Ein Bruder kam zu Gast - Daniel Schick - E-Book

Ein Bruder kam zu Gast E-Book

Daniel Schick

0,0

Beschreibung

In meinem Buch geht es um die Kindheits- und Jugenderinnerungen eines jungen Mannes, der im Alter von 19 Jahren in den Zweiten Weltkrieg geschickt wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 168

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Daniel Schick

Ein Bruder kam zu Gast

Roman

Über dieses Buch

Heinrich Bader ist 19 Jahre alt und hat das Leben noch vor sich. Geboren zur Zeit der Weimarer Republik wächst er behütet bei seiner Familie am Ortsrand von Memmingen auf und genießt zusammen mit seinem Freund Wilhelm seine Kindheit. Wie alle Jungs träumen auch sie von der großen Welt und einer glücklichen Zukunft. Mit Johanna lernt Heinrich das Gefühl der ersten großen Liebe kennen. Alles verändert sich, als Heinrich 1944 eingezogen und an die Ostfront geschickt wird. Als er einige Zeit später verwundet wieder heimkehrt, glaubt er sich dem Alptraum entronnen.

Doch es kommt anders.

Der Autor

Daniel Schick war bislang nur in seiner Freizeit künstlerisch aktiv. Hauptsächlich beschäftigt er sich mit Kalligraphie und dem Verfassen von Gedichten und Kurzgeschichten. Seit kurzem beschäftigt er sich auch mit der Malerei. Gebürtig aus einem kleinen Ort im Landkreis Neu-Ulm, ist Daniel Schick hauptberuflich seit Juli 2006 in Stuttgart als Projektkaufmann tätig. Nach mehreren Jahren zeitintensiver Pflege seiner demenzkranken Mutter begann er im Sommer 2021 damit, eine Geschichte, die er schon seit einiger Zeit in kurzen Notizen zusammengetragen hatte, als Manuskript auszuarbeiten.

Es ist für die Erziehung der Kinder bedauerlich, dass Kriegsgeschichten immer nur von denen erzählt werden, die überlebt haben.

Louis Scutenaire

Inhalt

Cover

Titelblatt

PROLOG

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

EPILOG

NACHWORT UND DANK

LESEPROBE

Urheberrechte

Ein Bruder kam zu Gast

Cover

Titelblatt

ERSTER TEIL

DRITTER TEIL

Urheberrechte

Ein Bruder kam zu Gast

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

PROLOG

Er saß kauernd hinter einem Holzstapel. Der frisch gefallene Schnee und die winterlichen Temperaturen machten es ihm schwer, sich zu bewegen. Er hielt sein Gewehr zitternd in seinen Händen. Er zitterte auf Grund der Kälte, die ihn an diesem Ort umgab, von dem er noch nie zuvor gehört hatte, und er zitterte auf Grund der scheinbaren Übermacht eines Feindes, den er nicht sehen konnte. Es war Dezember, zwei Tage vor Weihnachten. Jack harrte an diesem Nachmittag hinter einem Holzstapel am Rande von Bastnach aus, einem kleinen Ort in Belgien, dem Land seiner Vorfahren. Alles, was ihn bislang mit diesem Land verband, war sein Familienname. Dumont. Seine Eltern hatten ihm den Namen Jason Frederic gegeben, doch seit er denken konnte, wurde er von allen nur Jack genannt.

Er dachte an sein Zuhause. Eine Farm in Minnesota. Er dachte an das wunderbare Essen, das seine Mutter und seine Großmutter immer zubereitet hatten, als die Feiertage anstanden. Doch er hatte sein Zuhause vor acht Monaten verlassen. Er ist dem Aufruf des Präsidenten gefolgt, um Europa aus der Herrschaft der Nazidiktatur zu befreien. Mit 23 Jahren hatte er sein Zuhause verlassen und sich wie viele andere junge Männer als Freiwilliger bei der US-Army gemeldet. Nach einer schnellen Ausbildung in den Kasernen hatte er den Ozean auf einem der vielen Schiffe überquert, mit denen Soldaten und Kriegsgeräte nach England gebracht wurden. Dort hatten sie auf den Befehl gewartet, der die Geschichte verändern sollte. Und er würde bei dieser Geschichtsveränderung dabei sein. Die Stimmung unter den Soldaten war gut und ausgelassen gewesen. Sie waren an der englischen Küste des Ärmelkanals angekommen. In Europa.

Europa. Davon hatte er einiges gehört, als er noch zur Schule ging. Er wusste, wo Europa lag. Und er wusste, dass sein Urgroßvater aus Europa stammte. Er war in Belgien aufgewachsen, in jenem Land, in dem er sich gerade befand. Sein Urgroßvater, Yves Dumont, stammte aus Rochefort, einer kleinen Stadt, etwa 25 Meilen entfernt von jenem Ort, in dem Jack mit seiner gesamten Division von den Deutschen seit einem Tag eingekesselt war. Europa und Belgien hatten ihn als Schüler nie interessiert. Mittlerweile wusste er, wo die einzelnen Länder in Europa lagen. Welche Länder sie befreien mussten, und welches Land sie besiegen mussten. Während sie auf den Befehl warteten, mit dem die Eroberung beginnen sollte, wurden jede einzelne Einheit, jede einzelne Truppe von ihnen darüber informiert, wie der Kampf abzulaufen hatte, in welche Richtung sie weiter vordringen sollten. Seine Kameraden und er lernten die Namen und die Lage aller Ortschaften, welche sie einnehmen sollten. Es klang einfach. Für ihn hörte es sich an, als wäre all das in wenigen Tagen und ohne große Mühe zu erledigen. Und dann, wenn sie Europa befreit hatten von einem Feind, der wie ein Raubtier innerhalb kürzester Zeit alles verschlungen hatte, würde er wieder nach Hause gehen.

Bereits an jenem Tag, als der Befehl kam, der die Geschichte verändern sollte, musste er schockiert feststellen, dass es sich zwar an einem Tisch einfach anhörte, einen Kontinent zu erobern, aber dass die Realität eine andere war.

Als die alliierten Truppen am 6. Juni 1944 an der Küste der Normandie landeten, war er einer von 326.000 Soldaten, die in den ersten sechs Tagen den Ärmelkanal überquerten. Die Gegenwehr der Nazis war mörderisch. Tausende Soldaten verloren bei dieser Landung ihr Leben. Sie fielen im Kugelhagel, der von den Klippen auf sie niederprasselte, dem sie schutzlos ausgeliefert waren. Jack hatte Glück. All jene, die an den Tagen der Landung nicht erschossen wurden, hatten einfach nur Glück, dass sie so schnell wie möglich an der steilen Küste der Normandie Schutz gefunden hatten.

Europa war für ihn etwas ebenso Abstraktes wie der Krieg. Er hatte davon zuhause in den Radioübertragungen gehört. Er hatte davon in den Zeitungen gelesen. Aber all das war nur etwas Erzähltes, etwas Unwirkliches. Jetzt konnte er sehen, was ein Krieg anrichten konnte. Er sah zerstörte Dörfer. Und er sah verzweifelte Menschen, denen Angst und Schrecken im Gesicht stand. Er kämpfte sich mit seinen Kameraden, mit seiner Einheit, immer weiter ins Landesinnere vor. Bis sie den ersten großen Erfolg feiern konnten: Die Befreiung von Paris am 25. August. Er war dabei, als die Menschen in dieser Stadt fröhlich auf den Straßen tanzten und den Soldaten um den Hals fielen. Er freute sich, als eine junge Französin ihn umarmte und ihm einen Kuss gab.

Doch Paris war für ihn nur eine Etappe auf einer langen Reise tiefer hinein in einen Kontinent, der ihm fremd war, der ihm erschien wie eine Hölle. Sie schlugen den Feind Tag für Tag immer mehr zurück. Fast schien es, als würde er, seine Kameraden, als würden sie alle bald wieder zurück nach Hause fahren können. Die anfängliche Angst, die er verspürt hatte, als er am Ärmelkanal aus dem Schiff heraussprang und sah, wie viele seiner Kammeraden regelrecht dahingemetzelt wurden, wich langsam einer inneren Sicherheit. Er fühlte sich immer stärker und sicherer, mit jedem weiteren Kilometer, den sie vordringen konnten. Und er fühlte sich stark mit jedem einzelnen Nazi, den er erschossen hatte. Er fühlte auch eine innere Beruhigung dabei. Schließlich befreite er das Land seiner Vorfahren mit jedem einzelnen Feind, den er erschoss.

Mitunter glaubte er manchmal, den Dank seines Urgroßvaters zu spüren, wenn er wieder eine Kugel ins Ziel geschossen hatte. Er hatte ihn nie kennengelernt. Jack war 1921 geboren worden, sein Urgroßvater war 1912 gestorben. Es gab nur wenige Bilder von ihm. Und doch glaubte Jack, diesen alten Mann dankbar lächelnd nicken zu sehen, wenn er wieder einen der feindlichen Soldaten erschossen hatte. Der Umgang mit einem Gewehr lag ihm seit Kindesbeinen an im Blut. Sein Vater hatte ihm das Schießen beigebracht, noch ehe er zehn Jahre alt war. Er war ein zielsicherer Schütze. Und diese Zielsicherheit hatte ihn in den vergangenen Monaten selbstsicher gemacht.

Doch das Glück, das jene Armee hatte, mit der er von Paris aus weiter nach Belgien vorgedrungen war, währte nicht ewig. Jack gehörte zu jenen, die an die Ausläufer der Ardennen vordringen sollten. In den folgenden Monaten begannen sie, in Belgien eine Stadt nach der anderen von den Deutschen zu befreien. Es schien, als würde der Feind sich nach und nach zurückziehen. Aber im Dezember 1944 war ihr Vormarsch ins Stocken gekommen. Und als sie Bastnach erreichten und schließlich einnehmen konnten, hatten sie zwar einen weiteren Ort eingenommen. Doch es war ein nahezu leerer Ort. Nur wenige Menschen, die hier einmal friedlich lebten, waren geblieben. Und sie selbst, er und seine Kameraden, die gesamte Division unter General McAuliffe, war in Bastnach von Truppen der Wehrmacht, die unter General Manteufel eine weitere Ardennenoffensive gestartet hatten, eingekesselt worden. Die gesamte US-Armee war überrascht worden. Ein Feind, der vor wenigen Jahren damit begonnen hatte, den gesamten Kontinent zu erobern und der von ihnen in den letzten Wochen mehr und mehr zurückgedrängt wurde, schien zur alten Stärke zurückgefunden zu haben. Die Kämpfe der vergangenen Tage waren mörderisch. Jack hatte jeden Tag feindliche Soldaten erschossen und hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Und mit jedem einzelnen seiner Kameraden, der erschossen wurde, wuchs in ihm die Wut auf die Deutschen, auf jene, die ihn hier festhielten.

Jack spürte, wie die Kälte gnadenlos in seine Finger kroch, als er hinter diesem Holzstapel ausharrte und darauf wartete, dass ein feindlicher Trupp näherkam. Es war der 22. Dezember 1944. Seine Mutter und seine Großmutter würden wohl wieder das Essen für die Weihnachtstage vorbereiten. Er glaubte, den vertrauten Geruch von Pastete und gebratenem Fleisch in seiner Nase zu spüren. Doch das laute Knallen abgefeuerter Gewehre holte ihn schnell wieder in die Realität zurück. Mit mehreren Soldaten war er etwa 700 Meter außerhalb von Bastnach in einer Waldlichtung in Stellung gegangen, geschützt von Holzstapeln, die aussahen, als würden sie seit einer Ewigkeit hier stehen. Vom Wald her konnte er vereinzelte Stimmen und Laute hören. Stimmen des Feindes. In schlechtem Englisch forderten diese Stimmen sie auf, sich zu ergeben. Doch er wusste, dass das niemals geschehen dürfe. Als der Ort vollständig eingekesselt war, wurde ihnen von General Lüttwitz eine schriftliche Aufforderung zur Aufgabe der Kampfhandlung und Übergabe der Stadt an die Wehrmacht zugestellt. General McAuliffe hatte darauf nur eine kurze Antwort gegeben. To the German commander: nuts! Als die Deutschen erst nicht begriffen, wie sie das zu verstehen hatten, hatte der Bote hinzugefügt: Go to hell!

Fahr zur Hölle, dachte auch Jack sich, hinter dem Holzstapel kauernd und sein Gewehr im Anschlag. Er sah, wie zwischen den Bäumen einzelne Soldaten auf sie zukamen. Wie seine Kameraden nahm er seine Waffe und feuerte auf den Feind, der seinerseits auf sie schoss. Er blickte hinter seinem Holzstapel erneut in den Wald hinein. Jack traute seinen Augen zuerst nicht. Er glaubte, etwas leuchtend rot Schimmerndes im Schnee zu sehen. Erdbeeren? Im Winter? Er dachte an diese süßen Früchte, die er liebte. Doch einer der Deutschen bückte sich danach. Dieser Deutsche blickte auf den Schnee, auf dieses leuchtende Rot, und nahm es an sich.

Go to hell, dachte Jack, als er sein Gewehr anlegte, auf diesen Deutschen zielte und, als dieser das leuchtendrote Etwas in seinen Mantel schob, abdrückte. Mit einer tiefen inneren Befriedigung beobachtete Jack sein Ziel, wie es langsam rückwärts in den Schnee fiel. Again one less.

 

Fort, Fremder,

ich habe eine Ehrenpflicht:

Ein Bruder kam zu Gast,

ich brauche das Haus.

Jesus Sirach 29,27

ERSTER TEIL

Früher war alles besser. Ein Satz, der unabhängig von der Tages- oder Jahreszeit immer wieder zu hören ist. Es wurde wohl irgendwann zur Normalität, dass die alte Generation, die voll zu sein scheint mit Lebenserfahrung und der gottgegebenen Meinung, niemals eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, immer wieder dieses eine Argument vorbringt. Früher war alles besser. Ein Satz, der von den Alten immer wieder zu hören ist, wenn sie sich über junge Leute ärgern. Dass die Jugend von heute das Alter nicht mehr achte und ein ungepflegtes Äußeres zeige, konnte man schon auf einer 3.000 Jahre alten Tontafel der Sumerer entziffern. Trotzdem glaubt die ältere Generation gerade in der heutigen Zeit, dass früher alles besser war.

War früher denn wirklich alles besser?

Manches war schön. Meine Kindheit war schön. Oft musste ich daran zurückdenken. Immer wieder kam es ganz plötzlich in meine Erinnerung, wie ich von meiner Großmutter aus dem Kindergarten abgeholt wurde. Oder wie ich mit meinem besten Freund Willi manchmal den Nachmittag außerhalb der Stadt in einem alten verlassenen Burgturm verbracht habe. Wir hatten uns damals wie Ritter gefühlt. Stolze Ritter mit englischen Namen. Die Geschichten von Robin Hood und Richard Löwenherz haben wir damals gierig aufgesogen. Willi war William, später nur noch Bill, ich war Henry.

Bill und Henry.

Henry und Bill.

Unerschrocken herrschten wir in unseren kindlichen Fantasien über unser infantiles Königreich. Beschützer der Menschen. Hüter des Reichs. Heinrich und Wilhelm, die Schüler. Henry und Bill, die Helden.

Mein wirklicher Name ist Heinrich Bader. Wir sind in Memmingen aufgewachsen. Mein Vater hatte eine Schlosserei, die später von meinem ältesten Bruder übernommen wurde. Ursprünglich war diese Schlosserei ein Bauernhof am Memminger Stadtrand. Mein Großvater hatte irgendwann die Landwirtschaft aufgegeben und eine Schlosserei gegründet. Wenn man von der Straße aus zu uns kam, stand man auf einem riesigen Hof. Links war unser Wohnhaus. Mama, Papa, meine beiden Brüder Alfred und Max und ich. Oma und Opa hatten im ersten Stock eine eigene Wohnung. Auf der rechten Seite des Hofes war die Schlosserei. Ein Schmiedefeuer, ein schwerer Amboss und alle möglichen Maschinen standen dort, wo viele Jahre lang täglich Kühe gemolken worden waren. Auf der Stirnseite unseres riesigen Hofes stand die alte Scheune. Ein riesiges Abenteuerland für meine beiden großen Brüder. Ein riesiges Abenteuerland für Bill und mich. Die Scheune unsere Burg. Die Obstwiese hinter den Gebäuden unser Reich.

Der Vater von Bill arbeitete im Rathaus. Unsere Väter kannten sich nicht, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie waren streng, wenn es um die Schule ging. Sie kam zuallererst, danach die Hausaufgaben. Wir hielten uns daran, auch wenn es nicht immer leicht war. Gerade im Sommer schien die Zeit nicht vergehen zu wollen, bis wir endlich fertig waren. Aber sobald wir unsere Hausaufgaben gemacht hatten und von zuhause fort waren, waren wir nur noch Bill und Henry. Unsere Nachmittage damals waren teils ausgefüllt mit Fußballspielen. Andere Kinder fanden sich dazu schnell. Oder wir nahmen die Fahrräder unserer Eltern und sind losgefahren, raus aus der Stadt. Am liebsten sind wir zum Römerturm gefahren, dem alten verlassenen Turm einer nicht mehr vorhandenen Burg. Mit den Römern hatte dieser Turm keinen Zusammenhang, er war lediglich der Rest der Burg Altenschönegg. Und dort fühlten wir uns wie Ritter, die hoch zu Ross über ihr Reich herrschten. Ja, diese Zeit war vielleicht früher schöner im Vergleich zu dem, wie die Kinder heute leben. Zumindest war diese Zeit damals grundlegend anders. Wir hatten ja nicht mal ein Fernsehgerät. Ein Radio war das absolute Luxusgut, und selbst das hatten damals nicht alle Menschen.

Aber manches war früher nicht besser oder gar schöner, ganz im Gegenteil. Manche Dinge sind heute schöner als damals, als ich noch ein Kind war.

Welcher junge Mensch, der sich in diesem Augenblick gerade auf sein Abitur vorbereitet oder eine Ausbildung macht, musste zum Beispiel einen Krieg miterleben? Keiner von ihnen. Keiner von euch. Ihr alle seit heute gesegnet mit der Gnade der späten Geburt. Zu viele von denen, die so alt waren wie Bill und ich, mussten in einen Krieg gehen. Und zu viele von ihnen kamen nicht mehr zurück. Auch Bill. Er war zuletzt in Breslau. Fast hätte er Glück gehabt und wäre zurückgekommen. Zurück nach Hause. Zurück zu seinen noch unerfüllten Träumen. Aber am 6. Mai 1945, zwei Tage vor der Kapitulation, zwei Tage, bevor alles zu Ende war, wurde er von einer Granate getroffen. Mein bester Freund, mit dem ich meine Kindheit und Schulzeit verbrachte, er kam nicht mehr zurück. Seine Träume blieben unerfüllt. Nur zwei Tage hatte dieser Irrsinn noch gedauert. Aber eine Granate hatte ihn ausgelöscht und nichts mehr von ihm übrig gelassen. Er wurde zwanzig Jahre alt. Ein ungelebtes Leben.

Wenn die Alten heute sagen, früher wäre alles besser gewesen, sollten sie vielleicht an eine Zeit denken, als junge Leute in Uniformen gesteckt wurden. An eine Zeit, als menschliche Wracks aus einem sinnlosen Krieg heimkehrten in ein Land, das einer Trümmerwüste glich. Und sie sollten vielleicht auch mal auf einen der zu vielen Soldatenfriedhöfe gehen, die es in Europa gibt. Ein Meer steinerner Kreuze, unter denen junge Männer begraben sind. Söhne und Familienväter.

Bill und ich waren bis zum Abitur zusammen. Damals konnte man bereits in der zwölften Klasse das Abitur machen. Oder anders gesagt: Man musste! Es war ein Notabitur. Im Sommer 1943, als wir noch Pläne und Träume hatten, wurden wir erst in den Reichsarbeitsdienst eingezogen, danach begann die Ausbildung in der Wehrmacht. Wir dachten noch, auch in dieser Zeit zusammenbleiben zu können. Aber in diesem Sommer, nachdem wir unser Abiturzeugnis bekommen hatten, trennten sich unsere Wege. Ich wurde ins Allgäu geschickt, nach Oberjoch, Bill musste nach Gunzenhausen. All das Militärische, was uns dort erwartete, war uns bei weitem nicht mehr neu. Denn unsere ganze Kindheit und Schulzeit war stark geprägt von der Hitlerjugend.

Beim Jungvolk waren Bill und ich nicht. Dafür gingen wir bereits mit zwölf Jahren in die HJ. Die Hitlerjugend. Wie ein Fischer sein Netz über den See warf, wurden wir eingefangen von einer Einrichtung, die den Namen des damals Höchsten trug. Es war ohnehin abzusehen, dass dieser Dienst bald zur Pflicht wurde, der man nicht mehr entgehen konnte. Aber auch so mancher Lehrer sorgte mit seinem Verhalten dafür, dass wir Schüler zur HJ gingen. Sie war eine Organisation, in der alle Jungen und