Ein behaarter Mond - Florian Bald - E-Book

Ein behaarter Mond E-Book

Florian Bald

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Beschreibung

Künstler und Medienschaffende sind dekadent, promisk, arrogant und ziemlich durch – lautet das Klischee. Das Problem ist, dass Klischees meistens stimmen. Auch der legendäre Berliner Synchron- und Hörbuchsprecher Frank Schaller säuft, hurt und behandelt Kollegen wie Dienstboten. Bis er eines Morgens aufwacht und keine Stimme mehr hat. An die verhängnisvolle Nacht davor kann er sich aber nur schemenhaft erinnern. Plötzlich wird Schaller bewusst, dass er längst kein Star mehr ist, sondern ein gewöhnlicher Endvierziger, der langsam aus dem Leim geht – mit einer Frau, die ihn verachtet, einem Sohn, der ihn für einen entfernten Bekannten hält und einer Mutter, die schon immer der Meinung war, er solle endlich einen richtigen Beruf ergreifen. Während seine Welt aus den Fugen gerät, erhält Schaller das Angebot, einen Jahrhundertroman einzulesen. Er braucht seine Stimme wieder, und zwar schnell, selbst, wenn er dafür sein Leben in Ordnung bringen muss. Florian Bald schreibt in seinem Coming-of-Age-Roman für Erwachsene über die Vergänglichkeit von Ruhm, Liebe und Lebenslügen und wühlt dabei vergnüglich in den Abgründen und Marotten der Unterhaltungsindustrie.

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Seitenzahl: 242

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periplaneta

FLORIAN BALD: „Ein behaarter Mond“ 1. Auflage, September 2014, Periplaneta BerlinE-Book-Version 1.1

© 2014 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Postfach: 580 664, 10415 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Marie Markert Coverbild: Marion Alexa Müller Posing: Stefan Hillebrand Satz & Layout: Thomas Manegold

Der Verlag dankt: Charles Rettinghaus, Lisa Morgenstern, Pia Jesionowski

print ISBN: 978-3-943876-76-5 epub ISBN: 978-3-943876-45-1

Florian Bald

Ein behaarter Mond

Roman

periplaneta

1

Wann genau haben Krankheiten eigentlich aufgehört, richtige Krankheiten zu sein?

Ich meine solche, mit denen wir aufgewachsen sind. Als eine Krankheit noch eine böse Laune der Natur oder, je nach Blickwinkel, eine Heimsuchung Gottes war, aber doch beim besten Willen nichts, wofür man selbst Verantwortung trug. Nicht wie heute:

Jemand hat Blähungen oder Durchfall? Diagnose: Laktoseintoleranz und/oder Gluten.

Welke Haut? Zu viel UV-Strahlung.

Depressionen? Zu wenig Sport.

Fehlende Libido? Zu viel Sport und zu wenig UV-Strahlung.

Krebs? Zu wenig Geschlechtsverkehr. Und zu viel Angst. Viel zu viel Angst.

Die große Frage nach dem Warum ist uns, wie man sieht, geblieben. Die Zahl der Antworten aber kennt kein Mensch mehr.

„Also, ich kann hier nichts finden“, sagt Dr. Euler, in dessen Behandlungsstuhl ich kauere.

„Nichts?“, flüstere ich und schiebe den Spatel in meinem Mund mit der Zunge von links nach rechts. Mein Schädel brummt.

„Nein, gar nichts“, sagt Euler, richtet sich im Sitzen auf und legt den Spatel beiseite. Er ist mittelalt, hat einen Abschluss in Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, diverse Diplome an der Wand und sieht in seinem hellblauen Maßhemd mit den Manschetten eher wie jemand aus, der im Top-Management viel Geld verdient.

„Nur, damit ich alles richtig verstanden habe, Herr … ähm … Sie sind heute Morgen aufgewacht und da war Ihre Stimme bereits weg?“

Ich nicke und forme mit den Lippen ein fast.

„Und gestern Abend war alles noch in Ordnung?“ Er scheint zu überlegen. „Keine kürzlich ausgestandene Erkältung, anhaltende Heiserkeit … so etwas?“

Nein.

„Und mit dem Veilchen und der Platzwunde an Ihrer Lippe hat es ebenfalls nichts zu tun?“

Ich hebe die linke Braue. Auch das tut weh.

„Verstehen Sie mich nicht falsch“, Euler verschränkt die Beine, „natürlich dürfen Sie sich so viele Hämatome im Gesicht zulegen, wie Sie wollen, allerdings … kann eine plötzliche, auch teilweise Sprechstörung viele Ursachen haben, und wenn wir bei Ihnen weder am Kehlkopf noch an den Stimmbändern Anomalien feststellen, kann das auch bedeuten …“ Er lächelt sanft.

„Hm?“, hauche ich.

„… dass der Auslöser für Ihren Stimmverlust seelische Ursachen hat.“

Seelische Ursachen? Grundgütiger! Ich dachte, der Mann sei Arzt.

„Weist Ihr Leben“, er schlittert mit seinem Bürostuhl hinüber zum Schreibtisch und damit aus meinem Blickfeld, „in letzter Zeit irgendwelche Turbulenzen auf, ungewöhnliche Belastungen, die meinen Verdacht erhärten würden?“

„Pfff“, mache ich und höre seine Computertastatur klappern.

„Berufliche Veränderungen? Private? Eventuell ein Todesfall in der Familie?“

Ich schüttle den Kopf, was er vermutlich gar nicht sieht.

„Nicht selten sind es ja kleine, scheinbar unbedeutende Vorfälle, die einem in ihrer Summe trotzdem, im wahrsten Sinne des Wortes, die Sprache rauben können. Fällt Ihnen nichts ein?“

Nein.

„Was machen Sie denn beruflich? Der Vermerk fehlt mir hier in der Anamnese.“

„Sprecher.“ Eine Behauptung, die durch das schwache Krächzen, das bis gestern meine Stimme war, nicht gestützt wird.

„Sprecher?“, wiederholt er und gleitet auf seinem Stuhl zurück in mein Sichtfeld.

„Ja“, sage ich kaum hörbar, „Hörspiele, Hörbücher … und Synchron.“

„Oh“, Euler wirkt aufrichtig bedauernd, „das ist dann ja wirklich äußerst ungünstig.“

Ich seufze.

„Andererseits“, sein Gesicht hellt sich auf, „sollte uns dieser Umstand zusätzlicher Ansporn sein, Sie baldmöglichst wieder hinzukriegen.“

Hinkriegen. Endlich. Das ist eine Vokabel, mit der ich etwas anfangen kann. Vielleicht bin ich doch beim richtigen Heiler gelandet.

„Allerdings“, sein dynamisches Strahlen verfliegt so schnell, wie es gekommen ist, „möchte ich Sie keinesfalls über Folgendes im Unklaren lassen: Eine Störung wie diese ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Es ist gut, dass Sie damit gleich zu mir gekommen sind.“

Er sieht mich ernst an. Ich schließe die Augen.

„Ich kann Ihnen nur dringend raten, Ihr Leben der, sagen wir, letzten paar Wochen noch einmal Revue passieren zu lassen. Eventuell ziehen Sie einen Psychologen zu Rate, das bleibt Ihnen überlassen.“

Er beugt sich auf seinem Stuhl nach vorne und legt seine rechte Hand auf mein Knie. „Wir brauchen den Grund.“ Während er das sagt, führt er die linke Hand zum Mund und beginnt, auf dem Handrücken herumzukauen. „Und den gibt es so sicher wie das … Na, Sie wissen schon.“

Mir wird schlecht, während Euler wieder zum Computer hinüberschnurrt. Er wird mich doch jetzt nicht unverrichteter Dinge nach Hause schicken? Ich wollte, dass er mir kurz in den Hals sieht, einen Saft verschreibt und fertig. Bei dem Hokuspokus, den er gerade veranstaltet, könnte man glauben, ich hätte etwas … Schlimmes.

„Wenn es Sie beruhigt: Meine Praxis arbeitet mit einem sehr fähigen Logopädie-Team zusammen. Sie kriegen von mir jetzt erst einmal eine Verschreibung für zehn Therapiestunden. Danach sehen wir weiter.“

Der Drucker fiept zweimal, stößt das Dokument aus und verstummt.

Euler erhebt sich und hält mir zur Verabschiedung die Hand hin. „Blut haben wir Ihnen ja bereits abgenommen, Urin auch“, sagt er und sieht auf die Uhr. „Jetzt suchen wir Ihnen draußen noch die Adresse von den Logopäden raus – und dann hätten wir’s für heute.“

Ich habe so lange halb liegend in dem Stuhl zugebracht, dass mir, als Euler mich zur Tür bugsiert, schwindlig wird.

„Und“, fügt er hinzu, „bis wir den Befund aus dem Labor kriegen, rate ich Ihnen, vorerst auf weitere Sprechversuche zu verzichten. Nicht, dass wir doch etwas Organisches übersehen haben. Besser kein Risiko. In Ihrem Interesse. Klar?“ Er hebt mahnend den Zeigefinger. „Und packen Sie sich Eis aufs Auge.“

Ich nicke. Mein Handy läutet. Ohne nachzudenken (der größte Teil meines Blutes ist noch in den Füßen), ziehe ich es aus der Jacke und drücke die Rufannahme. Bevor ich allerdings etwas sagen kann, rupft Euler es mir aus der Hand und räuspert sich.

„Hallo?“ Er lauscht und kneift dabei die Augen zusammen. „Hallo? Hm, komisch“, sagt er schließlich und gibt mir das Telefon zurück, „einfach aufgelegt. Leute gibt’s“.

Ich zucke mit den Achseln, als es erneut klingelt. Ein Blick auf das Display erübrigt sich. Das ist Dagmar. Nur Dagmar legt einfach auf, um sofort wieder anzurufen. Ich schalte den Lautsprecher ein, Euler hat bereits die Hand ausgestreckt. „Ja, hallo“, sagt er, „hier …“, er wirft einen Blick auf die Kopfzeile meiner Patientenakte und zwinkert mir zu, „… hier Schaller, Frank Schaller.“

Der Anrufer schweigt (zweimal aufzulegen ist allerdings nicht Dagmars Art), man hört gepresstes Atmen und gleich darauf, ich hatte recht, die leicht verzerrte Stimme meiner Frau. „Frank, bist du das?“

Euler hält das Gerät in meine Richtung und spitzt die Lippen.

„Hallo? Frank, jetzt sag schon was!“

Mein Arzt sieht mich an, als sei ich sein Souffleur, und brummt ins Mikrofon: „Ja.“

Ich unterdrücke ein Lachen, denn ich weiß genau, welchen Gesichtsausdruck Dagmar in diesem Moment hat. Sie denkt, ich will sie verscheißern. Das denkt sie immer.

„Weißt du was“, doch sie klingt gar nicht besonders wütend, eher müde, „ich bin es leid: dein postpubertäres Getue, deine Unzuverlässigkeit, deine …“, sie hält inne und fährt, um Freundlichkeit bemüht, fort. „Ich wollte dich eigentlich nur daran erinnern, dass morgen das Treffen mit unseren Anwälten ist. 17.30 Uhr. Sei bitte pünktlich, das ist sonst peinlich.“ Schnaufen. „Wenn die Scheidung durch ist, kannst du sowieso tun, was du willst … und mit wem du willst, und …“, sie zögert noch einmal, „… alles andere meinetwegen auch.“ Ich schlucke.

„Also dann, bis morgen, ja? Ciao.“ Dagmar legt auf. Wie oft ich dieses „Ciao“ über die Jahre von ihr gehört habe, am Anfang verliebt und zärtlich, später, ohne merklichen Übergang, immer häufiger traurig. So fremd wie eben aber hat es nie geklungen. Euler reicht mir das Telefon. Wir schweigen. Er hat schon die Hand auf der Türklinke, als es wieder klingelt. Die Rufnummer ist unterdrückt. Für mich ein Grund, nicht ranzugehen, für ihn offenbar nicht. „Guten Tag“, sagt er, „hier Dr. Euler am Apparat von Herrn“, wieder wirft er einen Blick auf meine Akte, „Schaller.“

„Tach, Herr Doktor“, röhrt es ohne Zögern aus dem kleinen Lautsprecher, „Wollny hier, Berta Wollny, ick bin die Agentin von Herrn Schaller. Isser in der Nähe? Kann ick ihn ma’ sprechen?“

„Ja“, sagt Euler, „er ist in der Nähe. Sogar neben mir. Das mit dem Sprechen ist zur Zeit aber leider nicht möglich.“

„Wieso? Schläft er? Hamm Sie ihm watt jegeben? Watt sind Sie überhaupt für een Doktor, wenn ick fragen darf?“

„HNO“, sagt Euler, „und nein, Herr Schaller schläft nicht. Allerdings hat er …“ Euler sieht mich fragend an, ich nicke, „… eine akute Sprechstörung, deren Ursache wir noch nicht auf den Grund …“

„Sprechstörung?“, bellt es. „Na, wer weeß schon, watt er da jestern Abend wieder jetrieben hat. Unser Schaller iss leider keen Kind von Traurigkeit … Aber ditt lassen wa’ wohl ma’ besser unter die ärztliche Schweigepflicht fallen, wa’?“ Wollny lacht übersteuert. Euler erwidert nichts. Ich überlege, mit welcher Geste ich ihm glaubhaft vermitteln kann, dass ich keine Ahnung habe, wovon meine Agentin spricht. Doch die ist bereits in Fahrt. „Sagen Sie, Doktor, kann er mich hören?“

„Der Lautsprecher ist an.“

Am anderen Ende der Leitung raschelt Papier. „Also jut, Franky, hör zu, Folgendet, glückliche Fügung: Der Brinkmann-Verlag hat jerade bei mir anjerufen. Ja, jenau der, an den ick schon seit Jahren hingrabe, und die haben dich zum Casting für ’n Hörbuch von eenem ihrer Romane einjeladen. Aber nich’ irgendeinem Roman, pass uff, jetzt kommt’s …“

Euler klappt den Mund auf.

„Franky? Biste noch dran?“

„Ja, Herr Schaller hört Ihnen zu.“

„Jut, halt dich fest“, Wollny holt Luft. „Berg aus Jold! Theodor Gartenschlag! Verstehste, watt ditt heißt?“

Euler streckt den Arm mit dem Telefon aus, weil Wollnys Temperament den Lautsprecher eigentlich überflüssig macht.

„Berg aus Jold, Franky! Ditt iss der Jackpot, der literarische Mount Everest, verstehste? Jestern hamm wa’ noch darüber jesprochen. Wenn de’ ditt jut machst, bringt dich ditt wieder dorthin, wo de’ mal warst, und wo de’ eijentlich immer noch hinjehörst: an die Spitze. Mann, Franky, du bist Frank Schaller. Die Stimme. Und mit Berg aus Jold kannste ditt ooch wieder allen zeigen. Ach, watt sag ick? Kannste? Wirste!“

Wollny verstummt. Ihr Atem klingt über den Satelliten wie der eines fetten, überzüchteten Schoßhundes. Euler sieht mich an, ich sehe ihn an. Dann meldet Wollny sich wieder zu Wort: „Na, hab ick dir zu viel versprochen? Jetzt hat’s dir die Sprache verschlagen, wa’? Wie ditt Leben so spielt, erst kommt ewig jar nüscht, und dann jeht’s plötzlich holterdipolter. Also, watt sagste?“

Euler setzt ein ernstes Gesicht auf und führt das Telefon wieder zum Mund. „Hören Sie, Frau …“

„Wollny, Berta Wollny, Agentur Wollny.“

„Frau Wollny, nach meinem, also ärztlichem Ermessen wird Herr … Schaller in nächster Zeit nicht in der Lage sein, irgendetwas von irgendjemandem einzulesen, so leid es mir tut, denn wie ich Ihnen bereits am Anfang unseres Telefonats erklärt habe, leidet er unter einer massiven Sprechstörung, deren Auslöser wir noch nicht kennen.“

Kurze Ratlosigkeit, Mopsatmung, dann hat Wollny sich wieder im Griff. „Auslöser? Sprachstörung?“

„Sprechstörung“, korrigiert Euler.

„Wie ooch immer … Den Auslöser hab ick Ihnen doch schon jesagt. Der jute Herr Schaller hat jestern Abend zu viel jesoffen, ditt iss der Grund.“

Euler seufzt, sieht erst mich streng an, dann das Handy. In der Leitung piept es.

„Pass uff, Franky, ick gloobe, meen Akku kackt ab, ick ruf dich später nochma’ an … Bis dahin biste ja hoffentlich wieder uff’m Damm, alte Schnapsdrossel. Also, nüscht für unjut, Herr Doktor. Wiedersehen.“

Noch ehe Euler etwas entgegnen kann, hat Wollny aufgelegt.

Ich sage nichts. Was auch? Wie auch?

Stattdessen stelle ich das Telefon lautlos und stecke es zurück in die Tasche. Euler runzelt die Stirn. „Es …“, er beißt sich auf die Unterlippe, „… steht mir natürlich nicht zu, Ihren Lebenswandel zu kritisieren, Herr ähm …, aber übermäßiger Alkoholkonsum kann selbstverständlich mit dazu beitragen, dass …“

Ich schüttle energisch den Kopf.

„Gut, das müssen Sie selbst wissen … Ich bin nur Ihr Arzt.“

Jetzt denkt er bestimmt, dass ich denke, dass ich das mit dem Saufen im Griff habe. Habe ich auch. Und den Kopf hab ich nur geschüttelt, weil ich mich nicht erinnern kann, ob das, was Wollny eben behauptet hat, tatsächlich stimmt. Bei ihr wird ein Fläschchen Sekt schnell zu einer Orgie. Dabei hält sie selbst gerne die Nase ins Glas. Sie war in der DDR Eiskunstlauftrainerin. Nationalmannschaft. Da kann man sich den Rest denken.

Ja, Herr Doktor, schuldig. Ich war gestern Abend auf einer Gala. Großer Verlag. Großer Bahnhof. Noch laden sie mich zu so etwas ein. Und ja, es wurden dort auch Getränke gereicht. Aber ich kenne meine Grenzen.

Und die Läsionen in Ihrem Gesicht, Herr Schaller?

Kann ich mir nicht erklären. Ich war dort. Das weiß ich. Hab ein bisschen gefeiert. Das weiß ich auch. Dann Filmriss, und heute Morgen zuhause aufgewacht. Alleine. Ja, Dagmar, alleine. Und ohne Stimme. Scheiße.

Euler legt seine Hand zwischen meine Schulterblätter und schiebt mich aus dem Behandlungsraum zum Empfang. „Lassen Sie sich von Frau Kravatnik bitte einen Termin in, sagen wir, vier Wochen geben. Da möchte ich Sie hier gerne wiedersehen. Ich suche Ihnen derweil noch kurz die Adresse raus.“ Er nickt seiner Sprechstundenhilfe zu. „Und, Frau Kravatnik?“

„Ja, Herr Doktor?“

„Verwickeln Sie Herrn … Schaller bitte nicht in eine Ihrer berüchtigten Plaudereien, er darf nicht.“

Euler verschwindet und ich warte vor dem Tresen, bis Frau Kravatnik eine Aktenmappe zu Ende beschriftet hat. Sie macht Kringel über jedem i und hat eine unglaubliche Figur, selbst im Sitzen. Das Blut, das gerade aus den Füßen in meinen Kopf zurückgekehrt ist, verabschiedet sich Richtung Lenden.

„Hm, Herr Schaller“, Frau Kravatnik blinkt mich von unten herauf an, „wann könnten Sie denn?“

Wann ich …? Ich muss mich konzentrieren. Sie weiß genau, wie sie wirkt, das Biest.

„Am nächsten Vierten hätten wir noch was frei, vormittags … und am Siebten auch, aber erst nach 16 Uhr. Wäre da was für Sie dabei?“ Wieder Blinken. Ich zeige mit den Fingern an, dass ich mich für Vorschlag zwei entscheide.

Sie nickt. „16.30 Uhr?“

Ich nicke.

Während sie meinen Termin in den Computer eingibt, beugt sie sich samt V-Auschnitt ein Stück nach vorne, und ich bin froh, dass mir der Tresen bis zum Rippenbogen reicht.

„So, das hätten wir“, sagt sie und malt mir alles noch einmal auf einen giftgrünen Post-it. Blinken.

Die Mangeldurchblutung meines Denkzentrums macht mich kühn. Ich drehe den Zettel auf die Rückseite, greife mir einen Kugelschreiber und schiebe das Geschriebene zurück über den Tresen. Frau Kravatnik liest (ihre Lippen bewegen sich leise) und sieht wieder zu mir hoch. Das Blinken hat sie eingestellt.

„Also, ich bin zwar nur Sprechstundenhilfe“, sagt sie, „aber Dekolleté schreibt man ganz sicher mit zwei l und …“, sie wirft einen Kontrollblick auf den Zettel, „… Rendezvous mit ou, nicht nur mit u, das ist Französisch. Außerdem hab ich einen Freund, der so was bestimmt gar nicht witzig findet.“

Ach, so ist das. Verstehe. Das muss einem ja gesagt werden. Jetzt, da alles zwischen uns geklärt ist, blinkt Kravatnik wieder. Warum tut sich kein Schlund im Boden auf, gleich hier vor dem Tresen, und nimmt mich gnädig in sich auf? Versteht diese Sexbombe denn keine Ironie?

Als Euler zurückkehrt (er muss seine Adressen an einem sehr sicheren Ort aufbewahren), wird mir schlagartig klar: Natürlich versteht sie die Ironie nicht. Wie auch, wenn es in meinem Gekritzel keine gibt? Ich bin Frank Schaller. Die Stimme. Ich kann noch aus dem belanglosesten Geschmier ein literarisches Ereignis machen, und ein sinnliches Erlebnis. Aber ohne Stimme? Bin ich Herr Schaller. Ende 40. Geheimratsecken. Bauchansatz. Was, bitteschön, soll diese junge, hart arbeitende, durch und durch ehrbare Frau also von mir halten?

„So, entschuldigen Sie bitte, Herr … Hat doch ein bisschen länger gedauert, aber hier ist die Adresse.“

Post-it Nummer zwei wandert in meine Tasche.

„Haben Sie sich mit Frau Kravatnik auf einen Termin geeinigt?“

Wir nicken.

„Na, dann ist ja alles gut.“ Euler lächelt und gibt mir noch einmal die Hand. „Sollten während der vier Wochen Probleme auftauchen, von denen wir jetzt noch nichts ahnen, zögern Sie nicht und kommen Sie vorbei, dann schiebe ich Sie irgendwo dazwischen.“

Ich blinzle zum Dank und wende mich, ohne Frau Kravatnik noch einmal anzusehen, dem Ausgang zu.

„Und vergessen Sie nicht …“, sagt Euler in meinem Rücken, „… der Grund. Wir brauchen den Grund. Nehmen Sie sich bitte die Zeit. Denken Sie nach.“

Die Praxistür fällt hinter mir ins Schloss. Im Treppenhaus geht ein angenehmer Luftzug.

Es gibt nicht viele Musiker, die einem mit ihren Liedern wirklich Trost spenden können. Wenn es einem richtig dreckig geht, braucht man Songs, die einen vorsichtig aus einer Badewanne mit warmem Wasser heben und in einen frisch gewaschenen Frotteebademantel hüllen, etwas in der Art. Nicht, dass jemand das jemals mit mir gemacht hätte, aber so stelle ich mir absolutes Wohlbehagen vor. Und solche Songs kann eigentlich nur einer: Bryan Adams.

Die CD liegt im Player. The Best of Me.

Die Mechanik schnurrt. Track 1.

Sometimes words are hard to find – I’m looking for that perfect line – to let you know you’re always on my mind – ya this is love – I’ve learned enough to know – I’m never lettin’ go – no, no, no – won’t let go.

Das meine ich: ein Meer aus Harmonien und kein Wort zu viel.

Im Kühlschrank in der Küche liegt kein Eis fürs Auge, dafür aber zwei Flaschen Bier. Kalt ist schlecht für die Stimme, Alkohol noch schlechter. Egal. Heute Abend ist heute Abend, und morgen sehen wir weiter. Auf dem Weg von der Küche ins Wohnzimmer muss man am Bücherregal im Flur vorbei. Es ist natürlich nur Zufall, denke ich, aber vielleicht haben meine Augen auch unbewusst danach gesucht. In der zweiten Reihe von oben, fast ganz rechts, steht Berg aus Gold. Theodor Gartenschlag.

Mit dem Buch unter dem Arm gehe ich zum Sofa und lasse mich hineinfallen. Das Bier stelle ich auf den Couchtisch. Berg aus Gold ist ein ziemlicher Brocken. Der Titel steht in Fraktur und Goldstich auf dem rindsledernen Rücken. Früher hat das Buch meinem Vater gehört, jetzt ist es Erbstück und macht mich nervös. Berg aus Gold war der Heilige Gral meiner Deutschlehrer, ein unerschöpflicher Zitatenschatz – und uns allen in der Klasse ein Riesenstachel im Arsch.

Theodor Gartenschlag, Oberstudienrat Meinlein wurde nie müde, das zu betonen, hätte fast den Nobelpreis dafür bekommen, dann aber doch nicht, sondern Thomas Mann. Gartenschlag ging enttäuscht nach England und starb, ohne je wieder etwas geschrieben zu haben. Ich nehme noch einen Schluck. I may not always know what’s right – but I know I want you here tonight – Gonna make this moment last for all your life.

Das Telefon klingelt. Ich bleibe einfach liegen. Nach dem fünften Läuten springt der Anrufbeantworter an.

„Hallo, Frank?“ Kurze Pause. „Hier spricht deine Schwester.“

Meine Schwester. Sie hat schon wieder diesen Und-auf-Ovid-hast-du-dich-damals-auch-einfach-draufgesetzt-Ton. Was kann ich dafür, dass ihr Sittich auf meinem Schreibtischstuhl herumklettert, wenn ich Hausaufgaben machen will?

Und warum sagt sie nie: Hallo, Frank, hier ist Beate. Immer: Hier spricht deine Schwester. Wie soll man so eine enge Beziehung zueinander aufbauen?

„Gibt es eigentlich auch eine Tageszeit, zu der man dich erreichen kann? Scheinbar nicht. Hm, ich müsste ein paar Dinge mit dir besprechen, aber die werde ich dir jetzt nicht auf Band …“

Auf Band. Meine Schwester. Mikrochip, Beate. Mikrochip.

„… denn das hörst du ja ohnehin nicht ab. Denk bitte daran, morgen um halb eins bei Mutti zu sein. Du weißt, ich fliege um halb fünf in den … Urlaub, und es gäbe vorher noch ein paar Dinge zu klären.“ Sie holt scharf Luft. „Die Pflege eines alten Menschen ist kein … Nun gut, wie auch immer. Das war eine Nachricht deiner Schwester. Kein Rückruf erforderlich. Es ist jetzt … 19.48 Uhr.“

Der Anrufbeantworter schaltet sich aus.

Das mit Mutter hab ich total vergessen. Wer kann denn ahnen, dass Beate Ernst macht und tatsächlich in den Urlaub fliegt? Jahrelang hat ihr protestantisches Ethos sie davon abgehalten, auch nur einen Tag von Mutters Krankenlager zu weichen. Wieso also jetzt? Wenn ich auch krank bin.

Gegen ärztlichen Rat versuche ich, im Liegen ein paar Laute zu bilden. Ich spüre, wie sich eine Luftsäule auf meinem Zwerchfell erhebt und jämmerlich kollabiert. Kein Ton kommt über meine Lippen. Es ist eine Schande. Aber Mutters Hintern kann ich zur Not auch stumm abwischen. Große Worte waren in unserer Familie ohnehin stets verpönt.

Das Telefon läutet schon wieder. Ich gehe mir das zweite Bier holen. Zurück im Flur höre ich Wollnys robusten Alt. „Watt ’n? Haste immer noch keene Stimme oder warum jehste nich’ ran?“

Ohne die Flasche abzustellen, nehme ich auf dem Sofa Platz. Schaum quillt aus dem Hals, über meine Hand, auf meine Hose.

„Pass uff, Franky, watt Seriöset.“ Wollnys Stimme klingt tatsächlich eine Spur verhaltener als sonst. „Wir sollten vielleicht doch noch mal drüber quatschen, watt du jestern uff der Gala jetrieben hast, nachdem ick jegangen bin.“

Ich sitze aufrecht und fixiere den blinkenden AB.

„Watt immer ditt jewesen sein mag, Franky, wir zwee können über allet reden, hab ick recht?“

Wovon zum Teufel spricht sie?

„Der Punkt iss, ick hab vor unjefähr eener Stunde ’ne E-Mail erhalten … zu Händen der Ajentur … mit ’n paar Fotos im Anhang, über die man nich’ einfach hinwegjehen kann …“

Fotos? Na und?

When you want it – when you need it – you’ll always have the best of me – I can’t help it – believe it – you’ll always get the best of me.

Wollny räuspert sich. „Ick weeß nich’, wie ick ditt verständlich ausdrücken soll, aber ick gloobe, wir hamm ditt hier mit ’ner Erpressung zu tun … oder jedenfalls so watt Ähnlichem.“

Erpressung? Jetzt spinnt sie völlig. Aber mir ein Alkoholproblem unterstellen.

„Die Fotos, Franky, ick will ma’ so sagen … ick hab schon Schlimmeret jesehen, aber ’ne Altersfreijabe Null werden wa’ dafür nich’ kriegen.“

Mann, Wollny, laber nicht rum, komm zur Sache!

„Also, der Bildmittelpunkt, wenn man so will, bist uff jeden Fall du. Und dann hamm wa’ da noch ditt eene oder andere weibliche Wesen neuerer Bauart, welchet dir in nich’ janz jugendfreier Weise zujetan iss.“

I can’t help it – believe it – you’ll always get the best of me.

„Zujegeben, keenet von den Fotos iss von der Ufflösung her besonders jut, aber ditt iss eindeutig uff der Gala jestern uffjenommen … und dann … jibt et da ooch noch een, wie soll ick sagen, Bekennerschreiben. Ick hab’s mir ausjedruckt.“

Du machst mich wahnsinnig, Wollny! Was soll der Scheiß?

„Ick zitiere wörtlich: Richten Sie Ihrem Klienten aus, dass dort, wo diese Fotos herkommen, noch weitere lagern. Schärfere, in jeder Hinsicht. Ein einziges davon dürfte genügen, Herrn Schallers Karriere und sein Privatleben mit Karacho gegen die Wand zu setzen.

Hochachtungsvoll, ein Freund.“

Wollny seufzt. „Na? Watt sagste dazu?“

Keine Ahnung. Was soll ich dazu sagen? Irgendein irrer Fan, den ich bei einer Lesung nicht lange genug angelächelt habe? Von denen gibt es leider mehr, als einem lieb sein kann. Ich bin immerhin nicht ohne Schlüpfer aus einer Limousine gestiegen und hab mich dabei von Paparazzi abschießen lassen. Warum also die Aufregung? Soll ich mich ab sofort um jeden Gestörten kümmern?

Wollny teilt meine Sorglosigkeit leider nicht. „Ick werf hier jerade eenen Blick uff den Absender. Vielleicht kennste den ja …“

Gut, lass hören.

„Der – kleine – Clown … Sagt dir ditt watt?“

Der kleine Clown? Hallo? So hieß das Kinderhörspiel, das mich vor 40 Jahren berühmt gemacht hat. Und du willst meine Agentin sein? Suchen wir jetzt draußen nach einem kleinen Clown oder was? Kein Mensch, auch kein zurückgebliebener, ist so bescheuert, Drohbriefe unter eigenem Namen zu verschicken. Das müsstest du doch wissen. Bin ich in der DDR großgeworden? Und dass es sich um einen Zurückgebliebenen handelt, ist damit ja wohl klar. Wer sonst gibt sich bitteschön den Namen eines Kinderhörspiels? Lass ihn doch seine Scheißbilder hinschicken, wo er will.

„Ick sag ma’ so, Franky: Wenn ditt allet iss, watt der von dir in petto hat, brauchen wa’ uns nich’ weiter sorgen … Aber, ob ditt so iss, ditt kannst nur du wissen.“ Wollny senkt die Stimme. „Also, meen Juter, jeh in dich und denk nach, ob da noch watt Schlimmeret uff uns wartet. Ick leit dir die E-Mail später ma’ weiter, wenn ick dran denke. Setz deine Karriere wegen so watt nich’ uff’s Spiel. Ick hab, ehrlich jesagt, keene Lust, wieder uff’s Eis zu jehen. Dafür bin ick zu alt. Verstehste? Denk nach … und … melde dir, wa’?“

Wollny legt auf. Im Wohnzimmer herrscht inzwischen Dunkelheit. Das einzige Licht kommt vom Display des CD-Spielers in der Ecke. Bryan Adams hat aufgehört zu singen.

Die Nacht gestern wird langsam mysteriös. Wieso kann ich mich an nichts erinnern? Nicht an die weiblichen Wesen neuerer Bauart, nicht an den Grund für mein ramponiertes Gesicht, nicht an den, der die Fotos gemacht hat – und am allerwenigsten daran, wo meine Stimme geblieben ist.

Mir wird heiß und gleich darauf kalt. Das Bier ist alle und der nächste Kiosk nicht weit, aber zu weit. Ich muss nachdenken. Kein Grund durchzudrehen. Morgen ist die Sache wieder in Ordnung. Als ich aufstehe, zieht mich eine Schwindelattacke zurück auf das Sofa. Beim zweiten Versuch bleibe ich aufrecht, wanke auf den grünschimmernden Punkt zu, gehe in die Knie und drücke auf Play.

In der folgenden Nacht habe ich den Traum zum ersten Mal: Ich stehe in der Mitte eines leeren Raums, seine Grenzen verschwimmen in diffusem Licht. Jemand, den ich nicht erkennen kann, schlägt nach mir, seine Faust kommt direkt auf mich zu. Mein Oberkörper weicht aus, mein Hals klappt nach hinten, dort, wo der Kopf war, zuckt jetzt der Adamsapfel. Ihn wird der Schlag treffen, jeden Augenblick. Meine Gesichtshaut ist zum Zerreißen gespannt, platzt auf, zuerst an der Lippe, dann über dem Auge.

Plötzlich Verwirrung. Die Faust ist weg, einfach verschwunden! Mein Körper schnellt zurück in seine Ausgangsposition. Und die Szene beginnt von vorne.

2

Der Anruf kam kurz nach sieben Uhr morgens. Ich hatte kaum geschlafen. Der nächtliche Ruhestörer hieß Harry und war einer der Aufnahmeleiter aus dem Synchronstudio. Im Gegensatz zu mir klang er bereits taufrisch. Ein Kollege sei kurzfristig ausgefallen, wichtige Nebenrolle, nur acht Takes, ob ich in einer halben Stunde da sein könne.

„Acht Takes, Harry? Kannst du das nicht schnell selbst sprechen?“

„Sehr witzig, Frank. Also, kommst du?“

„Aber ’ne Dreiviertelstunde brauch ich schon. Ist schließlich am anderen Ende der Stadt.“

„Super, Frank, du bist unsere Rettung. Beeil dich. Kaffee kriegst du bei uns.“

„Soll das ’ne Drohung sein?“

„Haha.“

„Gut, ich tu, was ich kann. Für wen komm ich eigentlich?“

„Sagen wir dir, wenn du da bist.“

„Ihr habt vielleicht Nerven, sieben Uhr … Na, bis gleich.“

Wenn man beim Duschen Kaugummi kaut, spart man sich das Zähneputzen und hat so drei Minuten für die Rushhour gewonnen. 38 Minuten nach dem Auflegen setzte ich Wollnys Wagen, der schon am Vorabend wieder bei ihr hätte sein müssen, in die letzte freie Parkbucht vor dem Studiokomplex am Stadtrand.

Da ich Harry eine Dreiviertelstunde versprochen hatte, blieben mir noch sieben Minuten zur freien Verfügung. Ich schlenderte durch die rundumverglaste Empfangshalle, in der es aussah wie in einem Ikea-Showroom. Rot, Weiß und Kunstleder dominierten.

Am Empfang saß um diese Zeit noch niemand. Auf dem Sofa gegenüber dem Tresen aber hockte eine Gestalt. Als ich näher kam, erkannte ich Rudi Kammer. Rudi, das Synchron-Chamäleon. Rudi ist nicht weniger als eine akustische Sensation. Er kann sich binnen Sekunden in jeden x-beliebigen Charakter hineinversetzen und ihn bis zur letzten Nuance mit Leben füllen. Mit anderen Worten: Er ist ein Vorbild für alle, die in diesem Job zu den Top Five gehören wollen. Und das tue ich.

„He, Rudi“, sagte ich und klopfte ihm kurz auf die Schulterpartie seiner Lederjacke, die er trägt, seitdem ich ihn kenne, also seit ungefähr 37 Jahren.

Er zuckte zusammen, als habe er mit allem gerechnet, nur nicht damit, in einem Synchronstudio angesprochen zu werden. Mit seinen hervorquellenden Basedowaugen sah er zu mir hoch: „Wenn du meinen Rat willst, Frank, fang bloß nie an zu saufen.“

Kein Guten Morgen, kein Wie geht’s?. Nur das. Ich setzte mich neben ihn. Das Kunstleder knarzte. In den Bäumen vor den Fenstern sangen die Vögel um die Wette.

„Damit kommst du leider ein bisschen spät, Rudi. Was ist denn los?“ Erst jetzt fiel mir der strenge Geruch auf, der von ihm ausging. „Sag mal, seit wann bist du denn hier? Es ist noch nicht mal acht Uhr.“

„Keine Ahnung – gestern, vorgestern, was spielt das noch für eine Rolle?“

„Na ja, das hängt davon ab, warum du hier sitzt.“