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Aldous Huxley

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Beschreibung

Eines der Meisterwerke des berühmten europäischen Erzählers und Essayisten. 30 Jahre nach seiner Albtraumvision »Schöne neue Welt« zählt »Eiland« ebenfalls zu den großen utopischen Romanen des 20. Jahrhunderts. Huxley entwirft darin eine Gemeinschaft, die die Prinzipien des Guten und der Freiheit konsequent anwendet.

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Seitenzahl: 536

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www.piper.de

Neuauflage einer früheren Ausgabe

Für Laura

Übersetzung aus dem Englischen von Marlys Herlitschka.

ISBN 978-3-492-97658-9

Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Mrs. Laura Huxley 1962

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Island«, Chatto & Windus, London 1962

© für die deutschsprachige Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1973, 1984

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: plainpicture / John Weber

Datenkonvertierung: abavo, Buchloe

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Wann immer wir uns ein Ideal formen, soll

es ganz unserm Wunschbild entsprechen, doch

hüten wir uns vor dem Unerfüllbaren.

ARISTOTELES

ERSTES KAPITEL

»Gib acht«, rief eine Stimme, und es klang, als hätte eine Oboe plötzlich zu sprechen begonnen. »Gib acht«, wiederholte sie in demselben nasal eintönigen Ton. »Gib acht.«

Wie ein Leichnam in dem Haufen dürrer Blätter liegend, mit verfilztem Haar, das Gesicht grotesk verschmiert und abgeschürft, die Kleider zerfetzt und schlammverkrustet, fuhr Will Farnaby aus dem Schlaf hoch. Molly hatte gerufen. Er mußte aufstehn. Sich ankleiden. Durfte nicht zu spät ins Büro kommen.

»Dank dir, Liebste«, sagte er und setzte sich auf. Ein schneidender Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie, und im Rücken, in den Armen, hinter der Stirn verspürte er noch andere Schmerzgefühle.

»Gib acht«, sagte die Stimme beharrlich, ohne daß sich ihr Ton im geringsten verändert hätte. Auf den einen Ellbogen gestützt, blickte Will umher; verwirrt sah er statt der grauen Tapete und gelben Vorhänge seines Londoner Schlafzimmers eine Lichtung zwischen Bäumen und die langen Schatten und schrägen Sonnenstrahlen eines frühen Morgens im Wald.

»Gib acht.«

Was sollte dieses »Gib acht«?

»Gib acht, gib acht«, beharrte die Stimme – auf dieselbe seltsame, sinnlose Weise. »Molly?« sagte er fragend. »Molly?«

Der Name schien ein Fenster in seinem Kopf zu öffnen. Plötzlich, mit diesem gräßlich vertrauten Schuldgefühl in der Magengrube, roch er wieder Formalin, sah er die kleine energische Krankenschwester ihm eilig durch den grünen Korridor vorangehn, hörte er das trockene Rascheln ihrer gestärkten Tracht. »Nummer fünfundfünfzig«, sagte sie, blieb stehn und öffnete eine weiße Tür. Er trat ein und sah Molly auf einem hohen weißen Bett liegen, das halbe Gesicht bedeckt von einem Verband, den Mund weit offen, mit klaffendem Unterkiefer. »Molly«, hatte er gerufen, »Molly …« Die Stimme brach ihm, und er weinte jetzt, er flehte: »Mein Liebes!« Es kam keine Antwort. Durch den klaffenden Mund drangen geräuschvoll die kurzen, stoßweisen Atemzüge. »Mein Liebstes, mein Liebstes …« Und mit einemmal wurde die Hand, die er hielt, für einen Augenblick lebendig. Lag dann wieder still.

»Ich bin's«, sagte er, »ich – Will.«

Abermals bewegten sich die Finger. Langsam, mit einer offenbar ungeheuren Anstrengung schlossen sie sich um die seinen, drückten sie und erschlafften wieder.

»Gib acht«, rief die so gar nicht menschliche Stimme, »gib acht.« Es war ein Unfall gewesen, beteuerte er sich hastig. Die Straße war naß, der Wagen schlitterte über die weiße Linie hinaus. Einer dieser Unfälle, wie sie sich immer wieder ereignen. Die Zeitungen waren voll davon; er selber hatte oft und oft darüber berichtet. »Mutter und drei Kinder bei Zusammenprall getötet.« Aber darauf kam es nicht an. Es kam darauf an, daß er ja gesagt hatte auf ihre Frage, ob es wirklich das Ende bedeute; es kam darauf an, daß sie, kaum eine Stunde später, nachdem sie von jener letzten, so sehr beschämenden Unterredung in den Regen hinausgegangen war, im Krankenwagen lag, und im Sterben.

Er hatte sie nicht angesehen, als sie sich zum Gehn wandte, hatte es nicht gewagt. Noch einen Blick auf dieses blasse leidende Gesicht hätte er nicht ertragen können. Sie war von dem Stuhl aufgestanden und langsam durchs Zimmer gegangen, war langsam aus seinem Leben hinausgegangen. Sollte er sie nicht zurückrufen, sie um Verzeihung bitten, ihr sagen, daß er sie noch immer liebte? Hatte er sie je geliebt?

Zum hundertstenmal rief die artikulierte Oboe ihm ihr »Gib acht« zu.

Ja, hatte er Molly je wirklich geliebt?

»Leb wohl, Will.« In der Erinnerung hörte er sie es flüstern, als sie sich auf der Schwelle nochmals umwandte. Und dann war sie es gewesen, die es sagte – leise, aus tiefstem Herzen. »Ich hab dich noch immer lieb, Will – trotz allem.«

Gleich darauf schloß sich die Wohnungstür fast geräuschlos hinter ihr. Das knappe, leise Einschnappen des Schlosses, und sie war gegangen.

Er war aufgesprungen und rannte ihr nach, öffnete die Tür und horchte auf ihre Schritte, die sich die Treppe hinunter entfernten. Wie ein Geist beim Hahnenschrei verweilte noch ein schwaches vertrautes Parfüm zerfließend in der Luft. Er schloß die Tür, ging in sein grau- und gelbfarbenes Schlafzimmer und blickte aus dem Fenster. Sekunden später sah er sie den Gehsteig überqueren. Er hörte das bohrende Geräusch des Anlassers, einmal, zweimal, und dann das Aufheulen des Motors. Sollte er das Fenster öffnen? »Warte, Molly, warte«, hörte er sich in der Einbildung rufen. Das Fenster blieb geschlossen; der Wagen fuhr an, bog um die Ecke, die Straße war wieder leer. Es war zu spät. Zu spät, gottlob! sagte eine barsche, höhnisdie Stimme. Ja, gottlob! Und dennoch, das Bewußtsein seiner Schuld verblieb, saß ihm tief in der Magengrube. Seine Schuld, die nagende Reue – aber durch die hindurch konnte er auch ein gräßliches Jubelgefühl verspüren. Jemand gemeiner, geiler, brutaler, jemand, der ihm fremd war und hassenswert und der dennoch er selber war, frohlockte, daß ihn nun nichts mehr daran hindern konnte zu haben, was er haben wollte. Und was er wollte, war ein anderes Parfüm, war die Wärme und Geschmeidigkeit eines jüngeren Körpers. »Gib acht«, sagte die Oboe. Ja, gib acht, sei gewahr. Dessen gewahr sein, wenn er sich in Babs' schwül duftendem Schlafzimmer befand mit der erdbeerroten Bettnische und den zwei Fenstern auf die Charing Cross Road, durch deren Scheiben die ganze Nacht die riesige Dachreklame für Porter's Gin vom Haus gegenüber hereinblickte. Gin in königlichem Purpur – und zehn Sekunden lang war die Bettnische das heilige Herz, zehn wundervolle Sekunden lang erglühte das angeflammte Gesicht neben ihm wie das eines Seraphs, verklärt wie von einem inneren Feuer der Liebe. Dann kam die noch tiefere Verklärung durch Dunkelheit. Eins, zwei, drei, vier  … O Gott, laß es ewig dauern! Aber pünktlich bei zehn schaltete das elektrische Uhrwerk auf eine andere Offenbarung um – diesmal jedoch eine des Todes, des Ur-Grauens; denn nun war das Licht grün, und zehn grausige Sekunden lang wurde Babs’ rosiger Alkoven zu einem Sdioß aus Schlamm und der Leib auf dem Bett leichenhaft fahl, ein zu postumer Epilepsie galvanisierter Kadaver. Wenn Porter's Gin sich in Grün proklamierte, ließ sich schwer vergessen, was geschehen war, und wer man war. Da gab es nur eins: die Augen schließen und, falls es einem gelang, sich noch tiefer in jene andere Welt der Sinnenlust zu stürzen, sich leidenschaftlich und voll bewußt in jene entfremdenden Rasereien zu stürzen, denen die arme Molly (jetzt in ihrem feuchten Grab in Highgate  – weshalb man jedesmal die Augen schließen mußte, wenn das grüne Licht aus Babs’ nacktem Leib einen Leichnam machte) immer und so völlig verständnislos gegenüber gewesen war. Und nicht nur Molly. Hinter den geschlossenen Lidern sah Will seine Mutter, das Gesicht blaß wie eine Kamee, vergeistigt von hingenommenem Leid, die Hände durch Arthritis unförmig und kaum mehr menschlich. Seine Mutter und Maud, seine Schwester, die hinter deren Rollstuhl stand, schon etwas in die Breite gegangen und schwabblig wie Gallerte von all den Gefühlen, die nie ihren richtigen Ausdruck im vollzogenen Liebesakt gefunden hatten.

»Wie kannst du nur, Will!«

»Ja, wie kannst du nur«, sekundierte Maud, die vibrierende Altstimme tränenumflort.

Darauf gab es keine Antwort. Keine nämlich in Worten, die vor den beiden hätten ausgesprochen werden können und die, wären sie ausgesprochen worden, von diesen beiden Märtyrerinnen  – die Mutter durch ihre unglückliche Ehe, die Tochter durch hingebungsvoll aufopfernde Pflege – verstanden worden wären. Keine Antwort außer in Ausdrücken der unflätigsten wissenschaftlichen Objektivität, der unzulässigsten Offenheit. Wie er das konnte? Er konnte es, war sozusagen dazu gezwungen, weil – nun ja, weil Babs gewisse körperliche Eigenheiten besaß, die Molly fehlten, und sich in gewissen Augenblicken so benahm, wie es Molly einfach undenkbar erschienen wäre.

Die Stille hatte eine ganze Weile angedauert; nun aber nahm unvermittelt die fremdartige Stimme ihren alten Refrain wieder auf.

»Gib acht, gib acht.«

Gib acht, sei gewahr, sei Mollys gewahr, Mauds, deiner Mutter, Babs'. Und plötzlich tauchte eine andere Erinnerung aus dem Nebel von Unbestimmtheit und Verwirrung auf. Der erdbeerrote Alkoven beherbergte jetzt einen andern Gast, und der Körper seiner Besitzerin erschauerte nun ekstatisch unter den Liebkosungen eines andern. Zu dem Schuldgefühl in der Magengrube kam die Qual in der Herzgegend, eine Beengtheit der Kehle.

»Gib acht.«

Die Stimme klang jetzt etwas näher, rief von irgendwo dort drüben zur Rechten. Er wandte den Kopf, wollte sich aufrichten und umherblicken, doch der Arm, auf dem sein Gewicht ruhte, begann zu zittern, knickte ein, und Will sank zurück in das dürre Laub. Zu erschöpft, um noch weiter seinen Erinnerungen nachzuhängen, blieb er einfach liegen und blinzelte durch halbgeschlossene Lider in die unbegreifliche Welt rings um ihn. Wo befand er sich, und wie war er bloß hierhergelangt? Das war zwar durchaus nicht wichtig, nichts andres war im Augenblick wichtig als dieser Schmerz, diese vernichtende Schwäche. Dennoch, einfach aus wissenschaftlichem Interesse …

Dieser Baum zum Beispiel, unter dem er unerfindlicherweise hier lag, dieser Säulenschaft grauer Rinde mit dem Gewölbe sonnengefleckter Äste darüber, müßte eigentlich eine Buche sein. Aber dann – und Will bewunderte seine so luzid logische Denkweise – dann könnten die Blätter nicht so offensichtlich immergrün sein. Und weshalb sollte eine Buche ihre Wurzeln derart wuchtig über das Erdreich empordrängen? Und diese ungeheuerlichen Pfeiler, auf die sich die Pseudobuche stützte – wie paßten die dazu? Will entsann sich plötzlich seiner Lieblingsverszeile, die zugleich auch seine miserabelste war. »Wer stützt, fragst du, in diesen schlimmen Tagen meinen Geist?« Antwort: gestocktes Ektoplasma, früher Dali. Was ganz entschieden die Chiltern-Hügel daheim ausschloß. Und das bezog sich auch auf die Schmetterlinge, die einander dort drüben in dem satten dottergelben Sonnenschein jagten. Wieso waren sie so groß, so unwahrscheinlich himmelblau oder samtschwarz, so ausgefallen gesprenkelt und hatten so ungewöhnliche Augentupfen? Aus Kastanienbraun leuchtete Violett hervor, Silberstaub lag auf Smaragdgrün, auf Topasgelb, auf Saphirblau.

»Gib acht.«

»Wer ist da?« rief Will in einem Ton, der gewaltig und laut klingen sollte; aber aus seinem Mund kam bloß ein schwaches zittriges Krächzen.

Es folgte eine lange und anscheinend zutiefst bedrohliche Stille. Aus einer Höhlung zwischen zwei Stützpfeilern des Baumstamms erschien plötzlich ein riesiger schwarzer Tausendfüßler, rannte dann auf seinem Regiment scharlachroter Beine davon und verschwand in einem andern Spalt des flechtenbewachsenen Ektoplasmas.

»Wer ist da?« krächzte Will noch einmal.

Ein Rascheln im Gebüsch zu seiner Linken, und plötzlich hopste, wie ein Kuckuck aus einer Schwarzwälderuhr, ein schwarzer Vogel von der Größe einer Dohle hervor. Er schlug ein paarmal mit den Flügeln, die weiße Spitzen hatten, sauste dann an Will vorbei und ließ sich auf dem untersten Ast eines abgestorbenen Bäumchens nieder, nur ein paar Schritte von der Stelle, wo er lag. Der Schnabel des Vogels war orangerot; unter jedem Auge hatte er einen kahlen hellen Fleck, und kanariengelbe Kehllappen bedeckten beide Seiten und das Hinterteil seines Kopfs mit einer dichten Perücke nackten Fleischs. Er legte den Kopf schief und sah Will erst mit dem rechten, dann mit dem linken Auge an, sperrte den orangeroten Schnabel auf, pfiff ein kurzes Liedchen in der Fünftonskala, machte ein Geräusch wie jemand, der den Schluckauf hat, phrasierte do do sol do in psalmodierendem Tonfall und sagte schließlich: »Hier und jetzt, Jungs. Hier und jetzt, Jungs.«

Bei diesen Worten fiel Will plötzlich alles wieder ein. Er befand sich auf Pala, der »verbotenen Insel«, dem Ort, den noch nie ein Reporter betreten hatte. Und heute mußte der Morgen nach dem Nachmittag sein, an dem er törichterweise außerhalb des Hafenbereichs von Rendang-Lobo allein eine Segelfahrt unternommen hatte. Alles fiel ihm jetzt ein  – das weiße, vom Wind wie das riesige Blatt einer Magnolienblüte geblähte Segel, das am Bug plätschernde Wasser, das diamantene Funkeln auf allen Wellenkämmen, die Wellentäler gefältelten Jadegrüns. Und ostwärts, jenseits der Meerenge, diese Wolken, diese Wundergebilde skulpierter Weiße über den Vulkanen von Pala! Dort an der Ruderpinne sitzend, hatte er sich dabei ertappt, wie er vor sich hinsang – wie er, unwahrscheinlicherweise, das Gefühl hatte, ganz ohne Zweifel glücklich zu sein.

»›Drei, drei für die Rivalen‹«, hatte er in den Wind hineindeklamiert.

»›Zwei, zwei für die unschuldigen Knaben, ganz gewandet in Grün – oh! Einer ist der Eine und ganz allein …‹«

Ja, ganz allein. Ganz allein auf dem riesigen Juwel des Meeres.

»›Und allein wird er immer bleiben.‹«

Und dann geschah natürlich, wovor ihn alle die vorsichtigen und erfahrenen Segelsportler gewarnt hatten. Die blauschwarzen Regenböen von nirgendher, das jäh entfesselte sinnlose Toben von Wind und Regen und Wellen …

»Hier und jetzt, Jungs«, singsangte der Vogel. »Hier und jetzt, Jungs.«

Das wirklich Unwahrscheinliche war, daß er sich tatsächlich hier unter den Bäumen befand und nicht dort draußen auf dem Grund der Meerenge von Pala oder gar zerschmettert am Fuß der Uferklippen. Denn auch, nachdem es ihm wunderbarerweise gelungen war, sein sinkendes Boot durch die Brandung zu steuern und es auf dem einzigen Fleck sandigen Strands der ganzen, meilenlang von Felsen eingefaßten Küste von Pala auflaufen zu lassen – auch dann war noch nicht alles vorbei. Die Felswände ragten hoch über ihm auf; doch am Kopfende der kleinen Bucht führte eine steile Schlucht bergan, durch die ein Bach in mehreren schleierigen Wasserfäden herabfloß, und zwischen den grauen Kalksteinwänden wuchsen Bäume und Sträucher. An die zweihundert Meter Felskletterei  – in Tennisschuhen, und jeder Tritt feucht und schlüpfrig. Und erst die Schlangen, du lieber Gott! Die schwarze, um den Ast geringelt, auf den er sich mit einem Klimmzug hinaufschwang. Und keine fünf Minuten später die riesige grüne, zusammengerollt auf dem Felsband, ausgerechnet dort, wo er hintreten wollte. Und Schlimmeres folgte. Beim Erblicken der grünen Schlange hatte er den Fuß hastig zurückgezogen und dabei das Gleichgewicht verloren. Eine endlose, übelkeiterregende Sekunde lang hatte er schwankend auf der Kante gestanden, in dem gräßlichen Bewußtsein, daß nun das Ende da sei, und war dann gestürzt. Der Tod … der Tod … der Tod. Gleich darauf, das Geräusch splitternden Holzes in den Ohren, war er wieder zu sich gekommen, an die Zweige eines kleinen Baums geklammert, das Gesicht zerkratzt, das rechte Knie gequetscht und blutend – aber er lebte. Mühsam war er weitergeklettert, trotz des qualvoll schmerzenden Knies. Aber er mußte weiter. Und allmählich war das Licht schwächer und schwächer geworden. Zuletzt war er beinahe im Dunkeln weitergeklettert, aus bloßer Zuversicht, aus schierer Verzweiflung.

»Hier und jetzt, Jungs«, rief der Vogel.

Doch für Will Farnaby gab es weder ein Hier noch ein Jetzt. Nur ein Dort an der Felswand, ein Damals in dem schaurigen Augenblick des Absturzes. Das dürre Laub unter ihm begann zu rascheln. Heftig, unbeherrschbar durchlief ihn das Zittern von Kopf bis Fuß.

ZWEITES KAPITEL

Plötzlich hörte der Vogel auf zu sprechen und begann zu kreischen. Eine dünne schrille menschliche Stimme sagte: »Myna!« und fügte dann etwas in einer Sprache hinzu, die Will nicht verstand. Der Klang von Schritten auf dürrem Laub war zu hören. Dann ein leiser, erschrockener Ausruf. Dann Stille. Will öffnete die Augen und sah zwei reizende Kinder auf ihn herabblicken, die Augen aufgerissen vor Erstaunen und entsetzter Faszination. Das kleinere der beiden war ein Knabe von fünf, sechs Jahren, nur mit einem grünen Lendenschurz bekleidet. Neben ihm, einen Korb mit Obst auf dem Kopf, stand ein etwa vier bis fünf Jahre älteres Mädchen. Sie trug einen weiten roten Rock, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte, aber oberhalb der Mitte war sie nackt. Im Sonnenlicht glühte ihre Haut wie blasses, rosenrot überhauchtes Kupfer. Will blickte von einem Kind zum andern. Wie schön sie beide waren und wie makellos, wie ungemein anmutig. Zwei kleine Vollblüter. Das eine runde, stämmige, mit dem Gesicht eines Cherubs, war der Knabe. Das Mädchen hingegen war eine andre Art Vollblut, von zarter Gestalt, mit einem eher länglich ernsten, kleinen, von dunkeln Flechten umrahmten Gesicht.

Wieder ein Ausbruch von Gekreisch. Auf dem abgestorbenen Baum hockend, wetzte der Vogel nervös hin und her und schwang sich dann mit einem letzten Schrei in die Luft. Ohne die Augen von Wills Gesicht abzuwenden, streckte das Mädchen einladend die Hand aus. Der Vogel ließ sich flatternd auf ihr nieder, schlug wild mit den Flügeln, fand das Gleichgewicht wieder, faltete die Schwingen und begann sogleich wieder mit seinem Schluckauf. Will sah ohne Verwunderung zu. Alles war jetzt möglich – alles. Sogar sprechende Vögel, die sich einem Kind auf den Finger setzten. Will wollte die beiden anlächeln, aber die Lippen zitterten ihm noch und was als ein Zeichen von Freundlichkeit gemeint war, mußte wie eine furchterregende Grimasse ausgesehen haben. Der Knabe suchte Deckung hinter seiner Schwester.

Der Vogel unterbrach seinen Schluckauf und begann ein Wort zu wiederholen, das Will nicht verstand. ›Runa‹? Nein, ›Karuna‹. Ja, ganz gewiß ›Karuna‹.

Mit zittriger Hand wies er auf das Obst in dem runden Korb. Mangofrüchte, Bananen  … Sein ausgetrockneter Mund wässerte ihn.

»Hunger«, sagte er. Und weil er dachte, daß unter diesen ausgefallenen Umständen die Kleine ihn besser verstünde, wenn er einen Operetten-Chinesen nachahmte, ergänzte er das mit: »Ich gloße Hungler haben.«

»Willst du etwas essen?« fragte das Mädchen in perfektem Englisch.

»Ja – essen«, wiederholte er, »essen.«

»Flieg weg, Myna!« Der Vogel protestierte mit einem Quaklaut und flatterte zu seinem Sitz auf dem abgestorbenen Baum zurück. Die mageren Ärmchen mit der Gebärde einer Tänzerin hebend, nahm die Kleine den Korb vom Kopf und stellte ihn auf den Boden. Sie wählte eine Banane, schälte sie und trat, zwischen Furcht und Mitleid schwankend, näher an den Fremdling heran. Der Knabe rief ihr in seiner unverständlichen Sprache etwas Warnendes zu und klammerte sich an ihren Rock. Mit ein paar beruhigenden Worten blieb das Mädchen in sicherer Entfernung stehn und hielt die Banane hoch.

»Willst du sie?« fragte sie.

Immer noch von Schauern überlaufen, streckte Will Farnaby die Hand aus. Sehr vorsichtig schob die Kleine sich ein wenig weiter vor, hielt dann wieder inne und kauerte sich, ihm aufmerksam ins Gesicht spähend, nieder.

»Gib her«, sagte Will in qualvoller Ungeduld.

Aber das Mädchen war auf der Hut.

Auf die geringste verdächtige Bewegung gefaßt, behielt sie seine Hand im Auge, neigte sich dann vor und streckte vorsichtig den Arm aus.

»Um Gottes willen«, flehte er.

»Gott?« wiederholte das Mädchen mit plötzlichem Interesse.

»Welcher Gott?« fragte sie. »Es gibt eine solche Menge.«

»Jeder gottverdammte Gott, der dir paßt«, antwortete er ungeduldig.

»Ich mag eigentlich keinen«, sagte sie. »Außer dem Mitleidsvollen.«

»Dann hab Mitleid mit mir«, bettelte er, »und gib mir endlich die Banane.«

Ihre Miene veränderte sich. »Verzeih.« Und sich zu ihrer vollen Höhe aufrichtend, trat sie schnell vor und ließ die Frucht in seine bebende Hand fallen.

»Da«, sagte sie, und wie ein Tierchen, das einer Falle ausweicht, sprang sie zurück, außer Reichweite. Der Knabe klatschte in die Hände und lachte laut auf. Sie wandte sich ihm zu und sagte etwas in ihrer unverständlichen Sprache. Er nickte mit dem runden Kopf, sagte »Okay, Chef« und lief dann durch einen Schwarm blauer und schwefelgelber Schmetterlinge in den Schatten des Waldes jenseits der Lichtung.

»Ich hab Tom Krishna gesagt, er soll jemand holen gehn«, erklärte sie.

Will aß die Banane und bat um eine zweite und dann eine dritte. Als sein Heißhunger nachließ, fragte er:

»Wie kommt es, daß du ein so gutes Englisch sprichst?«

»Weil jeder Mensch Englisch spricht«, antwortete die Kleine.

»Jeder?«

»Ich meine, wenn er nicht Palanesisch spricht.« Da sie das Thema nicht interessierte, wandte sie sich ab, winkte mit der kleinen braunen Hand und stieß einen Pfiff aus.

»Hier und jetzt, Jungs«, rief der Vogel, flatterte von dem abgestorbenen Baum herbei und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. Sie schälte noch eine Banane, reichte zwei Drittel davon Will und gab den Rest dem Myna.

»Gehört der Vogel dir?« fragte Will.

Sie schüttelte den Kopf. »Mynas sind wie das elektrische Licht«, sagte sie. »Sie gehören niemand.«

»Warum sagt er diese Sachen?«

»Weil jemand es ihn gelehrt hat«, antwortete sie geduldig. So ein Schafskopf! schien ihr Ton auszudrücken.

»Aber warum hat man ihn gerade das gelehrt? Warum ›Gib acht‹? Warum ›hier und jetzt‹?«

»Tja …« Sie suchte nach den richtigen Worten, um diesem fremden Idioten etwas so Selbstverständliches zu erklären. »Das ist doch, was man immerfort vergißt, nicht wahr? Ich meine, man vergißt auf das achtzugeben, was geschieht. Und das ist dasselbe wie: nicht hier und nicht jetzt da sein.«

»Und die Mynas fliegen umher und erinnern einen daran?« Sie nickte. Natürlich, so war es.

»Wie heißt du?« erkundigte sie sich nach einem längeren Schweigen.

Will stellte sich vor.

»Und ich heiße Mary Sarojini MacPhail.«

»MacPhail?« Es war zu unwahrscheinlich!

»MacPhail«, versicherte sie ihm.

»Und dein kleiner Bruder heißt Tom Krishna?« Sie nickte. »Also da hört sich alles auf!«

»Bist du nach Pala mit dem Flugzeug gekommen?«

»Ich bin aus dem Meer gekommen.«

»Aus dem Meer? Hast du ein Boot?«

»Ich hatte eins.« Im Geist sah Will, wie sich die Wellen über dem gestrandeten Rumpf brachen, hörte mit dem innern Ohr ihr krachendes Bersten. Auf ihre Fragen erzählte er ihr, was geschehen war. Das Unwetter, das gestrandete Boot, der lange Alptraum des Hinaufkletterns, die Schlangen, der Schrecken beim Absturz … Wieder wurde er, heftiger als zuvor, von Schauern geschüttelt.

Mary Sarojini hörte ihm aufmerksam zu, ohne etwas dazu zu bemerken. Als ihm dann die Stimme schwankte und schließlich versagte, trat sie näher, den Vogel noch immer auf der Schulter, und kniete neben ihn hin.

»Hör mir zu, Will«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Wir müssen das los werden.« Sie sprach in einem berufsmäßigen und gelassen autoritativen Ton.

»Wenn ich nur wüßte, wie«, brachte er zwischen den klappernden Zähnen hervor.

»Wie?« wiederholte sie. »Aber auf die übliche Weise natürlich.

Erzähl mir noch einmal von diesen Schlangen, und wie du ’runtergefallen bist.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht.«

»Natürlich willst du nicht«, sagte sie. »Aber du mußt. Hör dem Myna zu.«

»Hier und jetzt, Jungs«, ermahnte der Vogel wieder. »Hier und jetzt, Jungs.«

»Du kannst nicht hier und jetzt da sein«, setzte sie fort, »bevor du nicht diese Schlangen losgeworden bist. Also erzähl mir alles!«

»Ich will nicht, ich will nicht.« Er war den Tränen nahe.

»Dann wirst du sie nie loswerden. Sie werden ewig in deinem Kopf herumkriechen. Und recht geschieht̕s dir«, fügte sie streng hinzu.

Er versuchte sich zu beherrschen; doch sein Körper hatte aufgehört, ihm selbst zu gehören. Jemand anders befehligte ihn, jemand, der ihm feind und darauf aus war, ihn zu demütigen und zu quälen.

»Denk daran, was deine Mutter sagte, wenn du als kleines Kind hingefallen bist.«

›Mein armes Herz, mein armes Kleines.‹ Und sie hatte ihn umarmt und getröstet.

»So, das hat sie gesagt?« Mary Sarojini sprach in einem schokkiert erstaunten Ton. »Aber das ist ja entsetzlich! So wird’s nur noch schlimmer. ›Mein armes Kleines‹«, wiederholte sie spöttelnd. »Das muß dir ja noch stundenlang weh getan haben. Und du würdest es nie mehr vergessen.«

Will Farnaby bemerkte nichts dazu, sondern lag stumm da, geschüttelt von Schauern, die er nicht unterdrücken konnte.

»Na, wenn du’s nicht selber tun willst, dann werd ich’s für dich tun müssen. Hör zu, Will: da war eine Schlange, eine große grüne Schlange, auf die du fast getreten bist. Du bist fast auf sie getreten, und das hat dir einen solchen Schrecken eingejagt, daß du das Gleichgewicht verloren hast und abgestürzt bist. Jetzt sag du̕s selber  – sag es!«

»Ich bin fast auf sie getreten«, flüsterte er gehorsam, »und dann bin ich …« Er vermochte es nicht auszusprechen. »Dann bin ich gestürzt«, brachte er endlich, fast unhörbar, hervor. Das ganze Entsetzen war wieder da – die einem übelmachende Furcht, das panische Zusammenzucken, das ihn straucheln ließ, und dann die noch schlimmere Furcht und grausige Gewißheit, daß diesmal das Ende da war.

»Sag es noch einmal.«

»Ich bin fast auf sie getreten. Und dann …«

Er hörte sich wimmern.

»Schon recht, Will. Weine nur – weine!«

Sein Wimmern wurde zu einem Stöhnen. Beschämt biß er die Zähne zusammen, und das Stöhnen verstummte.

»Nein, nicht«, rief sie. »Laß es heraus, wenn es heraus will. Erinnere dich an diese Schlange, Will. Erinnere dich, wie du hinuntergestürzt bist.«

Wieder brach er in Stöhnen aus und begann noch heftiger zu zittern als zuvor.

»Jetzt erzähl mir, was dann geschah.«

»Ich konnte ihre Augen sehn, ich konnte sehn, wie ihre Zunge hervorkam und wieder verschwand.«

»Ja, du konntest ihre Zunge sehn. Und dann?«

»Dann verlor ich das Gleichgewicht. Ich bin gestürzt.«

»Noch einmal, Will.« Er schluchzte. »Sag es noch einmal!« beharrte sie.

»Ich bin gestürzt.«

»Noch einmal.«

Es zerriß ihn fast, aber er sagte es. »Ich bin gestürzt.«

»Noch einmal, Will.« Sie blieb unerbittlich. »Noch einmal.«

»Ich bin gestürzt. Ich bin gestürzt. Ich bin gestürzt.«

Allmählich hörte das Schluchzen auf. Die Worte kamen leichter, und die Erinnerungen, die sie weckten, waren weniger qualvoll.

»Ich bin gestürzt«, wiederholte er jetzt wohl zum hundertsten Mal.

»Aber du bist nicht sehr tief gestürzt«, sagte Mary Sarojini jetzt.

»Nein, ich bin nicht sehr tief gestürzt«, gab er zu.

»Also warum das ganze Getue?« fragte die Kleine.

Es lag weder Boshaftigkeit noch Ironie in ihrem Ton, keine Andeutung eines Vorwurfs. Sie stellte bloß eine simple, offene Frage, die eine simple, offene Antwort verlangte. Ja, warum also das ganze Getue? Die Schlange hatte ihn nicht gebissen; er hatte sich nicht das Genick gebrochen. Und überhaupt, das alles war gestern gewesen. Heute gab es hier diese Schmetterlinge, diesen Vogel, der einen zum Achtgeben ermahnte, dieses seltsame kleine Mädchen, das einem gehörig die Meinung sagte, aussah wie ein Engel aus einer unbekannten Göttersage und, ob man’s glaubte oder nicht, fünf Breitengrade vom Äquator, MacPhail hieß. Will Farnaby lachte laut heraus.

Das kleine Mädchen klatschte in die Hände und lachte mit. Gleich darauf stimmte der Vogel auf ihrer Schulter mit Ausbrüchen dämonischen lauten Gelächters mit ein, das die Lichtung erfüllte und zwischen den Bäumen widerhallte, so daß es schien, als wollte das ganze Weltall über den Riesenspaß des Daseins vor Lachen bersten.

DRITTES KAPITEL

»Na, freut mich, daß ihr euch so gut amüsiert«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme.

Will Farnaby wandte den Kopf und sah einen kleinen mageren Mann, europäisch gekleidet und eine schwarze Tasche in der Hand, lächelnd auf ihn herabblicken. So Ende fünfzig, schätzte er. Das Haar unter dem breitkrempigen Strohhut war dicht und weiß, und was für eine seltsame Hakennase er hatte! Und die Augen – so unwahrscheinlich blau in dem braunen Gesicht!

»Großvater«, hörte er Mary Sarojini ausrufen.

Der Unbekannte wandte sich der Kleinen zu.

»Worüber habt ihr denn so gelacht?« fragte er.

»Tja«, begann Mary Sarojini und hielt einen Augenblick inne, um ihre Gedanken zu ordnen. »Ja, siehst du, er war in einem Boot, und gestern war doch dieses Unwetter, und so ist er gestrandet – irgendwo dort unten. Also hat er die Felswand heraufklettern müssen. Und da waren ein paar Schlangen, und er ist abgestürzt. Aber zum Glück war ein Baum da, also kam er mit dem bloßen Schrecken davon. Und nachher ist er so zittrig gewesen, daß ich ihm von den Bananen gegeben hab, und er mußte mir die ganze Geschichte x-mal erzählen. Und auf einmal hat er begriffen, daß er sich deswegen keine Gedanken mehr zu machen braucht. Ich meine, daß jetzt alles vorbei und erledigt ist. Und darüber hat er lachen müssen. Und ich hab mitlachen müssen. Und auch der Myna.«

»Gut gemacht«, sagte ihr Großvater anerkennend. »Und nun«, fügte er hinzu, sich wieder an Will Farnaby wendend, »nach der psychologischen Ersten Hilfe wollen wir sehn, was sich sonst für den armen Bruder Esel tun läßt. Übrigens, ich bin Dr. MacPhail. Und Sie?«

»Er heißt Will«, erklärte Mary Sarojini, bevor der junge Mann antworten konnte. »Und mit dem Familiennamen Far-irgendwas.«

»Farnaby, genau gesagt. William Asquith Farnaby. Mein Vater war, wie Sie wohl erraten werden, ein leidenschaftlicher Liberaler. Selbst wenn er betrunken war. Vor allem wenn er betrunken war.« Er stieß ein rauhes, höhnisches Lachen aus, das gar nicht der kehligen Lustigkeit glich, als er begriff, daß er sich über das Ganze keine weiteren Gedanken zu machen brauchte.

»Hast du denn deinen Vater nicht gemocht?« fragte Mary Sarojini teilnahmsvoll.

»Nicht so sehr, wie ich ihn hätte mögen können«, antwortete Will.

»Er meint«, erklärte Dr. MacPhail dem Mädchen, »daß er seinen Vater haßte. Das tun sehr viele von ihnen«, fügte er beiläufig hinzu.

Er hockte sich auf die Fersen und begann die Riemen seiner schwarzen Tasche zu lösen.

»Einer unsrer Ex-Imperialisten, nehme ich an«, sagte er über die Schulter zu dem jungen Mann.

»Geboren in Bloomsbury«, bestätigte Will.

»Oberklasse«, diagnostizierte der Arzt, »aber kein Mitglied der militärischen oder güterbesitzenden Subspezies.«

»Stimmt. Mein Vater war ein Advokat und ein politischer Journalist. Das heißt, wenn er nicht zu sehr damit beschäftigt war, ein Alkoholiker zu sein. Und meine Mutter, so unglaublich das klingt, war die Tochter eines Erzdiakons. Eines Erzdiakons«, wiederholte Will und lachte wiederum so, wie er über seines Vaters Vorliebe für Kognak gelacht hatte.

Dr. MacPhail sah ihn kurz an und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder den Verschlußriemen zu.

»Wenn Sie so lachen«, bemerkte er in einem Ton wissenschaftlicher Unbeteiligtheit, »bekommt Ihr Gesicht einen merkwürdig häßlichen Ausdruck.«

Will bemühte sich, seine Betretenheit mit Spaßhaftigkeit zu bemänteln. »Es ist immer häßlich«, sagte er.

»Im Gegenteil, auf eine baudelairesche Art ist es eher schön. Nur nicht, wenn Sie darauf verfallen, solche hyänenähnlichen Geräusche von sich zu geben. Warum tun Sie das?«

»Ich bin Journalist«, erklärte Will. »›Unser Sonderberichterstatter‹, dafür bezahlt, in der Welt umherzureisen und zu berichten, was es grade an Greueln gibt. Was für andre Geräusche erwarten Sie da von mir? Guck-guck? Oder Quatsch? Oder Marx-Marx?« Er lachte abermals auf und gab dann eines seiner bewährten Bonmots zum besten. »Ich bin der Mann, der sich nicht mit einem Ja abspeisen läßt.«

»Hübsch«, sagte Dr. MacPhail. »Sehr hübsch. Aber jetzt wollen wir die eigentliche Sache angehn.« Er nahm aus der schwarzen Tasche eine Schere und begann das zerfetzte, blutbefleckte Hosenbein, das Wills verletztes Knie bedeckte, wegzuschneiden.

Will Farnaby sah zu ihm auf und fragte sich dabei, wieviel an diesem unwahrscheinlichen Hochländer noch schottisch und wieviel palanesisch war. Über die blauen Augen und die Hakennase konnte kein Zweifel bestehn. Aber die braune Haut, die zartgliedrigen Hände, die Anmut der Bewegungen – die stammten ganz gewiß von irgendwo sehr weit südlich des Tweed.

»Sind Sie hier geboren?« fragte er.

Der Arzt nickte. »In Shivapuram, am selben Tag, an dem Königin Viktoria begraben wurde.«

Noch ein Klicken der Schere, und das Hosenbein fiel ab und legte das Knie bloß. »Versaut«, urteilte Dr. MacPhail nach einer ersten genauen Untersuchung. »Ich glaube aber nicht, daß es allzu ernst ist.« Er wandte sich an seine Enkelin. »Ich möchte, daß du zu der Station zurückläufst und Vijaya bittest, er soll mit einem von den Männern herkommen. Und sie sollen aus der Krankenabteilung eine Tragbahre mitnehmen.«

Mary Sarojini nickte, stand auf und ging eiligen Schritts über die Lichtung weg.

Will blickte der zarten, kleiner werdenden Gestalt nach – der rote Rock wippte hin und her, die glatte Haut des Oberkörpers glühte rosig golden im Sonnenlicht. »Sie haben eine sehr bemerkenswerte Enkelin«, sagte er zu Dr. MacPhail.

»Mary Sarojinis Vater«, sagte der Arzt nach einem kurzen Schweigen, »war mein ältester Sohn. Er starb vor vier Monaten – ein Unfall bei einer Klettertour.«

Will murmelte etwas Teilnahmsvolles, dann schwiegen sie beide.

Dr. MacPhail entkorkte eine Flasche mit Alkohol und wischte sich die Hände ab.

»Das wird jetzt ein wenig wehtun«, sagte er. »Ich würde vorschlagen, daß Sie dem Vogel dort zuhören.« Er schwenkte die Hand gegen den abgestorbenen Baum hin, auf dem sich der Myna wieder niedergelassen hatte.

»Hören Sie ihm gut zu, hören Sie ihm aufmerksam zu. Es wird Ihren Geist von dem unangenehmen Vorgang da ablenken.«

Will Farnaby horchte. Der Myna war zu seinem anfänglichen Thema zurückgekehrt.

»Gib acht«, rief die artikulierte Oboe, »gibt acht.«

»Worauf?« fragte Will und hoffte auf eine bessere Aufklärung, als er sie von Mary Sarojini erhalten hatte.

»Aufs Achtgeben«, erwiderte Dr. MacPhail.

»Achtgeben aufs Achtgeben?«

»Selbstverständlich.«

»Gib acht«, kam der Singsang des Myna ironisch bestätigend.

»Gibt es hier viele solche sprechende Vögel?«

»Es muß mindestens ein Tausend von ihnen auf der Insel umherfliegen. Ein Einfall des Alten Radscha. Er dachte, daß es den Leuten gut täte. Mag sein, aber mir erscheint es als ziemlich unfair den armen Mynas gegenüber. Zum Glück verstehn Vögel keine Moralpauken. Nicht einmal diejenigen des heiligen Franziskus. Stellen Sie sich nur die Anmaßung vor: durch und durch braven Drosseln und Stieglitzen und Weidenlaubsängern zu predigen! Statt den Mund zu halten und die Vögel ihm predigen zu lassen! Und jetzt«, fügte er in verändertem Ton hinzu, »sollten Sie lieber unserm Freund dort auf dem Baum zuhören. Ich werde jetzt diese Wunde desinfizieren.«

»Gib acht.«

»Also los!«

Der junge Mann zuckte zusammen und biß sich auf die Lippe.

»Gib acht. Gib acht. Gib acht.«

Ja, es war wirklich so. Wenn man aufmerksam genug hinhörte, war der Schmerz nicht gar so schlimm.

»Achtung. Achtung …«

»Wie Sie’s je fertiggebracht haben, die Felswand hinaufzuklettern«, sagte Dr. MacPhail, nach der Binde langend, »kann ich mir nicht vorstellen.«

Will gelang es, zu lachen. »Erinnern Sie sich an den Anfang von Samuel Butlers Erewhon«, sagte er. » ›Wie das Glück es wollte, war die Vorsehung auf meiner Seite.‹«

Von jenseits der Lichtung ertönten Stimmen. Will wendete den Kopf und sah Mary Sarojini zwischen den Bäumen auftauchen und ihren roten Rock hin und her schwingen, während sie mit kleinen Sprüngen näherkam. Hinter ihr, nackt bis zur Hüfte und auf der Schulter die Bambusstäbe und das eingerollte Segeltuch einer leichten Tragbahre, schritt eine riesige bronzene Statue von Mann und hinter ihm ein schlanker brauner Knabe in Shorts.

»Das ist Vijaya Bhattatscharya«, sagte Dr. MacPhail, als die Bronzestatue näherkam. »Vijaya ist mein Assistent.«

»Im Krankenhaus?«

Dr. MacPhail schüttelte den Kopf. »Nur in Notfällen«, sagte er. »Ich praktiziere nicht mehr. Vijaya und ich arbeiten zusammen in der Landwirtschaftlichen Versuchsstation. Und Murugan Mailendra« (er schwenkte die Hand gegen den braunen Knaben hin) »ist für einige Zeit bei uns, um Bodenkunde und Pflanzenzucht zu studieren.«

Vijaya trat zur Seite, legte seine große Tatze auf die Schulter seines Gefährten und schob den vorwärts. Als Will in das schöne mürrische Knabengesicht aufblickte, erkannte er überrascht den elegant gekleideten jungen Mann, den er vor fünf Tagen in Rendang-Lobo kennengelernt hatte und mit dem er in Oberst Dipas weißem Mercedes überall auf der Insel umhergefahren war. Er lächelte und wollte grade eine darauf bezügliche Bemerkung machen, hielt sich aber zurück. Kaum merklich, doch ganz unmißverständlich hatte der Junge den Kopf geschüttelt. In seinen Augen sah Will etwas wie ein angstvolles Flehen. »Bitte nicht«, schienen seine Lippen lautlos zu formulieren, »bitte nicht …« Will schaltete auf seine frühere Miene um.

»Guten Tag, Mr. Mailendra«, sagte er in höflich unbeteiligtem Ton.

Murugan sah ungemein erleichtert drein. »Guten Tag.« Er grüßte Will mit einer leichten Verneigung.

Will blickte umher, um zu sehen, ob die andern den Vorfall bemerkt hätten. Mary Sarojini und Vijaya waren mit der Tragbahre beschäftigt, und der Arzt packte soeben seine schwarze Tasche zusammen. Die kleine Komödie hatte sich ohne Zuschauerschaft abgespielt. Murugan hatte offenbar seine Gründe dafür, nicht verlauten zu lassen, daß er in Rendang gewesen war. Jungens sind nun einmal, was sie sind. Manchmal sind das sogar Mädchen. Oberst Dipa hatte sich seinem Schützling gegenüber mehr als väterlich benommen, und Murugan wiederum verhielt sich dem Oberst gegenüber beträchtlich ergebener als bloß ein Sohn  – er hatte ihn buchstäblich angehimmelt. War das nur Heldenverehrung, nur die Bewunderung eines Schuljungen für den starken Mann, der eine Revolution erfolgreich durchgeführt, die Opposition liquidiert und sich zum Diktator gemacht hatte? Oder waren da andere Gefühle mit beteiligt? Spielte Murugan den Antinous als Gegenpart dieses Hadrian mit dem sdiwarzen Schnurrbart? Na, wenn das seine Empfindungen waren für Militär-Gangster, die über die erste Jugend hinaus waren, ging das ihn allein an. Und wenn andrerseits dem Gangster hübsche Knaben gefielen, war das seine Sache. Und vielleicht hatte Oberst Dipa aus diesem Grund ein formelles Vorstellen unterlassen. »Das ist Muru«, sagte er bloß, als der Junge in das Präsidentenbüro geführt wurde, »mein junger Freund Muru«, und er war aufgestanden, hatte Murugan den Arm um die Schulter gelegt, ihn zu dem Sofa geführt und sich neben ihn gesetzt. »Darf ich den Mercedes fahren?« hatte Murugan dann gefragt. Der Diktator lächelte nachsichtig und nickte mit dem geschniegelten schwarzen Kopf. Ein weiterer Grund anzunehmen, daß bei dieser merkwürdigen Beziehung mehr als bloße Freundschaft im Spiel war. Am Steuer des weißen Sportwagens benahm sich Murugan dann wie ein Besessener. Nur ein sterblich Verliebter hätte sich selbst, geschweige denn seinen Gast, einem solchen Fahrer anvertraut. Auf der ebenen Strecke zwischen Rendang-Lobo und den ölfeldern war der Zeiger des Tachometers zweimal bis auf hundertachtzig geklettert; und Schlimmeres folgte dann auf der Serpentinenstraße, die von den ölfeldern zu den Kupferminen führte. Schluchten gähnten, Gummireifen kreischten um Kurven herum, Wasserbüffel tauchten, kaum ein paar Schritt vor ihnen, aus dem Bambusdickicht auf, Zehntonnenlaster kamen die falsche Straßenseite heruntergepoltert. »Macht Sie das alles nicht ein wenig nervös?« hatte Will sich zu fragen erlaubt. Doch der Gangster war nicht nur ein betörter, sondern auch ein gottesfürchtiger Mann. »Wenn man weiß, daß man Allahs Willen ausführt – und davon bin ich überzeugt, Mr. Farnaby – gibt es keine Ursache zu Nervosität. Unter solchen Umständen wäre sie Blasphemie.« Und als Murugan wieder einmal jäh herumschwenkte, um einem Büffel auszuweichen, klappte er seine goldene Zigarettendose auf und bot Will eine Balkan-Sobranie an.

»Fertig«, rief Vijaya.

Will wendete den Kopf und sah die Tragbahre neben sich auf dem Boden stehn.

»Schön«, sagte Dr. MacPhail. »Legen wir ihn also jetzt darauf. Aber sachte, sachte  …«

Dann bewegte sich der kleine Trupp den schmalen Pfad zwischen den Bäumen entlang. Mary Sarojini bildete die Vorhut, ihr Großvater die Nachhut, und zwischen ihnen gingen Murugan und Vijaya an jedem Ende der Tragbahre.

Von seinem wandernden Lager aus blickte Will Farnaby durch die grüne Dunkelheit hinauf wie vom Grund eines lebenden Meers. Weit oben, nahe der Oberfläche, ertönte ein Rascheln im Laub, ein Gelärm von Affen. Und nun waren es an ein Dutzend Nashornvögel, die wie Phantasmagorien eines Irren durch eine Wolke von Orchideen hüpften.

»Liegen Sie bequem genug?« fragte Vijaya und beugte sich fürsorglich herab, um Will ins Gesicht zu spähen.

Will lächelte ihn an. »Herrlich bequem«, sagte er.

»Es ist nicht weit«, beteuerte der andere. »Noch ein paar Minuten, und wir sind da.«

»Was heißt ›da‹?«

»Die Versuchsstation. Nach dem Vorbild des englischen Rothamsted. Kennen Sie es?«

Will hatte selbstverständlich davon gehört, es aber nie besucht.

»Die Station hier ist seit mehr als hundert Jahren in Betrieb«, setzte Vijaya hinzu.

»Hundertundachtzehn, genau gesagt«, erklärte Dr. MacPhail.

»Lawes und Gilbert begannen 1843 ihre Arbeit an Düngemitteln. Und einer ihrer Schüler kam Anfang der fünfziger Jahre hierher, um meinem Großvater zu helfen, unsre Station hier in Gang zu bringen. Rothamsted-in-den Tropen – etwas dergleichen schwebte uns damals vor. In den Tropen und für die Tropen.«

Die grüne Dämmerung wurde heller, und gleich darauf tauchte die Tragbahre aus dem Wald in die volle Grelle tropischen Sonnenscheins. Will hob den Kopf und blickte umher. Sie befanden sich nicht weit vom Boden eines riesigen Amphitheaters. Etwa hundertundfünfzig Meter tiefer unten erstreckte sich eine große Ebene, schachbrettartig von Feldern gemustert, getüpfelt mit Baumgruppen und kleinen Ansammlungen von Häusern. In der entgegengesetzten Richtung zogen sich die Hänge höher und höher, viele Hunderte von Metern bis zu einem Halbrund von Bergen. Auf einer grünen oder goldgelben Terrasse über der andern, von der Ebene bis zu der zinnenbekrönten Bergwand, paßten sich die Reisfelder den Schichtenlienien an, betonten scheinbar mit bewußter kunstvoller Absicht jede Ausbuchtung und jeden Einschnitt des Hangs. Die Natur war hier nicht mehr bloß natürlich; die Landschaft war komponiert, war auf ihre geometrischen Elemente reduziert worden, und was bei einem Maler ein Wunder an Virtuosität gewesen wäre, war in diesen Schlängellinien, diesen Streifen reiner starker Farbe wiedergegeben.

»Was haben Sie in Rendang getan?« fragte Dr. MacPhail und unterbrach so ein langes Schweigen.

»Material gesammelt für einen Bericht über die dortige neue Regierung.«

»Ich hätte den Oberst nicht für berichtenswert gehalten.«

»Da irren Sie. Er ist ein militärischer Diktator. Was heißen will, daß da irgendwo der Tod lauert. Und der Tod hat immer Neuigkeitswert. Sogar sein Geruch aus der Ferne«, lachte er. »Darum wurde ich beauftragt, auf dem Rückweg von China diesen Abstecher hierher zu machen.«

Die andern Gründe, die es noch gab, ließ er lieber unerwähnt. Zeitungen bildeten nur einen Teil von Lord Aldehydes Interessen. In einer andern seiner Manifestationen war er die South- East Asia Petroleum Company, war er Imperial & Foreign Copper Limited. Wills offizielle Mission in Rendang war, den Tod in der militarisierten Luft dort zu wittern; er war aber auch beauftragt worden herauszufinden, wie der Diktator über ausländisches Kapital denke, welche Steuererleichterungen er zu bieten bereit wäre, welche Garantien gegen Verstaatlichung. Und welcher Prozentsatz des Reingewinns könnte ins Ausland überwiesen werden? Wie viele einheimische Techniker und Verwaltungsbeamte müßten angestellt werden? Eine ganze Batterie von Fragen. Aber Oberst Dipa war höchst umgänglich und entgegenkommend gewesen. Daher jene haarsträubende Fahrt, mit Murugan am Steuer, hinauf zu den Kupferminen. »Primitiv, mein lieber Farnaby, primitiv. Moderne Ausrüstung, wie Sie sehn können, dringend erforderlich.« Eine zweite Zusammenkunft war vereinbart worden, für – wie sich Will nun erinnerte – den heutigen Vormittag. Er stellte sich den Oberst an seinem Schreibtisch vor. Ein Bericht des Polizeichefs. »Mr. Farnaby zum letztenmal gesichtet, als er ein kleines Segelboot allein in die Meerenge von Pala steuerte. Zwei Stunden später ein heftiges Unwetter … Sein Tod muß angenommen werden …« Statt dessen befand er sich nun hier, springlebendig, auf der verbotenen Insel.

»Die werden Ihnen bestimmt kein Visum geben«, hatte Joe Aldehyde bei ihrer letzten Unterredung gesagt. »Aber vielleicht könnten Sie sich in einer Verkleidung an Land schleichen. Tragen Sie einen Burnus oder ähnliches, wie Lawrence von Arabien.«

Ohne die Miene zu verziehen, hatte Will »Ich werd's versuchen«, versprochen.

»Jedenfalls, wenn es Ihnen je gelingen sollte, in Pala zu landen, ist Ihr erster Weg zum Palast. Mit der Rani – das ist die dortige Königinmutter – bin ich gut befreundet. Traf sie zum erstenmal vor sechs Jahren, in Lugano. Sie war zu Besuch bei dem alten Vögeli, der dort eine Effektenemmissionsbank hat. Dessen Freundin interessiert sich für Spiritismus, und sie veranstalteten eine Séance für mich. Eine Verkünderin als Medium, eine ›echte Stimme von drüben‹ – nur daß leider alles auf deutsch war! Nun, nachdem es wieder Licht wurde, hatte ich ein langes Gespräch mit ihr.«

»Mit der Verkünderin?«

»Mit der Rani. Sie ist eine außerordentliche Frau. Sie wissen doch: Der Kreuzzug des Geistes.«

»Hat sie den erfunden?«

»Ganz und gar. Und ich persönlich ziehe ihn der Moralischen Aufrüstung vor. Er kommt in Asien besser an. An dem Abend damals führten wir ein langes Gespräch darüber. Und danach über Erdöl. Pala quillt über davon. South-East Asia Petroleum versucht seit Jahren einzusteigen. Wie das auch die meisten andern Gesellschaften tun. Aber nichts zu machen. Keine ölkonzessionen für wen immer. Das ist dort die unabänderliche Politik. Doch die Rani ist damit nicht einverstanden. Sie möchte, daß das Öl irgendwie Gutes stiften soll auf der Welt. Den Kreuzzug des Geistes finanzieren, zum Beispiel. Also, wie gesagte, falls Sie je nach Pala gelangen sollten, ist Ihr erster Weg zum Palast. Sprechen Sie mit der Rani. Finden Sie was heraus über das Privatleben der Männer, welche die Entscheidungen zu treffen haben. Finden Sie heraus, ob es eine Pro-Öl-Minderheit gibt und wie wir denen helfen könnten, das gute Werk weiterzuführen.« Und er schloß damit, Will eine ansehnliche Gehaltszulage in Aussicht zu stellen, wenn seine Bemühungen Erfolg hätten. Genug, um ihm ein volles Jahr Freiheit zu ermöglichen. »Keine Berichterstattung mehr. Nichts als hohe, allerhö-ö-öchste Kunst!« Gräßlicher Kerl! Aber trotz allem schrieb Will für die elenden Zeitungen des gräßlichen Kerls und war bereit, für eine Bestechungssumme den niederträchtigen Auftrag des gräßlichen Kerls auszuführen. Und nun, unwahrscheinlicherweise, befand er sich hier, auf palanesischem Boden. Wie das Glück es wollte, war die Vorsehung auf seiner Seite gewesen – mit der ausdrücklichen Absicht, offensichtlich, einen jener Streiche auszuführen, welche ihre besondere Spezialität sind.

Mary Sarojinis schrille Stimme rief ihn in die Gegenwart zurück.

»Da wären wir!«

Will hob wieder den Kopf. Der kleine Zug war von der Landstraße abgebogen und schritt durch eine Öffnung in einer verputzten Mauer. Zur Linken, auf einer ansteigenden Flucht von Terrassen, waren Reihen niedriger, von Bo-Bäumen beschatteter Bauten zu sehen. Gradeaus ihnen gegenüber führte eine Allee hoher Palmen hinunter zu einem Lotusteich, an dessen entfernterem Ende sich eine riesige steinerne Buddha-Statue erhob.

Nach links abbiegend stiegen sie zwischen blühenden Bäumen und durch ein Gemisch von Wohlgerüchen zu der ersten Terrasse hinab. Hinter einem Zaun stand, regungslos bis auf die widerkäuenden Kinnbacken, ein milchweißer Stier mit Höckerrücken, gottähnlich in seiner heiteren, geistlosen Schönheit. Der Liebhaber der Europa verschwand in die Vergangenheit und statt seiner erschien ein Paar von den Vögeln der Juno, die ihre Federnschleppen übers Gras schleiften. Mary Sarojini stieß eine Tür zu einem Gärtchen auf.

»Mein Bungalow«, sagte Dr. MacPhail und, zu Murugan gewendet: »Ich werde euch mit der Tragbahre die Stufen hinaufhelfen.«

VIERTES KAPITEL

Tom Krishna und Mary Sarojini waren zu den Gärtnerskindern nebenan gegangen, um gemeinsam mit ihnen Mittagsruhe zu halten. Susila MacPhail saß allein in dem verdunkelten Wohnzimmer mit ihren Erinnerungen an vergangenes Glück und dem schmerzlichen Bewußtsein ihres Verlusts. Die Uhr in der Küche schlug die halbe Stunde. Sie mußte gehn. Mit einem Seufzer erhob sie sich, zog ihre Sandalen an und trat hinaus in die ungeheure Grelle des tropischen Nachmittags. Sie blickte zum Himmel empor. Über den Vulkanen stiegen riesige Wolken auf; dem Zenith entgegen. Binnen einer Stunde würde es regnen. Von einem Schattenfleck zum andern schritt sie den baumbesäumten Weg entlang. Mit einem Knattern brach plötzlich ein Schwarm Tauben aus einem der hohen Bo-Bäume hervor. Mit ihren grünen Flügeln und korallenroten Schnäbeln, die Brust im Licht wie Perlmutter irisierend, flogen sie davon, auf den Wald zu. Wie schön sie waren, wie wunderschön! Susila wollte grade den Kopf wenden, damit ihr der Ausdruck des Entzückens auf Dugalds emporgerichtetem Gesicht nicht entgehe; dann hielt sie inne und sah zu Boden. Es war kein Dugald mehr da, nur dieser Schmerz, der Schmerz eines amputierten Gliedes, das nicht nur in der Einbildungskraft immer noch da ist, sondern immer noch weh tut. »Amputiert«, flüsterte sie vor sich hin, »amputiert …« Als sie spürte, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten, gab sie sich einen Ruck. Eine Amputation war keine Ausrede für Selbstmitleid, und auch wenn Dugald tot war, die Vögel waren so schön wie eh und je und ihre Kinder und alle andern Kinder nach wie vor darauf angewiesen, daß man sie lieb hatte, ihnen half und sie unterrichtete. Wenn Dugalds Abwesenheit ihr so ständig bewußt war, so darum, sie daran zu erinnern, daß von nun an sie für zwei lieben, für zwei leben, für zwei denken müßte und nicht nur mit ihren eigenen Augen, ihrem eigenen Verstand begreifen und verstehen müßte, sondern mit dem Verstand und den Augen, die die seinen gewesen waren und, vor jenem Unglück, auch die ihren, in einem Einklang von Glückseligkeit und Verstehn.

Inzwischen hatte sie den Bungalow des Arztes erreicht. Sie ging die Stufen zur Veranda hinauf und betrat das Wohnzimmer. Ihr Schwiegervater saß neben dem Fenster, trank in kleinen Schlukken kalten Tee aus einem Becher und las im Journal de Mycologie. Er blickte auf, als sie näherkam, und begrüßte sie mit einem Lächeln.

»Susila, meine Liebe! Ich freue mich, daß du kommen konntest.«

Sie beugte sich zu ihm herab und küßte ihn auf die stoppelige Wange.

»Was soll das heißen, was mir Mary Sarojini da erzählt hat?« fragte sie. »Ist es wahr, daß sie einen Schiffbrüchigen gefunden hat?«

»Er kommt aus England – doch auf dem Umweg über China, Rendang und einen Schiffbruch. Ein Journalist.«

»Was für eine Art Mensch ist er?«

»Physisch das Ebenbild eines Messias. Doch zu vernünftig, um an Gott zu glauben oder von seiner eignen Mission überzeugt zu sein. Und zu sensibel, sie auszuführen, selbst wenn er von ihr überzeugt wäre. Seine Muskeln würden sich gern betätigen und seine Gefühle gern Glauben empfinden. Doch seine Nervenenden und seine Vernunft lassen das nicht zu.«

»Offenbar also ein sehr unglücklicher Mensch.«

»So unglücklich, daß er lacht wie eine Hyäne.«

»Weiß er, daß er wie eine Hyäne lacht?«

»Er weiß es und ist recht stolz darauf. Verfaßt sogar Epigramme darüber. ›Ich bin der Mann, der sich nicht mit einem Ja abspeisen läßt.‹«

»Ist er schlimm verwundet?« fragte sie.

»Nicht sehr schlimm. Aber er hat Fieber. Ich habe ihm zunächst Antibiotika gegeben. Nun ist’s an dir, ihn widerstandskräftig zu machen und die vis medicatrix naturae wirken zu lassen.«

»Ich will mein möglichstes tun«, sagte Susila, und dann, nach einem Schweigen: »Ich habe Lakshmi besucht, auf dem Rückweg von der Schule.«

»Und wie ging’s ihr?«

»Ungefähr gleich. Sie war eher etwas schwächer als gestern.«

»Das war auch mein Eindruck heute vormittag.«

»Zum Glück scheinen die Schmerzen sich nicht zu verschlimmern. Es geht immer noch mit der psychologischen Behandlung. Trotz ihren Übelkeiten konnte sie heute etwas Flüssigkeit zu sich nehmen. Ich glaube kaum, daß noch intravenöse Spritzen nötig sind.«

»Gottlob«, sagte er. »Das war eine Quälerei. So ungeheuer mutig bei jeder wirklichen Gefahr; doch wenn’s um Spritzen oder einen Nadelstich in die Vene geht, eine so jämmerliche, unvernünftige Angst.«

Er dachte an die Zeit, an die frühen Tage ihrer Ehe, da er sie ärgerlich ein feiges Ding genannt hatte, weil sie solche Geschichten machte. Sie hatte geweint, still erduldet und glühende Kohlen auf sein Haupt gehäuft, indem sie ihn nachher um Verzeihung bat. »Lakshmi, Lakshmi …« Und jetzt, in ein paar Tagen, würde sie tot sein. Nach siebenunddreißig Jahren.

»Worüber habt ihr gesprochen?« fragte er.

»Nichts Bestimmtes«, antwortete Susila. In Wahrheit hatten sie über Dugald gesprochen, doch sie brachte es nicht über sich zu wiederholen, was zwischen ihnen beiden gesagt worden war. »Mein erstes Baby«, hatte die Sterbende geflüstert. »Ich hab gar nicht gewußt, daß kleine Kinder so schön sein können.« Die Augen in ihren tief in den Schädel gesunkenen dunklen Höhlen hatten aufgeleuchtet, die blutleeren Lippen gelächelt. »Solch kleine, winzige Hände«, fuhr die schwache heisere Stimme fort, »so ein gieriger kleiner Mund!« Und ihre nur noch aus Haut und Knochen bestehende Hand betastete zitternd die Stelle, wo, vor dem chirurgischen Eingriff im vergangenen Jahr, ihre Brust gewesen war. »Ich hab’s gar nicht gewußt.« Und – vorher – wie hätte sie’s auch wissen können? Es zu lieben und zu berühren, war eine Offenbarung gewesen, eine Apokalypse. »Weißt du, was ich meine?« Susila hatte genickt. Natürlich wußte sie es, wenn sie an ihre eignen Kinder dachte und an den Mann, zu dem der kleine Dugald mit den winzigen Händen und dem gierigen Mund herangewachsen war. »Ich war oft in Angst um ihn«, hatte die Sterbende gemurmelt. »Er war so stark, so herrschsüchtig, er hätte verletzen, unterdrücken, zerstören können. Wenn er eine andre geheiratet hätte … Ich bin so dankbar, daß du es warst!« Von der Stelle, wo ihre Brust gewesen war, tastete sich die abgezehrte Hand weiter und ruhte jetzt auf Susilas Arm. Susila neigte den Kopf und küßte diese Hand. Sie weinten beide.

Dr. MacPhail seufzte, sah auf, und schüttelte sich leicht, wie einer, der eben aus dem Wasser gestiegen ist. »Der Schiffbrüchige heißt Farnaby«, sagte er. »Will Farnaby.«

»Will Farnaby«, wiederholte Susila. »Na, ich sollte mich lieber um ihn kümmern.« Sie wandte sich und ging.

Dr. MacPhail sah ihr nach, lehnte sich dann in den Stuhl zurück und schloß die Augen. Er dachte an seinen Sohn, an seine Frau: Lakshmi, die sich langsam bis zur Vernichtung verzehrte, und Dugald, eine helle Flamme, die jählings ausgelöscht worden war. Dachte an die unbegreifliche Folge von Wechsel und Zufall, die ein Leben ausmacht, an all das Schöne und Schreckliche und Absurde, dessen Zusammentreffen den unausdeutbaren und dennoch göttlich sinnvollen Plan menschlichen Geschicks ergibt. »Arme Susila«, dachte er. Er erinnerte sich an den Ausdruck ihres Gesichts, als er ihr mitgeteilt hatte, was Dugald zugestoßen war, »armes Kind!« Und jetzt hatte er da diesen Artikel über halluzinogene Pilze im Journal de Mycologie vor sich! Das war wieder eine der Belanglosigkeiten, die irgendwie in dem Plan ihren Platz einnahmen. Die Worte eines kuriosen kleinen Gedichts fielen ihm ein, das der Alte Radscha geschrieben hatte.

Alle Dinge, allen Dingen

Völlig gleichgültig,

Völlig gemeinsam wirken

In Zwietracht für ein Gutes jenseits

Des Guten, für ein Wesen, das zeitloser

Im Vergänglichen und ew’ger ist im Schwinden

Als Gott droben im Himmel.

Die Tür knarrte, und gleich darauf hörte Will leise Schritte und das Rascheln eines Kleids. Dann legte sich eine Hand auf seine Schulter, und eine Frauenstimme, eine tiefe, melodische, fragte ihn, wie er sich fühle.

»Ich fühle mich ganz erbärmlich«, antwortete er, ohne die Augen zu öffnen.

Es lag kein Selbstbedauern in seiner Stimme, kein Mitleidheischen – nur die ärgerliche Sachlichkeit eines Stoikers, welcher der allzulange währenden Farce von Gelassenheit überdrüssig geworden ist und nun gereizt mit der Wahrheit herausplatzt.

»Ich fühle mich ganz erbärmlich«, wiederholte er.

Wieder berührte ihn die Hand. »Ich bin Susila MacPhail«, sagte die Stimme, »die Mutter von Mary Sarojini.«

Unwillig wandte er den Kopf und öffnete die Augen. Eine erwachsene Ausgabe von Mary Sarojini mit dunklerer Hautfarbe saß da an seinem Bett und lächelte ihn an. Er hatte nicht die Kraft, das Lächeln zu erwidern, begnügte sich mit einem »Guten Tag«, zog das Bettuch höher und schloß wieder die Augen. Susila sah schweigend auf ihn hinab  – auf die knochigen Schultern, das Gerüst der Rippen unter einer Haut, deren nordische Blässe ihn in ihren Augen, denen einer Palanesierin, seltsam zart und verletzlich erscheinen ließ, auf das gebräunte Gesicht mit den scharfgeschnittenen Zügen. Wie aus Holz, im Hinblick auf einen entfernten Betrachter geschnitzt, kantig und doch sensitiv, dachte sie – das feinnervige, nackter als nackt erscheinende Gesicht eines Mannes, der aussah, als sei er geschunden und seinen Qualen überlassen worden.

»Ich höre, Sie kommen aus England«, sagte sie schließlich.

»Mir egal, wo ich herkomme, und mir egal, wo ich hingehe«, knurrte Will gereizt. »Jedenfalls aus der Hölle, in die Hölle.«

»Ich war in England, gleich nach dem Krieg«, fuhr Susila fort. »Um zu studieren.«

Er bemühte sich, nicht hinzuhören; aber Ohren haben keine Lider; es gab kein Entkommen vor dieser eindringlichen Stimme.

»Da war ein Mädchen in meiner Psychologieklasse«, sagte die Stimme. »Ihre Familie wohnte in Wells, und sie lud mich ein, die ersten Monate der Sommerferien bei ihnen zu verbringen. Kennen Sie Wells?«

Natürlich kannte er Wells. Weshalb belästigte sie ihn mit ihren albernen Erinnerungen?

»Ich ging so gern dort am Ufer des Flusses spazieren«, fuhr Susila fort, »und blickte über den Wallgraben zu der Kathedrale hinüber« – und sie erinnerte sich, während sie in Gedanken auf die Kathedrale blickte, an Dugald unter den Palmen auf dem Strand, und dann an ihn und ihre erste Lektion im Klettern. »Du bist angeseilt«, hatte Dugald gesagt. »Dir kann nichts geschehn. Du kannst nicht abstürzen …« Kannst nicht abstürzen, wiederholte sie im Stillen mit Bitterkeit – dann kehrte sie zurück in das Hier und das Jetzt und zu ihrer Aufgabe. Da vor ihr – sie sah wieder auf das verquälte scharfkantige Gesicht – da vor ihr lag ein Mensch, der Schmerzen litt. »Wie schön es dort war«, fuhr sie fort, »und wie friedlich.«

Die Stimme, so schien es Will Farnaby, klang noch melodischer und seltsamerweise auch entfernter. Vielleicht war es darum, daß er ihr Eindringen nicht mehr übelnahm.

»Shanti, shanti, shanti. Der Friede über alle Vernunft.«

Die Stimme klang jetzt wie ein Psalmodieren – klang wie aus einer andern Welt.

»Ich kann die Augen schließen, kann die Augen schließen und alles so deutlich vor mir sehn. Kann die Kirche sehn – und sie ist riesengroß, viel höher als die hohen Bäume rings um den Bischofspalast. Ich kann das grüne Gras sehn und den Fluß und das goldene Sonnenlicht auf dem Gemäuer und die schrägen Schatten zwischen den Pfeilern. Und horch! Ich kann die Glokken hören. Die Glocken und die Dohlen. Die Dohlen im Turm  – können Sie die Dohlen hören?«

Ja, er konnte die Dohlen hören, konnte sie fast so deutlich hören, wie er jetzt die Papageien in den Bäumen vor dem Fenster hörte. Er war dort und hier zugleich – hier in diesem dunkeln, drückend heißen Zimmer nahe dem Äquator, und auch dort draußen, in jener kühlen Mulde am Ufer des Mendips, wo die Dohlen vom Kirchturm riefen und das Geläute der Glocken in der grünen Stille verhallte.

»Und kann die weißen Wolken sehn«, sagte die Stimme, »und der blaue Himmel dazwischen ist so blaß, so verhalten, so köstlich zart.«

Zart, wiederholte er, der zarte blaue Himmel dieses Wochenendes damals im April, das er, vor der Katastrophe ihrer Heirat, dort mit Molly verbracht hatte. Im Gras blühten Maßliebchen und Löwenzahn, und auf dem andern Ufer ragten die hohen Umrisse der Kathedrale auf – in ihrer herben Geometrie eine Herausforderung an die stürmische Sanftheit der Aprilwolken. Eine Herausforderung und zugleich eine Vervollständigung, ein Sichabfinden in einer vollkommenen Versöhnung. So hätte es sein sollen zwischen Molly und ihm – so wie es damals gewesen war.

»Und die Schwäne«, hörte er jetzt die Stimme in ihrem verträumten singenden Tonfall sagen, »die Schwäne …«

Ja, die Schwäne. Weiße Schwäne, die über einen Spiegel aus Jade und Jett dahinglitten  – einen atmenden Spiegel, der sich hob und senkte und der erzitterte, so daß ihre silbrigen Reflexe immer aufs neue zusammenkamen, zerfielen und eins wurden.

»Wie Symbole der Heraldik. Romantisch, unausdenkbar schön. Und doch sind sie dort  – wirkliche Vögel, an einem wirklichen Ort. Mir jetzt so nahe, daß ich sie fast berühren kann – und dennoch so weit weg, Tausende von Meilen weit weg. Weit weg, dort auf dieser glatten Wasserfläche, wie von Zauberhand bewegt, gleiten sie lautlos, majestätisch dahin …«

Majestätisch dahin, majestätisch. Das dunkle Wasser hob sich und teilte sich, wenn die gewölbten weißen Brüste es durchfurchten – hob sich und teilte sich und flutete dann zurück in gekräuselten Wellchen, die sich, hinter den Schwänen, zu einer gleißenden Pfeilspitze ausbreiteten. Er konnte sehn, wie sie über den dunkeln Wasserspiegel dahinglitten, konnte die Dohlen im Kirchturm hören und nahm – durch den mit Gardenienduft vermischten Desinfektionsgeruch hindurch, der ihn hier umgab – den kalten schalen Geruch des Unkrauts wahr, das in dem gotischen Wallgraben jenes fernen grünen Tals wucherte.

»Nur so dahinzugleiten«, sagte Will vor sich hin. »Nur so dahin …« Die Worte gaben ihm eine tiefe Befriedigung.

»Ich saß oft dort«, sagte sie, »ich saß oft dort und blickte auf das Wasser, und bald darauf glitt auch ich so dahin. Dahin mit den Schwänen zwischen dem Dunkel unten und dem blassen, zarten Himmel oben. Aber gleichzeitig glitt ich auf jener andern Oberfläche dahin, zwischen hier und weit weg, zwischen damals und jetzt.« Und zwischen erinnertem Glück, dachte sie, und diesem hartnäckigen Zugegensein einer Abwesenheit. »Glitt dahin«, sagte sie, »auf der Oberfläche zwischen Wirklichem und Vorgestelltem, zwischen dem, was von außen her auf uns zukommt und dem von innen her, von ganz tief, tief unten hier drinnen.«

Sie legte die Hand auf seine Stirn, und mit einemmal verwandelten sich die Worte in die Dinge und Geschehnisse, die sie bedeuteten; die Bilder wurden wirklich. Er begann wirklich dahinzugleiten.

»Dahinzugleiten«, fuhr die sanfte Stimme beharrlich fort. »Dahinzugleiten wie ein weißer Vogel auf dem Wasser. Auf einem großen Strom von Leben – einem breiten, glatten, lautlosen Strom, der so still dahinfließt, so still, so still, daß man fast meinen könnte, er schlafe. Ein schlafender Strom. Und doch fließt er unwiderstehlich dahin.