Ein Fall von Borderline - Frida Kopp - E-Book

Ein Fall von Borderline E-Book

Frida Kopp

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Beschreibung

Die Künstlerin Stella hat bereits mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich, die zu unterschiedlichen Diagnosen führe, wobei sie sich mit der letzten, Borderline-Syndrom, völlig identifizieren kann, wegen ihrer Assoziation mit Grenzüberschreitungen und dem Ausbrechen aus engen Grenzen. Ihr Bericht von psychiatrischen und therapeutischen Erfahrungen ist manchmal lapidar, manchmal rebellisch, dann wieder grüblerisch und gelegentlich sogar weise. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte und als noch nicht sehr erfolgreiche Malerin sieht sich Stella als gesellschaftliche Außenseiterin, kann dieser prekären Situation aber durchaus Positives abgewinnen, frei nach dem Motto: Nur, wer aus sämtlichen Rahmen gefallen ist, kann das ganze Bild sehen, anders als diejenigen, die im Bild gefangen sind. Allmählich verlagert sich Stellas Aufmerksamkeit auf die Beziehung zu Aliena, ihrer unsichtbare Spielgefährtin aus Kindertagen. Inzwischen hat die Malerin zu dieser Freundin eine zwiespältige Einstellung. Einerseits verdankt sie ihr kreative Inspirationen, andererseits macht es sie neidisch, wenn ihre Komplementärfrau in Träumen ihre mühelose Kreativität vorführt, während Stella sich mit den Problemen der materiellen Welt herumschlägt, ob es dabei nun um ihre finanzielle Situation geht oder um künstlerische Techniken. Angesichts dieses scheinbaren Wetteiferns schlägt Stellas Neid schließlich um in heftigen Zorn, der in den Plan mündet, die einstige Spielgefährtin in ein Bild zu ver-bannen. Doch als dieses Bann-Bild fertig ist, fordert sie, verärgert über einen Patzer beim Malen, ihr Alter ego auf: "Komm doch und tausch mit mir!" Im Epilog wird von den Folgen dieses vermeintlichen Tausches erzählt, der für eine Verschmelzung steht mit dem, was in spiritueller Literatur oft als Höheres selbst bezeichnet wird. (Allerdings geht Stella in einer esoterischen Episode nicht besonders schmeichelhaft mit diesem Thema um.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Ähnliche


Ein Fall von Borderline

Roman

Imprint:

Ein Fall von Borderline

Frida Kopp

Copyright: © 2012 Frida Kopp

publishes by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Cover: Frida Kopp

ISBN 978-3-8442-2649-2

Außerdem von der Autorin bei Epubli erschienen:

Entweder Zeit oder Geld—wie es niemandem gefällt

    Inhalt

Jonglieren am Abgrund

Gut, seine Teufel zu kennen

Traumbilder

Grenzüberschreitungen

Besuch mit Knochen

Alte Knochen

Ver-Kleidung

Konturen verwischen

Gestaltwandel

Spielgefährtin

Lyrisches Zwischenspiel

Markttreiben

Karma-Perspektive

Immer wieder aufgewärmt

Den Anker kappen und lossegeln

Mal-Tour mit Eisvogel

Balance-Akt

Abdriften in tiefe Wasser

Schritt ins Ungewisse

Farbspielereien

Alternativen

Auf in den blauen Dunst

Wasserfall und Spiegel

Ultimative Kunst

In Bild und Bann

Freundschaft, aufgefrischt

Ernstes Spiel mit Möglichkeiten

Ausweichmanöver

Frei schwebende Annäherung

Es wird ernst

Über die Kante springen

Epilog

Jonglieren am Abgrund

Das Bild ist überwiegend in Grautönen gehalten, in Nebelfarben: Eine Frau in einer zerklüfteten Felsenlandschaft, auf einem Fuß an einem Abgrund balancierend — den anderen hat sie nach vorn gestreckt, über die Leere, durch die neblige Schwaden wabern. Ebenso grau wabert darüber der Himmel, abgesehen von einem Lichtstreif im Westen. Doch im Osten hat sich die Andeutung einer gelbgrünen Gewittertönung ins Grau geschoben. Was dem Bild dennoch Farbenfreude verleiht, sind die bunten Bälle, mit denen die Frau jongliert. ist

„Ganz schön mutig.“

„Das auch, ja.“

„Du hast dabei wohl an den Mut der Verzweiflung gedacht?“

„Nein, das nicht.“

„Also, irgendwie passt es ganz gut auf die prekäre Lage, in der sich die Finanzwelt zur Zeit befindet.“

Bei meinen Finanzen ist das eher der Normalzustand. Dass ich seine Deutung trotzdem nicht im Sinn hatte, entgeht ihm, weil er wie hypnotisiert auf das Bild starrt. Doch gleich darauf sieht er mich durchdringend an: „Und woran hast du dabei gedacht?“

„An das, was Künstler eben tun: Sie sind immer unterwegs ins Ungewisse, betreten mit jedem Schritt Neuland.“

„Ach so. Aber dann lässt es sich ja doch auf die gegenwärtige Krise beziehen.“

„Klar. Wenn du es so sehen möchtest...“

„Dann sind wir uns ja einig. Ich nehme jedenfalls das andere. Wie abgesprochen.“

Das Bild seiner Wahl gehört zu meiner Phantastik-Serie: Mit der zusammengerollten Zeitung in der Hand und der tiefroten Rosenblüte am Revers seiner Jacke wirkt der Mann ganz so, als hätte er eine Verabredung mit einer unbekannten Frau. Sollte er auf diejenige warten, die im Hintergrund zu sehen ist? An den Stamm einer Eiche geschmiegt, verschwindet sie fast im Schatten der mächtigen Krone. Nicht einmal die Farbe ihres Umhangs lässt sich genau ausmachen: Ist er schwarz? Dunkelblau? Oder dunkelgrau? An dem Riegel, der ihn zusammenhält, steckt ebenfalls eine Rose, blutig rot. Achtet man auf die Details, stellt sich die Frage: Ist das überhaupt eine Frau? Eine Menschenfrau? Denn die Hand, die unter dem Umhang hervorlugt, scheint in einem Prozess der Verwandlung begriffen: Die langen Fingernägel wirken eher wie Krallen, und bis über die Knöchel hat sich Pelz ausgebreitet, schwarz, getupft mit grauen Schatten. Die Kapuze, unter der dunkle Locken hervorringeln, ist ein wenig verrutscht und gibt den Blick frei auf ein hoch angesetztes rundliches Ohr, das den gleichen Bewuchs aufweist wie die Hand. Das Auffälligste sind ihre Augen, die grün wie Smaragde aus dem blassen Gesicht leuchten.

Als ich mich in Bewegung setze, macht der Käufer eine abwehrende Handbewegung und stellt sich vor das Bild. Seine Mundwinkel deuten ein verhaltenes Lächeln an, während er den Blick zwischen mir und meinem Machwerk hin und her wandern lässt. „Da verbirgt sich bei dir offenbar eine ziemlich wilde Seite.“

„Bei mir?“

„Ja. Ich finde, die Dame hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dir. Also, ich würde diese Seite von dir gern mal kennenlernen.“

„Erstens bin ich keine Dame, und zweitens verberge ich meine wilde Seite nicht. Ganz im Gegenteil: Beim Malen kann ich die so richtig austoben.“

Seine eindringliche Musterung führt wahrscheinlich zu dem Resultat, dass die andere Frau, die auf dem Bild, die attraktivere ist, denn mein Haar, dessen mahagonidunkle Tönung längst wieder eine Auffrischung vertragen könnte, ist zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Weil's praktischer ist. Na ja... nicht nur deshalb. Und so ganz daneben liegt er auch nicht mit seinem Hinweis auf die Ähnlichkeit. Jemand hat mir mal gesagt, die nach hinten gebundenen Haare würden meine Androgynität betonen. Dieser Jemand war Janna, die Frau, mit der ich meine kurze lesbische Episode ausgelebt habe. Ich habe schon ernst-haft in Erwägung gezogen, Mister Banker davon zu erzählen, zur Abschreckung. Aber das lasse ich lieber, weil er diese Info womöglich als Herausforderung sehen würde, mich wieder umzukrempeln. Hoffnungslos, und nicht etwa, weil ich überzeugte Lesbe bin. Tatsächlich pflege ich gegenwärtig das, was die meisten wohl als Askese bezeichnen würden. Ich selbst nenne mich lieber Solitärfrau. Wie ich Mister Banker wiederholt gesagt habe, investiere ich meine Energie lieber anderswo. Wie zum Beispiel in diese Phantastik-Serie.

Tatsächlich weist die Panther-Frau ähnliche Züge auf wie ich, trotzdem ist sie weit entfernt davon, so was wie meine Doppelgängerin zu sein. Die oberflächliche Ähnlichkeit beschränkt sich auf die schlanke Gestalt, das schmale Gesicht und die langen Haare. Mein Körper ist jedoch ziemlich eckig und kantig, ihr Gesicht weicher und ihr Körper anmutig. Was mir an mir selbst am besten gefällt ist mein Mund: breit und sinnlich, als wäre mein Lebenshunger unersättlich. Die Pantherin wirkt nicht sehr raubtierhaft, sondern eher verspielt wie ein Kätzchen.

„Also, von all deinen Bildern gefällt mir dies bisher am besten.“

„Tatsächlich?“

Vermutlich ist mir deutlich anzusehen, dass ich diese Einschätzung nicht teile, denn er fragt prompt: „Deins wohl nicht, wie's aussieht?“

„Nein, es sollte einem bestimmten Zweck dienen.“

Widerstrebend gebe ich seinem fragenden Blick nach: „Ich habe Kopien der ganzen Serie an entsprechende Verlage geschickt. Um mich als Illustratorin zu bewerben.“

„Wenn es dafür gedacht ist — warum verkaufst du es dann?“

„Die Verlage bekommen natürlich nur Kopien — und der Sammler das Bild. Ist ohnehin nichts draus geworden. Bei mir funktioniert das offenbar nicht — Geld als Antriebsmotor. “

„Na, ich drück' dir die Daumen, dass es noch klappt. Aber sag' mal: Warum gerade Phantastik?“

„Na, die Romane liefern so herrliche Motive.“

„Hexen, Werwölfe und dergleichen?“ fragt er in neckendem Ton.

„Ehrlich gesagt, steh ich gar nicht so auf diese Art von Lektüre. Worauf es mir ankommt, das ist die Überschreitung der allgemein akzeptierten Realität.“

„Und ich dachte, in diesen Büchern geht es vor allem um Sex. Nur so 'ne Vermutung. Ich hab' nicht viel Zeit zum Lesen.“

Gegen meine Absicht muss ich lächeln — und nicht etwa, weil er es wieder mal geschafft hat, das Gespräch auf Sex zu lenken. „Es muss wohl der Gestaltwandel sein,“ beeile ich mich zu erklären, „der mich fasziniert.“

„So, so. Vom Mensch zum Tier? Das bestätigt mir aber, dass du da was verdrängst.“

Am liebsten hätte ich ihn per Tritt in den Hintern zur Tür raus befördert. Statt dessen wiederhole ich: „Nein, mir geht es darum, dass Künstler immer Grenzen überschreiten, jeder Schritt vorwärts führt auf unbekanntes Terrain.“

„Nun, in der heutigen Zeit... da seid ihr Künstler mit diesem Gefühl der Unsicherheit nicht allein.“

Warum will er immer alles auf einen einzigen Begriff reduzieren? Oder vielmehr: Auf die Krise im Tätigkeitsfeld seiner Wahl? Ich hole Luft für eine Erwiderung, doch er lässt mir keine Zeit für eine weitere Klarstellung, sondern zieht einen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts — womit er, wie ich inzwischen weiß, seinen Abgang ankündigt. Statt ihm seine milde Gabe abzunehmen, hole ich Packpapier, um das Bild einzuschlagen. Mein Honorar wird er schon irgendwo deponieren.

Er verabschiedet sich mit den Worten: „Tschau, Stella. Man sieht sich.“

Stella — diesen Namen verdanke ich tatsächlich meinen Eltern. Stella... als hätten sie all ihre Träume von einem ganz anderen Leben in ein einziges Wort gepresst — um sie dann wie eine Konserve ganz weit hinten im Schrank zu verstauen. Denn meine Eltern sind ganz durchschnittliche, normale Leute. So sehr normal, dass ein aus ihrem engen Rahmen fallendes Kind für sie etwas absolut Schreckliches ist. Um dieser Möglichkeit einen Riegel vorzuschieben, haben sie sich redlich bemüht, mir die Flügel zu stutzen. Lange Zeit habe ich brav versucht, mich möglichst unsichtbar zu machen und bin nur durch's Leben geschlichen — bis sich meine rebellische Seite einfach nicht länger unterdrücken ließ. Was zur Folge hatte, dass ich aus ihren engen Grenzen ausgebrochen bin, und das gleich in viele Richtungen. Vermutlich fragen sie sich immer noch, womit sie so etwas verdient haben.

Diese Frage allerdings stelle ich mir auch gerade — nach einem Blick in den Umschlag. Dabei ist genau das drin, was zu erwarten war: Die vereinbarte Summe, und kein klitzekleiner Schein mehr. Klar, ich sollte mich einfach freuen. Aber irgendwas an diesem Typ macht mich wütend. Mister Banker — nein, nicht sein Name, sondern sein Beruf — behauptet von sich, Objekte zu sammeln, in denen er Potential sieht. Was vermutlich bedeutet: Er kauft sie billig ein, als Geldanlage — und kann sich obendrein als Gönner unbekannter junger Künstler aufspielen. Vermutlich wäre er großzügiger, wenn ich auf seine ewigen sexuellen Anspielungen eingehen würde. Aber wer weiß — vielleicht würde er sich prompt der nächsten noch zu entdeckenden Malerin zuwenden?

Könnte auch sein, dass er mir längst den Stempel „egozentrische Künstlerin“ aufgedrückt hat und seine Versuche, mich rumzukriegen, nur noch Gewohnheit sind. Was er nicht versteht: So ein richtiger kreativer Höhenflug — der ist wie ein Orgasmus. Mit dem Unterschied, dass frau nicht auf einen halbwegs einfühlsamen Partner angewiesen ist. Es gibt genug Leute, für die Sex etwas rein Körperliches ist, nicht viel anders als Joggen bis zum Exzess. Die haben kein Problem damit, sich bei anderen ihren Kick zu holen. Ich habe definitiv keine Lust, mich auf diese Weise benutzen zu lassen. Weshalb Mister Banker meinen Körper nicht als Dreingabe bekommt. Wenn's sein muss, gehört schließlich auch die Hungerkünstlerin zu meinem kreativen Repertoire.

Prompt meldet sich mein Magen. Eigentlich wollte ich noch ein paar Vorräte einkaufen, Lebensmittel und Farben. Aber für heute reicht's mir: Ich habe keine Lust, in Gedanken weiter um Geld oder Mister Banker zu rotieren. Also stopfe ich den Umschlag samt Inhalt in meinen Tresor in Gestalt einer verbeulten Teedose. Ist ohnehin bald Zeit für meinen Job, anderen Menschen ihr Essen zu kredenzen, ganz schlicht gesagt: Serviererin. Mies bezahlt, aber immerhin gibt’s ein bisschen zusätzliches Trinkgeld. Das Beste daran sind die Mahlzeiten, die ich gratis bekomme. Weshalb als Imbiss, bevor ich mich auf den Weg mache, ein Apfel genügen muss.

Gut, seine Teufel zu kennen

Geschafft. Nicht nur mein Job ist für heute überstanden — ich selbst bin auch fix und fertig, ganz besonders meine Füße. Heute war so viel los, dass mir nicht mal Zeit blieb, mich zwischendurch an der Salat-Bar zu bedienen. Als ich mich vor meiner extra großen Portion Hühnerbrust mit Fenchel und Reis niederlasse, fühle ich mich zu erschöpft zum Essen. Das einzige, was ich in diesem Moment genieße, ist der Kontakt von Hintern mit Sitzfläche.

„Was denn — keinen Appetit?“ fragt Elli mit vollem Mund. „Dir müsste doch schon längst der Magen knurren.“

„Ja, wie ein Panther.“

Sie lässt ihre Gabel sinken, auf der sie ein Stück von ihrem Steak aufgespießt hat, und schüttelt den Kopf. „Was dir immer für Vergleiche einfallen.“

„Vielleicht, weil ich heute mal wieder ein Bild verkauft habe.“

Was der Panther mit dem Bild zu tun hat, scheint Elli nicht zu interessieren — sie hat etwas ganz anderes im Sinn: „Hey, da könnten wir doch endlich mal zusammen shoppen gehen! Du wolltest dir doch schon längst ein paar neue Treter gönnen.“

Jetzt bin ich dran mit Kopfschütteln: „Erstmal muss ich die Vorräte in meiner Küchen ein bisschen aufstocken. Und was dann noch bleibt, brauche ich für Material.“

„Also, wenn ich so leben müsste wie du, würde ich verrückt werden."

Auch wenn mir klar ist, dass Elli nur das Leben am Geldlimit meint, kann ich vor Lachen kaum antworten: „Verrückt bin ich schon. Davor brauche ich also keine Angst mehr zu haben."

Mein Gelächter hat eine positive Nebenwirkung: Wie eine frische Dusche spült es sämtliche Anspannung dieses Tages fort, und ich kann die Hühnerbrust genießen.

Die Art, wie mich meine bodenständige Kollegin beäugt, wirkt zwar wie eine Bestätigung meiner Aussage, doch ihr Kommentar ist das genaue Gegenteil: „Du magst ja manchmal sonderbare Einfälle haben — aber eigentlich kommst du mir ziemlich gesund vor. Mal abgesehen davon, dass du dich zu sehr einschränkst, deiner Kunst zu Liebe."

Tatsächlich hab' ich's sozusagen mit Brief und Siegel, in Form von Entlassungsgutachten aus der Psychiatrie. Aber wenn ich auch keinen schweren Ballast von felsenfesten Meinungen durch's Leben schleppe — von einer Sache bin ich überzeugt: Es ist gut, seine Teufel zu kennen. Wer vor ihnen die Augen zusammen kneift, sieht ja gar nicht, wie sehr sie das eigene Leben bestimmen. Wenn ich mich so umschaue, kommen mir die angeblichen Normalos dieser Welt (ein-schließlich VIPs, ob nun Stars oder Politiker) gestörter vor als ich. Würde man sie darauf aufmerksam machen — bestimmt wären sie zutiefst beleidigt. Und wenn ich schon beim Teufel bin: Nun... da sie weiblich ist, würde vielleicht Hexe besser passen? Die Hexe meiner Kindheit war definitiv meine Mutter. Nicht etwa eine dieser Märchenfeen, die mit einem Schwung ihres Zauberstabs einen Kürbis in eine Kutsche verwandeln können und einen Schmerz oder eine Furcht durch ein sanftes Lied zum Verschwinden bringen. Die wirkungsvolle schwarze Magie meiner Mutter bestand in ständigem Sich-Sorgen — und nicht etwa stillschweigend. Auf diese Weise gab sie sich redlich Mühe, all ihre eigenen Ängste in mich hinein zu stopfen. Klar, später blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihr zu verzeihen. Allerdings noch nicht, als ich kapiert habe, dass diese Angst-Mästerei tatsächlich gut gemeint war, sondern erst, als ich verstand, dass das Weiterreichen ihre einzige Methode ist, um mit ihrem eigenen Kram klarzukommen. Ihre am meisten gehätschelte Überzeugung sieht offenbar so aus: Angst, und zwar in möglichst hoher Dosierung (vor Männern, dem eigenen Körper, davor, zur Zielscheibe von Klatsch und Tratsch zu werden, und so weiter und so fort...) ist genau das, was ein junger Mensch braucht, um für den Ansturm des Lebens gerüstet zu sein. Wenn du ständig das Schlimmste erwartest, kannst du nicht überrumpelt oder enttäuscht werden. Und doch habe ich es geschafft, sie zu enttäuschen.

Auch meine Mutter gehört zu denjenigen, die völlig außer sich geraten würden, sollte es jemand wagen, ihr auch nur einen Hauch von neurotischem Verhalten auf den Kopf zuzusagen. Gerade deshalb bin ich keineswegs unglücklich wegen meiner psychiatrischen Karriere. Ich habe meine Teufel kennen gelernt.

Traumbilder

Die Frau hält eine Rose in der Hand. Es ist dunkel, als hätte sich,während sie vergebens auf jemanden gewartet hat, um sie herum eine riesige Leere ausgedehnt.

Der Panther springt auf sie zu, mit seiner Rose im Maul. In einigen Metern Distanz zu der Wartenden stoppt er seinen geschmeidigen Lauf, legt die Blüte nieder und springt davon, wobei er sich immer wieder umschaut. Wie ein harmloses Kätzchen, das ein anderes zum Spielen auffordert. Langsam und vorsichtig, als müsse sie bei jedem Schritt den Weg vor sich mit ihren Füßen ertasten, folgt die Frau, bis sie an einem Ufer stehen bleibt. Plätschern ist zu hören... und dann sieht sie ihn ganz deutlich. Oder doch nicht? Nein, das ist kein Panther... eher ein Fischotter, der sich im Wasser tummelt und sie immer wieder anschaut, als wolle er sie zum Mitmachen einladen. Mit einem Salto taucht er plötzlich ab, und diese Bewegung erzeugt kleine Wasserwirbel. Die Frau steht reglos da, bis die Oberfläche sichwieder glättet. Der Otter bleibt verschwunden, das einzige, was ihr entgegen blickt, ist ihr Spiegelbild.

Ziemlich spät am Morgen starre ich missmutig in meinen Kaffee. Es erfordert einen richtigen Kraftaufwand, mich vom Tisch hoch zu hieven und ein Glas mit Leitungswasser zu füllen. Ich nippe daran und stelle es auf den Tisch, dazu lege ich die überfällige Telefonrechnung plus Notizpapier und Stift. Die erste Liste ist schnell fertig: Kaffee, Brot, Spaghetti, Butter, Käse und Obst. Vor der zweiten zögere ich.

Was ich gern hätte, sind diese neuen Metallic-Farben, ideal für Lichteffekte... Aber ich brauche auch Keilrahmen. Oder soll ich mich wieder auf's Schreiben verlegen? Weil es weniger kostet. Wie früher... Wenn ich so zurückschaue, bin ich noch immer dankbar für meinen ersten Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Ganz bestimmt nicht wegen der Pillen, mit denen sie mich vollgestopft haben, sondern weil ich dort die Möglichkeit hatte, mich an ganz verschiedenen Ausdrucksmedien zu versuchen. Es war so etwas wie meine erste Befreiung, mein erstes Eintauchen in den Fluss der Kreativität. Nach meiner Entlassung entschwanden Töpfern und Malen wieder aus meinem Leben, das erste ganz und gar (bis jetzt), das Malen wurde auf Zeichnen reduziert, bis ich mir endlich eigenes Material leisten konnte. Dafür sprossen aus meinem therapeutischen Tagebuch bald die ersten Gedichte und Kurzgeschichten.

Energisch schüttle ich den Kopf: Zurück zu meiner Liste. Nein, ich werde mich nicht mit einer einzigen Ausdrucksform begnügen! Und den Kaffee streiche ich auch nicht von der Liste! Vor lauter Ärger über die kleinliche Rechnerei haue ich mit der Faust auf den Tisch — und das Glas kippt um! Spontan will ich nach dem Spültuch greifen, halte aber mitten in der Bewegung inne. Das Wasser, das vom Tisch auf den Fußboden tröpfelt, bringt den Traum der letzten Nacht zurück. Den Otter sehe ich so lebendig vor mir, dass mir unbegreiflich bleibt, wie ich ihn vergessen konnte. Mein Abbild im Wasser... Eigentlich ein interessantes Motiv — aber mir fehlt jede Neigung, mich an einem Selbstporträt zu versuchen. Nicht einmal, wenn es wasser-verschwommen ist.

Ich gehe nach nebenan, in das ursprüngliche Wohnzimmer, das sich nach und nach in mein Atelier verwandelt hat. Meine Behausung ist ohnehin nicht gerade das Übliche — passt also wunderbar zu mir. Früher war das mal eine Werkstatt; durch den Eingang kommt man in einen winzigen Flur, eigentlich nur ein Windfang, der praktisch nur aus Türen besteht: Die linke führt ins Bad, das sogar den Luxus einer Wanne bietet. Ich muss zugeben: Wäre ich selbst für diesen Umbau verantwortlich — ich hätte wohl eine Duschkabine in die Küche gequetscht. Aber ich bin froh über den Reinlichkeitssinn, den ich als Ursache dieser Luxusvariante vermute. Oder einen ausgeprägten Sinn für's Praktische: In einer Wanne kann man auch mal ein paar Klamot-ten waschen, um sich das Waschcenter zu ersparen. Aber vielleicht liege ich auch total daneben und es ging wirklich um Lebensgenuss?

Rechts geht's in die Küche, die gerade groß genug ist, um mit einem Klapptisch und ebensolchen Stühlen als Wohnküche zu dienen. Und geradeaus: Mein Atelier plus Schlafzimmer, aus dem ein Klappsofa samt Sessel, vom Vormieter übernommen, längst rausgeflogen sind, ebenso wie eins der Regale, um Platz zu schaffen für einen spartanischen Futon und ein paar Sitzkissen. Und für das Wichtigste: Zwei Staffeleien. Dann ist da noch der gute alte Kachelofen. Was weniger gut ist: Die Isolierung. Im Winter ist es kalt — es sei denn, ich heize auf Teufel komm raus und halte mich in Ofennähe auf. Aber was soll's! Es gibt warme Pullover und Jacken, und überhaupt: Jetzt ist Sommer, und wenn ich auch leider keinen Garten habe, nicht mal einen ganz kleinen, habe ich aus diesem Mangel doch das Beste rausgeholt, indem ich auf dem schnöden Asphalt Töpfe mit Kräutern und Kübel mit Tomaten bepflanzt habe. Ich ziehe kurz in Erwägung, auch weitere Gemüsepflanzen auf meine Liste zu setzen. Wie wär's mit Paprika? Nein! Das Wichtigste zuerst: Der Skizzenblock ist ziemlich abgemagert — ein Fall für Liste zwei. Während ich auf das vorletzte leere Blatt starre, schaue ich innerlich dem Otter bei seinen Wasserspielen zu. Und ganz allmählich ist es, als würde ich mich mit Hilfe eines Garnknäuels ins Innere eines Labyrinths vortasten: Wie im Traum verschwindet der Otter und ich sehe nur noch den Fluss, diesmal ohne Spiegelbild. Doch aus dem schattigen Wald im Hintergrund lugt ein Kopf hervor, dem ein geschmeidiger Körper folgt. Der Panther setzt an zu einem Sprung — und er scheint geradezu die Grenze des Wassers zu überfliegen.

Kein Wunder, dass ich von ihm geträumt habe: Schließlich hat sich Mister Banker für den einzigen Ausreißer meiner Phantastik-Serie entschieden. Alle anderen zeigen Wolfsfrauen, in unterschiedlichen Stadien des Übergangs zwischen Wolf und Mensch. Als Vorlage dafür hat mir ein englischer Roman gedient, gerade erst erschienen und noch nicht übersetzt. Womit ich dem Tipp eines Sprachkünstlers gefolgt bin, der mir Illustrationen als Einnahmequelle nahegelegt hat. Auf die Lektüre entsprechender Romane habe ich mich wirklich gefreut, auf Gestaltwandel und Phantasie-Reisen in Gegenwelten, doch während ich mich durch einige Bücher hindurch gelesen habe, wurde ich der vielen Wölfe und Vampire schnell überdrüssig. Immer nur von Mensch zu Wolf und wieder zurück, Vampire, die auf anderer Menschen Energie aus sind... Da gefällt mir mein Traum der letzten Nacht schon besser. Ja, ich habe Lust auf eine dieser Traumszenen. Das letzte noch unfertige Motiv der Werwolf-Serie, das auf seine Vollendung wartet (so weit so etwas überhaupt möglich ist), wird sich gedulden müssen.

Aber womit beginnen? Ich fühle mich hin und her gerissen. Die Geschmeidigkeit, mit der sich dieser Traum-Panther bewegt, macht mich fast neidisch. Das wirkt so mühelos, während ich oft, zu oft von dem Gefühl geplagt werde, um mein Überleben kämpfen zu müssen. Nein, ganz entschieden kein Wasserspiegelbild. Also der Otter. Dessen spielerische Freude weckt keinen Neid. Andererseits — der Panther passt nun einmal gut in meine jüngste Serie...

Was den Ausschlag gibt, sind die Farbvorräte.