Ein ehrenwerter Tod - Roberta De Falco - E-Book

Ein ehrenwerter Tod E-Book

Roberta De Falco

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Während herbstliche Stürme über Triest hinwegfegen, wird eine junge Frau aus der Ukraine brutal zusammengeschlagen und vor den Toren eines Klosters liegen gelassen. Da Commissario Benussi am Herzen operiert wird, müssen seine beiden Mitarbeiter Elettra und Valerio beweisen, was in ihnen steckt. Doch viel können sie über Julija, so der Name des Opfers, nicht herausfinden, nur dass sie kürzlich ein Baby verloren hat – ob ungewollt oder nicht wissen sie nicht, denn Julija liegt im Koma. Kurz darauf wird eine vierundsechzigjährige Touristin im Park einer Villa erstochen. Hat derselbe Täter erneut zugeschlagen? Sämtliche Hinweise führen zu dem Bed & Breakfast, in dem die Amerikanerin übernachtet hat, beziehungsweise zu den anderen amerikanischen Gästen dort. Doch alle Verdächtigen haben für die Tatzeit ein hieb- und stichfestes Alibi ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

Und wenn es auf der Erde keine Stille gäbe,

der Schneefall hat sie sich schon erträumt.

Du bist allein. Kaum Gesten. Nichts zur Schau.

Vladimir Holan, Der Schnee

 

Übersetzung aus dem Italienischen von Sigrun Zühlke

 

ISBN 978-3-492-97814-9

© Roberta De Falco 2016

Titel der italienischen Originalausgabe: »Non è colpa mia«, Sperling & Kupfer, Mailand

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano

Covermotiv: © Sandro Orefice und © Jon Cartwright / Getty Images und renphoto / istockphoto

© Sandro Orefice

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Cover & Impressum

Die Personen

1 - Inspektorin Elettra Morin ‎…

2 - I can’t get ‎…

3 - Rosanna Guarnieri, die ‎…

4 - Die Identität der ‎…

5 - Ich komme nicht ‎…

6 - Als Don Renzo ‎…

7 - Violeta Armado kam ‎…

8 - Als Gaia Cortona erwachte, ‎…

9 - Endlich habe ich ‎…

10 - Elettra Morin kehrte …

11 - Admiral a. D. Luigi Croff ‎…

12 - Baby benimmt sich ‎…

13 - Unentschlossen starrte …

14 - Benussi hatte in ‎…

15 - Als Violeta Amado …

16 - Es fühlt sich ‎…

17 - Das Messer, mit dem ‎…

18 - Violeta Amado spürte ‎…

19 - Am Vormittag des ‎…

20 - Wo konnte ‎…

21 - Corazón Ruiz hatte ‎…

22 - Gibt es etwas Grausameres ‎…

23 - ‎»Sir Giacomo! ‎…

24 - Das Unwetter, ‎…

25 - Am Ufer des ‎…

26 - Es waren fünf Stunden ‎…

27 - Der Zorn des ‎…

Epilog

Die Personen

ETTORE BENUSSI, Kommissar der Kriminalpolizei Triest

ELETTRA MORIN, Inspektorin der Kriminalpolizei

VALERIO GARGIULO, Inspektor der Kriminalpolizei

ROSANNE GUARNIERI, Staatsanwältin

TULLIO CERRI, Gerichtsmediziner und Freund von Ettore Benussi

 

CARLA BENUSSI, Psychologin, Ettore Benussis Frau

LIVIA BENUSSI, Tochter von Ettore und Carla Benussi

PATER FLORENCE, Kapuzinermönch, Leiter eines Offenen Hauses in Triest

VIOLETA AMADO, brasilianische Mitarbeiterin von Pater Florence

 

DAVID HUTCHINSON, emeritierter Professor der Theoretischen Physik am ICTP Triest

GIACOMO HUTCHINSON, Sohn von David Hutchinson

GAIA CORTONA, Ehefrau von Giacomo Hutchinson

ASIA HUTCHINSON, Tochter von Giacomo Hutchinson und Gaia Cortona

RICHARD NOBLE, Student

HUGO NEWMAN, amerikanischer Journalist

JULIJA ROSTOWA, junge Frau aus der Ukraine

BORIS ROSTOW, Ehemann von Julija Rostowa

LUIGI UND ADELE CROFF, Arbeitgeber von Julija

ELISEO RUIZ, Filipino, Faktotum im Hause Hutchinson

CORAZÓN RUIZ, Ehefrau von Eliseo Ruiz, Hausmädchen bei den Hutchinsons

DOTTOR MARIUS, Obdachloser

DON RENZO, Priester von Gretta

1

Inspektorin Elettra Morin hatte kein Auge zugemacht. Und nicht nur wegen der Bora, die sich die ganze Nacht über erbittert gegen die alten Fenster ihrer Einzimmerwohnung in der Via Tigor geworfen hatte.

Schuld war ihr Kollege Valerio Gargiulo, der wie ein betrunkener Husar schnarchte. Sie hätte ihn geweckt, aber sie wusste, dass es nutzlos war. Es wäre ihm nur unendlich peinlich gewesen. Schließlich war sie es gewesen, die nach dem Essen darauf bestanden hatte, dass er über Nacht blieb. Sie hatten beide zu viel getrunken, und das Resultat war dieses großartige Konzert aus Zisch-, Grunz- und Röchellauten, das sie über Stunden wach gehalten hatte.

Sie beschloss, noch ein wenig zu lernen. Der interne Kommissarlehrgang stand bevor, und sie hoffte, es dieses Mal wirklich zu schaffen. Wenn sie bestand, würde sie wahrscheinlich Triest verlassen müssen, das war ihr klar. Den hitzköpfigen und empfindlichen Commissario Ettore Benussi, ihren Vorgesetzten, konnte sie bestimmt nicht verdrängen, auch wenn er seit Jahren schon von der sehnlichst erwarteten Pensionierung redete. Er würde es niemals ertragen beiseitezutreten.

Doch die Vorstellung war ihr gar nicht mal so unangenehm.

Triest wurde ihr allmählich zu eng.

Ihr ganzes Leben wurde ihr allmählich zu eng.

Die Beziehung zu Valerio, die in Wirklichkeit wesentlich besser lief, als sie es jemals erwartet hätte, war an einer schicksalsträchtigen Klippe angelangt: Ein »Qualitätssprung« musste her. Nach zwei Jahren Beziehung »ohne Verpflichtungen« begann Gargiulos sprichwörtliche neapolitanische Geduld fadenscheinig zu werden.

Was Laura betraf, ihre leibliche Mutter, die sie erst jüngst wiedergefunden hatte, so schwankten Elettras Gefühle zwischen Schuld und dem dringenden Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen. War es nicht Mutter Teresa gewesen, die gesagt hatte, dass mehr Tränen vergossen werden wegen erhörter Gebete als wegen unerhörter? In Wahrheit hatten Tränen eigentlich nichts damit zu tun, was sie gegenüber dieser Fremden empfand, die jahrelang ihre Fantasie beschäftigt hatte. Da waren Enttäuschung, Fremdheit, Unduldsamkeit. Alles Gefühle, die ihr keine Ehre machten, das wusste sie, aber sie wurde sie nicht los. Umso weniger, als besagte Erzeugerin im Gegensatz zu ihr ganz begeistert darüber schien, die verlorene Tochter wiedergefunden zu haben, und sie per WhatsApp mit Herzchen und Emojis überschüttete, die ihre Nerven aufs Äußerste strapazierten.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben.

»Ja, Pitacco? Wo? In Ordnung, ich bin gleich da. Ja, ich benachrichtige den Commissario.«

Valerio war bereits auf den Beinen, vom Läuten des Telefons geweckt, und zog sich an.

»Ein Mädchen wurde halb tot aufgefunden.«

»Wo?«

»Bei Pater Florence.«

»Gib mir zwei Minuten.«

Valerio ging ins Bad, während Elettra ihren Vorgesetzten anrief.

Es war der letzte Tag im Oktober, und die Kälte begann sich bemerkbar zu machen.

 

Seit einiger Zeit fühlte Kommissar Ettore Benussi sich nicht gut. Ohrensausen, Schwindel und Übelkeit machten ihm zu schaffen, sodass er noch reizbarer und unduldsamer wurde als ohnehin schon. Seiner Frau Carla hatte er nichts davon gesagt, weil er ihre Neigung, sich als Krankenschwester zu betätigen, fürchtete. Sie würde ihn sofort zum Blutbild schicken, und er ließ sich nicht gern piksen. Er wusste, dass es lächerlich war, aber wenn er nur eine Nadel sah, war er schon nah an einer Ohnmacht.

Der Reflex war einfach stärker als er.

An diesem Morgen hatte er jedoch einen gehörigen Schreck bekommen, als er im Bad das Gleichgewicht verloren und zu Boden gestürzt war, nachdem ihm ein stechender Schmerz ins rechte Bein gefahren war. Genau an der Stelle, an der er es sich vor zwei Jahren gebrochen hatte, als er einen jungen Mann zu retten versucht hatte, der sich umbringen wollte.

Nur mit großer Anstrengung, verstärkt noch durch die Leibesfülle, die ihm die einfachsten Bewegungen erschwerte, gelang es ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Schnaufend ließ er sich auf den Toilettensitz fallen.

Mit einem tiefen Seufzen betrachtete er sich im Spiegel. Nach einem halben Jahrhundert ehrenvollen Dienstes bei der Polizei – was war nur aus dem ehrgeizigen, allseits gefürchteten Commissario Ettore Benussi von der Kriminalpolizei Triest geworden?

Das, was er da vor sich sah.

Ein hässlicher Mann von sechzig Jahren, das Haar spärlich und angegraut, die Haut von schrecklichen dunklen Flecken durchzogen und, was noch deprimierender war, schon wieder in einem Meer aus kompaktem Fett ersoffen; den ewigen Kampf gegen die Waage hatte er unwiderruflich verloren. Ein gescheiterter Schriftsteller, der sich der Illusion hingegeben hatte, seinem Leben mit dem Schreiben – und erfolgreichen Veröffentlichen – eines Kriminalromans eine Wendung geben zu können, welcher jedoch vollkommen unbeachtet geblieben war. Nach Erscheinen war er sofort untergegangen in der Masse vergleichbarer Bücher, die den aufgeblähten Buchmarkt überschwemmten. Ein unzulänglicher Vater einer höchst komplizierten Tochter, die mit achtzehn Jahren nichts wollte als Triest verlassen, ansonsten aber nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte. Ein enttäuschender Ehemann für Carla, seine Frau, der es, nach einer traumatischen Entführung durch einen Verrückten, wie vielen anderen Frauen gelungen war, sich aus der Asche zu erheben und sich mit noch mehr Energie und Einsatz ins Leben zurückzustürzen. Die Tatsache, dass sie ihn immer noch liebte, verstärkte seine Schuldgefühle. Was hatte er ihr denn zu bieten außer seiner ständig schlechten Laune und einem unbegründeten Groll gegen alles und alle?

Ein typischer Italiener.

Das war er.

Stets großzügig gegenüber eigenen Schwächen und intolerant gegenüber denen anderer; polemisch, verächtlich gegenüber seinesgleichen, die prinzipiell schuld waren an allen Missständen des Landes; Missstände, für die er sich, wie alle anderen Italiener auch, nicht im Mindesten verantwortlich fühlte.

»Ettore!« Die durchdringende Stimme seiner Frau riss ihn aus seinen nutzlosen Grübeleien.

»Ich bin im Bad!«, wollte er antworten, aber es wurde nur ein ersticktes Röcheln.

Carla schaute besorgt herein. Sie sah, wie er zittrig im derangierten Schlafanzug auf der Toilette saß, blass und zerzaust.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Benussi räusperte sich und versuchte, den Schmerz im Bein zu überspielen.

»Nichts … wieso?«

»Du siehst schrecklich aus!«

»Es … ist nichts, mir … geht’s gut.«

»Sicher?«

»Natürlich!«

Carla verbarg ihre Skepsis nicht, zog es aber vor, das Spiel mitzuspielen. »Morin hat angerufen, sie sagt, bei Pater Florence habe es einen Überfall gegeben.«

»Ich … ich komme!«

Seine Stimme klang erstickt und schwach. Carla drehte sich um und sah ihn an, verunsichert.

»Alles in Ordnung?«

Mit einer verärgerten Handbewegung forderte der Kommissar seine Frau auf hinauszugehen. »Aber klar, alles bestens … Nun geh schon.«

Als sich die Tür endlich schloss, versuchte er aufzustehen, indem er sich an der Wand abstützte. Kaum hatte er es mühsam in die aufrechte Position geschafft, spürte er, wie es ihn erneut zu Boden zog.

Alarmiert durch die Geräusche, steckte Carla abermals den Kopf durch die Tür. »Was ist passiert?«

»Der Kopf …«

»Was ist mit deinem Kopf?«

»Er dreht sich mir …«

»Stütz dich auf mich, ich helfe dir.«

»Nein, es ist … nichts …«, sagte er kaum hörbar.

»Hast du schon wieder eine Diät angefangen?«

»Ja …«, log er.

»Wahrscheinlich bist du unterzuckert. Komm, leg dich noch mal hin. Ich hole dir was zu essen.«

Während er sich fühlte wie Pinocchio gegenüber Geppetto, verließ der große Commissario Benussi das Badezimmer und zog es vor, sein Unwohlsein lieber darauf zurückzuführen, dass er zu wenig gegessen habe, als sich etwas wesentlich Beunruhigenderem zu stellen, dem er sich in keinerlei Hinsicht gewachsen fühlte.

 

Der Himmel über Triest war mit dicken Wolken bezogen, die alles andere als zuversichtlich stimmten. Die dunkle Bora, die die ganze Nacht gewütet hatte, zeigte keinerlei Neigung nachzulassen. Als reichte das noch nicht, hatte es auch noch angefangen, in Strömen zu regnen.

Valerio Gargiulo fühlte sich unwohl. Er fuhr nicht gern bei solchem Wetter. Außerdem ärgerte er sich über den vergangenen Abend. Er hätte nicht nachgeben dürfen, er hätte zum Schlafen nach Hause gehen sollen. Er ertrug seine Nachgiebigkeit gegenüber Elettra nicht mehr. Jeden Morgen beschloss er, dass es ihm reichte, dass er genug hatte von diesem Hin und Her, und jeden Abend, kaum dass sie vorschlug, gemeinsam zu essen, gab er nach, ohne es wirklich zu wollen. Später bereute er es.

Das war keine Liebe.

Das war eine Krankheit.

Er musste unter allen Umständen hier weg, eine Versetzung beantragen, diese unterkühlte und unzugängliche Stadt verlassen, die ihn vor vier Jahren verführt hatte, doch ohne ihm jemals das Gefühl vermitteln zu können, angenommen worden zu sein, genau wie seine Kollegin Elettra Morin. Er sehnte sich nach Wärme, nach Sonne, danach, sich an ein vertrautes Meer zu setzen, wo es vor Leben wimmelte, nach vertrauten Stimmen, danach, eine schöne warme Sfogliatella zu bestellen, ein paar Worte mit Freunden zu wechseln, vielleicht im Hintergrund irgendein geliebtes neapolitanisches Lied zu hören und sich von der schlichten Freude am Leben tragen zu lassen, die er als Student empfunden hatte. Alles, was ihn anfangs hierhergezogen hatte, war sowieso abgestorben angesichts der Ablehnung, die ihm entgegenschlug, und des Unwohlseins, das sein Herz umklammerte.

Nachdem er nur knapp einem vom Wind umgestürzten Motorroller hatte ausweichen können, fand er sich plötzlich einem Müllcontainer gegenüber, den der Wind mitten auf die Straße geschoben hatte. Das waren die Überraschungen der Bora: überall verstreute Hindernisse, die den Autofahrern das Leben schwer machten. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, riss er das Lenkrad herum und geriet dabei auf die Gegenfahrbahn.

»Pass auf!«, rief Elettra, die einen entgegenkommenden Bus sah. Erschreckt riss Valerio das Lenkrad gleich noch mal herum, mit minimalem Abstand fuhren sie aneinander vorbei.

»Madonne, chi tè muorto!«, fluchte er, während das Adrenalin durch seine Adern rauschte.

Elettra konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie liebte es, wenn er auf Neapolitanisch fluchte. Es machte ihr gute Laune.

»Und du lachst auch noch. Fast wären wir tot gewesen!«, protestierte Valerio, bleich wie ein Leintuch. Elettra nahm seine Verärgerung wahr, zog es jedoch vor, sie zu ignorieren. Aber ihr war klar, dass sie das nicht mehr lange durchhalten würde.

Früher oder später würde sie eine Entscheidung treffen müssen.

 

Das Offene Haus, das von Pater Florence geleitet wurde, lag in San Vito, unweit von Elettras Wohnung. Seit Jahren schon arbeitete der brasilianische Ordensbruder – der sich allerdings nach einem Vierteljahrhundert, das er in der julianischen Stadt verbracht hatte, als triestin patocco, als echter Triestiner, betrachtete – daran, Nahrung und Obdach für all die Verzweifelten zu bieten, die ziellos in Triest umherstreiften.

Seit Beginn der Krise waren zu den Fremden auch einige Italiener dazugekommen, überwiegend Rentner an der Schwelle zur Armut, getrennt lebende Väter, Arbeitslose und ältere, nicht vermittelbare Arbeitslose, die dank eines neuen Gesetzes noch keine Rente beziehen konnten. Ein Meisterwerk der sozialen Ungerechtigkeit, das ganze Familien in Armut gestürzt und ihre mageren Ersparnisse aufgefressen hatte.

Elettra Morin bewunderte Pater Florence für die Energie und die positive Einstellung, mit der er seine Arbeit versah. Seine Art, den Glauben zu leben, bestand aus Handeln, Initiative und Urteilskraft. Er verstand es, sowohl autoritär und ernst als auch einladend und väterlich zu sein, je nachdem, was der Einzelfall erforderte. Er verurteilte nie, sondern hörte lieber zu. »Der größte Notstand heutzutage ist die Zerstreutheit«, hatte er einmal gesagt. »Niemand findet mehr Zeit, dem anderen seine Aufmerksamkeit zu schenken.«

 

Als die Inspektoren Morin und Gargiulo am Tatort eintrafen, der zwischen den Abfallcontainern hinter der Einrichtung lag, fanden sie Pater Florence über das Opfer gebeugt. Neben ihm stand eine etwa vierzigjährige, gut aussehende Frau mit dicht gelocktem Haar, die einen Schirm über beide hielt, um sie vor dem prasselnden Regen zu schützen.

Elettra stieg aus und rannte zu ihnen, während Valerio den Wagen parkte.

»Guten Morgen, Pater. Violeta …«

Die Frau lächelte traurig. Sie kannten sich schon lange. Violeta Amado war eine der vertrautesten Mitarbeiterinnen von Pater Florence. Wie er stammte sie aus Brasilien und war vor drei Jahren nach Triest gekommen, um die Geburtsstadt der Frau kennenzulernen, die sie in Rio de Janeiro adoptiert und aus der Favela gerettet hatte, in der sie geboren worden war. Am Ende war sie geblieben.

»Sie ist zusammengeschlagen worden«, sagte der Pater mit gequälter Miene. »Ich fürchte, es ist etwas gebrochen, sie bekommt nur schwer Luft … Ich habe sie nicht bewegt.«

»Sehr gut, der Rettungswagen ist auf dem Weg.«

Das Mädchen lag zusammengekrümmt auf der Seite, die Arme schützend über das verquollene, blutverkrustete Gesicht gelegt, die Beine voller Blutergüsse und Wunden. Zierlich, klein, blond, sah sie nicht älter als fünfundzwanzig aus. Elettra fiel ein kleiner Leberfleck links über der Lippe auf.

»Wisst ihr, wer sie ist?«

»Nur, dass sie Julija heißt. Sie kommt aus der Ukraine. Gestern kam sie zu uns und bat um Hilfe«, erklärte Violeta.

»Welche Art von Hilfe?«

»Sie sagte, sie sei in Gefahr und brauche einen sicheren Platz für die Nacht. Ich habe sie bei mir im Zimmer schlafen lassen.«

»Und sie hat nicht gesagt, wer sie bedroht?«

»Nein, sie war vollkommen verängstigt. Ich habe versucht, sie zum Reden zu bringen, aber sie wollte nichts sagen. Sie hat nur geweint. Ich hatte gehofft, dass sie mir heute Morgen etwas erzählt, aber als ich aufgewacht bin, war sie nicht mehr da.«

»Haben Sie sie nicht weggehen gehört?«

»Leider nein, ich schlafe nicht gut und hatte eine Schlaftablette genommen.«

Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie herunter.

Der Rettungswagen traf ein, und die Sanitäter sprangen heraus, während Valerio den Tatort in Augenschein nahm und versuchte, mit dem Fotoapparat irgendwelche nützlichen Hinweise für die Ermittlungen festzuhalten, bevor der Wolkenbruch alle Spuren wegspülte.

Während das Mädchen eine orthopädische Halskrause angelegt bekam und auf die Trage gehoben wurde, suchte Elettra, schon völlig durchnässt, Schutz unter Violetas Regenschirm.

»Wer hat sie denn gefunden?«

»Rina, die Köchin. Sie hat sie hier liegen sehen, als sie zur Arbeit kam, halb versteckt zwischen dem Abfallcontainer für Plastik und dem für Glas. Anfangs hat sie sie für einen Müllsack gehalten.«

»Ich fahre mit«, sagte Pater Florence und zeigte dabei auf den Rettungswagen. »Ich möchte sie nicht allein lassen.«

Elettra schaute sich suchend um. Hoffentlich kam Benussi bald. Es war schon mehr als eine halbe Stunde vergangen, seit sie ihn angerufen hatte. Es sah ihm gar nicht ähnlich, sich so viel Zeit zu lassen.

»Der Commissario wurde aufgehalten«, erklärte ihr Valerio, als hätte er ihre Gedanken gelesen, während er mit dem Handy in der Hand zu ihr trat. »Er hat mich gerade angerufen. Ich habe die Staatsanwaltschaft informiert.«

»Gut. Also, gehen wir mal rein und hören uns um, ob vielleicht jemand was mitbekommen hat …«

»Ich würde lieber ins Krankenhaus mitfahren«, schlug Valerio vor. »Falls das Mädchen wieder zu Bewusstsein kommt.«

Elettra hätte ihn gern aufgehalten, aber sie ertappte sich dabei, wie sie nickte. Sein Vorgehen war korrekt. Sie sah ihm nach, als er durch den Regen davonging, und fühlte sich unwillkürlich schuldig an etwas, das sie nicht akzeptieren wollte. Zum Glück gab es einen Fall aufzuklären, und das Privatleben, mit all seinen Forderungen und Widrigkeiten, konnte zurückgestellt werden.

2

 

Boston, 29. August 1965

 

I can’t get no satisfaction …

Klasse, diese Rolling Stones! Ganz was anderes als die Schnulzen von Dean Martin oder Frank Sinatra, die aus dem Plattenspieler meiner Mutter plärren. Das ist richtige Musik, das ist pures Adrenalin, das direkt in die Adern geht. Mick Jagger ist eine Legende! Ich liebe ihn! Ich kann es kaum erwarten, diese Stadt voller Snobs hinter mir zu lassen und zu Paul und Rosy nach San Francisco zu gehen. Da passieren die abenteuerlichsten Sachen, und ich bin hier gefangen in einer Welt voller Mumien, die mich gruseln lässt.

Heute bin ich endlich, endlich achtzehn geworden. Erwachsen! Meine Mutter hat für heute Abend eine Cocktailparty zu meinen Ehren im Jachtklub meines Vaters organisiert und all die Sprösslinge der guten Gesellschaft der Stadt eingeladen, Leute, die ich noch nie leiden konnte. Ich habe versucht, ihr zu sagen, dass mich das nicht interessiert, dass ich keine Feier will, und schon gar nicht mit diesen Weichlingen, mit denen sie mich so gern sehen würde. Aber es war nichts zu machen.

»Du musst allmählich anfangen, dich mit jungen Leuten aus deinen Kreisen anzufreunden«, wiederholt sie seit Monaten gebetsmühlenartig. Was für ein Unsinn, diese verdammten Kreise! Ich hasse es, wenn sie so redet. Sieht sie denn gar nicht, wie sich gerade alles ändert? Wir ertragen diese ganzen absurden Regeln nicht mehr, diese Konventionen, diese Heuchelei. Wir ertragen keine leeren Autoritäten mehr. Tausende von jungen Leuten lassen sich seit gut fünf Jahren in Vietnam in einem sinnlosen Krieg ermorden. Gestern ist Bob gestorben, der große Bruder von Susan, einer meiner Schulkameradinnen. Er wollte nicht in den Krieg, er war einer von denen, die öffentlich den Einberufungsbescheid verbrannt haben, aber sie haben ihn trotzdem gezwungen. Du musst deine Pflicht tun! Aber was für eine Pflicht ist denn das? Die, unbewaffnete Zivilisten zu erschießen? Mein Gott, wird denn dieses nutzlose Massaker an Unschuldigen nie ein Ende finden? Für meine Familie ist es natürlich ein gerechter Krieg. Sie hassen die Kommunisten und haben Angst, dass, wenn die Vereinigten Staaten Südvietnam nicht unterstützen, die Roten Khmer bei uns einmarschieren. Was für ein Blödsinn. Ich fange gar nicht mehr davon an, es nützt ja sowieso nichts. Ich muss nur weg von hier, so bald wie möglich weg.

Mein Vater hat sich nicht die Mühe gemacht, extra aus Miami zu kommen, aber dagegen hab ich nicht unbedingt was. Im Gegenteil. Er hat mir ein Übelkeit erregendes Telegramm geschickt, mir ein Leben voller Erfolg und Glück gewünscht. Was für ein Arschloch. Natürlich vor allem Erfolg und erst in zweiter Linie Glück. Aber was nützt einem der Erfolg, wenn man dann so ein Scheißleben hat wie sie? Ich will glücklich sein, der Erfolg geht mir am Arsch vorbei. Aber wie sollte er mich auch verstehen? Er weiß ja kaum, wer ich bin, ich bin ihm überhaupt nicht wichtig. Familie ist für ihn nur dekoratives Beiwerk. Er ist so wenig wie möglich zu Hause, gerade lang genug, um den Schein zu wahren. Er erträgt meine Mutter nämlich auch nicht, aber weil sie zu einer der einflussreichsten Familien in Boston gehört und ihm für seine Arbeit als Schiffsmakler nützlich ist, tut er so, als wäre alles in schönster Ordnung. Abgesehen davon wollen sie ja beide das Gleiche. Von Party zu Party treiben, in einer mondänen Welt Small Talk machen, möglichst mit einem Glas Champagner in der Hand.

Eine Tochter wie mich zu haben – die einzige Tochter auch noch – muss für beide eine Enttäuschung gewesen sein, ich kenne sie doch. Sie haben von einer affektierten Prinzessin geträumt, mit der sie auf ihren Partys prahlen können, und stattdessen haben sie eine störrische Hippiebraut bekommen, die zu allem Überfluss auch noch ein bisschen kurzsichtig ist. Meine Mutter hätte es am liebsten, wenn ich Kontaktlinsen tragen würde – um deine schönen grünen Augen besser zur Geltung zu bringen, wie sie immer sagt –, aber ich liebe meine Schildpattbrille, hinter der ich mich geschützt und unsichtbar fühle.

Zum Glück ist es mir gelungen, Mary, meine beste Freundin, zu überreden, zu der Cocktailparty zu kommen. Meine Mutter wollte das nicht, sie gehört nämlich nicht zu »unseren Kreisen«, hat sie mir gesagt. Die anderen Gäste würden sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlen. Aber ich habe darauf bestanden, es ist schließlich mein Geburtstag, und wenn es ihr wirklich so viel bedeutet, dass ich bei diesem Affentheater mitspiele, dann muss Mary unbedingt dabei sein, auch wenn sie dick ist und schwarz. Mary ist der aufgeweckteste Mensch, den ich kenne. Und sie war es auch, die mir gesagt hat, dass ich für mein Leben kämpfen muss. »Du musst diesen goldenen Käfig verlassen, bevor er dich verschlingt. Du verdienst was Besseres.«

Heilige Worte.

3

Rosanna Guarnieri, die für den Fall des überfallenen Mädchens zuständige Staatsanwältin, hatte Benussis Vorschlag zugestimmt, sich zunächst bei ihm zu Hause, in der Salita Promontorio, zu einer Vorbesprechung mit den beiden Inspektoren Morin und Gargiulo zu treffen.

Das leichte Unwohlsein, das den Kommissar an jenem Morgen daran gehindert hatte, das Haus zu verlassen, sollte ihn unter keinen Umständen von diesem neuen Fall ausschließen. Die Staatsanwältin hatte nichts dagegen gehabt, auch weil kurz zuvor ein vertraulicher Anruf von Carla Benussi ihr die Lage erklärt hatte. Es war besser, dass ihr Mann sich ein paar Tage schonte.

Guarnieri und Benussi kannten sich schon seit Jahren, und auch wenn sie sich trotz der langen Zusammenarbeit niemals veranlasst sahen, sich das Du anzubieten, vertrauten sie einander. Seit einiger Zeit hatten sie sogar herausgefunden, dass sie sich sympathisch fanden, was sie niemals vermutet hätten. Misstrauen ist das primäre Gefühl des Menschen, und nicht nur seines. Man setze ein neues Huhn in einen Hühnerhof und beobachte, wie die alten reagieren: allgemeines Lärmen, Gackern und Flügelschlagen, um der Neuen klarzumachen, dass sie mitnichten erwünscht ist.

Die Staatsanwältin und der Kommissar waren weiß Gott nicht mit Hühnern zu vergleichen, und doch hatten sie einander lange Jahre misstraut, sich gegenseitig Nachlässigkeiten und Fehler vorgeworfen, die in Wirklichkeit eher ihrer persönlichen Enttäuschung über die Arbeit entsprangen, die sie sich ausgesucht hatten und die sich mit jedem Tag fragwürdiger und frustrierender darstellte, für beide.

Rosanna Guarnieri hatte kein glückliches Leben gehabt, allerdings mehr aus eigener Entscheidung denn aufgrund von Schicksalsschlägen. Sie hatte sich jung mit einem Studienkollegen verheiratet, von dem sie sich nach zehn Jahren trennte, ohne Kinder bekommen zu haben. Seitdem war ihr Leben der Arbeit gewidmet, der sie den größten Teil ihrer Tage und häufig auch der Abende zugestand, um nicht in ein viel zu großes, dunkles Haus zurückkehren zu müssen, in dem noch die Schritte und Streitereien ihrer bereits seit Jahrzehnten verstorbenen Eltern widerhallten. Nun, mit über sechzig, hatte sie gelernt, nichts vom Leben zu erwarten und ihre Aufgaben sorgfältig zu erfüllen, ohne sich allzu sehr über die spärlichen Resultate zu grämen.

»Also, was haben wir bisher über dieses arme Mädchen herausgefunden?«

Es waren bereits fünf Stunden vergangen, seit das Mädchen entdeckt worden war, und es galt, nicht noch mehr kostbare Zeit zu verlieren.

»Wir wissen nur, dass sie aus der Ukraine stammt und Pater Florence um Hilfe gebeten hat«, antwortete Morin mit einem Blick auf ihre Notizen. »Es sind weder bei ihr noch in ihrer Tasche Papiere gefunden worden. Nichts, was dazu beitragen könnte, sie zu identifizieren. Sie sagte, sie fühle sich in Gefahr und suche einen sicheren Platz für die Nacht. Vielleicht hat sie jemand bedroht. Aber sie hat nicht gesagt, wer das war …«

»Und niemand hat etwas gehört?«, fragte Benussi. »Kein anderer Gast?«

»Leider nein. Die Bora war heute früh sehr heftig, sie hat alle Geräusche überdeckt.«

Der Kommissar saß hinter seinem Schreibtisch. Er hatte wieder ein bisschen Farbe bekommen und musterte neugierig seine beiden Untergebenen, die es heute Vormittag offensichtlich vermieden, einander anzusehen, und sich so steif verhielten wie ausgestopfte Vögel. Diese beiden haben etwas zu verbergen, dachte er, bevor er sich wieder an Morin wandte.

»Nichts aus den Abfallcontainern?«

»Nichts. Wir haben sie im ganzen Viertel durchsucht. Die Kollegen weiten den Radius gerade aus.«

»Wir müssen herausfinden, warum sie die Unterkunft so früh verlassen hat. Wenn sie sich in Gefahr fühlte, hätte sie doch eigentlich bleiben müssen.«

»Vielleicht ist ihr derjenige, der sie bedroht hat, gefolgt. Oder er hat sie mit irgendwelchen Nachrichten auf dem Handy verschreckt«, mischte sich Guarnieri ein.

»Ich habe die Busfahrer befragt, die auf der Strecke fahren«, antwortete Morin. »Der Fahrer der Linie 30 hat gesagt, dass er gegen halb sieben morgens beinahe einen Mann auf einem schwarzen Motorrad überfahren hätte, der ihm wie ein Irrer gegen die Einbahnstraße entgegenkam.«

»Hat er erkennen können, um was für ein Motorrad es sich handelte?«

»Nur, dass es schwarz war, ohne Aufschrift. Er war nicht schnell genug, um sich das Nummernschild zu merken.«

»Und der Fahrer?«

»Der trug wohl eine schwarze Lederjacke. Ich habe den Busfahrer für heute Nachmittag in die Zentrale einbestellt, damit er seine Aussage unterschreibt, vielleicht bekommen wir noch etwas mehr aus ihm heraus.«

»Und das Mädchen?«

»Hat er nicht gesehen.«

Der Kommissar schloss die Augen, um einen leichten Schwindel zu verbergen. Er fühlte sich ganz und gar nicht gut, wollte sich dies aber auf keinen Fall anmerken lassen.

»Ispettore Gargiulo hat aber noch etwas anderes herausgefunden, im Krankenhaus«, sagte Morin. »Das könnte vielleicht wichtig sein.«

Benussi öffnete die Augen und starrte den neapolitanischen Polizisten gereizt an. »Ach ja? Und wie lange wollten Sie noch warten, um mir das zu sagen, Napoli? Bis Gras über die Sache gewachsen ist?«

Gargiulo lief bis unter den blonden Haarschopf rot an und räusperte sich. »Ich wollte es Ihnen gerade sagen … Es deutet viel darauf hin, dass das Mädchen vor Kurzem ein Kind geboren hat, vor weniger als einem Monat. Wir gleichen das gerade mit allen Krankenhäusern und Kliniken der Stadt ab, aber bis jetzt scheint keine Frau aus der Ukraine ein Kind zur Welt gebracht zu haben.«

Rosanna Guarnieri schöpfte neuen Mut. Das könnte eine interessante Spur sein. Vorausgesetzt, das Mädchen überlebte.

»Was sagen denn die Ärzte? Wird sie es schaffen?«

Gargiulo zuckte die Achseln. »Sie äußern sich noch zurückhaltend. Sie hat sehr schwere innere Verletzungen, sie mussten Uterus und Eierstöcke entfernen.«

Schweigen senkte sich über das Zimmer. Das würde ein schwieriger Fall werden. Aber wann war ein Fall schon einmal einfach gewesen?

 

Rosanna Guarnieri kehrte zu Fuß in ihr Büro zurück. Sie fühlte sich niedergeschlagen. Der Regen hatte aufgehört und die Böen der Bora mitgenommen, die Stadt glitzerte unter der bleichen Oktobersonne.

Der Anblick der blutüberströmten jungen Frau, zusammengekrümmt, als wollte sie einen Fötus schützen, den es nicht mehr gab, hatte sie zutiefst erschüttert. Sie ertrug diese grundlose Gewalt nicht mehr, die überall ausbrach. Es bedrückte sie, dass die niedersten Instinkte anscheinend an die Stelle von Worten und rationalen Gründen traten, das Herz zählte nicht mehr. Homo homini lupus. Das war schon immer so, sie wusste es. Aber seit einigen Jahren hatte sich das ausgebreitet wie ein Ölfleck und erfasste auch immer mehr und immer unkontrollierbarer Menschen, die eigentlich ganz normal waren. Ja, war es nicht sogar so, dass die Normalität der Menschenschinder jedes Mal, nach jeder Bluttat, extra betont wurde, einem Mantra gleich? Menschen, die die Täter kannten, vielleicht Nachbarn, sprachen es in die Mikrofone: »Er war ein ganz normaler Mensch, niemand hätte sich das je vorstellen können.«

Sie hoffte inständig, dass sie ihn erwischen würde, diesen Bastard, der das Mädchen so zugerichtet hatte. Aber sie wusste auch, dass das nur wenig nützen würde. Abgesehen davon, ob er überhaupt bestraft würde – eine Verunsicherung, gegen die sie schon seit Jahren ankämpfte –, nichts und niemand würde dieser jungen Frau das Vertrauen in das Leben wieder zurückgeben können. Sie dachte an das gerade geborene Kind, das irgendwo auf sie wartete. Und spürte, wie sich ihr das Herz zusammenkrampfte.

Sie fröstelte unter ihrem Regenmantel.

Es war schon fast zwei. Sie merkte, dass sie Hunger hatte.

 

»Ich will nach New York gehen!«

Die Information wurde am Mittagstisch erteilt, ohne jegliche Vorankündigung.