? Sieht aus wie einer dieser 'lost places' aus dem Fernsehen. Oh wei, jetzt wird es unheimlich.“
Sie hob die Hände und formte ihre Finger zu Klauen, die sie sich vors Gesicht hielt. Ben hätte sie am liebsten zum Schweigen gebracht. Konnte sie jemals ernst bleiben? Hinter ihrer Fröhlichkeit verbarg sich der Glaube an etwas Geheimnisvolles, das hatte sie ihm einmal anvertraute.
„Hey, Leute, entspannt euch, wir sind in der Realität.
Sehen wir uns das mal genauer an“, warf Ben lässig ein.
Er lehnte sein Rad an die Buchsbaumhecke. Marc und Jessica folgten ihm. Die Kellerfenster waren mit Brettern vernagelt.
„Wow, das ist aber gruselig“, stellte Marc mit spöttischem Unterton fest.
Über eine Wendeltreppe gelangten sie zu einer von Steinsäulen umrahmten Balustrade.
„Was für eine Aussicht! Fronhausen liegt uns zu Füßen“, rief Jessica.
Unter ihnen schlängelte sich die Lahn durch Felder und Wiesen, die noch das Braun des Winters trugen.
„Hier kann man es aushalten“, sagte Marc und streckte die Arme in die Höhe.
„Das sehe ich aber anders. Was haben Sie hier verloren?“ Sie fuhren herum. Vor ihnen stand ein alter Mann mit Kinnbart und Manchesterhose.
„Wer hat Ihnen erlaubt, das Grundstück zu betreten?“, fragte er und umklammerte einen Knüppel.
„Wir dachten, äh, meinten, wussten nicht, dass hier jemand wohnt“, antwortete Marc erschrocken.
„Jetzt wissen Sie es, das Betreten fremder Grundstücke ist nicht zulässig. Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile verschwinden Sie!“ Jessica bemerkte seinen Wollpullover, der die Farbe des toten Schafes hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
„Entschuldigen Sie, aber Sie haben eine beeindruckende Wohnung“, sagte Ben und versuchte, seinen ganzen Charme spielen zu lassen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass ihm sein Aussehen viele Türen öffnete. Mit ausgestreckter Hand ging er auf den alten Mann zu.
„Jetzt reicht es mir aber. Runter von meinem Eigentum, sonst rufe ich die Polizei!“ dabei schlug er mit dem Knüppel auf seine Handfläche.
Überwältigt von der Situation rannten die drei an ihm vorbei.
„Halunkenpack, elende Gauner“, hörten sie ihn hinter sich rufen.
Als sie die alte Landstraße erreichten, schnappten sie nach Luft.
„Ich fasse es nicht, wir schreiben das Jahr 2023. Ich habe mich wie im Mittelalter gefühlt“, japste Marc.
„Mir ging es genauso. Was für ein gespenstischer alter Mann“, sagte Ben und schüttelte den Kopf. „Bei allem Respekt, Leute, ich gehe da nicht mehr hin. Es gibt eine Menge Verrückte, und dem möchte ich nicht noch mal begegnen. Gruselig, wer weiß, was sich hinter diesen Mauern verbirgt?“ „Ich glaube, wir haben nur einen verschrobenen Zeitgenossen gesehen, der in einem alten Gemäuer haust.
Lasst euch nicht täuschen“, wiegelte Jessica ab.
Benjamin wusste, dass er am Abend das Rätsel lösen würde. Für seinen Freund eine Leichtigkeit. Der Schwung des Gefälles trug sie mühelos durch das Tiefenbachtal bis zur Straße nach Lollar. Sie ließen ihre Räder einfach bergab rollen. An einer Senke erreichten sie für einen winzigen Moment die Schwerelosigkeit, die ein Kribbeln auslöste. Benjamin konnte seine Freude nicht zurückhalten und schrie aus Leibeskräften. Dabei standen ihm die Haare zu Berge.
„Guck mal, die kommen gerade recht“, bemerkte Marc und wurde langsamer.
Am Ende der Straße, die nur für den landwirtschaftlichen Verkehr freigegeben war, kontrollierte die Polizei den Verkehr.
„Das Schaf - Marc, das sind die richtigen“, erinnerte ihn Benjamin.
Ein Polizist verzog das Gesicht. „Sonntagsdienst und dann diese drei Möchtegern-Kommissare“, dachte er verärgert.
„Es liegt in dieser Richtung am Lahnufer unter einem Fliederstrauch.“
„Ja, okay, wir kümmern uns darum.“
„Ihre Laune spricht Bände“, stellte Marc überzeugt fest.
„Schieb du mal an so einem Sonntagnachmittag Dienst? Man muss nicht verrückt sein, um diesen Job zu machen, aber es hilft ungemein“, murmelte Jessica.
Einer der Gesetzeshüter sah ihnen verärgert nach, er hörte den letzten Satz. Von weitem war Stimmengewirr zu vernehmen, welches sich mit Musik vermischte. Das Lollarer Stadtfest kam ihnen gerade recht, nach dieser Begegnung genossen sie die Lebendigkeit der Menschen.
An einem Stand gab es warme Baguettes mit Knoblauchbutter und Schinken.
„Kommt euch das bekannt vor?“ Jessica traf den Nagel auf den Kopf und den beiden verging der Appetit.
Am Schmaadleckerbrunnen, den die Bronzefigur eines Lausebengels zierte, setzten sie sich auf die steinerne Einfassung. Es war wohltuend, dem Treiben zuzusehen.
Vor der Sparkasse stand eine hölzerne Bühne. Eine Jazzband sorgte für Stimmung. Einer der Musiker winkte ihnen zu, und Jessica schickte einen Handkuss zurück.
„Na, was ist denn das?“ Benjamin schaute seine Freundin skeptisch an.
Sie schwärmte: „Mein Sohlenmann, Herr Märtz, Inhaber des Orthopädiegeschäfts in Lollar. Der ist ein Ass auf seinem Gebiet, da sind die Fußschmerzen weg. Wenn du ihm deine Trittapparate anvertraust, wirst du wie im Garten Eden wandeln.“
Marc legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
„Das ist dein Lied“, stellte Benjamin lächelnd fest. Sie spielten Marcs „Nummer eins“, und es war jedes Mal amüsant, wenn er aus vollem Herzen mitsummte.
„Ich sage euch, Lennon und McCartney haben ein göttliches Meisterwerk geschaffen“, bemerkte er begeistert. „Diese Komposition - als käme sie direkt aus dem Paradies. Musik und Text verschmelzen so perfekt miteinander, dass es fast übernatürlich wirkt. Eine Verbindung, die nur diesem Duo gelungen ist.“
Mit ihrer Sensibilität für das Übernatürliche fühlte Jessica auch das perfekte Arrangement des Liedes. Die Abfolge der Töne erreichte „das Unterbewusstsein“. Mit der Melodie „im Ohr“ machten sie sich auf den Heimweg und schoben ihre Räder bis zum Ortsausgang. Fahren war angesichts der Menschenmassen unvorstellbar. Benjamins Interesse galt einem schwarzen Cabrio. Alle Ereignisse des Tages gerieten schlagartig in Vergessenheit. Das Fahrzeug stand in der ersten Reihe auf dem Parkplatz eines Autohauses.
„Ein Audi 5 Cabrio S-Klasse, schaut euch das an!“, rief er und hob sein Fahrrad über den Bordstein.
„Ich glaub’s nicht, weiße Ledersitze mit Logoprägung, Premiumfelgen, oh Mann, das halt ich nicht aus.“
Marc kannte Benjamins Blick. Er wusste, dass es kein zurück gab.
„Siebzehntausend Euro. Das ist ja fast geschenkt“, Benjamin sah hinein. „Das ist mein zukünftiges Fahrzeug.“
„Inklusive Kratzer.“ Jessica streichelte den linken Kotflügel. Der Vorbesitzer hatte beim Einparken Bekanntschaft mit einer Mauer gemacht.
Benjamin lachte: „Die paar Schrammen halten mich nicht auf, das erklärt den Preis. Der hat keine zehn Jahre auf dem Buckel, unglaublich.“
Marc zögerte: „Bei dem Angebot läuten bei mir alle Alarmglocken.“
Jessica überlegte. Ihre Ansprüche an ein Fahrzeug beschränkten sich darauf, von A nach B zu kommen.
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich kann es kaum erwarten, mit dem Schlitten die Straßen unsicher zu machen“, sagte Benjamin euphorisch.
Er umarmte seine Freundin. War der Himmel je strahlender?
„Und das Geld? Woher willst du das nehmen?“
„Schatz“, sagte er und streichelte Jessica zärtlich über die Wange, „das soll nicht deine Sorge sein. Am Wochenende machen wir den ersten Ausflug. Ich verlass mich auf euch, aber bitte mit Kopfbedeckung.“
Der Straßenkreuzer blieb für ihn hier, morgen würde er sich mit dem Autohändler in Verbindung setzen. Während Jessica an diesem Abend den Fernsehkrimi genoss, lüftete Benjamin mit Hilfe seines Freundes das Geheimnis des alten Gemäuers. Das Schloss Friedelhausen wurde 1852 erbaut und der heutige Besitzer, ein Graf, war einer seiner Nachfahren. Den lernten sie kennen. In einem älteren Zeitungsbericht hieß es, er lebe zurückgezogen.
„Alles passt“, stellte er fest.
Jessica blickte kurz auf, bevor sie sich wieder ihrem Krimi widmete. Auch erfuhr Benjamin, dass es sich bei dem Auto um einen Sonderpreis handelte. Seine Finger lagen immer noch auf dem Laptop.
„Danke.“
Renate Stein näherte sich Benjamins Ohr: „Mahlzeit!“
Sie betonte jede Silbe, in der Hoffnung, dass ihre Annäherung seine Aufmerksamkeit wecken würde. Er schien an seinem Laptop zu kleben.
„Wir gehen zum Chinesen“, sagt sie, „da gibt es leckeres Sushi. Komm mit, eine Pause wird dir gut tun.
„Ich kann nicht. Es ist zu wichtig“, antwortete er, ohne aufzusehen.
Sie schlang sich ihr Tuch um den Hals und runzelte die Stirn. „Nun, wenn du stirbst, sollten wir darüber nachdenken, dir deinen Laptop mit in den Sarg zu geben.
Aber bis dahin ist es wichtig, dass du eine Pause machst.“
„Absolut.“ Er hatte weder die Zeit noch die Muße, sich mit ihr zu beschäftigen. Eine Unterbrechung konnte er sich heute nicht leisten. Benjamins Finger ruhten auf der Tastatur. In vier Minuten war es soweit. Das Update für das Grafikprogramm stand kurz bevor. Viel zu wichtig, um es mit rohem Fisch im Mund zu verpassen.
Die Softwareentwickler benötigten aufgrund der Coronapandemie mehr Zeit für die Neuerungen. Das Programm diente ihm als verlängerter Arm. Er benutzte es, ohne darüber nachzudenken. Es drang in ihn ein und wurde ein Teil von ihm. Welche Überraschungen lagen heute wohl auf dem Gabentisch? Die Spannung ähnelte der, die er in seiner Kindheit am Weihnachtsabend empfunden hatte. Der Knopf pulsierte und Benjamin drückte ihn, als würde er das Tor zum Garten Eden öffnen.
Neun Minuten bis zum Start. Genüsslich verschlang er seine Banane. Im Großraumbüro war im Moment niemand anwesend. Seine Prioritäten lagen an diesem Tag woanders, das Surren des Handys störte. Er wollte nicht von seinem Smartphone abgelenkt werden. Es verschwand in der untersten Schreibtischschublade.
Einen Anruf von Jess abzulehnen, war riskant, denn die Folgen konnten schwerwiegend sein. In diesem Moment spielte das aber keine Rolle. Er hatte eine Abneigung gegen Smartphones. Alles in allem empfand er diese abgespeckte Form der digitalen Kommunikation und Überwachung als lästig. Seine Finger hatten Mühe, die Tasten zu treffen, und er meinte jedes Mal, mit zusammengebundenen Füßen schwimmen zu müssen.
„Bing“ - der Download war abgeschlossen. Benjamin startete das Betriebssystem und rief das Programm auf. Es erschien ihm wie ein strahlender Sonnenaufgang an einem Sommertag, aber wo waren die gewohnten Menüs? Sie versteckten sich in den Tiefen des Programms und warteten darauf, entdeckt zu werden. Das kannte er schon.
Es dauerte nicht lange, bis er sich zurecht fand. Mit jedem Klick fühlte er sich sicherer. Ein Abenteuer aus der Komfortzone. Die selbstständige Einfärbung in der 3D-Ansicht beeindruckte, aber die Möglichkeit, Gesichter von Fotos einer Figur zuzuordnen, war ein Quantensprung.
Marc hatte als Erster die Mittagspause beendet. Freudig stellte er die Pappschachtel mit den roten Buchstaben auf den Tisch. Der Geruch von Soja und Algen erfüllte den Raum.
„Noch warm für dich.“ Benjamin schüttelte den Kopf und lächelte dankbar. Auf ihn konnte er sich verlassen. Ohne den Computerbildschirm aus den Augen zu lassen, griff er nach den gebratenen Nudeln.
„Was machst du, wenn man dir den Laptop wegnimmt?“ Renate hielt ihm einen Zettel unter die Nase: „Der Chef will dich sprechen. Es geht um ein Projekt, die Entwicklung einer Verpackungsserie für Coronartests.
Die soll es künftig im Discounter geben. Du sollst dir eine Präsentation ausdenken“.
Dank der Neuerungen im Grafikprogramm war das ein Kinderspiel.
Marc rutschte mit seinem Bürostuhl neben Benjamin:
„Jess hat mich angerufen, du bist nicht ans Handy gegangen.“
„Ja, ich weiß. Sie kann ganz schön anstrengend sein. Aber du weißt, was passieren kann?“
Marc nickte.
„Nochmal so ein Joke von ihr, nein danke“, erwiderte Benjamin.
Die Erinnerung an ihren perfiden Scherz vor drei Wochen ließ ihn erschaudern. Er hegte tiefe Gefühle für seine Freundin, doch in diesem Moment kamen Zweifel an ihrer Liebe auf. Sie schickte ihm das Ultraschallbild per Whatsapp mit den Worten „dreifaches Glück“. Die Nachricht überwältigte ihn. Er stellte sich die entscheidende Frage. Gelingt es beiden, diese einschneidende Veränderung in ihrem Leben zu akzeptieren?
Das war in der Frühstückspause. Seine Arbeitskollegen bekamen den Schock mit. Sie gestand ihm, dass sie mit Zwillingen schwanger wäre. Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag. In diesem Moment hasste er sein Smartphone abgrundtief. Sein Gesicht wurde aschfahl und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Der Schock ließ sich nicht verbergen. Marc stand hilflos daneben. Wie konnte eine Frau auf so etwas kommen?
Benjamin war fast handlungsunfähig. Marc war froh, Single zu sein. Er betrachtete es als glücklichen Zufall, dass er nicht in Beziehungsgeflechte verstrickt war, die solche Situationen heraufbeschworen.
Abends empfing Jessica Benjamin strahlend und drehte sich vor Freude im Kreis.
„Was für ein Glück wir haben!“ Er hatte sich mittlerweile beruhigt und akzeptiert, dass das Leben unvorhersehbare Wendungen nehmen nun mal nehmen konnte. Im Gegenteil, drei Kinder auf einen Schlag bedeutete, dass er in zehn Jahren das Schlimmste hinter sich hätte. Er stellte sich vor, wie eine große Familie seinen Alltag verändern würde.
Sie schaute ihm in die Augen. Mit diesem Scherz wollte sie seine Reaktion testen. Benjamin erstarrte. Er war unfähig nur ein Wort zu sagen.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals. „Hey das war ein Joke. Wir schlagen dem Ernst des Lebens ein Schnippchen. Keine Babys, Ehrenwort.“
Die Nachricht blieb in seinem Bewusstsein hängen. Das war der zweite Schlag des Tages. Es traf ihn mit voller Wucht. Das war kein banaler Scherz mehr. Einfach so zur Seite schieben, das funktionierte nicht. Entsetzt stieß er sie von sich, sein Herz raste. Sie erkannte, dass sie zu weit gegangen war, zu spät.
„Verzeih mir, bitte, bitte!“, flehte sie, ihre Worte voller Reue. In der Hoffnung, die Schatten des Schmerzes zu vertreiben, küsste sie ihn mit leidenschaftlicher, fast fiebriger Intensität. Der Duft ihrer Haut umhüllte ihn, ihre Fingernägel gruben sich in seinen Rücken. Ein Kampf tobte in ihm. Sein Widerstand schwand mit jedem Atemzug.
Er kannte sie, und gegen ihre verführerische Dominanz war er machtlos. Ein Liebesakt mit ihr hatte das Potential, ihn direkt an den Rand der Galaxie zu schleudern. In diesem dramatisch verhängnisvollen Moment erlag er ihr.
Der Strudel der Leidenschaft ließ ihn alles um sich herum vergessen. Raum und Zeit verschmolzen zur Illusion.
Getrieben von unstillbarer Sehnsucht tauchte er ein in ein überwältigendes Erlebnis. Trotz der Gefahr, die von ihrem makabren Spiel ausging, konnte er nicht widerstehen, denn sie war eine Göttin fernab der Normalität des Alltags.
Diese Aura weckte die tiefste Sehnsucht in ihm. In diesem Augenblick gab es nur sie und ihn. Das Entsetzen löste sich für diesen Moment auf, um später wie eine Wasserleiche wieder aufzutauchen.
Benjamins Traum sollte in Erfüllung gehen. Am Nachmittag besichtigt er das Auto in Lollar. Die geöffneten Seitenscheiben verrieten, dass es zum Verkauf stand. Herr Eckstein ging freudig auf Benjamin zu und schüttelte ihm die Hand.
„Sie haben wirklich eine gute Wahl getroffen“, sagte er mit Anerkennung in der Stimme. „Zwei Vorbesitzer, ich sage Ihnen, Cabrios fährt man nicht, Cabrios lebt man.“ Seine Worte verrieten die Begeisterung für das Fahrzeug. Mit einem Surren öffnete sich das Stoffdach und gab den Blick auf die feinen Risse der Ledersitze frei. Man sah sie erst jetzt.
„Leder - das ist was fürs Leben“. Herr Eckstein las an Benjamins Haltung ab, was in ihm vorging.
„Ich sag Ihnen was, ich gebe Ihnen hochwertige Sitzbezüge gratis dazu. Hier ist der Schlüssel, machen Sie doch mal eine Probefahrt.“
Obwohl Benjamins Entschluss feststand, konnte es nicht schaden, sich das Auto genauer anzusehen. Seine erste Fahrt in einem offenen Wagen lag vor ihm. Eine Stunde später kam er zurück. Das war sein Neuer. Nicht nur das Fahrgefühl, sondern auch die Aufmerksamkeit der Leute, vor allem der Frauen, war eine neue Erfahrung. Er spürte die Bewunderung und sah, wie sie ihre Sonnenbrillen zurechtrückten. Ein attraktiver Kerl in so einem Schlitten.
Er genoss das Interesse und ließ sich von den Flirtmomenten mitreißen.
Herr Eckstein ergänzte den Kaufvertrag um die wichtigsten Details. „Sie haben drei Tage Zeit, ihn umzumelden.“
„Ja, kein Problem.“ Benjamin bezahlte die Summe. Trotz des drückenden Kredits, den die Kasse am Morgen mit ihm ausgehandelt hatte.
„Herr Goldman, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer erstklassigen Fahrzeugwahl.“ Unter dem Schreibtisch zog er eine Flasche Sekt mit dem Logo des Autohauses hervor.
„Lassen Sie uns anstoßen, auch auf Ihre Frau, die sicher schon auf Sie wartet.“
Benjamin lachte und trank einen Schluck.
„Danke, ich richte es ihr aus.“
Er fragte sich, woher er die Überzeugung für seine Aussage nahm. Autoverkäufer schienen eine Spezies für sich zu sein.
„Die Papiere immer ins Handschuhfach“, betonte Herr Eckstein, als wäre Benjamin ein Fahranfänger.
Filip, Ahmed, Ayetullah und Mertcan - die unbestrittenen Coolness-Experten - waren das Herz von Herrn Ecksteins Team. Wie eine Jury bei einem unsichtbaren Wettbewerb standen sie da, die Arme lässig in die Hüften gestemmt, und nickten ihm bewundernd zu. Sein Auftritt? Glatte 10 von 10 - cooler als jede Klimaanlage im Hochsommer. Das sah man nicht alle Tage! Im Rückspiegel sah Ben, wie sie ihm mit ihrem Chef nachschauten, wie ein perfekt eingespieltes Team – jeder an seinem Platz, ohne ein Wort, aber genau wissend, was als Nächstes kommt.
Zielstrebig fuhr er nach Bellnhausen. Der Bäcker galt als Meister seines Fachs, und diese Meisterschaft war jetzt gefragt. Die dunkelhaarige Bedienung musterte ihn. Seine Haare standen ab wie der Schopf eines Kakadus.
„Mein neues Cabrio. Ich glaube, ich brauche eine Kappe.“
Er fuhr sich durchs Haar.
Sie lachte.
„Na, dann sind unsere Windbeutel genau das Richtige für Sie. Die Füllung habe ich selbst gemacht. Ich probiere übrigens immer, was ich verkaufe.“
Benjamin schmunzelte und genoss die Atmosphäre des Familienbetriebs - eine Seltenheit. Er meinte, das Wohlwollen zwischen Schokolade und Hefe schmecken zu können. Das Gefühl von Vertrautheit und Handwerkskunst berührte ihn.
Am Straßenrand standen Kinder mit ihren Müttern und staunten. Meine Güte, er war doch nicht der Papst. Was so ein Auto ausrichten konnte, unglaublich. Was sein Äußeres anging, konnte er es vielleicht noch verstehen. Der Duft von frisch gemähtem Gras stieg ihm in die Nase. Er schwebte in einem Rausch von Freiheit und Abenteuer.
Dieses Fahrzeug eignete sich nicht für den Wettstreit auf der Autobahn. Ihm ging es um Unabhängigkeit, während er fernab von jeder Hektik über die Straßen glitt. Er entschied sich für die alte Landstraße nach Lollar. Vor zwei Tagen war er mit seinen Freunden diese Strecke geradelt.
Aus dem CD-Spieler erklang sein Lieblingslied: „Mit jedem Atemzug kam ein Hauch Leben, Leben geht vorüber ...“.
Das Schild „Nur für Anlieger“ ignorierte er. Er erinnerte sich an das Gefühl der Schwerelosigkeit. Konnte er sie auch motorisiert erleben? Er trat das Gaspedal durch, verfluchte es aber sofort wieder. Am tiefsten Punkt der Senke parkten zwei Autos, die seinen Versuch vereitelten. Benjamin sah einen Mann, der Kisten einlud, und es handelte sich nicht um einen Supermarkteinkauf - es ging um ein dubiöseres Geschäft.
Neben den Autos stapelten sich weitere Kisten, darüber lag eine Decke. Trotzdem waren die Umrisse zu erkennen.
„Schusswaffen!“, schoss es Benjamin blitzschnell durch den Kopf. Die mit Graffiti besprühten Betonpfeiler sollten Deckung bieten. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort.
Zwei weitere Männer sprangen aus dem Gebüsch.
Benjamin musste langsamer fahren. Dabei sah er zu viel, denn einer der Männer startete seinen Wagen und folgte ihm.
Im Rückspiegel sah er, wie sein Wagen immer näher kam.
Sein Herz klopfte und sein Atem ging schneller.
„Spürst du dein Leben wie im Nebel? Kaum zu glauben, dass es kaputt geht ...“, spielte die CD weiter. Das Lied spornte ihn an, trotzdem musste er die Nerven behalten.
Die Überquerung des Autobahnzubringers nach Gießen war keine Spielerei mehr.
„Großer Gott, lass die Straße frei sein“, flehte er und schoss wie ein Pfeil über die Fahrbahn. Der Verfolger bemühte sich, ihm auf den Fersen zu bleiben. Benjamin durfte nicht langsamer werden. Mit 120 Stundenkilometern passierte er die Hühnerschar eines Bio-Bauernhofes. Aufgeschreckt rannten die Tiere in alle Richtungen davon.
Am Ortsschild von Lollar vorbei raste er in die Innenstadt.
Am Eisengießerdenkmal flog er vorbei. Herr Eckstein erkannte das Auto sofort aus. Er konnte kaum glauben, was für eine waghalsige Fahrweise Benjamin an den Tag legte. Die Szenerie wirkte wie ein Alptraum, während das Fahrzeug mit einem Höllentempo weiterfuhr. Er bekam eine Gänsehaut und ahnte, dass dies der Beginn einer gefährlichen Fahrt war.
Vor dem mongolischen Imbiss bildete sich ein Stau.
„Lass dich einfach von ihr führen, denk schon gar nicht nach ...“, die Musik erfasste ihn bis in die Tiefen seines Wesens. Mit einem kühnen Schritt ließ er sich darauf ein. Um zu überholen, scherte er nach links aus.
Jessica befestigte den Karabinerhaken an der Decke und überprüfte die Seile. Sie zog Rolf Felbings Füße nach oben und drückte die Arme auf die Behandlungsliege.
„Das tut gut, meine Wirbelsäule schmerzt kaum noch.“
„Das ist doch mal ’ne Ansage, wir sind auf dem Weg der Besserung.“
„Ich könnte ewig so liegen bleiben“, antwortete er.
„Na, ich glaube, da würde Ihre Familie aber protestieren.“
Jessica hatte ihre Leidenschaft mit dem Beruf verbunden.
Das verdankt sie einem Zufall. Sie begleitete ihre Mutter zur Physiotherapie. Dort spürte sie zum ersten Mal die Kraft dieser Tätigkeit. Die Möglichkeit, Menschen zu helfen, die den Glauben an ihre Selbstständigkeit verloren hatten, verlieh ihr Autorität.
„Fehlanzeige, es werden keine Beschwerden kommen, ich bin Single“, sagte Rolf Felbing.
Jessica war es peinlich. Ihre Zunge arbeitete wieder schneller, als ihr lieb war. Die Chefin hatte sie bereits darauf hingewiesen.
„Tut mir leid.“
„Dass ich allein lebe?“, fragte Rolf Felbing.
„Nein, nicht deswegen. Es steht mir nicht zu, so persönlich zu werden.“
„Ach, das ist schon in Ordnung. „Ich habe einen Beruf, der sich nicht mit einem Familienleben vereinbaren lässt.“
„Jetzt bin ich aber neugierig geworden“, bemerkte Jessica und lockerte die Fesseln.
„Was ist Ihr Beruf?“ 34
„Ich bin Professor für Geschichte und Theologie, jedoch hauptsächlich für Geschichte zuständig.“
„Was machen Sie da?“
„Ich bringe jungen Leuten bei, was in der Vergangenheit passiert ist.“
„Ach, Sie sind Lehrer?“
„Ja, Dozent an der Universität Marburg. Wir beschäftigen uns auch mit Knochen, so wie jetzt. Die Geschichte birgt viele Geheimnisse, und wir sehen nur die Spitze des Eisbergs. Zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht erklären können, gibt es unzählige Rätsel“.
„Man könnte also sagen, dass ich eine Geschichtsstudentin bin, die sich der Erforschung von Knochen unter einem geheimnisvollen Mantel aus Muskeln, Adern und Fett widmet“, scherzt Jessica.
Beide lachten.
„Kannst du mal kommen?“, ihr Kollege wagte es, während einer Anwendung den Kopf durch die Tür zu stecken.
Für die Dauer einer Behandlung gehörte der Raum dem Physiotherapeuten und dem Patienten.
„Du siehst doch.“
Er griff nach ihrem Arm und zog sie in den Flur. „Ich mache weiter. Du sollst ins Büro der Chefin kommen!“ Sie hielt einen Moment inne. Was drängte so? „Laufen Sie mir nicht davon, ich bin gleich wieder da!“, rief Jessica Rolf Felbing zu.
Mona Gerst gab ihr den Telefonhörer: „Jess, Ben ist etwas passiert.“
Am anderen Ende der Leitung schluchzte Marc.
„Wer sind Sie? Ist das ein Fake-Anruf? Ich bin die Falsche für den Enkeltrick“, rief Jessica aufgebracht.
„Nein, ich bin es wirklich, Marc. Ben ist tot. Ich habe mit deiner Chefin gesprochen. Du wirst nach Hause gebracht.“
„Warum?“ „Hast du mich nicht verstanden? Ben ist tot.“
„Was redest du da? Das kann nicht sein. Er wollte doch heute sein Auto abholen.“
„Ja, genau. Da ist es passiert, ein Unfall zwischen Lollar und Gießen. Sie haben versucht, ihn zu reanimieren. Jess, es ist so furchtbar.“
Marc brach wieder in Schluchzen aus. Er konnte nicht mehr sprechen.
Jessica ließ den Hörer fallen, ihre Knie versagten. Sie stürzte in die Arme ihrer Chefin, die sie auf den Schreibtischstuhl setzte. Die Worte entzogen sich ihrem Verständnis und die Realität traf sie mit überwältigender Wucht. Die Welt um sie herum verschwamm und verwandelte sich in einen undurchdringlichen Nebel.
Arme und Beine gehorchten nicht mehr ihrem Willen. Mit einer unkontrollierten Bewegung schleuderte sie alles von ihrem Schreibtisch, als ob sie damit die Wahrheit verändern könnte.
„Nein!“, schrie sie aus Leibeskräften.
Zwei Kollegen eilten zu Hilfe und versuchten, sie zu beruhigen. Danach verharrte Jessica in apathischer Reglosigkeit. Ihr Blick war auf die Yucca-Palme in der Ecke des Raumes gerichtet. Nichts schien in dieser Sekunde wichtiger zu sein als die Pflanze. Jede Spur von Energie war aus ihr gewichen.
„Wir bringen dich nach Hause“, sagte eine Kollegin.
Rolf Felbing sah, wie Jessica gestützt zum Auto geführt wurde. Er ließ den verdutzten Therapeuten wortlos stehen.
Als er auf dem Parkplatz ankam, war das Auto mit Jessica verschwunden. Es musste etwas Unheilvolles geschehen sein.
Eine halbe Stunde später erreichten sie Fronhausen. Marc wollte auf keinen Fall, dass man Jessica in Benjamins Wohnung brachte. Er wartete mit ihren Eltern vor dem Haus. Silke Keller nahm sie in den Arm.
„Ben kann nicht tot sein, ich war gestern noch bei ihm ...“, sagte Jessica mit brüchiger Stimme und verwirrtem Gesichtsausdruck. Die Erinnerung an ihre körperliche Nähe zog ihr das Herz schmerzhaft zusammen.
„Mein Kind, ich weiß“, strich Silke Keller ihr über den Kopf.
Am Abend verabschiedete sich Marc.
„Wer kümmert sich um sie?“, fragte Udo Keller und drückte Marcs Hand.
„Keine Sorge.“
Für ihn zählte vor allem, dass er Jessica in guten Händen wusste.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Jessica. Der Stoff des Sofas kratzte an ihren Beinen. Bens Eltern hatten ihre eigenen Vorstellungen von der Einrichtung ihrer Wohnung. Für sie war Feng Shui ein Dogma, das sie umzusetzen versuchten.
Neben dem Fernseher thronte eine goldene Buddhastatue, die andere Seite zierte eine beleuchtete Glaskugel.
„Er wollte dieses Auto haben, das müssen wir akzeptieren. Jeder Mensch ist einzigartig. Seine Seele führt ein Eigenleben.“
Schon vor Bens Tod konnte Jessica mit den Lebensweisheiten seiner Eltern wenig anfangen. Sie identifizierten sich als Christen und gleichzeitig als Anhänger des Buddhismus.
„Das eine schließt das andere nicht aus“, erklärte der Vater.
Ihre Wurzeln waren fest in der Realität verankert. Aber sie bargen eine schwer zugängliche Mystik. Jessica glaubte, eine Träne im Augenwinkel von Bens Mutter zu sehen. Der letzte Wunsch ihres Sohnes war eine anonyme Seebestattung.
„Seine Asche soll von einem Boot aus in die Nordsee gestreut werden? Allein, ohne uns?“, schluchzt Jessica.
Petra Goldmann setzte sich zu ihr. Das Sofa gab unter ihrem Gewicht nach und die beiden Frauen berührten sich. Ein Hauch von Unbehagen prägte die Atmosphäre zwischen den beiden. Hinter einer Maske gespielter Normalität konnte sich keine von beiden entspannen.
„Bens Liebe zum Wasser und zum Meer rührt von den Ferien her, die wir in seiner Kindheit in Krummendeich verbracht haben. Ein beschauliches Dorf in der Nähe von Cuxhaven“.
Petra Goldmann starrte mit unheimlich glasiger Miene aus dem Fenster.
„Weißt du, sein Körper ist nur eine Hülle, die seinen Geist beherbergt. Sein Bewusstsein befindet sich auf der Reise.
Es entscheidet sich, was die Zukunft für ihn bereithält. Er ist jetzt im Bardo. Die Seele braucht siebenundvierzig Tage, um alle Prüfungen zu bestehen.“
Jessica schaute Petra Goldmann misstrauisch an. Was für ein esoterischer Unsinn, den sie da von sich gab. Aber sie beschloss, ihre Gedanken für sich zu behalten. In dieser Umgebung fand sie nicht den Trost, den sie sich erhofft hatte. Marc saß auf einem Wurzelholzhocker.
Nach einer Weile fragte er Benjamins Mutter: „Worauf gründet sich Ihr Glaube?“
„Es ist der Glaube, der keine Beweise braucht.“
„Jesus war auf der Erde“, erwiderte Jessica.
Sie nickte.
„Ja, das stimmt. Der Buddhismus akzeptiert das. Aber der Kerngedanke, dass die Existenz ewig ist, ohne Anfang und Ende, unterscheidet sich vom christlichen Weltbild.
Mit der Geburt von Siddhartha Gautama wurde der buddhistische Glaube für alle Menschen verständlich.
Jesus war vor zweitausend Jahren der Gesandte dieses Prinzips. Für mich ist beides gleich wichtig.“
Die Wellen der spirituellen Philosophie schlugen auf Jessica ein wie ein mächtiger Sturm, der ihr Innerstes aufwühlte. Ein unbändiger Drang überkam sie, diesem übersinnlichen Nebel zu entkommen. Zum Glück tauchte Ben nicht in diese Welt ein.
„Marc, bitte lass uns gehen.“
Petra Goldmann legte zum Abschied die Handflächen aneinander und senkte den Kopf.
Ben rief damals seine Eltern vom Auto aus an. Einige Stunden später teilte er ihnen persönlich mit, dass es sich um einen Streich seiner Freundin gehandelt habe.
Inzwischen hatten Petra und Dirk Goldmann, wie es bei praktizierenden Buddhisten üblich ist, drei von Jasminblüten umrahmte Kerzen angezündet. Die Vorstellung, Großeltern von Zwillingen zu werden, war ein göttliches Geschenk. Kurze Zeit später mussten sie die Lichter löschen und die Blumen zerstören. Jessica ahnte nicht, welch schweres Karma sie damit auf sich geladen hatte.
Petra und Dirk Goldmann blieben ruhig und nahmen den Tod ihres Sohnes als unabwendbares Schicksal hin.
Erst nach zwei Kilometern legte Jessica den Sicherheitsgurt an. Sie fühlte ihn wie eine Fessel, die sie daran erinnerte, wie beengend das Dasein sein konnte.
„Was sagst du zu dem Verhalten?“ Marc schwieg einen Moment.
„Ich kenne die beiden schon ewig, das sind normale, alltägliche Menschen. Aber ist es nicht tröstlich, wenn der Glaube einem so viel Halt gibt?“ „Hast du gesehen, mit welcher Gelassenheit sie alles ertragen? Es ist unfassbar, sie haben ihren Sohn verloren.“
„Ja, ich weiß, ich war dabei, als sie für die Beerdigung unterschrieben haben. Stocksteif haben sie dagesessen.
Mein Onkel sagt, dass heutzutage ein gewisser Synkretismus in Glaubensfragen üblich ist, solange die Menschen zufrieden sind. Und anonyme Bestattungen sind nichts Ungewöhnliches.“
Sie blieben vor Bens Wohnung stehen. Marc sah Jessica mitfühlend an: „Wird es gehen?“
„Ja. Ich war die ganze Zeit schon dort. Ich fühle mich ihm dann so nah, und wenn es still ist, kann ich ihn hören“, sagte sie.
„Marc. Ich möchte ihn sehen.“
„Wie bitte?“
„Ich will ihn noch einmal sehen.“
„Nein, Jess, das ist keine gute Idee, glaub mir.“
„Er ist doch bei deinem Onkel, oder?“ Marc wusste, dass sie in ihrer Trauer nach einer Möglichkeit suchte, sich zu verabschieden.
„Was soll das? Er ist bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen.“
Sie öffnete die Wohnungstür.
Die zusammengerollte Bettdecke erinnerte an Ben.
Jessica begann zu weinen.
„Ich will mich verabschieden, verstehst du das nicht? Ich brauche ein Ritual, etwas, das den Schmerz lindert. Ich kann nicht verstehen, dass ich nicht an seiner Beerdigung teilnehmen darf.“
Marc sah sie verzweifelt an: „Damit müssen wir leben.“
Sie sah Bens Laptop. Ein Gefühl der Gewissheit durchströmte sie. Der Gedanke war in den letzten Tagen gereift und trieb sie unaufhaltsam an. Sie nahm ihn auf den Arm wie ein Neugeborenes.
„Ich will ihn Ben mit auf seine letzte Reise geben. Dann schließen wir den Sarg wieder“, sagte sie entschlossen.
„Er bildete seinen Lebensatem, spürst du das nicht? Sein Wunsch drängt sich uns förmlich auf. Wenn er könnte, würde er darum bitten, ich weiß es. Es bleibt das Letzte, was ich für ihn tun kann - es ist eine unverzichtbare Anerkennung.“
„Du bist verrückt! In Deutschland ist das verboten. Mein Onkel bekommt Riesenärger, wenn das rauskommt.“
„Ich muss es tun“, sie klang entschlossen und voller Überzeugung.
Marc half seinem Onkel oft und hatte den Schlüssel zum Kühlraum.
„Bist du mein Freund oder nicht?“ Er fühlte sich in die Enge getrieben und schnappte nach Luft.
„Okay, ich werde sehen, was ich tun kann.“ Alles in ihm sträubte sich.
Jemand hatte eine rote Rose auf Benjamins Schreibtisch gelegt. Die Stimmung im Großraumbüro war gedrückt.
Das penetrante Piepen der Computer bildete einen unangenehmen Kontrast dazu. Marc blickte auf die Blume und nagte an seinem Bleistift.
„So schnell kann es gehen. Niemand hat damit gerechnet.
Und der anonyme Abgang, das habe ich noch nie erlebt“, bemerkte Renate Stein. Sie rollte mit ihrem Bürostuhl zu Marc hinüber.
„Wenn man sich das so überlegt, in drei Wochen gibt es dieses Büro nicht mehr. Unfassbar. Wie lange wart ihr befreundet?“ „Wir sind es immer noch“, korrigierte er sie.
„Oh, Entschuldigung, ich meine, wann habt ihr euch kennengelernt?“ „In der fünften Klasse.“
„Du bist erstaunlich tapfer“, Renate Stein sah Marc mitfühlend an.
„Ja, so soll es aussehen, ich will nicht wahrhaben, dass er fort ist. Ich denke, er kommt gleich um die Ecke.“
Renate Stein drang nicht zu ihrem Kollegen durch. Marc vergoss keine Tränen. Zum Glück lagen Benjamins Dateien zugriffsbereit auf einem Server. Keiner der Mitarbeiter konnte verstehen, warum der Konzern beschlossen hatte, den Standort Gießen aufzulösen. Neuer Eigentümer und der Rotstift wurde gnadenlos angesetzt.
Marcs Gedanken schweiften ab. Am Abend stand das Date mit Jessica auf dem Programm. Um 20 Uhr verließ sein Onkel das Haus. Der Gedanke an das Risiko und die Konsequenzen ließ seinen Puls rasen. Gestern bat sein Onkel um Hilfe bei einem Computerproblem. Er inspizierte noch einmal die Räumlichkeiten. Im Kühlraum standen drei Särge, einer davon aus Kiefernholz.
Um 16 Uhr verließ Marc seinen Arbeitsplatz. Hunger verspürte er an diesem Abend nicht. Es schlug 22 Uhr. Er musste Jessica abholen. Dunkel gekleidet macht er sich auf den Weg. Vor Bens Haus blieb er im Auto sitzen. In einem Zimmer brannte gedämpftes Licht. Warum hatte er sich darauf eingelassen? Seine Stimmung schwankte in Intervallen. Die Störung der Totenruhe sowie unerlaubte Beigaben stellten strafbare Handlungen dar. Aber er musste es tun, um Jessica zu beruhigen.
„Hallo, alles in Ordnung?“ Auch sie trug dunkle Kleidung.
Der Laptop steckte unter ihrer Jacke.
„Du weißt …“.
„Ja, ja, ich weiß“, antwortete sie angespannt.
Die Nervosität verdrängte für einen Moment die Trauer.
Bis zur Ausfahrt „Licher Straße“ in Gießen wechselten sie kein Wort.
„Ich habe das Gefühl, die Leute starren uns nur an.“ Marc umklammerte das Lenkrad.
„Das bildest du dir ein.“
„Wir reden nur das Nötigste. Das Haus liegt mitten in der Stadt“, betonte Marc.
Jessica nickte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Jetzt kam der heikle Moment. Eine letzte Möglichkeit, Ben noch einmal nahe zu sein. Eine Mischung aus Geheimnis und potentieller Bedrohung lag in der Luft. Ihr Atem verschmolz mit der Stille. Dunkelheit hüllte den Hintereingang ein. Es roch nach Blumen, Holz und Desinfektionsmittel.
„Lass mich vorgehen, ich öffne den Deckel einen Spalt, und du schiebst den Laptop hindurch!“
Jessica nickte. Die Särge ruhten auf Paletten in dem fensterlosen Kühlraum. „Cuxhaven“ - ein Zettel klebte an der Vorderseite.
„Das ist er“, Marc schluckte.
Vorsichtig zog Jessica den Laptop unter ihrer Jacke hervor. Ihre Finger glitten in wachsender Erregung über die Holzmaserung. Marc vermied es, das Deckenlicht einzuschalten. Dunkelheit umgab sie. Das schwache Licht des Smartphones warf feine Schatten an die Wände.
Vorsichtig, wie beim Betreten einer verborgenen Schatzkammer, setzten sie ihren Weg fort. Erinnerungen an Ben stiegen in Jessica auf, doch sie konnte keine Träne vergießen. Von einer unbändigen Sehnsucht getrieben, wollte sie ihn noch einmal sehen und berühren. Dass sie dabei die Grenzen des Verbotenen überschritt, war ihr egal. Ihr Widerstand zerbrach in tausend Stücke, besiegt von der Gewalt ihrer Leidenschaft.
Marc löste die Flügelschrauben und hob den Deckel an. In einem blitzartigen Moment der Entschlossenheit versetzte Jessica ihm einen Schlag ins Gesicht. Sie wollte ihren Geliebten um jeden Preis berühren. Der Deckel entglitt seinen Händen und prallte auf den Boden. Die Stille wurde jäh unterbrochen. Die Leiche umhüllte ein weißes Tuch, und bevor Jessica es wegreißen konnte, bekam Marc sie zu fassen.
Sie wehrte sich mit aller Kraft:
„Lass mich los, lass mich los!“
Er zog sie zurück, während sie sich verzweifelt an seinem T-Shirt festklammerte. Doch erst im Nebenraum ließ er von ihr ab. „Du hast kein Recht, mich aufzuhalten.“
„Versteh doch, ich will dich beschützen, das ist nicht der Ben, den du kanntest.“
Jessica ließ sich fallen. Blut tropfte aus Marcs Nase und ein stechender Schmerz breitete sich in seinem Gesicht aus. Trotzdem legte er den Arm um sie.
„Ich will nicht, dass deine Seele verletzt wird. Es ist schon schlimm genug.“
Sie beruhigte sich und verbarg das Gesicht hinter ihren Händen.
„Ich gehe jetzt rein und lege den Laptop in den Sarg, und du bleibst hier draußen! Hast du mich verstanden?“
„Und wenn noch jemand nach ihm sehen will?“
„Das ist alles geregelt, er wird morgen abgeholt. Ich bin gleich wieder da.“
Marc schloss die Tür hinter sich und atmete erleichtert auf. Es dauerte eine Weile, bis er die Schrauben am Sarg festgezogen hatte und die Blutstropfen aufwischte.
„Meine Hochachtung, Herr Hapich. Ich hätte nicht gedacht dass Sie nicht nur ein exzellenter Informatiker sind, sondern auch mit grafischen Lösungskonzepten umgehen können. Wie Sie die Aufgaben von Herrn Goldman weiterentwickeln - ich bin beeindruckt“. Marcs Vorgesetzter brach fast in Jubel aus. „Können wir die Vorentwürfe dem Auftraggeber schon präsentieren?“
„Kein Problem, hier sind die Unterlagen“, antwortete Marc und erkannte, dass ihm seine Leistung zum Verhängnis geworden war. Die zusätzlichen Auflagen seines Vorgesetzten lasteten ungewohnt schwer auf ihm.
Sie entsprachen nicht seinen Vorstellungen. Er überlegte, wie er aus diesem Dilemma herauskommen könnte.
„Ich sehe ihn immer noch da sitzen.“ Renate Stein konnte die Tränen nicht zurückhalten.
„Ich kann verstehen, dass es schwer für dich ist“, antwortete Marc mitfühlend. „Wir müssen uns an das Schöne erinnern.“
Er hatte keine Lust, sich mit seiner Arbeitskollegin auf eine tiefgründige Diskussion einzulassen. Zum Glück unterbrach sein Telefon das Gespräch. „Muss zum Chef.“
Lars Klingmeyer sprühte vor Aufregung.
„Unsere Kunden haben uns ein hervorragendes Feedback gegeben. Nur bei den Hintergründen wünschen sie sich etwas mehr Farbdominanz und einen forcierteren Slogan.
Ich vertraue Ihnen, machen Sie das Beste daraus!“ „Ich meine, ich denke, ähm, der Standort wird aufgelöst.
Mit Verlaub, ich bin auf der Suche nach einer neuen Position.“
Lars Klingmeyer schloss die Bürotür und beugte sich vor.
Seine Augen funkelten, als er Marc in das Vertrauliche einweihte.
„Das unfertige Projekt von Herrn Goldman hat Potenzial.
Es gibt staatliche Fördermittel im Zusammenhang mit der Corona-Situation. Wir müssen effizient sein und Ergebnisse liefern, um davon zu profitieren. Es geht um eine Reihe von Designvorschlägen, Testverpackungen, Impfplakate, Vorlagen für Werbespots, T-Shirts. Alles im gleichen Stil. Ein sehr lukratives Geschäft.“
Lars Klingmeyer wurde leiser.
„Der Erlös bleibt bei uns beiden, verstehen Sie? Der Rest der Mitarbeiter ist so gut wie weg.“ Er war keine zehn Zentimeter von Marc entfernt. „Nun erschrecken Sie nicht. Der Konzern stimmt zu, solange die Räume angemietet sind, können wir bleiben. Alles andere juckt die nicht. Für die ist Gießen Vergangenheit. Mit Ihren Fähigkeiten ist das ein Kinderspiel, Mensch Hapich, das ist unsere Chance!“ Lars Klingmeyer lächelte triumphierend.
„Ich weiß nicht, ob das ...“, stammelte Marc und brachte kaum Worte heraus, als lähme die Last der Entscheidung seine Zunge.
„Das habe ich erwartet“, erwiderte sein Chef mit einem süffisanten Lächeln, als hätte er diesen Moment genau vorausgesehen.
„Also hören Sie zu! Sie werden am Gewinn beteiligt, unabhängig von Ihrem Gehalt. Bar auf die Hand versteht sich. Zweihunderttausend für Sie, der Staat hat Geld.“
Fast genüsslich zerlegte er das Wort
„Zweihunderttausend“ in seine Silben, als wolle er Marc jeden Buchstaben einzeln in die Seele brennen.
Marc wurde blass, das Blut wich aus seinem Gesicht, als hätte ihn der Schlag getroffen.
„Na, na, na, Sie sehen aus, als hätte ich Ihnen das Tor zum Jenseits geöffnet.“ Klingmeyers Stimme triefte vor Sarkasmus.
In Marcs Kopf tobte ein wilder Gedankensturm. War das alles nur ein erpresserischer Machtkampf? Wie sollte er das nötige Fachwissen und die kreativen Ressourcen mobilisieren, von denen sein Vorgesetzter überzeugt schien? Schließlich beherrschte Ben sein Fachgebiet wie kein anderer.
Marc öffnete den Mund, aber seine Gedanken formten keine klaren Sätze. „Geben Sie mir ein paar Tage Bedenkzeit“, flüsterte er fast kläglich. Es würde mindestens zwei Monate dauern. Aber die Summe war überwältigend. Zweihunderttausend – bar auf die Hand.
Lars Klingmeyer hatte ein Lächeln im Gesicht und ein Strahlen in den Augen. „Sie können jetzt zum Betriebsrat laufen, sich ausweinen und krankschreiben lassen.