Ein Coffee to go in Togo - Markus Maria Weber - E-Book

Ein Coffee to go in Togo E-Book

Markus Maria Weber

4,9

Beschreibung

Eines Tages wirft der Unternehmensberater Markus Weber seine heile Welt über den Haufen und stürzt sich Hals über Kopf in ein Abenteuer. Er setzt sich auf sein Fahrrad und fährt los – durch 26 Länder, bis nach Togo. Seine Reise führt ihn durch verlassene osteuropäische Dörfer und über zermürbende Sandpisten in Westafrika. Er fährt per Anhalter durch die Sahara, radelt durch den unerschlossenen guineischen Regenwald und schmuggelt sich in Liberia über geschlossene Grenzübergänge. Alles, um zwei Fragen zu beantworten: Wer bin ich? Und: Gibt es eigentlich Coffee to go in Togo? Ein wahnwitziges Reiseabenteuer zwischen Aufbruchlaune, Selbstfindung und ungewöhnlichen Begegnungen auf 14.037 Radkilometern.

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Ein Coffee to go in Togo

Markus Weber geht es prächtig. Er hat Freunde, ist gesund und arbeitet als Manager und Prokurist für eine der größten Beratungen weltweit. Eigentlich läuft alles perfekt. Doch irgendwann erscheint ihm sein Berufsalltag belanglos und sein Leben zwischen Meetings und Nächten in Fünf-Sterne-Hotels fremdbestimmt.

Als er auf einer morgendlichen Zugfahrt in die Frankfurter Finanzwelt seine Kollegen betrachtet, die vertieft auf ihre Laptops blickend an Kaffeebechern nippen, fasst er einen Entschluss: Er wird aussteigen aus dem Trott, den Anzug an den Nagel hängen und sich auf die Suche begeben. Er wird losziehen, um einen Kaffee zu trinken, in Afrika. Einen Coffee to go in Togo!

Es beginnt eine einjährige Reise durch 26 Länder, über eine Strecke von 14.037 Kilometern – und zwar mit dem Fahrrad! Er tauscht die Luxushotels gegen ein simples Zelt und muss sich fortan ganz ungekannten Herausforderungen stellen. Ob wilde Hunde in Rumänien, gestohlener Rollrasen in der Republik Moldau oder ein Grizzly in der Ukraine: seine geschäftliche Expertise hilft ihm auf seiner abenteuerlichen Tour wenig.

Doch so richtig verrückt wird sein Trip erst, als er den Fuß auf afrikanischen Boden setzt. Begleitet von afrikanischer Hitze und blutrünstigen Stechmücken radelt er über Nordafrikas höchstes Gebirge und staubige Sandpisten, fährt per Anhalter durch die Sahara, kämpft im Senegal mit der Malaria und wird in Gambia überfallen. Doch selbst ein Fluch in Elfenbeinküste oder die Attacke einer Schlange, ein lebensbedrohliches Buschfieber oder verrückte Grenzsoldaten können ihn nicht stoppen.

Am Ende seiner Reise steht die Antwort auf die Frage: Wie schmeckt überhaupt so ein Coffee to go in Togo?

Widmung

Für den senegalesischen Apotheker mit der Jägermeisterkappe. Für Tine Wittler, meine Mutter und meine Therapeutin.

Ohne Euch wäre ich nicht so weit gekommen!

Inhalt

Prolog

Etappe 0 – Aller Anfang ist schwer

Ein Kaffee, der alles verändert

Aus der Nummer komm ich nicht mehr raus!

Tausche Hotelbett gegen Zelt

Besuch beim Tropenarzt

Mit viel Elan und ohne Plan

Der Aufbruch

Etappe 1 – Tief im Osten

Fragen und Freiheit in der Heimat(Deutschland – 78 km)

Drei Stücke Kuchen und dreitausend Kilometer(Deutschland – 116 km)

Odyssee ins Allgäu(Deutschland – 282 km)

Küss die Hand, gnä’ Frau(Österreich – 727 km)

In der Fremde(Slowakei – 861 km)

Every rose has its thorn(Ungarn – 1.095 km)

Kroatische Katastroph’ (Kroatien – 1.617 km)

Donaudurchbruch im Maisfeld(Serbien – 1.914 km)

Fear of the dark(Serbien – 1.976 km)

Begegnungen in Bulgarien(Bulgarien – 2.319 km)

Ruhetag in Russe und Schenkel aus Serrano(Bulgarien – 2.613 km)

Kolchoseköter(Bulgarien – 2.745 km)

Nikolai, der Lebensretter(Rumänien – 2.980 km)

Einst ging ich am Ufer der Donau entlang: die Statistik(Rumänien – 3.077 km)

Emil und die Detektive(Republik Moldau – 3.180 km)

Wodkatrinken mit Russen(Republik Moldau – 3.263 km)

Kateryna und der Grizzly(Ukraine – 3.908 km)

Etappe 2 – Tief im Süden

Neustart in Istanbul(Türkei – 3.909 Kilometer)

Dörfer, Städte, Minarette(Türkei – 4.167 Kilometer)

My way on the highway(Türkei – 4.645 Kilometer)

Tine Wittler hat meine Reiseroute zerstört(Türkei – 5.011 Kilometer)

Griechischer Wein, Teil 1(Griechenland – 5.028 Kilometer)

Griechischer Wein, Teil 2(Griechenland – 5.106 Kilometer)

Im kriminellsten Land der Welt(Vatikanstadt – 6.010 Kilometer)

Italienischer Herbst(Italien – 6.312 Kilometer)

Spanische Straßen(Spanien – 6.436 Kilometer)

Franc, der Franzose(Spanien – 6.513 Kilometer)

Franc, le Clochard(Spanien – 6.677 Kilometer)

Costa del Sol: Die Route des Schreckens(Spanien – 7.636 Kilometer)

Ein Hauch von Afrika(Spanien – 7.765 Kilometer)

Etappe 3 – Afrika

Tanger, das Tor zu Afrika(Marokko – 7.765 Kilometer)

Ali Baba und die 40 Räuber(Marokko – 7.820 Kilometer)

Diarrhoe-Diät im Marihuana-Mekka(Marokko – 7.964 Kilometer)

Von Straßensperren und Banditen(Marokko – 8.163 Kilometer)

Weihnachten in Afrika(Marokko – 8.320 Kilometer)

Der sehr hohe und kalte Atlas(Marokko – 8.661 Kilometer)

Jahreswechsel in Marokko(Marokko – 8.782 Kilometer)

Should I stay or should I go?(Marokko – 8.782 Kilometer)

Brennend heißer Wüstensand(Westsahara – 8.894 Kilometer)

Das Niemandsland(Westsahara – 8.894 Kilometer)

Bäm! Tine, da bin ich!(Mauretanien – 8.894 Kilometer)

Eine Liebeserklärung(Mauretanien – 8.894 Kilometer)

Bildteil

Etappe 4 – Ach, Afrika!

Gefährliche Gazellen(Senegal – 8.894 Kilometer)

Radtour durch die Sahelzone(Senegal – 9.117 Kilometer)

Der Vorort zur Hölle(Senegal – 9.174 Kilometer)

Ein Abschied und ein Café Touba(Senegal – 9.252 Kilometer)

Nie mehr ohne Malarone(Senegal – 9.473 Kilometer)

Genesung in Gambia(Gambia – 9.555 Kilometer)

El aventurero argentino(Gambia – 9.555 Kilometer)

Bizarrer Kaffee in Bissau(Guinea-Bissau – 10.074 Kilometer)

Mein schwerster Tag(Guinea – 10.398 Kilometer)

Leben und sterben in Guinea(Guinea – 10.601 Kilometer)

Im Bett eines Diktators(Sierra Leone – 11.052 Kilometer)

Kein freies Geleit in Freetown(Sierra Leone – 11.160 Kilometer)

Freetown, Stadt der Freiheit(Sierra Leone – 11.160 Kilometer)

Paradise city(Sierra Leone – 11.209 Kilometer)

Im Land der Diamantenschmuggler(Sierra Leone – 11.237 Kilometer)

God bless Jon’s Lonely Planet!(Liberia – 11.685 Kilometer)

Von Rindenschnaps und Schulbüchern(Liberia – 11.793 Kilometer)

Couchsurfingkarma(Liberia – 11.883 Kilometer)

God bless Liberia(Liberia – 12.125 Kilometer)

Ein Ende an der Grenze(Liberia – 12.268 Kilometer)

T.i.A. – This is Africa!(Guinea – 12.418 Kilometer)

Scheiße noch eins, ich bin verflucht!(Elfenbeinküste – 12.463 Kilometer)

Das Knochenbrecherfieber(Elfenbeinküste – 12.761 Kilometer)

Die schwarze Mamba(Elfenbeinküste – 12.764 Kilometer)

Die Kettenmenschen von Bouaké(Elfenbeinküste – 13.271 Kilometer)

Endspurt ins Unglücklichsein(Elfenbeinküste – 13.335 Kilometer)

Und das ist das Ende, beinah!(Ghana – 13.439 Kilometer)

Fischer, Sklaven und ein Abschied(Ghana – 13.738 Kilometer)

Ein Kaffee in Togo(Togo – 14.037 Kilometer)

Ein Coffee to go in Togo(Togo – 14.037 Kilometer)

Etappe 5 – Heimkehr

Besuch bei einer Voodoohexe(Togo)

Zurück zu Hause(Deutschland)

Epilog

Autor Markus Maria Weber

Impressum

Prolog

5. Dezember 2012

Gerade hatte ich den größten Schritt meines Lebens getan. Hinter mir lag Europa. Vor mir ragten die dunklen Schemen des afrikanischen Kontinents aus dem Nebel. In diesem Moment begriff ich noch nicht, was die kurze Überfahrt an unmöglichen und brenzligen Abenteuern für mich bringen sollte. Ich merkte nur, dass ich an Bord der grau-grünen RoPax-Fähre dem afrikanischen Kontinent mit jedem Atemzug ein Stück näher kam und mich gleichzeitig unaufhaltsam von meiner Heimat entfernte. Eine Heimat, die ich von diesem Tag an mit anderen Augen betrachten sollte.

Die schmale Wasserstraße zwischen dem grauen Fels von Gibraltar am südwestlichen Zipfel Europas und den dunklen marokkanischen Hügeln an der Spitze Afrikas ist ein magischer Ort. Knapp dreißig Kilometer sind es zwischen der spanischen Hafenstadt Algeciras und dem marokkanischen Tanger, dem Tor zu Afrika. Dazwischen liegt die Straße von Gibraltar, die den Atlantik mit dem Mittelmeer verbindet und die beiden Kontinente Europa und Afrika voneinander trennt. Fischer, Händler, Seeräuber und Walfänger sind früher durch die Meerenge gefahren. Heute sind es riesige, hochmoderne Frachter. Sie haben bunte Container, Lastwagen und Autos geladen und pendeln zwischen den beiden Welten hin und her. Die Natur lässt sich dadurch nicht beirren und die Meerenge ist noch immer ein eindrucksvoller Ort, um Schwertwale, Orcas und zahlreiche Delfinarten zu beobachten. Dreißig Kilometer Lebensraum für die großen Meeressäuger und Trennungslinie zwischen Europa und Afrika.

All das war mir in diesem Moment egal. Ich stand an Deck der rostigen Fähre und blickte auf den Horizont. Ich war alleine. All die anderen, exotisch aussehenden Frauen und Männer befanden sich im Inneren des Schiffes. Nur ich stand oben an Bord, hielt es in der Enge des Innenraums nicht mehr aus. Genauso wie einige Monate zuvor, als mich alles erschlagen hatte: Die Enge der Büroräume, die Enge der Aufgaben und die Engstirnigkeit der Kollegen, Kunden und Vorgesetzten, die vor lauter Vertiefung in ihre Exceltabellen und Powerpointfolien die eigentliche Aufgabe nicht mehr gesehen hatten. Und so auch ich. Eingenommen von der täglichen Routine und eingeengt von mir selbst. Immer im selben Trott, im selben Rhythmus.

Meine Flucht aus der Zivilisation war nun genau ein halbes Jahr her. Gerade hatte ich die ersten sechs Monate meines Abenteuers überstanden, und nun war ich an Deck der großen Fähre, die dreimal täglich zwischen Afrika und Europa pendelt.

Durch das fleckige Seitenfenster im Bug blickte ich in den Innenraum des Schiffes. Ich beobachte die Mütter, wie sie ihren aufgeregten Kindern die Delfine zeigten, die neben dem stählernen Frachter mitschwammen, und die Väter, die für ihre Familien die Einreisedokumente ausfüllten. Ich beobachtete die dickbäuchigen Lkw-Fahrer, die an der Theke standen, sich unterhielten und Tee aus weißen Porzellantassen schlürften. Und einige traditionell gekleidete Moslems, die sich zum Mittagsgebet in eine ruhige Ecke zurückgezogen hatten.

Ich blickte über den Bug der Fähre nach vorne. Im Dunst des Horizonts konnte ich ein dunkelgrünes, düsteres Stück Land erkennen, das sich mit seinen Felsen bedrohlich schnell näherte. Afrika – viel wusste ich nicht über den Kontinent. Noch nie hatte ich ihn betreten. In meinen Gedanken mischten sich fröhlich-bunte Fantasien von Menschen, Landschaften und wilden Tieren mit grauen Vorurteilen von Kriegen, Hunger und Krankheiten. Was würde mich hier wohl erwarten?

In meiner Hand hielt ich einen Pappbecher mit Kaffee. Schwarz, so wie ich ihn immer trank. Tiefschwarz und stark. Hätte ich den Rat meiner Familie und meiner Kollegen beherzigen und lieber in Europa bleiben sollen? War ich nicht viel zu naiv an dieses Abenteuer herangegangen? Vielleicht war es mir aber auch vorherbestimmt, diesen entscheidenden Weg in meinem Leben so blauäugig anzutreten. Afrika. Togo. Wie konnte ich mir dieses verrückte Vorhaben in den Kopf setzen?

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem alles begonnen hatte. An den Tag, an dem ich wusste, dass ich es tun würde. An den Tag, ab dem ich nur noch in verständnislose, fragende Gesichter geblickt hatte, wenn ich mein Vorhaben erläuterte. Auf einmal musste ich grinsen. Viele meiner Freunde und Kollegen hatten mir nicht zugetraut, dass ich es überhaupt bis hierher schaffen würde. Ganz alleine, nur mit Fahrrad und Zelt.

Ich lachte in mich hinein, dachte an die vergangenen Monate und trank noch einen Schluck des inzwischen lauwarmen Kaffees. Dann blickte ich auf das immer näher kommende Land vor mir. Tanger, Marokko. Das Tor zu Afrika.

Hinweis: Den Bildteil finden Sie vor Etappe 4. Direkt zum Bildteil springen.

Etappe 0

Aller Anfang ist schwer

Ein Kaffee, der alles verändert

1 Jahr zuvor, 6 Monate vor dem Aufbruch

Es war ein frostiger Montagmorgen im November. Die Sonne war gerade aufgegangen und badete die kühlen grauen Betonsäulen des Düsseldorfer Hauptbahnhofs in einem warmen orangen Licht.

Die krächzende Durchsage kündigte den mir bekannten Zug an: ICE 527 Wetterstein von Dortmund nach Nürnberg. Den Fahrplan kannte ich auswendig, der ICE fuhr die schnelle Strecke, hielt nur in Köln Messe/Deutz und Frankfurt Flughafen. In einer Stunde und dreißig Minuten würde ich am Frankfurter Hauptbahnhof aussteigen und mich in den wartenden schwarzen A8 setzen, der mich zu einem Frankfurter Geldinstitut fuhr. Kurz nach neun würde ich die Bank betreten, freundlich lächelnd die ersten Hände der drängelnden Kunden und Kollegen schütteln, und meine Arbeitswoche würde beginnen. Sie würde beginnen mit dem Hochfahren meines Rechners und dem Lesen meiner E-Mails. Mit den immer gleichen, sinnfreien Meetings und mit immer neuen, fantastischen Wünschen der Kunden. Wenn ich Glück hätte, würden die monotonen Tätigkeiten aufgehellt werden durch einen cholerischen Wutanfall des Projektleiters oder ein belangloses Bundesliga-Streitgespräch mit den Kollegen in der Kaffeeküche. Hoffentlich war die Woche bald zu Ende, dachte ich.

Mit einem lauten Quietschen fuhr der ICE ein, und zusammen mit einer Schar junger Männer und Frauen in dunklen Anzügen und strengen Kostümen nahm ich neben der Zugtür Aufstellung. Am Nebeneingang drängelte sich ein bärtiger, aufgedunsener Mann grob ins Innere. Mit bayrischem Akzent forderte er eine ältere, in orangene Leinenhosen gehüllte Dame auf, ihm Platz zu machen. Dann verschwand er brummend hinter seinem dicken Rollkoffer im überfüllten Wagen der zweiten Klasse.

Ich folgte dem steten Strom aus dunklen Anzügen und Kostümen in den ruhigen Bereich der ersten Klasse. Hier gab es keinen wild gestikulierenden bayrischen Rüpel und keine in Esoterikfarben gekleideten Damen. Hier gab es nur adrette, junge Menschen, in dunkler, tailliert geschnittener Businesskleidung. Wie ein Schwarm fleißig dienender Ameisen bewegten sie sich stetig und unauffällig vorwärts. Jede Ameise hielt in der rechten Hand den Griff eines schwarzen Rollkoffers, auf dem eine schmale Laptoptasche befestigt war, in der linken Hand einen Kaffeebecher. Einheitlich verstauten sie die Köfferchen über den Sitzen und nahmen Platz. Ich blickte in die gestressten Gesichter der Berufspendlerkollegen, bei denen sich bereits jetzt die Sorgenfalten der Arbeitswoche auf der Stirn abzeichneten. Einige der Gesichter waren mir sehr vertraut. Man begegnete sich, kannte sich aber nicht.

Der ICE setzte sich in Bewegung und die Ameisen verschwanden hinter grauen Zeitungen oder begannen ihre ersten Telefonkonferenzen. Hier und da ertönte der bekannte Windows-Dreiklang, wenn eine Ameise ihren Rechner hochfuhr.

An diesem Morgen hatte ich bereits nach wenigen Minuten genug von all dem. Ich faltete die Süddeutsche zusammen, steckte sie in das blaue Gepäcknetz vor meinen Knien und begann, meine Ameisenkollegen näher zu betrachten. An dem weißen Pappbecher des Mannes neben mir blieb mein Blick hängen. Kaffee war das Einzige, was mir an diesem frühen Montagmorgen zwischen Powerpointfolien, Telefonkonferenzen und Smartphones vernünftig erschien. Seltsam, dachte ich, wie selbstverständlich wir alle diesen Kaffee tranken. Bei der hektischen Arbeit am frühen Morgen fiel vermutlich niemandem in diesem Zug auf, was da alle in sich hineinschütteten. Ein Coffee to go war mittlerweile ja eine Selbstverständlichkeit: »Einen Kaffee und ein Croissant. Zum Mitnehmen, bitte!« Vermutlich hatte keiner der Anwesenden in diesem Zug schon mal eine echte Kaffeepflanze gesehen. Und überhaupt, dieser Coffee to go, wie haben wir eigentlich Kaffee getrunken, als es noch keinen Kaffee zum Mitnehmen gab? All diese Coffee Shops, Starbucks, McCafés, Segafredos, Backshops – alles to go. Schnell einen Kaffee und auf dem Weg noch die Lieben zu Hause anrufen. Hatte der Coffee to go womöglich zu dieser Beschleunigung beigetragen, über die so viele in den letzten Jahren klagten? In den Ländern, in denen er angebaut wurde, gab es mit Sicherheit keinen so hektischen Kaffee zum Mitnehmen, dachte ich. Aber wo kam der Kaffee überhaupt her? Kam Coffee to go womöglich aus Togo? Und wie schmeckt eigentlich Kaffee in Togo?

An meiner Nase zog das gelb leuchtende Logo der Bayer AG vorbei. Graue Fabrikgebäude und grüne Büsche verschwammen zu einer undurchsichtigen Masse. In meinem Kopf begannen die Gedanken zu kreisen. Sie kreisten um Kaffee und um fremde Welten, in denen es kein to go und keine Hektik gab.

Um mich herum nahm ich das Klicken von Laptoptastaturen und das Blinken und Surren von Smartphones wahr. Die Ameisen, dachte ich, trotz guter Bezahlung und teuren Anzügen waren sie keine Unternehmer, keine echten Manager, wie ihre Titel es versprachen. Sie waren fremdbestimmt, moderne Arbeitssklaven, gesteuert von blinkenden Smartphones und E-Mail-Programmen.

Und ich? Ich gehörte genauso dazu. Trotz Prokura, trotz Bonus und trotz Mitarbeiterverantwortung hatte ich doch nichts, was ich wirklich selbst entscheiden konnte. Ich steckte genauso im Hamsterrad wie all die anderen.

Eine schlanke Zugbegleiterin legte mir lächelnd eine dunkle Schokopraline auf den blaugrauen Ausklapptisch. Ein weiteres Lockangebot, mit dem man die Arbeitsameisen in der ersten Klasse befriedigte. Ich nickte ihr schweigend zu.

Als ich beobachtete, wie sie weiter durch den Gang ging und ihre Pralinen verteilte, wurde mir schlagartig klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Nein, ich musste etwas ändern! Ich musste raus aus der Tretmühle, den Arbeitstrott hinter mir lassen und aussteigen. Nicht nur aus dem ICE und aus dem Pendeln nach Frankfurt, ich musste wirklich raus. Weg, weit weg! Nach Amerika oder Australien. Oder nach Afrika, wo der Kaffee herkam. Ich musste die engen schwarzen Lederschuhe abstreifen und barfuß über eine Wiese laufen, die gebeugte Haltung über dem Computer aufgeben und in einem See schwimmen. Ich musste raus aus dem Alltag und rein in ein echtes Abenteuer!

Mit einem schrillen Läuten riss mich mein Handy unsanft aus meinen Tagträumen. Es war mein Kollege, der wissen wollte, ob ich ihn in Frankfurt auf dem Weg zum Kunden mitnehmen könne.

»Kein Problem«, antwortete ich abwesend. Und in Gedanken fügte ich hinzu: »Ich werde aussteigen, abhauen! Krawatte und Handy beiseitelegen und mich aufs Fahrrad schwingen. Raus aus Deutschland. Raus aus Europa und nach Afrika. Nach Togo. Da werde ich halten und einen Kaffee trinken, einen Coffee to go in Togo.«

Aus der Nummer komm ich nicht mehr raus!

Fünf Monate vor dem Aufbruch

Ich zweifelte an meinem Verstand! Togo, Afrika. Mit dem Fahrrad! Aber inzwischen war es zu spät. Es gab kein Zurück. Ich hatte soeben mit meinem Chef gesprochen und den Vertrag unterzeichnet. Begeistert war er nicht, mein Vorgesetzter, ließ mich aber zähneknirschend ziehen. Im Juli würde mich mein Arbeitgeber aus seinen Diensten entlassen, ein Jahr lang Urlaub. Oder Sabbatical, wie der Unternehmensberater das nennt. Nach einem Jahr würde ich mehr oder weniger in einem Stück zurückkommen und könnte meinen alten Job wieder aufnehmen. Alles war geregelt, unter Dach und Fach.

Dass ich eine Auszeit brauchte, konnte mein Chef verstehen. In den letzten Monaten hatten viele Kollegen gekündigt, schließlich war die Arbeit als Unternehmensberater trotz Reisekomfort und ordentlicher Bezahlung kein Traumjob. Als Consultant stand man stets unter Strom, es galt, illusorische Anforderungen von Kunden umzusetzen, Vorgesetzte mit Umsatz glücklich zu machen und die eigenen Mitarbeiter mit spannenden Aufgaben zu motivieren. Meine Kollegen und ich arbeiteten an großen Mergers, an BI-Implementierungen und globalen Process-Reengineering-Projekten. Oft wurden wir erst gerufen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war, und mussten Tage und Nächte in unbekannten Städten verbringen, um in den Bürotürmen fremder Unternehmen Konzepte zu schreiben und Lösungen zu entwickeln. Unsere Lösungen drehten sich um Balanced Scorecards und virtuelle Organisationen, um Management Dashboards, um Kennzahlen, Daten und andere, kaum greifbare Dinge. Nach einigen Jahren stressiger Projekte und unzähliger Nächte in Zügen, auf Flughäfen und in fremden Hotelbetten fühlten sich viele Berater verschlissen und versuchten in Form einer neuen Anstellung ihre Work-Life-Balance wieder geradezubiegen.

Meine Kollegen und ich hatten kürzlich wieder eine besonders anstrengende Projektphase hinter uns gebracht, und als ich meinen Chef um ein persönliches Gespräch gebeten hatte, war er sogar froh, dass ich nur eine Auszeit forderte und der Firma nicht ganz den Rücken kehren wollte. Nur das mit Togo, das wollte er nicht verstehen.

»Ein Jahr Malediven, Bahamas oder auf die Kanaren, ja, das wäre was!«, hatte er gesagt. »Oder eine Rucksackreise durch Amerika, eine Auszeit in Australien! Es gibt so viele spannende Möglichkeiten. Aber Togo? Mit dem Fahrrad?«

Die Idee mit dem Fahrrad hatte sich einige Tage vor dem Gespräch gefestigt, als ich im Internet über Globetrotter und deren Reisen gelesen hatte.

»Mit einem Fahrrad reist man schnell genug, um fremde Länder zu erkunden, und doch langsam genug, um Menschen und Natur zu erleben.« So hatte das einer der Abenteurer formuliert, der mit Rad und Packtaschen die halbe Welt umrundet hatte. Der Satz hatte mich tief beeindruckt. Womöglich brachte er genau das zum Ausdruck, was mir in den letzten Jahren gefehlt hatte.

Auf alle Fälle war das Fahrrad das genaue Gegenteil zu meinen bisherigen Geschäftsreisen in der ersten Klasse. Ein Auto würde mich nicht weit genug bringen. Geografisch mit Sicherheit, aber nicht auf meiner inneren Suche. Womöglich war es die asketische Lebensweise, ein Jahr nur aus den Packtaschen zu leben. Vielleicht der sportliche Faktor, monatelang im harten Ledersattel zu schwitzen, anstatt im bequemen Vitra-Sessel im Büro zu sitzen. Was ich genau suchte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich suchte. Ich wusste, dass ich eine Änderung wollte und auf Antworten hoffte. Antworten auf eine Frage, die ich bisher gar nicht formuliert hatte.

Was auch immer ich mir erhoffte, es war zu spät, einen Rückzieher zu machen. Der Vertrag für meine Auszeit war unterzeichnet, meine Kollegen informiert und die Übergabe meiner beruflichen Tätigkeiten hatte bereits begonnen.

Noch bedeutender als die Arbeit waren natürlich meine Freunde aus der Heimat und meine Familie. Denen hatte ich meine Idee ebenfalls schon erzählt, und nun konnte ich nicht mehr kneifen. Jeder in meinem Heimatort wusste inzwischen: Der Weber radelt mit seinem pinken Fahrrad nach Togo, um Kaffee zu trinken. Nein, aus der Nummer würde ich nicht mehr rauskommen!

Einige Tage nach dem Gespräch mit meinem Chef setzte ich mich an die Vorbereitungen zu meiner Reise.

Togo, wo war das doch gleich? Viel wusste ich ja nicht über das ferne, fremde Land. Es soll mal eine deutsche Kolonie gewesen sein. Togoland, wie es einst hieß, am westlichen Zipfel Afrikas. Ein langgezogener, schmaler Streifen mit etwa 50 Kilometern Atlantikküste, umrandet vom großen Ghana im Westen und dem kleinen Benin im Osten.

Wie ich Togo überhaupt erreichen sollte, war mir schleierhaft. Vollkommen. Ich hatte nicht einmal annähernd eine Vorstellung. Sollte ich von Deutschland aus starten, würde es Sinn machen, über Spanien nach Marokko zu radeln. Von dort aus konnte ich vermutlich irgendwie entlang der Küste bis nach Togo fahren. Allerdings würde auf Marokko die Westsahara folgen, ein Territorium, das von Marokko annektiert worden war. Weder wusste ich etwas über die Sicherheitslage des eingenommenen Gebietes, noch, ob man in einer Wüste Fahrradfahren konnte. Auf die Westsahara folgte Mauretanien, ein islamischer Staat, der zum Großteil ebenfalls aus Wüste bestand. Sollte ich von Entführungen und Anschlägen verschont bleiben, könnte ich in den Senegal reisen und dort das abenteuerliche Schwarzafrika betreten. Auf den Senegal würde ein Land folgen, das so winzig war, dass es kaum in meinem Atlas auftauchte: Gambia. Es war weder leicht, es auf einer Karte zu entdecken, noch verlässliche Informationen über das Land herauszubekommen. Danach würde es erneut in den Senegal gehen, in die von Rebellen besetzte Casamance, eine landschaftlich beeindruckende Region, die seit den 80er-Jahren in einem bewaffneten Konflikt versuchte, sich vom großen Senegal zu spalten. Weiter entlang der Küste würden mich Guinea-Bissau und Guinea erwarten, zwei Staaten, von denen ich kaum im Leben etwas gehört hatte. Mit den darauffolgenden Ländern Sierra Leone und Liberia konnte ich allerdings etwas verbinden, leider nur Tragisches wie Sklaverei, Bürgerkriege und Blutdiamanten. Als letzte Etappen würden die Elfenbeinküste und Ghana auf mich warten, bevor ich im kleinen Togo ankommen würde. Dort dann nur noch einen Kaffee trinken und wieder zurück.

Eigentlich klang das auch nicht anders als meine letzten Projekte, die ich als Unternehmensberater durchgeführt hatte: Ein unmögliches Ziel, viel zu wenig Vorbereitung, ein enger Zeitplan, knappe Ressourcen, nicht abschätzbare Risiken und keine Idee für eine Backup-Planung. Damit befand ich mich also auf bekanntem Terrain, und es konnte losgehen. Frohen Mutes hinein in das neue Projekt.

Tausche Hotelbett gegen Zelt

Vier Monate vor dem Aufbruch

Donnerstagabend in der Frankfurter Bankenmetropole. Ich hatte mich gegen die Afterworkparty im Kingka entschieden. Stattdessen lag ich in meinem Hotelzimmer im Bett und dachte nach. Das Bett war frisch bezogen. Die freundliche Putzdame hatte die Bettdecke getauscht, über die ich am Abend zuvor die Sojasoße vom Sushi ausgeleert hatte. Die Kopfkissen waren frisch aufgeschüttelt, auch frische Handtücher lagen im Bad. Gestern früh hatte ich die beiden kleinen Shampooflaschen in den Koffer gepackt, nun standen wieder neue da.

Ach, all die kleinen wiederkehrenden Freuden. Und die Ordnung! Ich würde das Hotelleben vermissen. Ich stopfte das extragroße Kissen hinter meinem Kopf zurecht, starrte an die Decke und dachte daran, wie furchtbar ungemütlich es wohl werden würde, wenn ich erst das Hotelbett gegen ein Zelt eingetauscht hatte.

Wann hatte ich überhaupt das letzte Mal gezeltet? Das musste eine Ewigkeit her sein! Mit 16 bei den Pfadfindern, dachte ich. Heute war ich bereits Ü30, in dem Alter schläft man nicht mehr in einem Zelt – und als Unternehmensberater schon zweimal nicht!

Anfang der Woche war ich in einem riesigen Outdoorgeschäft gewesen, das von erfahrenen Abenteurern besucht wurde, um sich mit Kleidung, Kochutensilien, Schlafsäcken und anderem Equipment auszurüsten. Ich hatte mir dort ein Zelt gekauft. Ein Zelt für 549 Euro. Ich dachte, wenn es teuer ist, dann ist es bestimmt auch schön gemütlich.

Gemütlich war es nicht, dafür aber leicht. Nur zwei Kilo. Wie mein Firmenrechner. Ich hatte mich bewusst für ein schwedisches Fabrikat entschieden, denn die Menschen in Skandinavien wussten, wie man in der Natur überlebte und was man dafür alles brauchte. Insbesondere die Schweden. Sie hatten Ikea erfunden, Volvo, Scania, AB&B und H&M, sie hatten Männer wie Björn Borg, Alfred Nobel, Dolph Lundgren und Zlatan Ibrahimović. Und dann hatten sie noch all die schwedischen Polarforscher und Entdecker. Ja, wenn ich mir ein Zelt kaufte, dann nur ein schwedisches!

Der schmächtige Verkäufer im Outdoorladen hatte ebenfalls stolz von einer schwedischen Firma geschwärmt.

»Die nähen die Zelte mit gekühlten Nadeln, damit sich die Nähte nicht zu weit ausdehnen. Der Zeltboden ist aus polyurethanbeschichtetem Nylon, das Außenzelt aus dreifach silikonbeschichtetem Perlon.«

Eine Weile hatte ich den Ausführungen des jungen Mannes gelauscht und die vielen Zahlen und Materialbeschreibungen mit vorsichtigem Nicken und »Aha, ist ja interessant« kommentiert. Nachdem er mir alle Vorzüge erklärt und das zusammengefaltete Zelt in die Arme gelegt hatte, strahlte er mich an.

»Da haben Sie wirklich einen tollen Kauf gemacht, ich gratuliere! Passen Sie nur auf, dass Sie das Zelt nicht direkt in der Sonne stehen lassen. Starke UV-Einstrahlung kann das Material auf Dauer beschädigen.«

»Wie bitte?«, entgegnete ich.

»Na, das ist natürlich bei allen Zelten so, auch im Premium-Segment. Wenn Sie lange Spaß damit haben möchten, sollten sie es eben vor zu starker Sonneneinstrahlung schützen. So ein Expeditionszelt nutzt man ja eh nur für echte Abenteuer und nicht für einen Campingurlaub.«

Aha, also kein Campingurlaub, hatte ich gedacht, als ich das 549 Euro teure Zelt an der Kasse einpacken ließ. Das würde ich bestimmt als allererstes machen, wenn ich in der Wüste um fünf Uhr morgens aufstand: das doofe Zelt einpacken, um es vor der Sonne zu schützen. Mannomann, ein Zelt, das man von Tageslicht fernhalten musste, so etwas hatte ich noch nie gehört. Vermutlich, weil die Schweden da oben so wenig Sonne hatten.

Da lag ich also in meinem Hotelbett und dachte über Outdoorausrüstung nach, während meine Kollegen sich beim Frankfurter Afterwork amüsierten. Am Montag hatte ich das Zelt gekauft. Drei Tage lang hatte ich es unberührt liegen lassen. An diesem Donnerstagabend wagte ich es schließlich und baute das Zelt auf. In meinem Hotelzimmer.

Es kostete mich eine halbe Stunde Arbeit und eine Macke in der Schreibtischlampe, die ich mit einer der Zeltstangen vom Nachttisch fegte. Dann stand das Zelt. Es war grün und oval und passte genau zwischen die Kante meines King-Size-Betts und die Badezimmertüre. Trotz der 549 Euro machte es auf mich keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck. Ich traute mich noch nicht einmal, mich hineinzulegen.

Da das Zelt den Weg zwischen mir und der Toilette versperrte, fasste ich mir schließlich doch ein Herz, öffnete den niedrigen Zelteingang und kroch vorsichtig hinein. So gut es ging machte ich es mir im Schneidersitz gemütlich und betrachtete durch das gelbe Moskitonetz den Fernseher an der Wand, in dem eine Wiederholung vom dritten Harry-Potter-Teil lief.

Die wiederhergestellte Nachttischleuchte ließ das Zeltinnere in einem sanften grünen Licht erstrahlen. Ich legte mich flach auf den Rücken und brachte dabei das Innenzelt, das mir trotz der 549 Euro erschreckend eng vorkam, in bedrohliches Wanken. Nach einem kurzen Schreckmoment beruhigte ich mich und versuchte, mir vorzustellen, wie abenteuerlich und fantastisch es wäre, nun im Wald zu liegen und bei einer sternenklaren Nacht einzuschlafen. Doch irgendwie konnte ich mich auf dem harten Boden des Hotelzimmers nicht recht konzentrieren.

Ich kroch aus meinem neuen Heim, blieb dabei mit meinem Fuß an einem der Abspannseile hängen und fiel mit einem lauten Krachen auf das vertraute King-Size-Bett. Als ich den Schrecken verdaut und mein Fußgelenk aus der Nylonschnur befreit hatte, wurde mir klar: Ich würde mein Hotelbett vermissen!

Besuch beim Tropenarzt

Drei Monate vor dem Aufbruch

Meine Vorbereitungen für den Tourstart waren in vollem Gange. Zwar wusste ich noch immer nicht, was genau mich in Afrika erwarten würde, aber auf Drängen meiner Mutter holte ich mir zumindest für meine Gesundheit Rat bei einem Experten. Zum verabredeten Zeitpunkt wählte ich die Nummer des Freiburger Tropeninstituts.

»Tropeninstitut Freiburg, Dr. Stephanie Schröder, guten Tag.«

»Guten Tag, mein Name ist Weber und ich werde in ein paar Wochen nach Afrika radeln, daher möchte ich mich erkundigen, welche Vorkehrungen man dafür treffen muss.«

»Herr Weber, guten Tag. Erzählen Sie bitte, wo wollen Sie denn genau hin?«

»Marokko, Sahara, Mauretanien, Senegal, Gambia, Guinea und so weiter. Immer an der Küste entlang bis nach Togo.«

»Togo, Moment, ich muss mir das mal auf der Karte ansehen.«

Es folgte eine Pause.

»Und was machen Sie dort?«

»Ich fahre Fahrrad und möchte Land und Leute kennenlernen.«

»Mit dem Fahrrad?«

»Ja.«

»Alleine?«

»Ja.«

»Und wo übernachten Sie?«

»Im Zelt.«

Es folgte eine weitere Pause.

»Mit Fahrrad und einem Zelt?«

»Ja.«

»Übernachten Sie denn auch bei Einheimischen?«

»Na, wenn ich auf welche treffe, bestimmt.«

»Ganz alleine?«

»Hören Sie, ich kenne leider niemanden, der Lust hat, im Sommer mit mir mit dem Fahrrad durch Westafrika zu radeln.«

Das lange Schweigen am anderen Ende des Telefons unterbrach ich mit einer ausführlichen Erklärung meines Togo-Plans. Frau Doktor Schröder konterte mit einer Tirade über die Gefahren durch Krankheiten und Sicherheitsrisiken, die auch von meiner Mutter hätte stammen können.

»Na gut, dann kommen wir mal zur Sache«, sagte sie schließlich doch. »Das größte Risiko ist die Malaria. Außerdem gibt es die Tsetsefliege, die die Schlafkrankheit überträgt, und Risiken für Hepatitis, Denguefieber, Bilharziose und andere hochgefährliche Krankheiten, die Sie sich einfangen können. Eine ordentliche Durchfallinfektion werden Sie in jedem Fall bekommen, denn Ihr deutscher Magen wird sich so schnell nicht an die Hygiene vor Ort gewöhnen. Am gefährlichsten bleibt dennoch die Malaria. Ab Mauretanien befinden Sie sich in einem Malaria-Hochrisikogebiet. Und von dort an die ganze Strecke runter bis Togo.«

»Oh, das klingt nicht gut. Und was kann man da machen?«

»Also, Malariaprophylaxe ist absolute Pflicht!«

»Ok. Dann brauche ich da mal was für so sechs bis acht Monate.«

»Moment, so einfach ist das nicht. Für die Malariaprävention gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten. Neben den üblichen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, Schwindel, Migräne und Schlaflosigkeit hat jedes der drei Mittel ein paar Besonderheiten.«

»Hm. Und welche?«

»Das älteste Mittel heißt Lariam, der Wirkstoff ist Mefloquin. Sie müssen einmal wöchentlich eine Tablette nehmen, um einen Schutzspiegel aufzubauen. Die hohe Wirksamkeit ist über Jahrzehnte hinweg erprobt und der Schutz gegen Malaria ist relativ hoch. Allerdings würde ich es Ihnen nicht empfehlen, wenn Sie alleine reisen.«

»Wieso?«

»Mefloquin kann zu neurologischen und psychiatrischen Nebenwirkungen führen. In etwa einem Viertel der Fälle machen sich Auswirkungen auf die Psyche bemerkbar, und zwar mehr als reine Stimmungsschwankungen. Die Einnahme kann zu einer Depression oder epileptischen Anfällen führen. Auch Koordinationsschwierigkeiten sind nicht auszuschließen. Besonders in den USA wird Lariam kritisch gesehen, vor einigen Jahren wurden vermehrt Suizide von heimgekehrten Afghanistan- und Irak-Veteranen gemeldet, die zur Malariaprophylaxe während ihrer Auslandseinsätze Lariam eingenommen hatten. Sollten Sie vollkommen alleine unterwegs sein, kann ich Ihnen das Mittel nicht empfehlen. Stimmungsschwankungen und mögliche Anzeichen von Depression oder Epilepsie würden Sie alleine vermutlich gar nicht mitbekommen. Und das auch noch in der fremden Umgebung Afrikas.«

»Aha.«

»Falls Sie sich für Lariam entscheiden, müssten wir die Einnahme und Ihre psychische Reaktion darauf im Vorfeld in jedem Fall testen. Ich schlage vor, dass Sie es über einen Zeitraum von vier Wochen einnehmen und wir regelmäßig Ihre psychische und physische Verfassung überprüfen. Sie müssten allerdings dafür sorgen, dass Sie bei Ihrer Arbeit entbehrlich sind und in diesem Zeitraum auf das Autofahren verzichten.«

»Hm, das passt mir gerade nicht wirklich. Ich denke, dieses Mittel hat sich bereits erledigt. Wenn ich zukünftig zehn Stunden am Tag vollkommen alleine auf dem Rad sitze, wird die Einsamkeit mir vermutlich schon ohne Medikamente an den Nerven nagen. Das fällt raus. Was ist denn mit den anderen beiden?«

»Die zweite Möglichkeit besteht in der Einnahme von Doxycyclin. Doxy ist ein Antibiotikum mit einem breitem Anwendungsspektrum. Unter anderem wird es von der WHO zur Prophylaxe gegen Malaria empfohlen. Es schützt nachweislich vor Malariainfektionen und kann auch zur akuten Behandlung herangezogen werden.«

»Okay, klingt gut.«

»In Deutschland gibt es zu diesem Zweck allerdings kein zugelassenes Medikament. Grund ist, dass es sich um ein Antibiotikum handelt und eine langzeitige Einnahme daher vom Deutschen Institut für Arzneimittelzulassung nicht empfohlen wird. Ein weiteres Problem ist, dass es häufig zu einer UV-Lichtunverträglichkeit führt. Bei starker Sonneneinstrahlung können beispielsweise toxische Sonnenbrände entstehen, die Sie nicht einfach mit Hautkühlung heilen können. Das muss dann wirklich mit Kortison und stärkeren Medikamenten behandelt werden.«

»Verstehe ich das richtig? Sie schlagen mir ein in Deutschland nicht zugelassenes Medikament vor, das zu einer Sonnenlichtunverträglichkeit führen kann? Und das soll ich nehmen, wenn ich in Afrika bin? Nein, dann verzichte ich lieber.«

»Das Medikament wird von der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin zur Malariaprophylaxe aufgrund seiner nachgewiesen Wirkung durchaus empfohlen. Aber ich verstehe natürlich Ihre Bedenken. Ehrlich gesagt halte ich es aufgrund der UV-Lichtunverträglichkeit ebenfalls für ein Risiko, da Sie als Radfahrer der Sonne für mehrere Stunden am Tag direkt ausgesetzt sind.«

»Und die dritte Möglichkeit?«

»Die letzte Alternative der drei Arzneimittel heißt Malarone. Es ist ein Kombiprodukt aus den beiden Wirkstoffen Proquanil, das die Ausbreitung von Malariaerregern verhindert, und Atovaquon, das den Stoffwechsel der Erreger stört und damit deren Absterben fördert. Aufgrund dieser Kombination ist es hocheffektiv und nur wenige Nebenwirkungen sind bekannt. Ein weiterer Vorteil von Malarone ist eine relativ kurze Einnahmedauer. Bei Malarone müssten Sie mit der Prophylaxe erst einen Tag vor Ihrem Aufenthalt in Risikogebieten beginnen. Der Anwendungszeitraum für das Medikament ist damit im Vergleich zu den beiden eben genannten deutlich kürzer.«

»Sehr gut, und wo ist der Haken?

»Über einen längeren Zeitraum ist es unbezahlbar.«

Mit viel Elan und ohne Plan

Ein Monat vor dem Aufbruch

Togo? Das wird schwierig. Ich glaube, die aktuellste Karte ist irgendwann aus den 90ern.« Der graue Haarschopf des Mitarbeiters der Landkartenabteilung verschwand hinter dem schwarzen Flachbildschirm.

»Jepp, Erscheinungsdatum 2001, aber die Vermessung ist von 92. Es gibt eine Dreiländerkarte, da sind Ghana und Benin noch mit drauf. Ist von Anfang 2000. Was Aktuelleres gibt es nicht.«

»Und was ist mit der Elfenbeinküste?«

»Das ist ähnlich. Wirklich aktuelle und verlässliche Karten für Westafrika sind kaum vorhanden. Vor allem, wenn du mit dem Fahrrad unterwegs bist, ist das schwierig. Da kann eine breite Straße auf der Karte dann schon mal eine Schotterpiste in der Pampa sein. Oder umgekehrt, die kleine Piste ist inzwischen eine mehrspurige Fernstraße.«

Der Kopf des Mannes verschwand erneut hinter dem Bildschirm. Das helle Klicken einer Tastatur erklang, dann schob sich das Gesicht wieder nach oben.

»Hab ich’s mir doch gedacht ... Also, die gute Karte ist vergriffen. Irgendwas Verlässliches, was nach dem Bürgerkrieg vermessen worden ist, wirst du nicht bekommen.«

Mit meiner rechten Hand fuhr ich mir über den akkurat gestutzten Dreitagebart. »Vielleicht etwas weiter oben. Was ist denn mit Mauretanien? Das wäre wichtig, wegen der Wüste. Ist ja auch ziemlich groß.«

»Ha, also das wird ganz schwer. Vielleicht gibt’s da noch eine alte Sowjetkarte von der Sahara aus dem Kalten Krieg. Musst mal im Internet danach suchen. Die Bilder der russischen Militärsatelliten sind noch immer hilfreich. Da müsstest du nur aufpassen, weil die Sowjetkarten in den afrikanischen Ländern am Zoll oft beschlagnahmt werden. Moment mal, vielleicht find ich noch was.«

»Ist schon okay. Ich glaube, ich nehme dann erst mal nur eine Karte von Westafrika, um mir einen Überblick zu verschaffen.«

»Na, das ist einfach.« Der Mann stand auf und zog mit einem geübten Handgriff eine dünne Karte aus einem der vollgestopften Bücherregale hinter sich. »Hier haben wir etwas. Da sind alle Küstenländer drauf, vom Senegal bis runter nach Nigeria. Der Maßstab ist 1:2,2 Millionen. Das ist riesig, viel wirst du damit nicht planen können, aber für einen groben Überblick sollte es reichen.«

Ich ergänzte die Karte, auf der Togo so groß war wie eine afrikanische Minibanane, mit einem Rough Guide für Westafrika, der unter Abenteurern aufgrund seiner realistischen Tourenvorschläge sehr beliebt war. Und das sollte es dann mit der Vorbereitung gewesen sein.

Zufrieden verbrachte ich den Abend mit meinen Freunden bei zu viel Bier und Spinnereien über meine bevorstehenden Abenteuer. Inzwischen wusste der ganze Ort, dass ich mich auf die abenteuerliche Reise begeben wollte, und einen Rückzieher konnte ich nun nicht mehr machen. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als möglichst selbstbewusst über mein Vorhaben zu philosophieren.

Einige Stunden und mehrere Biergläser später waren sowohl meine Zuhörer als auch meine Euphorie verflogen. Ich lag in meinem Bett und konnte nicht schlafen. Eine innere Unruhe hielt mich wach.

Noch vier Wochen, dann sollte es losgehen! Wie sollte ich das bloß schaffen?

Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Der strenge Geruch von Plastik kroch mir in die Nase. Am Fuße des Betts stapelte sich das Outdoorequipment. Nagelneu und zum Teil noch in der Originalverpackung. Online hatte ich Produkte aus der ganzen Welt eingekauft: Ein hochmoderner Wasserfilter aus der Schweiz, eine Ultraleicht-Isomatte aus den USA, eine ausklappbare Handsäge aus Finnland und eine extralaute Signalpfeife aus England. In meinem Fahrrad-Reparaturset befanden sich acht Ersatzspeichen, ein zweiter Satz Bremsblöcke, neue Schaltzüge, eine zweite Luftpumpe und ein beängstigend schweres Multi-Tool, mit dem man sogar eine gerissene Fahrradkette reparieren konnte. Meine gesamte Ausrüstung lag geordnet neben den neuen wasserdichten Fahrradpacktaschen. Technisch schien ich vorbereitet zu sein, von der Polarexpedition bis zur Wüstendurchquerung.

Aber all das beruhigte mich nicht. Im Gegenteil, ein ungewohntes Gefühl von Unsicherheit und Angst übermannte mich, als ich an all die Ausrüstung dachte. Denn allmählich wurde mir bewusst, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte von einem Leben als fahrradfahrender Weltenbummler. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ein neues Kettenglied in eine gerissene Kette einsetzen sollte, wie ich einen Ölwechsel an meiner Fahrradnabe vornehmen konnte oder wie ich die Hydraulikbremsen einstellen sollte. Ich wusste nicht, wie man einen Wasserfilter benutzte oder mit welchem Benzin ich meinen Kocher füllen durfte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich all die neuen Geräte überhaupt benutzen sollte, ich konnte ja noch nicht mal einen platten Reifen flicken!

Ernüchtert zog ich mein Fazit: Ich war überhaupt nicht vorbereitet! Ich konnte nicht einfach durch Frankreich und Spanien radeln, dann wäre ich nach ein paar hundert Kilometern bereits in Afrika und hätte überhaupt keine Ahnung vom wilden Leben eines Abenteurers und den Herausforderungen, die im Sattel eines Reiserads auf mich warten würden.

Nein, so ging das nicht! Ich würde mich vorbereiten müssen. Ich musste mich erst einmal warmradeln, meinen ersten platten Reifen flicken und wissen, wie ich mir außerhalb des Hotelzimmers einen sicheren Schlafplatz suchen konnte.

Verzweifelt richtete ich mich auf und schaltete den Fernseher ein, um mich von den wirren Gedanken abzulenken. Im Ersten lief die Tagesschau, im ZDF fiedelten die Berliner Philharmoniker auf der Waldbühne und auf den privaten Sender tummelten sich Auswanderer, Promiköche und Supermodels. Als ich auf Kanal 35 angelangt war, hielt ich inne. Eine Luftaufnahme zeigte den dunkelblauen Lauf eines beeindruckenden Flusses, der sich seinen Weg durch hügelige grüne Landschaften bahnte. Die stete Bewegung des tiefblauen Wassers hatte eine beruhigende Wirkung.

»Im weiteren Verlauf nimmt der majestätische Fluss an Größe zu, bis er am Ende Europas in einem weitläufigen Delta ins Schwarze Meer mündet«, erklärte die ruhige Stimme des Kommentators.

Gefesselt betrachtete ich die flimmernde Landschaft auf dem Bildschirm. Die Donau, dachte ich, wieso eigentlich nicht? Dann fielen mir die Augen zu.

Am nächsten Morgen hatte ich nach einer halbstündigen Internetrecherche und drei Tassen Kaffee die Lösung gefunden: Ich würde die Donau entlangfahren, von ihrer Quelle im badischen Donaueschingen bis zum Donaudelta in Rumänien, am Ende Europas. Die Donau war der perfekte Start für einen Abenteuerneuling. Der Donauradweg galt als einer der besten und sichersten Radwege der Welt, und mit jedem Kilometer würde er mich tiefer in mein Abenteuer führen. Der kleine Umweg würde etwa drei Monate in Anspruch nehmen, und in dieser Zeit könnte ich meine ersten Nächte im Zelt verbringen und meinen Kocher ausprobieren, ohne allzu weit weg von der Zivilisation zu sein. Und das allerbeste: Ich musste nur dem Fluss folgen, eine Karte war also nicht erforderlich.

Der Plan mit der Donau stimmte mich zufrieden, und in den letzten Tagen vor meiner Abreise konzentrierte ich mich auf die bevorstehenden Hürden in Afrika. Tagsüber arbeitete ich in Anzug und Krawatte für die anstehende Bankenfusion in Frankfurt, die Abende verbrachte ich in meinem Hotelzimmer, tief gebeugt über die Westafrikakarte oder versunken in Wikipedia-Artikeln.

Während die Nächte im Hotel immer länger wurden, die Minibar immer leerer und ich ein Abenteuerforum nach dem anderen durchforstete, wurde mir allmählich klar, dass Westafrika noch weniger erschlossen war, als ich gedacht hatte.

Klar, da gab es Marokko, das als hervorragendes Reiseland galt, und auch große Teile des Senegals waren touristisch entwickelt. Aber bereits über die an Marokko grenzende Westsahara oder die Casamance im Süden des Senegals waren aufgrund von Krisen, Rebellen und sonstigem Chaos kaum verlässliche Reiseinformationen zu erhalten. Von Ländern wie Guinea, Sierra Leone oder Liberia ganz zu schweigen.

Berichte über Radfahrer in Afrika gab es zu meinem Erstaunen – allerdings nur über Ostafrika. Dort gab es sogar ein jährlich stattfindendes Fahrradrennen, die Tour d’Afrique, die die Teilnehmer von Kairo bis nach Kapstadt führte, an den südlichsten Zipfel des Kontinents. Verrückt!

Über Radfahren in Westafrika hingegen gab es praktisch nichts. Einen einzigen Reiseblog hatte ich ausfindig machen können, in dem der britische Lehrer Peter Gostelow berichtete, wie er von England über die afrikanische Westküste nach Kapstadt radelte. Gespannt verschlang ich die ersten Einträge, bis Peter im Senegal angelangt war. In der Hauptstadt Dakar wurde er von vier Afrikanern mit Macheten überfallen und ausgeraubt. Als sich der Radler zur Wehr setzte, wurden ihm die rostigen Klingen der Macheten in Beine und Arme geschlagen, und er musste verletzt mehrere Tage im Krankenhaus verbringen. Mir blieb mein Club Sandwich im Hals stecken und ich hörte an dieser Stelle mit dem Lesen des Blogs auf.

So verging die Zeit. Mit viel Elan arbeitete ich an vielen Dingen, nur nicht an der praktischen Vorbereitung meiner Reise. Die letzten Tage vor dem Abschied flüchtete ich mich in Arbeit und versuchte, meinen Job möglichst gut an meinen Nachfolger zu übergeben. Im Keller meiner Eltern stapelten sich das neue Fahrrad, Werkzeug, Outdoorkleidung und das schwedische Zelt. Das meiste davon noch in Originalverpackung, blitzblank und unbenutzt.

Die Sorgen und Nachfragen bei Freunden und Familie mehrten sich, und ich versprach, mich regelmäßig zu melden. Dabei blieb die Frage offen, wie ich das anstellen sollte. Konnte ich aus Osteuropa überall nach Hause telefonieren, wenn ich Heimweh hatte? Gab es tief in Afrika Möglichkeiten, E-Mails zu schreiben? Gab es überhaupt genügend Strom, um mein Handy zu laden und ab und an eine SMS zu schicken? All diese Fragen konnte ich nicht beantworten, aber das sollte sich schon irgendwie ergeben.

Dann kam mir die Idee mit dem Blog. Zusammen mit einem Freund erstellte ich eine einfache Website mit viel Platz für Fotos von der Tour und die Abenteuerberichte. Der Blog würde nicht alle Fragen beantworten können, aber er würde helfen, mit einer Vielzahl von Freunden und Verwandten in Kontakt zu bleiben. Ein genialer Plan, dachte ich. Da wusste ich noch nicht, dass meine Mutter die Kommentarfunktion der Website regelmäßig nutzen würde. Am Tag vor meinem Aufbruch schrieb sie:

Hallo Sohn,

Du bist vollkommen übergeschnappt, dass Du wirklich versuchst, nach Afrika zu radeln. Meine einzige Hoffnung ist, dass Du Dich noch in Europa so oft verfährst, dass Du keine Lust mehr hast und bald umkehrst. Ich wusste ja schon immer, dass Du verrückt bist, aber ohne Karte nach Afrika?

Der Aufbruch

Emmendingen, Deutschland, Juli 2012, 0 Kilometer

Die ersten Meter trat ich kraftlos in die Pedale. Ob es an dem ungewohnten Gewicht meines beladenen Fahrrads lag? Oder an der Träne, die sich für einen Moment in meinem rechten Auge löste und dann, vom Fahrtwind erfasst, rasch die Wange hinunterrann? Vielleicht lag es einfach an den wackligen Knien, die ich gehabt hatte, als ich an diesem Sonntagmorgen des 8. Juli das schwere Rad aus der Garage geschoben und mich in den unbequemen Ledersattel gesetzt hatte.

Während ich vorsichtig meine ersten Pedalumdrehungen machte und den Hügel vor meinem Elternhaus hinunterrollte, stand meine Familie im Hof und winkte mir nach. Die besorgten Blicke von Mutter, Vater, Schwester, ihrem Mann und den Kindern lasteten schwer.

Meine Mutter war natürlich diejenige, die sich am meisten Sorgen machte. Überhaupt konnte sie mein Vorhaben kaum verstehen. Ihr Junge! War er in der Schule noch ein kleiner Rowdy gewesen, hatte er sich dann doch am Riemen gerissen, ein gutes Abitur gemacht, BWL studiert und eine steile Karriere als Berater eingeschlagen. Vermutlich wusste sie gar nicht, was ich die vergangenen Jahre in meinem Beruf überhaupt getan hatte, als ich Transformationsprojekte geleitet, Migrationen begleitet und IT-Einführungen koordiniert hatte, aber stolz hatte sie ihren Freundinnen in der wöchentlichen Tennisrunde berichtet, dass ich in tollen Hotels wohnte, mit bestem Komfort reiste und Prokura hatte.

Eines hatte sie allerdings ganz schnell begriffen, noch bevor ich es selbst realisiert hatte: All das Wissen, wie man Projekte managt, wie man Meetings moderiert und Vorstände überzeugt, die gesamte Expertise über IT-Tools, BI-Systeme und Datenbanken, das alles würde mir nichts nutzen, wenn ich mich mit Fahrrad und Zelt in die Wildnis stürzte.

Meine Mutter war sehr still bei unserem Abschied gewesen. Sie hatte mich fest an sich gedrückt und gemeint, ich sei verrückt und solle ja gesund wiederkommen, sonst bekäme ich es mit ihr zu tun. Auch mein Vater, meine Schwester, ihr Mann und unsere Nachbarn hatten mich noch einmal wehmütig gedrückt. Nur Luise und Johannes, meine beiden Patenkinder, waren guten Mutes, winkten freudig und riefen mir fröhlich »Gute Reise!« hinterher. In meine Lebensplanung hatten Kinder bisher nicht hineingepasst. Aber als ich den zweijährigen Johannes bei meinem Abschied auf dem Arm gehalten hatte, wurde mir doch ganz schön mulmig. Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich plante, für ein Jahr unterwegs zu sein. Ein Jahr. Für den kleinen Johannes bedeutete das fast eine Verdoppelung seiner Lebenserfahrung. Für einen durchschnittlichen Menschen im beruflichen Hamsterrad bedeuten zwölf Monate hingegen meist nur ein weiteres Jahr des Älterwerdens. Vielleicht ein paar graue Haare, ein paar Pfunde mehr auf den Hüften oder einen neuen Titel auf der Visitenkarte. Wenn man sich nicht bewusst machte, was in einem Jahr alles passieren konnte, zog die Lebenszeit schnell an einem vorüber.

Aber nicht für mich. Nicht mehr. Ich beschloss, wie der kleine Johannes mit wachen Augen einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und die neuen Erfahrungen und Eindrücke in mich aufzusaugen. Ein ereignisreiches neues Jahr würde auf mich warten. Eines, das mich für immer verändern würde.

Und während mir die Gedanken des Abschieds noch durch den Kopf schossen und die Träne meine Wange hinunterlief, merkte ich kaum, wie mein Fahrrad leise den Hügel unseres beschaulichen Ortes hinunterrollte. Die dicke Nabe im Hinterrad schnurrte wie ein Kätzchen und die frisch geschmierten Laufräder drehten sich leise auf der schmalen Asphaltstraße.

Ich hatte mich bewusst gegen eine klassische Kettenschaltung entschieden und für eine Nabe aus deutscher Herstellung, die ausgesprochen langlebig und wartungsfrei sein sollte. Auch der Rahmen aus Aluminium und ein Großteil der Ausstattung stammten aus einer heimischen Fabrik. Mein pinkfarbenes Fahrrad hatte stabile 26-Zoll-Laufräder, breite Mountainbikereifen, eine solide Gepäckträgerkonstruktion und Halterungen für zwei extragroße Trinkflaschen. Ein guter Ledersattel und eine gefederte Sattelstütze waren der einzige Komfort, den ich mir gönnte. Stabilität war das Motto gewesen, als ich das Fahrrad zusammengestellt hatte. Schließlich würden in Afrika echte Herausforderungen auf mich zukommen, und da war Robustheit wichtiger als der Luxus einer Federgabel.

Sowohl am hinteren Gepäckträger als auch vorne an der Gabel hingen zwei dicke graue Taschen aus Lkw-Plane, alle vier bis zum Rand gefüllt: Eine Tasche mit Kleidung, die mich nicht nur in den kalten Regionen Europas warmhalten, sondern auch in Afrika vor der gleißenden Sonne schützen sollte. Eine Tasche mit Schlafsack und ultraleichter Isomatte, Kochgeschirr, Laptop und Kamera. In der rechten Fronttasche stapelten sich Fahrradwerkzeug, Kocher, Benzinflasche und Wasserfilter, in der linken Tasche nahm ein Erste-Hilfe-Set, prall gefüllt mit Antibiotika, Kohletabletten, Malarianotfallmittel und allerlei Mullbinden, Kompressen und Pflastern, den Großteil des Platzes ein. Ganz oben auf dem Gepäckträger lag eine Rolle mit dem neuen Zelt und meiner dünnen Regenjacke. Vor meiner Nase hatte ich eine Lenkertasche befestigt, in der Sonnenbrille, Handy, Geldbeutel und allerlei Schokoriegel Platz fanden. Rad und Ausrüstung hatten einen Wert von über fünftausend Euro, und trotzdem half das kaum, mein leichtes Unsicherheitsgefühl und die Melancholie des Abschieds zu verdrängen.

Ich bog auf die wenig befahrene Hauptstraße meines Heimatortes und rollte auf dem Teer in Richtung Stadt. Die mir bekannten Häuser der Nachbarn, die vertrauten grünen Vorgärten zogen an mir vorbei. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten meinen Rücken. Ich atmete tief ein und roch die feuchte Luft des frühen Morgens. Körper und Geist bildeten eine Einheit und mein schwer beladenes Fahrrad führte mich hinein in mein Abenteuer.

Erst am Kreisverkehr am Ende des Ortes stoppte ich das Fahrrad, stellte den Fuß auf den Boden und blinzelte in die noch tiefstehende Sonne. Dann wurde ich aus der Trance des Fahrradfahrens geweckt. Aber nicht aufgrund der Melancholie des Abschieds, sondern weil ich mich verfahren hatte – und das bereits auf den ersten beiden Kilometern meiner Tour.

Etappe 1

Tief im Osten

Fragen und Freiheit in der Heimat

Titisee-Neustadt, Deutschland, Juli 2012, 78 Kilometer

Die ersten Tage meiner Tour gestalten sich als Wechselbad der Gefühle: Eine Mischung aus Euphorie über meine neu gewonnene Freiheit und schmerzhafter Ungewissheit über die mir bevorstehenden Monate. Freiheit und Unsicherheit, zwei Gefühle, von denen ich wusste, dass sie mich auf meiner Reise öfter begleiten würden. Dass mich beide bereits in der mir vertrauten Heimat, im idyllischen Schwarzwald übermannen würden, hatte ich allerdings nicht erwartet.

Ich erwachte mit einem Kribbeln im Bauch. Als ich die Augen öffnete, blickte ich auf eine mit hellem Holz vertäfelte Decke und einen verstaubten Deckenstrahler aus Messing. Auf dem niedrigen Nachttisch neben dem Bett lag auf einem weißen Spitzendeckchen mein nagelneuer Tacho. Er zeigte 7.23 Uhr und 78 Tageskilometer an. Die Pension, in der ich aufgewacht war, lag am Fuße des Titisees. Wahnsinn! Ich hatte es gestern also wirklich geschafft und das schwere Rad 800 Meter hinauf in die Höhen des Schwarzwalds bewegt.

Ich schlug die weißen Bettlaken zur Seite und stand auf. Ein Stechen in meinem rechten Oberschenkel ließ mich zusammenzucken. Da waren sie also, die Folgen meiner ersten Kilometer, ein ordentlicher Muskelkater. Ich verdrängte den Schmerz und öffnete das Fenster. Dann betrachtete ich die Umrisse der dunklen Tannen und die breite Asphaltstraße unter mir. Nun begann es also, mein Abenteuer!

Aus Mangel an Vorbereitungszeit hatte ich die Strecke nur grob geplant. Mithilfe des Diercke Weltatlas aus meinen Schultagen und Google Maps hatte ich für das Warmradeln entlang der Donau etwa zwei Monate berechnet. Der Anfang schien schließlich überschaubar, und gerade im heimischen Deutschland würde das Radfahren ja nicht weiter schwer werden – so hatte ich zumindest gedacht.

Vom hübschen Titisee sollte es nach Donaueschingen an die Quelle der Donau gehen. Von dort über den Bodensee in das Herz des Allgäus. Danach weiter in das pulsierende München, um ein letztes deutsches Weißbier zu trinken, bevor in Salzburg meine erste Landesgrenze auf dem Plan stand. Ab Wien sollte es einfach werden: Zurück an die Donau und dann immer den breiten Fluss entlang, durch die Slowakei, nach Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und bis nach Rumänien ans Schwarze Meer.

Beim Gedanken an mein erstes großes Ziel im fernen Rumänien kehrte das Kribbeln zurück, und voller Vorfreude stieg ich in die viel zu enge Radlerhose. Dann stopfte ich die herumliegende Kleidung in die Packtaschen und ging ins Badezimmer. Ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder im Sattel meines Fahrrads zu sitzen. Jahrelang war ich in fremden Hotelbetten aufgewacht, doch nie zuvor war ich mit so guter Laune in den Tag gestartet wie an diesem Morgen in der kleinen Pension.

Ich nahm meine Packsäcke, hängte meine Lenkertasche um den Hals und ging beladen aus dem Zimmer. Kurz bevor ich die Türe hinter mir schloss, drehte ich mich noch einmal um und tat etwas, das ich in meinem Leben als gut verdienender Manager viel zu selten getan hatte: Ich stellte die Taschen ab, trat zurück an das Bett und legte ein Zwei-Euro-Stück auf das Kopfkissen. Dann lächelte ich zufrieden und verließ das enge Zimmer.

Im Speisesaal empfing mich die Hotelchefin höchstpersönlich.

»Guten Morgen, Herr Weber, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«

»Sehr gut sogar. Vielen Dank.«

»Na dann genießen Sie Ihr Frühstück! So viel wie Sie gestern auf Ihrem Rad transportiert haben, brauchen Sie viel Energie!« Die Frau ging zurück an die Rezeption und drehte sich noch einmal um. »Und eine sichere Fahrt wünsche ich, kommen Sie bald wieder!«

Ich lächelte sie an, wusste aber genau: Ganz so schnell würde ich mich nicht wieder blicken lassen. Vor mir lagen tausende von Kilometern und ein Jahr der Freiheit!

Nach einem ausgiebigen Frühstück hievte ich kurz nach neun mein gut beladenes und immer noch blitzblankes Fahrrad aus dem Keller der Pension und stellte es an den Gehsteig. Es war Montagmorgen, und ein wenig schadenfroh dachte ich an meine Kollegen. Hätte ich nicht die Idee mit dem Kaffee gehabt, würde ich nun zusammen mit ihnen in einem Bürogebäude sitzen, mich auf Meetings vorbereiten und durch meine E-Mails wühlen. Doch nun würden meine Arbeitstage anders aussehen!

Bevor ich in den Sattel stieg, stemmte ich die Hände in die Hüften, schloss die Augen und atmete tief ein. Ich roch die klare Morgenluft und die feuchte Wiese hinter der Straße. Nahm den würzigen Geruch des nahen Kiefernwalds wahr, der den dunklen Titisee stolz umrandete. Dann konzentrierte ich mich auf die Geräusche, blendete die vorbeifahrenden Autos aus und lauschte dem Vogelgezwitscher, das mich umgab. Der Morgen eines Globetrotters, so fühlte er sich also an.

Ich zog den Reißverschluss meiner neuen Gore-Tex-Jacke nach oben, schwang mich in den Sattel und startete erwartungsvoll in den Tag. Euphorisiert von meiner neuen Selbstständigkeit fuhr ich durch den hübschen Ortskern von Titisee-Neustadt, scheuchte eine Gruppe japanischer Touristen auf, die im warmen Morgenlicht den blauen See fotografierten, und verließ den Ort in Richtung Donaueschingen. Ich bog auf eine verlassene Landstraße und trat kräftig in die Pedale. Mein erster Tag im Abenteuer, so konnte es weitergehen.

Keine zehn Minuten später war meine Euphorie verflogen und mich durchbohrten erste Zweifel. Leichter Regen hatte eingesetzt und ich spürte die unangenehme Kälte, die vom nahen See herüberkroch. Ich begann zu frieren und konzentrierte mich auf die breiter werdende Straße.

Hatte ich wirklich das Richtige getan? Ich ließ Familie und Freunde hinter mir. Wenn ich zurückkäme, würde der kleine Johannes bestimmt schon sprechen können. Ich würde meine Freunde ein Jahr lang nicht sehen, ich verpasste Geburtstage, Familienfeiern, das gemeinsame Weihnachten.

Monoton trieb ich das schwer beladene Fahrrad voran. Die dunklen Tannen, die hügeligen Wiesen und Felder, die Schönheit des Schwarzwalds boten mir plötzlich keine Befriedigung mehr. Die Freude am Radfahren war mir vergangen, angestrengt trat ich in die Pedale, meinen Blick starr auf die Straße vor mir gerichtet. Auf einmal erfasste mich eine zusätzliche innere Kälte, und mir wurde bewusst, dass ich Karriere, Freunde, Familie, ja, womöglich mein gesamtes Leben für dieses Abenteuer aufs Spiel setzen würde.

Mit jedem Meter, den ich mich langsam die ersten Hügel des Schwarzwalds hinaufquälte, wuchsen meine Zweifel. In Melancholie versunken und mit einem ersten Stechen der Ermüdung in den Waden trat ich weiter. Wie ein grauer Schleier legte sich der sanfte Nieselregen über meine rote Regenjacke. Er setzte sich auf die Tasche an meinem Lenker, verschleierte die Anzeige auf dem Tacho und drückte auf meine Stimmung. Gepaart mit der Kühle des Vormittags bohrte sich der Zweifel wie ein Virus in mich hinein. Würde ich so jemals in Togo ankommen?

Meine nagenden Zweifel hielten den gesamten Vormittag an. Von wirren Gedanken geplagt merkte ich nicht, wie die Straße unter meinen Reifen breiter wurde. Ich folgte der Beschilderung nach Donaueschingen, und erst als ich das blaue Schild der Fernverkehrsstraße vor mir sah, begriff ich, dass ich mich nicht mehr auf der Landstraße befand, sondern auf der Auffahrt zu einer Bundesstraße. Doch da war es schon zu spät. Vor mir führte die Fahrbahn in einer Kurve auf die bedrohliche Schnellstraße. Abfahren war aufgrund der hohen Leitplanke an der Seite nicht mehr möglich. Hinter mir tauchte hupend ein grauer Passat auf und röhrte bedenklich nah an mir vorbei. Meine Finger klammerten sich um die braunen Ledergriffe und kalter Schweiß rann mir den Rücken hinunter. Scheiße, dachte ich, das war wirklich gefährlich! Jetzt bloß keine Panik, Weber!

Ich begann mich umzusehen, das nächste Auto kündigte sich an und raste an mir vorbei. Ich überlegte fieberhaft. Hier in der Auffahrt zu stoppen, war lebensgefährlich, also trat ich in die Pedale und versuchte, so schnell es ging auf die breitere Bundesstraße zu gelangen.

Einen Moment später radelte ich im zähen Berufsverkehr der B31 in Richtung Donaueschingen. Ich bog auf den winzigen Seitenstreifen und balancierte das sperrige Fahrrad möglichst nah an der stählernen Leitplanke. Pkw und Lastwagen donnerten in ungebremster Geschwindigkeit an mir vorbei. Immer wenn ein Auto besonders dicht an mir vorbeiraste, wurde mein Fahrrad von einem kräftigen Windzug gepackt, und es erforderte meine ganze Konzentration, das beladene Rad in der Spur zu halten. Eigentlich war ich ein disziplinierter, analytischer Mensch, aber die Situation überforderte mich und ich begann innerlich über mich selbst zu fluchen: Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein! Wieso hatte ich denn nicht aufgepasst, ich konnte mich doch nicht am ersten Tag im Abenteuer so verfahren!

Ich errang meine Fassung wieder, konzentrierte mich und scannte die Straße nach einem Ausweg. Erst nach zehn unendlich langen Minuten tauchte am Horizont ein gelbes Schild auf. Kurz hoffte ich auf die rettende Abfahrt, dann erkannte ich das gelbe Warnschild einer Baustelle.

Die breite Bundesstraße verdichtete sich auf eine einzige Spur. Mit wenigen Zentimetern Abstand schoben sich die Autos an mir vorbei, und ich konnte die bohrenden Blicke der Fahrer in meinem Nacken spüren. Trotz der langsam einsetzenden Mittagshitze bekam ich eine Gänsehaut.

Meter um Meter kämpfte ich mich durch die gefährliche Baustelle. Erst nach zwei Kilometern erkannte ich rechts von mir eine Tankstelle und einige graue Wohnhäuser. Ich steuerte mein Rad nach rechts und an zwei Baustellenwarnleuchten vorbei über den bröckelnden Asphalt. Nach wenigen Metern erreichte ich die noch im Bau befindliche Auffahrt der Tankstelle. Dann begriff ich, dass ich in Sicherheit war, und mir fiel ein Stein vom Herzen. Völlig außer Atem stoppte ich das Rad und lehnte es an die Mauer des Tankstellenshops. Dann ließ ich mich seufzend auf den Bordstein sinken.

So konnte das nicht weitergehen! Wie sollte ich jemals in Togo ankommen, wenn ich bereits hier in Deutschland scheiterte und mich keine hundert Kilometer nach meinem Start in so eine bedrohliche Situation manövrierte? Vielleicht war das ganze Vorhaben doch eine Nummer zu groß?

Zitternd vergrub ich mein Gesicht in den Händen und kämpfte mit den Tränen.

Drei Stücke Kuchen und dreitausend Kilometer

Donaueschingen, Deutschland, Juli 2012, 116 Kilometer

38 Kilometer zeigte der Tacho. 38 Tageskilometer hatte ich hinter mich gebracht, und doch war ich der Donauquelle kaum ein Stück näher gekommen. Durch mehrmaliges Verirren und den gefährlichen Abstecher auf die B31 hatte ich kaum Strecke gutmachen können.

Der Schrecken der Schnellstraße saß noch immer tief und zu meinem Pech befand sich die Tankstelle gerade im Umbau, eine kalte Cola oder ein Schokoriegel für bessere Laune blieben mir verwehrt.

Frustriert stieg ich zurück auf mein Rad und fuhr hinter der Tankstelle auf die Hauptstraße eines kleinen Industriegebiets. Nach wenigen Minuten endete der namenlose Ort und ein neuer begann. Niedrige Wohnhäuser, weitläufige Bauerngehöfte, Bushaltestellen und winzige Geschäfte zogen an mir vorbei. Eine halbe Stunde konnte ich mich noch motivieren, weiterzufahren, dann stoppte ich mein Fahrrad vor einer nostalgisch anmutenden Dorfbäckerei. Ein Stück Kuchen sollte mir den Schrecken der Bundesstraße aus den Knochen treiben.

Zu meinem Erstaunen funktionierte es merklich gut. Leicht unterzuckert und noch immer in Schockstarre schlang ich gerade das zweite Stück des saftigen Käsekuchens in mich hinein, als das Gefühl der Freiheit in mir erneut die Oberhand gewann: Die Berge des Schwarzwalds überwunden, die Bundesstraße überlebt, keine Ahnung vom Fahrradfahren, keine Karte, keine Erfahrung, und trotzdem war ich hier! Wer wollte mich jetzt noch aufhalten? Wer wollte mir nun noch etwas vorschreiben? Ein Jahr lang konnte ich tun und lassen, was ich wollte! Ich konnte so viel Kuchen essen, wie ich wollte, so weit fahren, wie ich wollte und so viele Pausen einlegen, wie mir der Sinn danach stand! Ich konnte nackt in die Donau springen und, wenn ich wollte, jeden Tag lauthals schiefe Lieder singen.