Ein Aufschlag für die Liebe - Felizitas Vogel - E-Book

Ein Aufschlag für die Liebe E-Book

Felizitas Vogel

0,0
6,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Nur widerwillig nimmt die Journalistin Emilie einen Undercoverauftrag in Paris an. Dort soll sie das Vertrauen der Nummer eins im Tennis Mateo Lopez gewinnen und eine brillante Story schreiben. Doch nicht nur Mateos schroffe Abfuhr scheint die Mission zum Scheitern zu verurteilen. Was keiner weiß: Emilie ist nicht zum ersten Mal auf dem berühmten Tenniscourt von Roland Garros. Vor zehn Jahren beendete ein traumatisches Erlebnis ihre eigene Tenniskarriere. Nun ist sie zurück und muss sich der Vergangenheit stellen. Je näher sie Mateo kommt, desto weiter gerät ihr Auftrag einer reißerischen Story in den Hintergrund. Schon bald kämpft Emilie nicht nur gegen ihre Dämonen, sondern auch gegen die wachsenden Gefühle für den Tennisstar. Doch der Platz an Mateos Seite ist nicht ungefährlich…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 566

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Felizitas Vogel

Ein Aufschlag für die Liebe

Felizitas Vogel

Ein Aufschlag für die Liebe

2022

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Felizitas Vogel

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer, Neumünster

Layout: Verlagsservice Monika Rohde, Leipzig

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH,

Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-65372-6

ISBN E-Book: 978-3-347-65379-5

Für Ramona,

die wie kaum eine andere Tennis geliebt,

gefeiert und im Herzen getragen hat

1

»DASMACHEICH AUF KEINEN Fall!« Emilie Vanderbird saß in ihrem New Yorker Büro und funkelte ihren Chef böse an. »Vergiss es, William. Du kannst mir die Fotos vor die Nase halten, bis du Wurzeln schlägst. Meine Antwort bleibt nein!«

»Es ist ein Auftrag, Em«, antwortete der mit einem unnachgiebigen Zug um die Mundwinkel. »Genauer gesagt: dein Auftrag.«

»Emilie, William. Nenn mich gefälligst Emilie«, knurrte sie. Sie verabscheute die alberne Abkürzung ihres Namens. »Emilie«, begann William gedehnt. »Du bist die einzige Frau hier, die sich in diesem konfusen Sport auskennt. Diesem unlogischen Punktesystem, das kein Mensch begreift! Ich brauche eine, die fließend spanisch und französisch spricht und die einen Tie-Break von einem Satz unterscheiden kann.«

»Wir hatten einen Deal, William. Keine Auslandsaufträge, schon gar nicht in Europa.«

»Glaub mir, Schätzchen, wenn ich könnte, würde ich dir das hier liebend gern ersparen.« Er schwenkte die Fotos lässig hin und her. »Lopez ist zur Zeit der angesagteste Sportler überhaupt: groß, sexy, geheimnisvoll, schweigsam wie ein Tintenfisch und scharf wie ein Schweizer Messer.«

Emilie zog eine Augenbraue hoch.

»Ich meinte, seine Zunge ist so scharf, den Rest finde ich nicht besonders anziehend«, fügte William schnell hinzu. »Allerdings empfinden Millionen Frauen das anders. Emilie, liebe Emilie. Auch, wenn ich mir schönere Jobs für dich wünschen würde, weit weg von solch geballten männlichen Versuchungen, es geht nicht. Er ist die Sensation des Jahres und Sensationen lasse ich mir ungern entgehen.«

Emilie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich mag ihn nicht«, sagte sie, und das war nicht einmal gelogen.

»Umso besser. Dann hast du überhaupt keine Gewissensbisse, wenn du wunderschöne, schlüpfrige Details über ihn herausfindest.«

»Wie soll ich aus jemandem persönliche Informationen herausbekommen, wenn ich ihn nicht ausstehen kann?«

»Das ist dein Beruf, Emilie.« Ganz Chef, arroganter, autoritärer Chef.

»Mein Gott, William. Er ist mindestens ein halbes Jahrhundert jünger als ich. Er wird mich nicht einmal mit seinem Vibrationsdämpfer angucken. Wenn ich Pech habe, hält er mich für seine Mutter.«

Um Williams Mundwinkel zuckte es. »Genau deswegen brauche ich dich da drüben.«

»Damit er mich für seine Mutter hält?«, fragte Emilie pikiert.

»Nein, weil nur du Vibrationsdämpfer sagen kannst, ohne rot zu werden. Es gibt Menschen, die wissen nicht einmal, was das ist. Und Emilie, es sind nicht einmal zwei Jahre. Knappe zwei Jahre. Falls du dir Sorgen machst, die dreißig sieht man dir nicht an.«

Emilie war erst 28 und es war kein Geheimnis, dass William Frauen erst ab dreißig in sein Bett ließ. Das hatte ihr bis jetzt eine gewisse Narrenfreiheit verschafft.

»Vergiss es!«

»Was? Dich oder den Auftrag?«

»Beides!«

»Kommt nicht in Frage, Emilie. Du bist die qualifizierteste Frau für diesen Job.« In seinem Blick las sie die Worte, die er nicht laut aussprach: Mach diesen Auftrag oder du bist raus. Sie war in den vergangenen Jahren eine treue Mitarbeiterin gewesen, zuverlässig, verschwiegen, angepasst. Aber jetzt ging es um die Sensation des Jahres und da kannte William kein Pardon.

»Warum schickst du nicht Derek?«, fragte sie. »Der spricht auch französisch und spanisch.«

»Weil Derek keine Frau ist und unseren großen Helden nun mal nicht um den Finger wickeln kann.«

»Ich will ihn auch nicht um den Finger wickeln!«, entfuhr es ihr heftiger als beabsichtigt.

William kniff die Augen zusammen. »Es steckt nicht zufällig etwas anderes dahinter, Em? Etwas, das mit Lopez gar nichts zu tun hat?«

Emilie ignorierte die ungeliebte Anrede und musterte ihren Vorgesetzten misstrauisch. Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, würde sie höchstpersönlich zur Zielscheibe seines Sensationshungers werden. Sie zuckte betont beiläufig die Schultern.

»Und wie ist dein Plan? Wenn du nicht irgendeinen brauchbaren Plan vorweisen kannst, wird es mir wie all den anderen Tausend Neugierigen gehen: Wir jagen ein Phantom, das wir dann und wann zu Gesicht bekommen, bestaunen, beklatschen, bewundern und dem wir dann nur noch in einer Staubwolke hinterherwinken können.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte William unbeeindruckt.

Sie seufzte innerlich. »Ich mag ihn einfach nicht. Ein braungebrannter, langhaariger, von Ehrgeiz getriebener Gernegroß mit Medienphobie. Er schwimmt in Geld, Macht und Ruhm und kann sich Autos und Frauen kaufen wie andere Leute Eiscreme.«

»Mach dich nicht lächerlich, Emilie. In unserem Beruf spielen solche Ressentiments keine Rolle.«

»Ich hasse den Sport.«

»Auch irrelevant. Allerdings weiß ich aus sicherer Quelle, dass du ihn des Öfteren mit deiner Schwester ausübst.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich mein ja nur …«

»Du hast mir nachspioniert?«

»Ich habe dir nicht nachspioniert. Ich habe mich vorbereitet. Das macht sich in Führungspositionen durchaus bezahlt.«

Emilie schob geräuschvoll ihren Stuhl zurück, stand auf und tigerte unruhig an der Fensterfront entlang. Doch sie sah weder auf die dicht gedrängten Menschen, die wie Ameisen über den Bordstein krabbelten, noch hörte sie die schrill hupenden Taxis, die zur Akustik einer amerikanischen Großstadt dazuzugehören schienen. Ihr Blick glitt über die akkurate Häuserfront gegenüber, in deren Fenstern sich das Sonnenlicht spiegelte. Könnte dort nicht einfach eine Lösung geschrieben stehen? Sie hatte nicht die Absicht, nach Europa zu fliegen, erst recht nicht nach Frankreich.

»Hier.« William warf einen Umschlag auf den Schreibtisch.

»Dein Flug geht heute Abend. Wie jedes Jahr verlost der Veranstalter eine Trainingseinheit mit dem Weltranglistenersten. Dreimal darfst du raten, wem in diesem Jahr diese außergewöhnliche Ehre zuteilwird.«

An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Es soll schön sein. Paris im Mai.« Und dann verließ er endlich Emilies Büro.

Emilie nahm Fotos und Umschlag vom Schreibtisch und schleuderte sie ihm hinterher. Sie segelten nicht einmal bis zur Tür, sondern verteilten sich gleichmäßig über den Boden. Ein Dutzend dunkle Augenpaare starrten sie herausfordernd an. Das machte sie noch wütender. Sie war ihrem Chef und dem Schicksal ohnmächtig ausgeliefert. Und das Schicksal war nicht unbedingt auf ihrer Seite.

»Klopf, klopf, darf ich reinkommen?«

Emilie hob den Kopf und blickte in das besorgte Gesicht ihrer Kollegin Melissa.

»Nicht, wenn du dir Verbrennungen ersten Grades zuziehen willst«, antwortete Emilie und schnipste mit dem Feuerzeug in ihrer Hand.

Melissa trat ein, schnalzte mit der Zunge und bückte sich nach den Fotos auf dem Boden. »Das ist dein Problem?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Mateo Alejandro Lopez?« Melissa sprach den Namen voller Ehrfurcht, Bewunderung und mit einem Hauch Sehnsucht aus.

Emilie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht mein einziges Problem, aber im Moment das Dringlichste.«

»Kannst du mir mal verraten, warum eigentlich immer du die Sahneschnitten unter den Aufträgen einheimst?«

»Weil deine Kleider bei noch mehr Sahne bald eine Nummer größer ausfallen müssen.«

Melissa schenkte ihr ein schräges Grinsen. »Im Ernst, Emilie. Wieso darfst du dir diesen süßen Herzensbrecher vornehmen, während ich alte tattrige Politiker davon abhalten muss, mir an die Wäsche zu gehen? Seit Wochen fragen wir uns alle, wer sich diesen Auftrag unter den Nagel reißt und dir fällt er einfach vor die Füße!« Ihr Blick glitt über die Fotos am Boden. »Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich auch nur in die Nähe von diesem Typen kommen würde. Ganz ehrlich, Emilie. Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen.« »Vielleicht solltest du deinen Chef öfter von der Bettkante stoßen, dann würde er dir vielleicht auch mal was Appetitlicheres besorgen, um dich zu ködern.«

»Hey, Kleines, nicht frech werden, ja?« Melissa runzelte missbilligend die Stirn. »Du willst also Lopez? Du willst tatsächlich Lopez?«

»Hast du mir überhaupt zugehört, Mel? Ich will ihn nicht.« Emilie raufte sich sichtlich beherrscht die blonden Haare. »Emilie, das ist die Chance deines Lebens. Es gibt nicht ein einziges vernünftiges Interview mit ihm. Der Typ ist ein Mysterium, ein Gespenst, ein Phantom.«

Emilie verdrehte die Augen. »Nur, dass dein Phantom sämtliche Kontrahenten an die Wand spielt, Unmengen Kohle scheffelt und es sich leisten kann, jeden vor den Kopf zu stoßen, der das Wort an ihn richtet. Mag sein, dass er ein Mysterium ist, aber ich bin die Letzte, die es aufklären will.« »Mit dieser Story kannst du dir nicht nur einen Namen machen, Liebes, du schreibst Geschichte. Und jemandem, der Geschichte schreibt, kann man nichts abschlagen. William wird dich tun und schreiben lassen, was du willst. Eine Zeitlang zumindest«, fügte sie hinzu.

»Wenn du scharf auf diesen Auftrag bist, dann nimm ihn doch. Flieg nach Paris und lande meinetwegen auf seiner Bettkante. Ich nehme sogar deine tattrigen Politiker.«

»Ich würde lieber in seinem Bett landen«, hauchte Melissa. Ein Räuspern erklang im Raum. »Machen die Ladies kleine Tauschgeschäfte unter Freundinnen?«, fragte William. »Dann hoffe ich für euch, dass es sich um Schuhe, Lipgloss oder Broadwaykarten handelt und nicht um das, was ich denke.«

»Aber sie will diesen Job, William. Und ich will ihn nicht. Meinst du nicht, sie kann eine wesentlich bessere Arbeit liefern, wenn sie mit Engagement und persönlichem Einsatz an die Sache herangeht?«

William runzelte die Stirn und ließ den Blick zwischen seinen beiden Angestellten hin und herwandern. »Melissa?« »Ja?«

»Was ist ein Slice?«

»Ein was?« Melissa sah unsicher zu Emilie.

»Wenn du diesen Auftrag willst, solltest du auch meine Fragen beantworten können, also, Melissa, was ist ein Slice?« »Ein Slice …, als Slice wird ein taktischer Spielzug bezeichnet, der den Gegner so weit aus dem Feld treibt, dass er den nächsten Ball nicht mehr erreichen kann.« Ihr Blick flackerte unsicher von einem zum anderen.

Emilie und William starrten sie einen Moment an, dann meinte William: »Damit ist der Fall klar, meine Damen«, und verließ das Büro genauso geräuschlos, wie er es betreten hatte.

»Verdammt.« Melissa ließ sich mutlos auf einen Sessel fallen. »So was kann man googeln, oder?«

Ein Seufzer entrang sich Emilies Kehle. Einen kurzen wunderbaren Moment lang hatte es so ausgesehen, als gäbe es einen Ausweg.

»Du kannst mir nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben.« Melissa erhob sich, sammelte die Fotos ein und warf sie Emilie auf den Schreibtisch. »Mal ehrlich: Ein attraktiver Sportler mit geschmeidigen Muskeln, braungebrannt. Und dann diese langen Haare, die ihm etwas Verwegenes geben. So schlimm kanns ja wohl nicht sein.«

»Seit dem frühen Agassi trägt kein Spieler mehr lange Haare«, murrte Emilie. »Und das ist hundert Jahre her. Da trugen alle lange Haare.«

»Okay, er ist unhöflich und arrogant. Möglicherweise ein Frauenheld. Aber sein gutes Aussehen kannst du ihm echt nicht vorwerfen!«

Emilie schnitt eine Grimasse, ersparte sich aber einen Kommentar. Melissa drückte Emilie die Fotos in die Hand. »Er sieht also nicht aus wie ein klassischer Tennisspieler und er benimmt sich nicht wie einer. Juckt es dir nicht wenigstens ein kleines bisschen in den Fingern, herauszufinden, wieso er nicht ins Bild passt? Du interessierst dich doch sonst für alles, was aus dem Rahmen fällt. Lopez fällt aus allen Rahmen. Er ist das personifizierte Rätsel.«

»Wenn du mir den Auftrag schmackhafter machen wolltest, so ist dir das gründlich misslungen. Ich will keinen Artikel über ihn schreiben! Ich will das Rätsel nicht lösen und ich will nicht mal auf der Kante seines Bettes landen. Ich hasse diesen Job und ich hasse diesen Auftrag«, schloss sie angewidert, schnappte sich ihre Tasche und stopfte wütend die Papiere hinein. Hocherhobenen Hauptes marschierte sie an Melissa vorbei. »Ich hasse diesen Auftrag«, wiederholte sie. »Pass auf dich auf, Liebes. Diese Aufträge sind die gefährlichsten«, rief Melissa hinter ihr her. Doch Emilie ignorierte ihre Worte. Für gutgemeinte Ratschläge hatte sie jetzt kein Ohr.

2

MIT EINEM PLAN DER Pariser Metro in der Hand und einem Strohhut auf dem Kopf, der ein Souvenir des zweiten Grand Slam Turnier des Jahres hätte sein können, stieg Emilie zwei Tage später in La Chapelle in die Metro ein. Spätestens als sie zwischen Menschenmassen die letzte Station zur Porte d’Auteuil fuhr, eingepfercht und gezwungen, ihren Hut unter den Arm zu klemmen, wusste sie, dass sie auch ohne Stadtplan zum Stade Roland Garros finden würde.

Sie brauchte weder die grünen Pfeile auf dem Boden der Metrostation noch den Wegweiser am Ausgang des Untergrunds. Die Menschen um sie herum zogen fröhlich lachend und voller Vorfreude an ihr vorbei in Richtung Stadion. Könnte sie doch nur ein Besucher sein, der die Großen des Tennissports in Aktion erleben wollte, die Atmosphäre aufsaugte und das Leben feierte.

Etwas widerstrebend überließ Emilie sich der Menge. Aber sie war nicht irgendeine Besucherin. Und sie war nicht gekommen, um zu feiern. Mit jedem Schritt klopfte ihr Herz lauter, ging ihr Atem stockender. Wie in Trance überquerte sie die Straße, bemerkte die Franzosen kaum, die hier herumstanden und letzte Tickets für wenig Geld anboten.

Und plötzlich stand sie in einer Warteschlange vor den Eingangstoren des Stadions von Roland Garros. Viel zu schnell wurde ihre Tasche durchsucht, ihr Ticket gescannt und ihre Daten mit dem Ausweis abgeglichen. Und noch schneller wurde sie von den Fans durch das Tor geschoben. Und dann stand sie im gleißenden Sonnenlicht auf dem heiligen Boden von Roland Garros. Zehn Jahre waren vergangen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Zehn Jahre und es hatte sich alles verändert. Sie selbst am allermeisten. Trotz der Hitze fror sie plötzlich und versuchte die Erinnerungen abzuschütteln, die wie lästige Fliegen immer wieder hoch kamen. Wenn sie das Ganze hier unbeschadet überstehen wollte, war es besser, die Vergangenheit in Schach und ihre Emotionen im Zaum zu halten. Emilie straffte die Schultern und atmete tief durch. Sie würde es schaffen. Sie war zwar nicht freiwillig hier, aber sie war hier und vielleicht würde es ihr gelingen, ein paar alte Dämonen zu besiegen. Immerhin schien das Wetter auf ihrer Seite zu sein – die Sonne machte es tatsächlich einfacher. Mit Hut und Sonnenbrille fühlte sie sich zwar nicht annähernd so sicher, wie sie sich fühlen wollte, aber der Aufzug war die perfekte Tarnung.

Ein wenig leichter ums Herz sah sie sich um. Sie war nicht die Einzige, die sich in den letzten Jahren verändert hatte. Das Museum, die Courts und die Stationen der Fernsehteams waren immer noch da, wo sie vor zehn Jahren standen. Aber die Leinwand war neu, die Anzahl der überteuerten Imbissbuden und Souvenirshops hatte sich verdoppelt und ein eingezäunter Bereich lud die Besucher ein, die Geschwindigkeit ihres Aufschlags zu messen.

Die Menschen schoben und drängten sie vorwärts und erst als sie die ersten Plätze hinter sich gelassen hatte, lichteten sich die Massen. Vor ihr ragte der Center Court »Philipp Chatrier« wie eine Kathedrale empor. Dort musste sie hin.

Ein kurzer Blick auf die Uhr und sie atmete erleichtert auf. Sie hatte noch reichlich Zeit. Kurz entschlossen marschierte sie am Center Court vorbei, überquerte den Platz bis zur Stierkampfarena, wählte einen beliebigen Aufgang und stieg die Treppe empor. Oben blieb sie kurz stehen und erkannte in dem Flattern ihres Herzens überrascht so etwas wie Vorfreude und Sehnsucht.

Ein Lotse forderte sie auf, Platz zu nehmen. Zwei Sekunden später fluchte sie leise. Keine zehn Meter von ihr entfernt kämpften zwei Sportler um den Einzug in die nächste Runde. Mateo Alejandro Lopez und Andrew Knight. Der Amerikaner hatte keine Chance gegen die kraftvollen Schläge des Spaniers. Emilies Puls raste. In ihren Ohren dröhnte der Applaus und vibrierte bis in ihr Herz.

Das Leben der letzten Jahre zog im Schnelldurchlauf an ihr vorbei. Bilder in schwarz-weiß, ohne Wärme, ohne Licht. Doch hier und jetzt stieg eine Wärme in ihr auf, die ihr schon lange fremd geworden war. Sie füllte sie aus von den Zehen bis in die Haarspitzen mit sanft prickelnder Energie und Sehnsucht nach ihrem Leben. Einem Leben, das zu Ende gewesen war, bevor es richtig begonnen hatte. So lange hatte sie jegliches Gefühl unterdrückt, sich keine Gedanken an die Vergangenheit erlaubt, nicht daran, was sie verloren hatte und nicht daran, was hätte sein können.

Applaus brandete auf und die Menschen um sie herum drängten zum Ausgang. Das Match war beendet. Die Protagonisten hatten den Platz bereits verlassen. Emilie atmete tief durch. Zwar war sie immer noch nicht erpicht darauf, Lopez Auge in Auge gegenüberzustehen, aber die Aussicht war nicht mehr ganz so bedrohlich.

3

DAS GEFÜHL DER WÄRME blieb. Es ließ sich nicht einschüchtern, nicht wegdiskutieren und nicht ausschalten wie eine Kaffeemaschine. Es blieb hartnäckig in ihr und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Emilie lächelte immer noch, als sie drei Stunden später in Tenniskluft und mit einem Schläger bewaffnet ihrem Schicksal entgegen ging. Die Veranstalter hatten sie mit den nötigen Informationen für die Begegnung versorgt und dem Sicherheitspersonal Anweisungen per Funk übermittelt.

Lopez wartete auf dem Center Court. Er stand in der Nähe des Schiedsrichterstuhls und traktierte einen Tennisball mit dem rechten Fuß. Selbst ohne Schläger konnte der Mann zaubern. Emilie beobachtete, wie der Ball von der Außenkante des Fußes auf die Innenseite balanciert wurde, um dann nach oben geworfen und mit der Fußspitze wieder aufgefangen zu werden. Sie verlangsamte ihre Schritte und musterte Lopez aufmerksam, der sie noch nicht bemerkt hatte. Kurze schwarze Hosen, ein hellblaues T-Shirt und Schuhe, die farblich perfekt auf sein Outfit abgestimmt waren. Seine Knöchel waren getaped, was ihn aber in seiner Beweglichkeit kaum einschränkte. Wie auf den Fotos, die William ihr gegeben hatte, war seine wilde Mähne mit einem blauen Band gebändigt und seine Haut tief gebräunt. In seinem Gesichtsausdruck lag die hohe Konzentration, die sie von den Bildern kannte, aber auch eine tiefe Zufriedenheit, die er der Öffentlichkeit nicht zeigte. Natürlich, er wähnte sich allein. Fast allein. Zwei schwarz gekleidete Securitymänner flankierten ihn. Sie sahen anders aus als die Sicherheitslotsen, die den Court abriegelten. Der Größere bemerkte sie zuerst, nickte ihr zu und räusperte sich vernehmlich. Lopez reagierte nicht. Die beiden Männer wechselten einen irritierten Blick und zuckten entschuldigend mit den Schultern. Feiglinge, dachte Emilie. Gab es denn niemanden, der diesem Typ die Stirn bot und sich nicht von Talent, Aussehen und Bankkonto beeindrucken ließ?

»Hi, ich bin Emilie Vanderbird.« Ihre Stimme klang mutiger als sie sich fühlte, als sie zielstrebig auf den Mann am Netz zu ging und ihm ihre Hand entgegenstreckte.

Lopez stoppte mitten im Wurf. Der Ball verfehlte den Fuß und kullerte über die Asche. Lopez ignorierte die Hand und musterte sie flüchtig. Emilie hatte bewusst französisch gesprochen. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie auch spanisch verstand. Aus den spärlichen Pressekonferenzen und Interviews wusste sie, dass er die französische Sprache fast so gut wie seine Muttersprache beherrschte, aber er schien sie nicht verstanden zu haben.

»Der Turnierdirektor sagte mir, dass ich Sie hier finden würde.«

»Schon mal ein Racket in der Hand gehabt?« Abschätzig betrachtete er ihren Schläger und zog die Stirn in Falten. »Früher mal. Ist schon ’ne Weile her«, antwortete sie, weil sie sich mit Halbwahrheiten wohler fühlte als mit Lügen. »Dann fangen wir im T-Feld an. Das sind die beiden Aufschlagfelder dort.« Er zeigte auf die beiden Felder hinter dem Netz. Emilie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sah sie wirklich so aus, als wäre sie mit dem T-Feld Begriff überfordert? Doch dann folgte sie einfach seinen Anweisungen und positionierte sich auf der T-Linie.

Lopez machte keinen Hehl daraus, dass er auf diese Schnapsidee, Fan und Sportler auf Augenhöhe begegnen zu lassen, keine Lust hatte. Lieblos spielte er ein paar Bälle übers Netz, die sie so unauffällig wie möglich auf die andere Seite beförderte. Einem aufmerksameren Beobachter wären weder ihre perfekte Griffhaltung noch der optimale Treffpunkt entgangen, aber Lopez schien mit seinen Gedanken in einem anderen Universum zu sein. Trotzdem manipulierte sie ihre Schrittstellung so, dass sie nicht automatisch in die in Fleisch und Blut übergegangenen Bewegungsabläufe verfiel.

Und obwohl sie wütend über sein Benehmen war, regte sich auch so etwas wie Verständnis in ihr. Er hatte zu diesem Date wahrscheinlich genauso viel zu sagen wie sie. Diese Aktion sollte ein PR Gag sein, ein Zeichen des guten Willens, ein Versuch, diesen Spieler aus der Reserve zu locken und für seine Fans zugänglicher zu machen. Emilie wollte ihn als arroganten, selbstgerechten, unverschämten Idioten sehen, doch er war nur ein Opfer der Umstände. Zur Marionette verdonnert, genau wie sie. Mitgefühl regte sich in ihr. Vielleicht hätte sich das auch in Sympathie verwandelt, wenn er sie nicht wie ein gefühlloses, austauschbares Stück Fanfleisch behandelt hätte.

Die Situation wurde immer unangenehmer. Emilie hasste es die Bälle in unförmigen Bögen in alle Himmelsrichtungen zu verstreuen. Unter anderen Umständen wäre es ihr ein Vergnügen gewesen, ihm eine Lektion zu erteilen und ihm die Bälle, um die Ohren zu donnern. Doch sie waren im Stade Roland Garros. Auf dem Philippe Chatrier.

Emilie stöhnte innerlich. Das Ganze war ein fürchterlicher Irrtum. Wieso taten sie sich diese Farce überhaupt an? Lopez musste wohl zu dem gleichen Schluss gekommen sein, denn er dirigierte sie ans Netz. »Ähem, ich bin kein besonders guter Trainer.« Er sah sie nicht an, sondern betrachtete seinen Schläger, den er nervös auf dem Netz wippen ließ. Er sah gequält aus. Nicht nur frustriert und genervt, sondern mit sich hadernd, freudlos und unzufrieden. Emilie hatte plötzlich Mitleid mit ihm.

»Ich bin auch keine besonders gute Schülerin.« Das brachte ihr immerhin einen fast anerkennenden Blick aus unergründlich dunklen Augen ein.

»Es macht Ihnen also nichts aus, wenn wir … es dabei belassen?«

Es wunderte Emilie, dass er überhaupt nachfragte. »Nein«, stieß sie gepresst hervor. Sie verzog den Mund zu einem Lächeln und winkte ihm unbeholfen mit dem Schläger zu.

Und während Lopez es offensichtlich kaum erwarten konnte, ihr den Rücken zuzukehren und zu verschwinden, ließ sie sich auf eine Spielerbank fallen und wartete, bis Lopez und seine zwei Bodyguards nicht mehr zu sehen waren. Sie war den Tränen nahe. Sie hatte vergessen, wie es war hier zu sein, nicht geahnt, welche Erinnerungen die rote Asche, die Menschenmassen, der Geruch nach Crêpes und neuen Bällen und das erhabene Gefühl Teil all dessen zu sein, in ihr auslösen würde. Sie hatte sich überschätzt und die Vergangenheit unterschätzt. Ihre Finger zupften nervös an den Saiten ihres Schlägers, ihre Beine wippten auf dem Sand. Ihr Selbstbetrug hatte sie irgendwie durch die letzten Jahre manövriert, doch hier bröckelte ihre Fassade wie die eines alten Gemäuers. Fast eine Stunde blieb Emilie am Court sitzen. Kein Mensch störte sie. Tränen, die längst überfällig waren, bahnten sich den Weg über ihr Gesicht und dieses Mal hielt sie sie nicht zurück. Das hier war der Ort, an dem vor zehn Jahren alles begonnen hatte, der Anfang vom Ende. Zum ersten Mal fragte sie sich, wieso es keinen Neustart geben könnte, mit neuen Vorzeichen, trotz der alten Wunden …

Emilie wartete bis keine Tränen mehr da waren. Es gab keinen Weg zurück zu der Frau, die sie vor langer Zeit einmal gewesen war. Aber heute hatte sie ihren Kampfeswillen gespürt, ihre Energie und ihre Lebensfreude. Wie Fragmente ihrer Vergangenheit, Puzzlesteine, die neu zusammengesetzt werden mussten.

Ein erster Schritt war es, von hier zu verschwinden. Sie konnte nicht länger auf dem Platz bleiben. Um 18 Uhr war hier das nächste Match angesetzt. Sie stand auf. Ihre Muskeln schmerzten vom langen Sitzen. Emilie ließ die Schultern kreisen und streckte ihren Kopf nach rechts und links. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Was hatte sie sich nur gedacht? Das hier war eine PR-Aktion. Wenn sie den Court verließ, erwarteten sie gezückte Kameras und Mikrofone. Lopez mochte vielleicht dafür gesorgt haben, dass sie während dieser Trainingsfarce allein waren, aber hinter diesen Ausgängen lauerten Reporter, Schaulustige, Fernsehteams. Emilie schob ihre Sonnenbrille wieder auf die Nase und versuchte der aufkommenden Panik Herr zu werden. Es machte keinen Sinn davonzulaufen. Das hier war initiiert worden, um näher dran zu sein. Ein Fan durfte – stellvertretend für Millionen andere – Zeit mit seinem Idol verbringen. Und deswegen lauerten jetzt an allen offiziellen Ausgängen Journalisten, die alles ganz genau wissen wollten.

Schlimm genug, dass Lopez sich diesem Akt entzogen hatte, aber sie wollte nicht mehr weglaufen. Nie mehr, das war ihr eben klargeworden.

4

MATEO SCHLOSS LEISE die Tür hinter sich. Er hatte alle Register gezogen und sämtliche Schleichwege benutzt, um keinem Reporter über den Weg zu laufen. Hilfreich war, dass sein erzwungenes Date ein Einsehen gehabt hatte und ihn vorzeitig gehen ließ. Mateo ignorierte den Stich seines Gewissens. Ungeachtet seiner spärlichen Leistung als Trainer, waren ihre Schläge so unberechenbar gewesen, dass er froh sein konnte, ohne blaues Auge davon gekommen zu sein. Aber warum hatte sie nicht wenigstens ein Selfie gemacht oder ihn um ein Autogramm gebeten? Mateo wischte die Zweifel beiseite. Alles in allem war es ein guter Tag. Er hatte ein perfektes Match gespielt, einen unangenehmen PR-Termin überstanden und war unbehelligt zum Hotel gekommen.

Das Apartment wirkte ungewöhnlich still. Er lugte um die Ecke und entdeckte seinen Trainer Alberto und seinen Physiotherapeuten Miguel, die gebannt auf einen großen Flachbildschirm starrten.

»Mateo?«, rief Alberto. »Gut, dass du kommst. Da läuft etwas, was du dir ansehen solltest.«

Mateo lachte. »Das klingt nicht so, als wolltest du eine Spielanalyse durchführen.« Doch weder Alberto noch Miguel lachten.

»Okay, was ist los?« Beunruhigt sah er zum Fernseher. Ein eifriges Reporterteam hatte die junge Frau eingekeilt, mit der er zwanzig Minuten auf dem Platz verbracht hatte. Sie sah mitgenommen aus. Ihre Augen waren von der Sonnenbrille verdeckt, doch Mateo hätte schwören können, dass sie geweint hatte. Ein eigenartiges Ziehen schoss durch seine Eingeweide.

»Ich nehme an, du hast die Presse ausgesperrt?« Es war eine rhetorische Frage und Mateo ersparte sich die Antwort. »Und die Kleine darf dein unprofessionelles Verhalten jetzt ausbaden. Gratuliere Mateo, das gibt einen Orden für Ritterlichkeit.«

»Ich war noch nie ritterlich.« Trotzig reckte Mateo das Kinn und fixierte den Bildschirm. Sie war doch einverstanden gewesen, die Trainingssession vorzeitig zu beenden. Hatte er sie missverstanden und nur gehört, was er hören wollte? Das Unwohlsein in seinem Magen verschlimmerte sich. Ohne seine Tasche abzusetzen, lauschte er den Fragen der Reporter.

»Wie ist es mit so einem Helden des Tennissports auf dem Platz zu stehen?«

Die junge Frau warf einen Blick über die Schulter.

»Nein, Kleines, da kommt dir jetzt niemand zu Hilfe«, sagte Miguel mitfühlend und Mateo war, als hätte er eine saftige Ohrfeige einkassiert. Eine Ohrfeige, die er verdient hatte.

Emilie stellte ihre Tasche ab, legte den Schläger darauf und sah die Journalistin erschöpft an. »Es ist eigenartig«, begann sie und ihre Stimme klang kratzig. Sie räusperte sich verlegen und schaute tapfer in die Runde. »Nicht, weil sich Lopez als realer Mensch herausstellt, einer aus Fleisch und Blut und Turnschuhen …«, einige Journalisten lachten, »sondern weil der Platz so unglaublich riesig wirkt. Als Laie fühlt man sich verloren.« »Verloren.« Mateo hatte ihren Satz im selben Moment zu Ende geführt. Alberto musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Haben Sie Lopez als so unzugänglich empfunden, wie er sich der Presse zeigt oder hat er tatsächlich eine sanfte Seite?« »Verehrte Herrschaften, der Sinn eines Trainings besteht doch darin, an seinen Fähigkeiten zu arbeiten. In meinem Fall eine recht undankbare Aufgabe. Selbst für einen Meister seines Faches ist es unmöglich, innerhalb kürzester Zeit aus einer Strichzeichnung einen Rembrandt zu machen.«

»Das beantwortet nicht unsere Frage, Mademoiselle«, mischte sich ein untersetzter Franzose mit piepsiger Stimme ein. »Doch, in gewisser Weise schon, Fabrice von Sport Actuel«, las Emilie von dem kleinen Schildchen an seiner Brust. »Denn es war ein Training, kein Kaffeekränzchen.«

»Dann hat er keine Wasserflaschen nach Ihnen geworfen oder Sie mit mürrischer Gleichgültigkeit behandelt?«

»Ich muss Sie enttäuschen, Fabrice. Er war äußerst gnädig. Er kritisierte weder meine verkorkste Rückhand noch meine miserable Beinarbeit. Er tolerierte Dutzende von Bällen, die eher die Tauben in der Luft als die Linien getroffen haben. Er war geduldig, charmant und zuvorkommend.«

»So zuvorkommend, dass er Sie uns zum Fraß vorwirft? Benutzt er Sie vielleicht nur, um uns zu entkommen? Wo ist er jetzt, Ihr zuvorkommender, geduldiger, charmanter Held?« Alberto schaute tadelnd auf Mateo, dessen Blick immer noch am Bildschirm klebte.

»Sie haben ein falsches Bild von ihm«, sagte Emilie leise. Stöhnend ließ sich Mateo in einen Sessel fallen. »Das kann sie mir nicht antun«, flüsterte er heiser.

»Was, dir den Hals retten?« Albertos Enttäuschung war kaum zu überhören.

»Sie rettet nichts. Sie lügt.« Mateo musste keinem hier erklären, warum er auf Lügen allergisch reagierte. »Ich habe den Platz schon vor über einer Stunde verlassen. Wieso kommt sie erst jetzt runter? Vielleicht wollte sie den Kameras ja direkt in die Linse laufen. Einmal berühmt sein. Ist das nicht der Traum eines jeden jungen Mädchens?«

»Sieht sie für dich glücklich aus?« fauchte Alberto.

Mateo schluckte. Ein Blick in das mühsam um Fassung ringende Gesicht im Fernsehen genügte, um seine Theorie ins Wanken zu bringen.

»Wieso kommt sie jetzt erst? Wenn sie mit mir verschwunden wäre …«

»Du willst es nicht sehen oder Mateo? Du willst nicht sehen, dass dir dieses Mädchen gerade den Arsch rettet. Was meinst du, hätten die Veranstalter davon gehalten, wenn ihr feiner ausgetüftelter Plan schon nach einer halben Stunde scheitert? Was für ein gefundenes Fressen für die Presse: ›Sportass lässt Fan sitzen und enttäuscht Millionen andere.‹ ›Weltranglistenerster drückt sich vor wohltätigem Zweck.‹ ›Mateo Alejandro Lopez – zu fein für die normale Welt?‹ Wie klingt das in deinen Ohren? Du magst nicht sonderlich begeistert über diesen Job gewesen sein, aber es war auch nicht zu viel verlangt. Es ging um eine Stunde, Mateo, um eine gottverdammte Stunde in deinem ach so viel beschäftigtem Leben! Sie lügt? Das macht sie für dich, du aufgeblasener Hampelmann, und es geht ihr richtig schlecht dabei.« Mateo hatte seinen Trainer selten so außer sich erlebt. »Vielleicht erhellen Sie dann unseren begrenzten Horizont, Mademoiselle. Uns lässt er ja nicht mal auf Armeslänge heran.«

Emilie sah den Reporter herablassend an, nahm ihre Tasche und ihren Schläger und machte Anstalten dieses Presseintermezzo zu verlassen.

Da streckte der Mann seine Hand aus und packte sie am Arm. Mateo sog scharf die Luft ein. Es war, als hätte die Hand ihn berührt und ein Schauer jagte über seinen Rücken.

Emilie nahm mit der freien Hand beherrscht die Sonnenbrille ab und fixierte Fabrice mit einem tödlichen Blick. Dieser ließ sofort die Hand sinken. »Sein Verhalten überrascht Sie doch nicht etwa, oder?« Ihr Ton war eiskalt. »Mich jedenfalls nicht. Ihre Fragen sind unprofessionell, unsachlich und dienen niemanden, außer Ihrer Quote. Falls es Ihnen entgangen sein sollte, so gestehen einige Staaten ihren Bürgern das Recht auf Privatsphäre zu. Ich bin mir sicher, dass Frankreich dazu gehört. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das bei Ihnen schon angekommen ist, Fabrice von Sport Actuel?« Emilie sah den Reporter herausfordernd an. Der erwiderte ihren Blick kommentarlos. »Sehen Sie, Miss«, mischte sich eine junge Journalistin mit britischem Akzent ein, »wir sind verpflichtet, über das Geschehen zu berichten. Er steht im Licht der Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit hat auch Rechte.« Emilie drehte sich zu ihr um. Sie seufzte ergeben. Die Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Fragen Sie ihn bei Gelegenheit, warum er seinen Aufschlag umgestellt hat. Ich gehe davon aus, dass er dabei gesprächiger sein wird, als bei der Frage nach seinem Verhaltenskodex.« Dieser Bemerkung folgte anerkennendes Lachen. Fabrice lachte nicht. Es war offensichtlich, dass Emilie ihn verärgert hatte. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich muss zum Flughafen.« Diesmal hielt sie niemand auf.

Mateo saß wie versteinert auf seinem Sessel. Niemandem war die Umstellung seines Aufschlages aufgefallen. Nicht einmal den alten Eisen der Tenniselite, die die Matches für ihr Land kommentieren. Wieso war ihr das aufgefallen? Und wieso hatte sie das nicht als Gesprächsanlass genommen? Weil du dich wie ein Idiot benommen hast, zischte eine Stimme in seinem Inneren. Doch bevor er sich länger den Kopf darüber zerbrechen konnte, klingelte das Telefon. Wohlwissend wessen Stimme er hören würde, nahm Mateo den Hörer ab und freute sich auf ein Stück Heimat im Ohr. »Ja?«

»Egal, was du in ihr sehen willst, du irrst dich, Mateo.« Die sanfte Stimme seiner Großmutter vibrierte in seinem Herzen. Er wunderte sich nicht über ihr Timing. Er war mit ihr auf einer Weise verbunden, die nicht rational erklärbar war. »Vermutlich hast du Recht, Yaya.«

»Du weißt, dass ich recht habe. Du weißt es, wenn du aufhörst, den Geistern der Vergangenheit mehr Beachtung zu schenken als denen der Gegenwart. Denn dann bist du frei. Frei deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Frei das Offensichtliche zu sehen.«

Mateo stöhnte innerlich auf. Dieses Gespräch hatte er bereits Dutzende Male geführt.

»Nein, ich werde dir keinen Vortrag halten, Chicolino.« In ihrer Stimme schwang ein nachsichtiges Lachen. »Aber du sollst wissen, dass du nicht allein bist. Wenn du reden willst, dann hör ich zu und wenn du schweigen willst, dann lausche ich deinem Schweigen.«

»Und allen Gedanken, die sich in diesem Schweigen verfangen wie Fliegen im Netz einer Spinne.«

Sie lachte. »Eine Gabe wie diese ist ein Geschenk, kein Fluch.«

»Und du kannst mit ihr Frieden stiften und Ärger vorhersehen, Dingen auf den Grund gehen und in Worte fassen. Und dennoch tust du es nur selten.«

»Nicht allen gefällt, was ich sehe«, sagte sie sanft, und er wusste, dass auch er blind für ihre Warnungen gewesen war. »Du fehlst mir«, murmelte er ins Telefon.

»Grundsätzlich oder bei dieser besonderen Aufgabe?« Er hörte wieder ihr Lachen und fühlte sich mit einem Mal viel leichter.

»Grundsätzlich und bei dieser besonderen Aufgabe.«

»Was brauchst du?«

»Eine Umarmung von dir wäre ein guter Anfang.«

Das Fenster schlug mit einem lauten Knall auf und sanfter Wind umschmeichelte seinen Körper und seine Seele. Es roch nach Zypressen und Lavendel und fast meinte er Grillen zirpen zu hören. Mateo schloss für einen Moment die Augen und sah das Haus seiner Eltern vor sich, die breite Terrasse mit den einladenden Korbstühlen, die große Schaukel unter einer uralten Eiche, das breite Eingangsportal. Türen, die offen standen, um Sonnenlicht und Besucher willkommen zu heißen.

»Das wird reichen müssen, Chicolino. Denn du hast eine Aufgabe.«

Nur mit Mühe riss sich Mateo von dem Bild los und öffnete langsam die Augen.

»Ich denke, du weißt, was du zu tun hast, Mateo.«

»Und wenn nicht? Würdest du intervenieren?«, fragte er voll liebevoller Zuneigung.

»Natürlich. Nur ob dir das gefallen würde, bezweifle ich. Mach es lieber auf deine Art«, sagte seine Großmutter und in Gedanken sah er die Grübchen in ihrem Gesicht tanzen. »Ich liebe dich«, erwiderte er aufrichtig.

»Ich dich auch. Bring sie mit nach Hause, Mateo!« Ein Klicken, und weg war sie.

Mateo runzelte die Stirn. Entschuldigen, ja. Wiedergutmachung, auch gut. Aber mit nach Hause nehmen? Das konnte sie nicht so gemeint haben, wie sie es gesagt oder wie er es verstanden hatte. Noch immer hielt er das Telefon in der Hand.

»Carla?«, fragte Alberto

»Ja.«

»Sieht so aus, als könnte ich mir die Standpauke sparen.« »Ja«, antwortete Mateo geistesabwesend. Mitnehmen? Seine Großmutter musste sich irren.

»Spricht sie wieder in Rätseln?«

»Nein, diesmal war sie schockierend klar«, erwiderte er immer noch irritiert und legte das Telefon zurück auf den Tisch. Und wenn es doch einen Grund gab? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hielt den Atem an. Das Offensichtliche sehen, hatte seine Großmutter gesagt. Sein Puls raste. Das konnte nicht sein. Das war ganz und gar unmöglich. Er sah Emilie vor sich, ihre Haltung, ihre ungelenke Art sich zu bewegen. Noch vor ein paar Minuten war sie ihm einfach nur linkisch und unsportlich vorgekommen, doch jetzt erkannte er, wie viel Mühe sie sich gemacht hatte, ihre natürlichen Bewegungsmuster zu sabotieren. Nur wieso?

»Ich muss weg.«

Alberto grinste. »Wo willst du hin?«

»Ein Rätsel lösen.«

»Ist dabei eine Entschuldigung inbegriffen?«

Mateo schnaufte. »Die wird sie mir in den Hintern schieben.«

»Das hast du verdient.«

»Danke, für deine Loyalität, Alberto.«

»Immer gern. Ich liebe deine Großmutter.«

Mateo war schon mit einem Bein im Flur und sammelte wahllos ein paar Klamotten ein. »Ja, ihr beide gebt ein tolles Paar für meine Gewissensbildung ab.« Die Tür knallte.

»In der Tat. Das tun wir«, bestätigte Alberto zufrieden und schaltete den Fernseher aus.

5

MATEO STAND ÜBERRASCHT vor der Fassade eines Youth Hostels. Es grenzte an ein kriminalistisches Meisterstück, dass er ihre Unterkunft überhaupt gefunden hatte. Halb Paris lag ihm zu Füßen und trotzdem waren alle Anrufe aus datenschutztechnischen Gründen im Nichts verpufft. Erst als er seine Position als Weltranglistenerster ausspielte und den Turnierdirektor persönlich aus seiner Kaffeepause klingelte, erhielt er den nötigen Hinweis.

Ein wenig beklommen betrat er das Hostel. Normalerweise mied er solche Sammelstellen für Abenteuerlustige und Weltenbummler, weil garantiert einer dabei war, der ihn erkannte und dann wussten es innerhalb kürzester Zeit alle 211 Zimmer.

Er hatte sich im Auto umgezogen. Verwaschene Jeans, schlichtes weißes T-Shirt und eine schwarze Beanie, die seine Haare verdeckte. Eine leicht getönte Brille gab seinem Aufzug den letzten Schliff und bot etwas Tarnung.

Als er durch die Eingangstür trat, blickte keiner auf. Erleichtert sah er sich um: Großer Eingangsbereich mit zusammengewürfelten, abgenutzten Sitzmöglichkeiten, bemalte Wände, ein paar vertrocknete Pflanzen, Klebezettel am schwarzen Brett und jede Menge Rucksacktouristen. Seit er in seiner Jugend in Hostels übernachtet hatte, hatte sich nichts geändert. Er brauchte nicht lange nach ihr zu suchen. Ihre leuchtend blonden Haare reflektierten das Licht der Sonne, das durch die hohen Fensterscheiben fiel. Sie sprach mit einem jungen Mann an der Rezeption und kritzelte etwas auf ein Stück Papier, ohne aufzusehen. Mateo konnte in dem sprachlichen Durcheinander ringsum nicht verstehen, was sie sagte, aber er konnte sich unbemerkt nähern und sie ausgiebig mustern. Sie trug eine zarte hellblaue Tunika mit Spitzenstickereien an den Rändern und eine hochgekrempelte Jeans, die schmale Waden und feingliedrige Knöchel preisgaben. Ihr linkes Bein war angewinkelt und sie trug keine Schuhe. Mateo kannte keine Frau, die auf die Idee gekommen wäre, in Paris barfuß zu laufen. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über seine Lippen. Neben ihr stand ein kleiner schwarzer Rollkoffer. Sie hatte die Journalisten nicht angelogen. Sie wollte Paris tatsächlich verlassen. Lässig lehnte er sich in einigem Abstand an den Tresen, so dass er dem Gespräch folgen konnte.

»In zwei Stunden habe ich Feierabend. Ich könnt’ dir die Stadt zeigen.« Schüchtern warf der Angestellte ihr einen Blick zu.

»Verlockendes Angebot, Yves.«

»Aber du hast schon was vor«, schlussfolgerte er niedergeschlagen.

Emilie lächelte mütterlich. »Nicht direkt. Aber ich will keinen Ärger mit der kleinen Brünetten im karierten Sessel, schräg hinter mir auf zwei Uhr. Sie lässt dich kaum aus den Augen und kratzt jeder ein Sternbild in die Haut, die dir zu nahekommt.«

Mateo musterte besagtes Mädchen und gab Emilie recht. »Im Ernst? Meinst du wirklich?«, flüsterte Yves nervös. »Vertrau mir. Mit so was kenn ich mich aus. Sie wird dein Angebot auf keinen Fall ablehnen.« Emilie lächelte Yves aufmunternd zu. Yves errötete bis unter die Haarspitzen und legte Emilies Ausweispapiere auf den Tresen.

»Na mach schon!«, sagte Emilie. »Ich lauf dir schon nicht weg.« Yves strahlte sie an, tauchte unter der Absperrung durch und steuerte den karierten Sessel an. Emilie widmete sich mit einem belustigten Lächeln wieder ihren Papieren. Mateo trat ein paar Schritte auf sie zu. »Was ist mit mir, laufen Sie mir davon?«

Emilie zuckte zusammen und ihr Lächeln erstarb augenblicklich. Ihre Augen verengten sich und einen Moment sah es so aus, als würde sie ihn nicht erkennen. Etwas verlegen nahm Mateo die Brille ab.

»Muss ich Sie daran erinnern, wer vor wem davongelaufen ist?«, fragte sie kühl und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Touché«, erwiderte Mateo schlicht.

»Wie lange stehen Sie schon hier?«

»Spielt das eine Rolle?«

Sie zog abschätzig die Augenbrauen in die Höhe. »Bereitet es Ihnen Vergnügen, unschuldige Frauen zu beobachten?« »Das Vergnügen war größer, als Sie noch nichts von meiner Anwesenheit wussten. Und auch weniger frostig. Im Übrigen sorge ich nur für ausgleichende Gerechtigkeit. Sie haben mein Spiel analysiert und meinen Aufschlag studiert.«

»Und Sie studieren hier was?«

»Zwischenmenschliche Kommunikationsmuster.«

Fast hätte sie gelacht. »Was machen Sie wirklich hier?«

»Ich genieße die Aussicht«, antwortete er, als befänden sie sich auf dem Eiffelturm.

»Und gefällt sie Ihnen? Die Aussicht?«

Mateo ließ den Blick vielsagend über die Empfangshalle schweifen. »Geht so. Die Stimmung ist ein wenig unterkühlt.«

»Aus dem Wasserhahn kommt warmes Wasser, die Decken sind frei von Löchern und Ungeziefer und zum Frühstück gibt es lauwarmen Kaffee mit Brioche. In Ihrem luxusverwöhnten Leben sind Sie sicher Besseres gewöhnt …«

Sie hatte ihn absichtlich falsch verstanden, bemerkte er anerkennend. »Sie lassen sich nicht einschüchtern, Emilie. Das gefällt mir. Aber ich bin hier, um mich zu entschuldigen.« »Sparen Sie sich ihren Atem, Lopez. Sie sind mir nichts schuldig. Ich habe Sie nicht verpfiffen und das wissen Sie. Ihr schlechtes Gewissen quält Sie und Sie erwarten Absolution. Ich werde sie Ihnen erteilen. Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Fahren Sie in ihre luxuriöse Suite, vögeln Sie ein paar Zimmermädchen und spielen Sie Tennis. Dafür werden Sie schließlich bezahlt.« Sie hatte ihre Stimme erhoben und einige Anwesende drehten überrascht die Köpfe zu ihnen.

Mateo beugte sich zu ihr. »Ihre Einschätzung meines kleinen, privilegierten Lebens in allen Ehren, aber es gibt tatsächlich Menschen, die nicht wissen, wer ich bin und womit ich mein Geld verdiene. Und ich wäre Ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet, wenn es auch so bliebe. Das könnte andernfalls äußerst unangenehm werden.«

»Sie drohen mir?«

»Nichts liegt mir ferner. Aber ein Foto von mir in Zivil ist viel wert. In Begleitung einer Frau …« Er ließ den Satz unvollendet.

»Dann verschwinden Sie«, zischte sie zwischen zusammengepressten Zähnen. »Verdammt verschwinden Sie. Ich wüsste nicht, was wir noch zu klären hätten.« Ihre Augen sprühten Funken.

»Sie sind wütend.« Er sah sie interessiert an.

»Nein, wie kommen Sie denn darauf? Ich liebe es, eine Stunde in der Sonne zu brutzeln, mich von dreisten Reportern betatschen zu lassen und für einen Mistkerl zu lügen, der es weder für nötig hält, sich vorzustellen, noch mich anzusehen.«

Sie war bezaubernd. Ihre Entrüstung so erfrischend echt, dass Mateo sich ein amüsiertes Glucksen verkneifen musste. »Verzeihen Sie meine Umgangsformen. Darf ich mich vorstellen? Mateo Alejandro Lopez. Sportler, Millionär, Egoist. Und ich versichere Ihnen: Ich sehe Sie.«

Er ließ sie nicht aus den Augen und machte eine kleine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Um ehrlich zu sein, sehe ich Sie schon eine ganze Weile. Und, um Ihrer Frage zuvorzukommen, mir gefällt durchaus, was ich sehe.«

»Entweder ist das einer Ihrer perfekten Lügen oder eine plumpe Anmache.«

Er lächelte traurig. »Weder noch.«

Ihre Augen forschten in seinem Blick und zeigten für den Bruchteil einer Sekunde eine Verletzlichkeit, die der seinen in nichts nachstand. Dann hatte sie sich wieder gefangen. »Was spielen Sie hier eigentlich?«, fragte sie gereizt. »Erst können Sie mich nicht schnell genug loswerden und dann verfolgen Sie mich? Ich hab Ihnen doch schon vergeben. Was wollen Sie denn noch, Lopez?«

»Eine Chance. Geben Sie mir die Chance, die ich Ihnen verwehrt habe.« Mateo war von dieser Aussage mindestens ebenso überrascht wie sie.

»Auf keinen Fall«, gab sie scharf zurück.

»Sie gefallen mir.«

»Was?« Emilie starrte ihn ungläubig an.

»Vielleicht liegt das an Ihren nackten Füßen oder an Ihrer direkten Art mir mein Fehlverhalten vor Augen zu führen. Aber es gefällt mir. Ich begegne täglich Menschen, die ihre Gefühle deckeln, weil sie Angst haben, dass niemand damit klarkommt. Offene Worte sind selten geworden, vor allem im Beisein von Prominenten. Ausnahmen bestätigen die Regel, sagt man das nicht so? Ich freue mich, dass Sie eine Ausnahme sind, Emilie. Sie maßregeln mich – ganz zu recht – und dass, obwohl ich der beste Tennisspieler aller Zeiten bin.«

»Nun ja, der Bescheidenste sind Sie jedenfalls nicht«, entfuhr es Emilie.

Mateo grinste wieder. »Das stimmt, aber ich habe mich heute anmaßend und überheblich benommen. Ich bin fehlbar. Ich habe auch nie etwas Gegenteiliges behauptet. Nur meinen die meisten Leute, dass sie sich aufgrund meines Namens, meines Rufes oder was weiß ich noch, alles gefallen lassen müssen, was ich verbocke. Ich traue ihnen nicht. Nicht solange sie diese ›Wie-gefall-ich-dir-am-besten-Maske‹ tragen.«

»Gehen Sie deswegen allen aus dem Weg?«

»Nicht allen, nur den Journalisten.«

»So, so.«

»Okay und vielleicht wird mir auch hin und wieder der Hype um meine Person zu viel, was leider genau die ausbaden dürfen, die mich am meisten lieben.«

»Die Fans.«

»Richtig. Die Fans.«

Sie schwiegen eine Weile. Das Gemurmel ringsum umgab sie wie ein schützender Mantel.

»Also?«, fragte Mateo.

»Also was?«

»Geben Sie mir die Chance, meinen Fehler wieder gut zu machen?«

»Ist das eine Bitte?«, fragte sie mit honigsüßer Stimme.

»Wie lange muss ich bitten, bis Sie ja sagen?«

»Wann ist Ihr nächstes Match?«

Mateo nickte anerkennend. »Ersparen Sie mir den Kniefall, Emilie. Und tauschen Sie Ihre Stirnfalten gegen ein paar Lachgrübchen. Geben Sie mir diese Chance!«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil Sie nicht so herzlos sind wie ich.«

»Sie geben es also zu? Dass Sie herzlos sind, meine ich.« »Nur, wenn ich Ihnen das Gegenteil beweisen darf.«

Jetzt konnte sie unmöglich nein sagen.

»Und da schnappt die Falle zu.«

»Keine Falle. Nur eine Einladung. Und eine Wiedergutmachung.«

Einen Moment lang sah sie ihn aufmerksam an, dann nahm sie ihren Koffer. »Mein Flug geht um 23.20 Uhr«, sagte sie. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »Dann haben wir drei Stunden. Wenn Sie Paris dann immer noch verlassen möchten, bringe ich Sie persönlich zum Flughafen, versprochen.« Er nahm ihr mit der linken Hand den Koffer ab, mit der Rechten nahm er ihre Hand und zog sie nach draußen. Emilie winkte Yves ein letztes Mal zu, bevor sie hinaustrat ins Sonnenlicht. Mateo packte ihren Koffer in den Kofferraum, hielt ihr die Wagentür auf und gab seinen Männern leise Anweisungen.

»Was haben Sie vor?« In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Panik.

Er lächelte. »Ich zeige Ihnen mein Paris.«

6

DER WAGEN HIELT AN einer Kreuzung. Mateo sprang heraus und hielt ihr die Tür auf. Emilie musterte ihn irritiert und stieg aus. In dem Moment rauschte ein Bus viel zu nah an ihnen vorbei. Mateo drückte sie ans Auto. Emilie schnappte nach Luft, als sie ihm plötzlich so nah war. Er roch gut, nach Minze und Sandelholz.

»Alles klar?«, fragte er besorgt, als der Bus vorbei war und er sich von ihr löste.

Sie brachte kein Wort heraus und nickte nur.

Mateo lächelte, nahm wieder ihre Hand und zog sie auf die andere Straßenseite. Mitten ins Getümmel. Neugierig sah sie sich um. Buden und Stände in allen Farben und Größen; Stoffe, Porzellan, Tischdecken, Zinnfiguren, alte Messer, Briefmarken, Münzen, Körbe, Karten und alte Filmplakate stapelten sich auf Tischen und dem Boden. Teppiche schützten die Waren vor dem Dreck der Straße. Kinder lachten, Frauen kreischten und stoppelbärtige Franzosen saßen auf kleinen Schemeln und spielten Schach. Ein Pantomime tastete eine unsichtbare Wand ab und ein Maler hatte es sich unter dem einzigen Baum gemütlich gemacht, um die Szene zu Papier zu bringen. Von irgendwoher wehte der Geruch von frischem Kaffee.

»Wo sind wir?«, fragte Emilie.

»Mitten im Leben«, sagte Mateo, und fügte schmunzelnd hinzu, »irgendetwas zwischen Trödelmarkt und Jahrmarkt. Pulsierend, echt. Hier gibt es jeden Krempel, jede Ersatzschraube, jedes Autogramm, Kostüme, Möbel, Erinnerungen und Zukunftsvorhersagen zu kaufen und wenn Sie wollen sogar ein paar Wunder.« Er lächelte.

»Jedes Autogramm?«, pickte sie nach dem pikantesten Detail. »Das heißt, wenn ich danach suchen sollte, dann finde ich auch eins von Ihnen?«

Mateo lachte lauthals und Emilie zuckte zusammen. In diesem Tumult mochte dieses Lachen davonwehen wie ein mit Helium gefüllter Luftballon, aber ihr ging es unter die Haut. »Schon möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Aber Sie brauchen nicht danach zu suchen, sondern nur zu fragen.« Er wartete mit hochgezogener Augenbraue auf eine Antwort von ihr, die aber nicht kam. »Vermutlich können Sie hier sogar einen guten Preis dafür erzielen«, fügte er lässig hinzu. Verlegen schüttelte sie den Kopf. »Ich hab’s nicht so mit prominenten Unterschriften.«

»Auch gut.« Er nickte knapp.

»Wieso sind wir hier?« Stirnrunzelnd betrachtete Emilie die Umgebung.

Mateo seufzte. »Es muss nicht immer einen Grund für alles geben. Ich finde, manchmal sollte man sich einfach treiben lassen und das Leben genießen, wie es ist. Genießen Sie, Emilie.« Er ließ ihre Hand los und machte eine aufmunternde Bewegung in Richtung der Menge.

Plötzlich verstand sie, warum Mateo diesen Ort so sehr mochte. Hier gab es alles: Handel und Schauspiel, Künstler, Händler und Feuerspucker, Faszination, Witz, Vision und Lebenslust. Emilie fühlte sich unbeschwert und lebendig, frei von Konventionen, Erwartungen und Verpflichtungen. Emilie lauschte den Klängen eines Straßenmusikers, der alte Chansons zu neuem Leben erweckte. Sie verfolgte wie ein Künstler mit viel Liebe zum Detail auf den Boden malte, applaudierte einem Schlangenkünstler, der eine riesige Kobra wie eine Federboa um den Hals trug und erwarb für ihre Nichte eine Spieldose, die in sich eine tanzende Ballerina verbarg. Emilie bewunderte Kostüme aus dem 17. Jahrhundert, trank aus feinem chinesischem Porzellan Tee aus Indien und vergaß nicht nur die Zeit, sondern auch Mateo. Dieser stand ein wenig abseits und beobachtete sie. Ihre anfängliche Skepsis war kindlicher Begeisterung gewichen. Ihre Freude, die strahlenden Augen, ihr Entzücken über eine alte Platte von Charles Aznavour, ihr helles Lachen über einen gelungenen Scherz und ihr verlegenes Kopfschütteln bei einem unmoralischen Angebot entschädigten ihn für die Kopfschmerzen, die sie ihm bereitete.

Er wusste nicht, warum er sie ausgerechnet hierher bringen wollte. Wusste nur, dass er genau hier anfangen musste. Womit auch immer. Er hatte sie nicht überreden können, Schuhe zu tragen und so schlenderte sie barfuß über das Pflaster, ließ sich beratschlagen, begeistern, belehren und belagern. Sie war freundlich und voller Licht. Und doch spürte er ihre Skepsis, ihr Misstrauen und ihren Schmerz. Mateo suchte ihren Blick und tippte auf die Uhr. Emilie setzte sich in Bewegung, wurde jedoch noch zweimal aufgehalten, bevor sie bei ihm ankam. Ihre Wangen waren rosig und ihr Haar verstrubbelt und sie war schön wie die Nacht. Und ebenso geheimnisvoll, dachte Mateo. Wenn er nicht aufpasste, würde er Carlas Ratschlag noch in die Tat umsetzen.

»Fündig geworden?«, fragte er und deutete auf die Spieluhr. Emilie lächelte. »Allerdings. Und Sie, ist Ihnen ein Wunder begegnet?«

»Es ist mir wohl eher zugelaufen.«

Verlegen schaute sie zu Boden. Er schob seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und fragte sanft. »Wollen wir?«

»Müssen wir?«, entgegnete sie und entzog sich seiner Berührung.

»Müssen ist ein hässliches Wort. Doch kein Zauber hält ewig. Die meisten Händler sind schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Sie hatten einen langen Tag und streichen allmählich die Segel.« Er sah ihren enttäuschten Gesichtsausdruck und fügte hinzu. »Wir können ja wiederkommen!«

Emilies Augen blitzen auf. Ob aus Vorsicht, Vorfreude oder Überraschung, dass er einen weiteren Ausflug mit ihr in Erwägung zog, wusste er nicht zu sagen. Doch er mochte diesen Blick, der neugierig und unsicher zugleich war. Der Blick, in dem er die gleichen Mächte kämpfen sah, wie in seinem eigenen Kopf.

»Und nun?« Emilie ließ sich erschöpft in die weichen Polster des Mercedes fallen. Sie hatte die Augen geschlossen. Sie wusste Luxus durchaus zu schätzen, auch wenn sie ihn nicht brauchte, um glücklich zu sein.

»Wenn Sie zu müde sind, fahre ich Sie zurück ins Hotel. Sollten Sie jedoch noch ein paar Kraftreserven haben, dann würde ich Ihnen gern einen anderen Lieblingsort von mir zeigen.«

Emilie überging die Sache mit dem Hotel. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie bleiben wollte oder nicht. »Wie viele von diesen Lieblingsorten gibt es denn?«

»In Paris oder weltweit?«

»In Paris.«

»Ungefähr drei Dutzend.« Sie hatte die Lider wieder geöffnet und war geblendet vom Glanz seiner dunklen Augen. »Und wie viele davon wollen Sie mir zeigen?«

»In Paris oder weltweit?«

»Scherzkeks«, sagte sie kopfschüttelnd. »In Paris natürlich.« »Alle«, sagte er spontan und öffnete eine Wasserflasche mit einem lauten Zischen, bevor er sie ihr hinhielt. Emilie nahm die Flasche, schluckte und fragte sich einen Moment, was er wohl gesagt hätte, wenn sie weltweit gesagt hätte.

»Das schaffen wir nicht an einem Abend«, bemerkte sie. »Dann bleiben Sie!« Schon wieder. Er hatte es wieder geschafft, ihr eine Falle zu stellen und sie war hineingelaufen wie ein blindes Huhn.

»Wer garantiert mir, dass die nächsten 35 genauso charmant sein werden, wie der Markt?« Zeit gewinnen und nachdenken.

»Ich. Allerdings glauben Sie mir nicht, weil Sie mir nicht trauen, was angesichts unserer Vorgeschichte durchaus verständlich ist.« Reumütig sah er sie an. »Somit bleibt Ihnen nur ihr eigenes Urteil.« In seinem Gesicht las sie tiefe Genugtuung.

»Das haben Sie fein eingefädelt, nicht wahr? Sind Sie stolz auf Ihre Taktik?«

»Nun ja, das Terrain ist ein wenig ungewohnt, muss ich zugeben. Aber ich schlag mich doch ganz gut, oder?« Er lächelte sie an.

»Zweifellos. Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie nicht auch auf diesem Gebiet ein wahrer Meister sind.«

»Im Fallen stellen?«

»Im Bekommen, was Sie wollen.« Sie traute ihren Ohren kaum. Sie flirtete. Sie, die um jeden Preis vermeiden wollte, nur annähernd in die Nähe seiner Bettkante zu kommen, bewegte sich zielstrebig darauf zu. Zumindest in ein Bett in seiner Nähe.

»Funktioniert es?«, wollte er wissen.

»Nur bis zur nächsten Sehenswürdigkeit«, entgegnete sie spitz.

Er lächelte breiter. Dieses Lächeln ließ ihren Herzschlag einen Moment aussetzen. Die Grübchen um seine Mundwinkel tanzten im Licht der untergehenden Sonne und seine Augen strahlten. Dieses Gesicht war ein völlig anderes als die Welt kannte, als sie kannte. Konnte es sein, dass sie mit ihrer Einschätzung vollkommen daneben lag? Dass dieser Mann zwar reich und vielleicht auch verwöhnt war, aber doch menschlich und liebenswert sein konnte?

7

»DASIST EIN FRIEDHOf«, bemerkte Emilie lakonisch als sie aus dem Wagen stiegen und das steinerne Tor passierten. »Das ist nicht irgendein Friedhof. Das ist der Père Lachaise.« Mateo sagte das so, als hätte sie eine Amaryllis mit einem Gänseblümchen verglichen. »Ich gebe zu, es ist vielleicht ein wenig klischeehaft, aber es ist das perfekte Kontrastprogramm zum Markt. Hier kann man Vögeln und alten Geschichten lauschen und den eigenen Herzschlag hören. Komm.« Mateo nahm wieder ihre Hand und zog sie in eine weniger frequentierte Gasse. Weit und breit waren nur eine Handvoll Menschen in Sicht. Die Sonne verschwand hinter den Häusern und zauberte ihre letzten Farbtupfer an den Himmel.

»Okay. Dann zeigen Sie mir, was diesen Friedhof so besonders macht. Außer in den Top Ten der Pariser Sehenswürdigkeiten gelistet zu sein.« Die Pflastersteine waren noch warm.

»Es mag ja sein, dass viele Menschen diesen Ort abklappern, als wäre er nur ein weiteres Häkchen in ihrem Reiseführer. Er hat ebenso viel Charme wie ein Aufstieg auf den Eiffelturm oder ein Besuch des Louvre. Nur eben anders. Hier kann man zwar auch vieles sehen, aber eigentlich muss man zuhören.«

»Sie haben ein Händchen für außergewöhnliche Orte, Lopez.«

»Mateo, bitte.«

»Und das Timing hätte nicht besser sein können«, überging sie sein Angebot. »Die meisten Besucher sind schon auf dem Weg ins Hotel.«

»Schalten Sie den Kopf ab, Emilie. Und fühlen Sie.«

Sie schluckte. Fühlen? Sie wusste gar nicht mehr, wie das geht.

»Hier ruhen Genies. Hier schlummern ungeschriebene Worte, große Melodien und gelebte Leidenschaften. Und doch bleibt es ein Ort des Friedens, der Stille und Inspiration.«

»Sie holen sich hier Inspiration?«

»Nein, hier finde ich Ruhe und gute Geschichten. Zwei Dinge, die ich absolut zu schätzen weiß.«

»Wenn ich gute Geschichten brauche, dann lese ich ein Buch.«

»Und Ruhe, Emilie? Wo finden Sie die, wenn der Lärm des Alltags sie durcheinander rüttelt?«

»Die Stille und ich sind keine sonderlich guten Freundinnen.«

Sie sah ihm an, dass er gern mehr erfahren würde. »Erzählen Sie mir eine Geschichte!«, forderte sie ihn auf.

»Wie Sie meinen.« Sein Blick ruhte noch einen Augenblick auf ihr, dann wandte er sich den umstehenden Grabsteinen zu. »Nehmen wie zum Beispiel diesen exzentrischen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts.« Er zeigte auf ein imposantes Grab, welches von einer steinernen Frau im Profil mit riesigen langen Flügeln bewacht wurde. »Oscar Wilde galt als überheblicher, arroganter Dandy, der durch schrägen Humor und ausgefallenem Verhalten auffiel. Er kritisierte die Missstände der damaligen Gesellschaft, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Dazu kam seine offen zur Schau getragene Homosexualität.

Eines Tages initiierte er eine Verleumdungsklage und wurde bald selbst zum Angeklagten. Weder sein dusseliger Anwalt noch sein bestechend rhetorisches Talent konnten ihm zwei Jahre Zuchthaus ersparen. Doch er ging nicht unter. Noch nicht. Er kommentierte, er schrieb. Er wehrte sich. An einen alten Freund soll er einen Brief mit über 50.000 Wörtern geschrieben haben. ›Dass mein Leben fortan in deinem lebt, wie die Möwe nur liebt das Meer allein …‹ Dass mein Leben in deinem lebt – wie verzweifelt kann ein Mensch lieben, wenn er sich so etwas wünscht?«

Mateo seufzte. »Die Geschichte hat kein gutes Ende. Als Wilde endlich entlassen wird, ist nicht nur seine Gesundheit angeschlagen. Als Geächteter muss er fliehen und unter falschen Namen in Paris untertauchen. Hier verbringt er die letzten Jahre seines Lebens in Einsamkeit und Armut. Letztlich war er wie wir alle: Ein Künstler auf der Suche nach Anerkennung.«

Schweigend gingen sie weiter. Emilie kam sich mit ihren Sorgen auf einmal klein und erbärmlich vor. Was war schon ein Zwiespalt verglichen mit Einsamkeit und Armut? Sie fröstelte. Mateo legte ihr seine Jacke um die Schultern. Ledergeruch stieg ihr in die Nase. Wo hatte er auf einmal diese Jacke her, fragte sie sich, als sie in die Ärmel schlüpfte.

Sie machten einen kleinen Schlenker und Emilie bewunderte die kunstvoll verzierten Grabsteine. Familiengrüfte mit Eisengittern, liebevolle Worte in verschlungenen Buchstaben, Statuen mit demütig zu Boden blickenden Frauen. Dazwischen zartes Grün, kräftige Dornenbüsche, wilde Rosen und Löwenzahn. Tod und Leben. Der ewige Kreislauf des Lebens.

In Gedanken versunken bemerkten sie nicht wie ein Mann sich aus einer Gruppe vor ihnen löste und lässig zu ihnen herüberschlenderte. Er trug trotz der einsetzenden Dunkelheit eine Sonnenbrille und ein Basecap und hatte die Hände in seiner weiten Leinenhose vergraben.

»Hi. Unfassbar, dass ich Sie auf einem Friedhof antreffe, Mister Lopez. Ich bin ein Riesenfan. Womöglich der Größte, den sie haben. Ich verpasse kein Spiel, ehrlich nicht. Könnten Sie mir ein Autogramm geben? Oder noch besser: Könnte die Lady nicht ein Foto von uns beiden machen? Das glaubt mir zu Hause sonst kein Mensch.« Er hielt Emilie sein iPhone hin, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Mateo kniff die Augen zusammen.

»Tut mir leid. Sie sind nicht der Erste, der mich verwechselt.« Der Mann wirkte leicht irritiert, aber noch nicht überzeugt. »Ich bin wirklich nicht der Mann, für den Sie mich halten. Außer ein paar Äußerlichkeiten haben wir nicht viele Gemeinsamkeiten. Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, ich würde meiner Freundin gern noch etwas zeigen, bevor der Park schließt.« Der Mann zuckte die Schultern, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte zurück zu seiner Gruppe. Emilie war stehengeblieben. Mateo musterte sie. »Was denn? Keine Vorwürfe?«

»Weshalb denn?«

»Ich habe gelogen«, antwortete er vorsichtig.

»Sie hatten sicherlich Ihre Gründe.«

»Die Sie nicht zu interessieren scheinen.«

Emilie seufzte. »Sie haben ein Leben. Ein Leben außerhalb des ganzen Tennisrummels. Und dieses Leben müssen Sie verteidigen, wenn es nicht absorbiert werden soll.«

»Höre ich da so etwas wie Verständnis?«

»Wollten Sie mir nicht noch etwas zeigen?«, wich sie aus. »Na schön, kommen Sie.« Unaufdringlich lenkte er ihre Schritte nach links eine Anhöhe hinauf. Wie er vermutet hatte, waren zu dieser Uhrzeit kaum noch Touristen unterwegs. Sie hatten die Allee ganz für sich allein. »Et voilà.« Emilie sah auf. Die Lust auf eine weitere Literaturstunde war ihr vergangen. Im schwindenden Licht entzifferte sie die Buchstaben auf dem Grabstein. »Nein, hier werde ich ganz bestimmt nicht anhalten und demütig den Kopf neigen.« Ohne auf Mateo zu warten, ging sie weiter.

»Mademoiselle mögen die Piaf nicht?«

»Eine kleine unglückliche Frau, die von einem Bett ins nächste hüpfte? Sie war egoistisch, narzisstisch und exzentrisch. Sie hat ihre Tochter abgegeben wie einen Brief auf dem Postamt. Sie hat sie nie wiedergesehen. Die Kleine starb, während sich ihre Mutter in irgendeinem Puff amüsierte.« »Sie war unabhängig.«

»Sie war naiv genug, das zu glauben. Sie hatte große Männer an ihrer Seite, die ihr einfach alles durchgehen ließen.«

»Sie hat aus ihnen große Männer gemacht.«

Wütend funkelte sie ihn an. »Ich leugne nicht, dass sie eine grausame Kindheit hatte, aber sie hat aus den Fehlern ihrer Eltern nicht besonders viel gelernt, oder?«

»Vielleicht wollte sie einfach nur leben, wie es ihr gefällt. Leben in allen Extremen.«