Ein Grab auf Sylt - Renate Folkers - E-Book

Ein Grab auf Sylt E-Book

Renate Folkers

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Beschreibung

DAS AUSMASS DER TRAGISCHEN EREIGNISSE IST UNERMESSLICH UND SCHÄNDLICH Eine Tote am Rantumer Strand und die Aufzeichnungen eines Tagebuches beschäftigen Hauptkommissar Nane Lüders von der Husumer Kriminalpolizei. Ihm offenbart sich ein ergreifendes Schicksal. Die Feinsinnigkeit und Menschenkenntnis des Beamten führen schließlich zu der Gewissheit, dass der Tod eines Unschuldigen hätte verhindert werden können. Stalking, gepaart mit Symptomen der Borderline Krankheit, lässt zwei Menschen aufeinandertreffen, deren Zusammenspiel vernichtender nicht sein könnte. Die Geschichte scheint wie eine Inszenierung, eine Show und ist zugleich ein Abbild der zerstörenden Auswüchse jener Krankheitsbilder.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ähnliche


Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Abschied von alten Gewohnheiten

Hannes Baum – Die Reise mit Olga

Hannes’ Traum

Die Reise mit Olga – Teil II

Recherche im TSBW

Antrag auf Hartz IV

Auf dem Friedhof

Date mit Marion

Entlassung

Im Haus

Auszug aus dem Tagebuch für Torge

Kleiner Klönschnack am Rande

Stadtbummel

Erste Begegnung mit Hannes

Rote Rosen

Zug um Zug

Happy auf Sylt

Wochenende

Im Hotel Bad Minden

Alltag

Die Entbindung

Biikefeuer

Fritz Petersens Fund

Torges Rückkehr

Krisensitzung

Ergebnisse

Observation läuft

Marion beißt an

Endspurt

Eingetütet

Mitgehört

Zu Gast bei Hannes Baum

Ich habe es getan

Nach der Vernehmung

Ein Brief für Torge

Auf dem Weg in die JVA

Ankunft in der JVA

Alltag in der JVA

Ein Traum in der JVA

Ein Plan entsteht

Ein toller Geburtstag

Notfall in der Zelle

Ein spannender Trip nach Sylt

In Memoriam

Strandspaziergang

Wer ist die Tote am Strand?

Post für Nane Lüders

Wir haben sie gefunden

Tagebucheinträge

Neuigkeiten

Was ist mit Frauke?

Lüders kontaktiert Marion

Neue Erkenntnisse

Noch ein paar Fragen, Frau Petereit

Ein raffiniertes Frauenzimmer

Der letzte Akt

Das Geständnis

Ein Tag mit vielen Facetten

Danksagung

Renate Folkers

Ein Grab auf Sylt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123RF.com

eISBN: 978-3-8271-9893-8

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten um Husum und auf Sylt, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

Über die Autorin:

 

1950 auf Nordstrand bei Husum geboren

nach der Schule Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten

insgesamt über 25 Jahre an Schreibtischen öffentlicher Arbeitgeber

von 1978 bis 1988 Familiengründung und Kindererziehung (4)

2001 Lebensmittelpunkt nach Minden verlegt

2009 Abschied aus dem Berufsleben und mit dem Schreiben begonnen

größte Herausforderung als Autorin der 2014 fertiggestellte Kriminalroman „Der Tote hinter dem Knick“

Mehr über Renate Folkers und ihre Aktivitäten erfahren Sie auf Facebook.

Ein Autor ist jemand,

der seinen Geist gelehrt hat,

sich unpassend zu benehmen.

(Oscar Wilde)

Abschied von alten Gewohnheiten

‚HIN UND WIEDER AUSSERGEWÖHNLICHEN SEX IN ERSTKLASSIGEM AMBIENTE ERHÖHT DIE GENUSSFÄHIGKEIT‘, stand in großen Lettern auf dem Titelblatt einer Zeitschrift. Genau das hat er sich gegönnt, außergewöhnlichen Sex in erstklassigem Ambiente, intensivsten Genuss.

Hannes schließt den Reißverschluss seiner Hose und zupft das Hemd zurecht. Er schaut in den Spiegel, der die Sicht auf das luxuriöse Doppelbett im Nebenzimmer freigibt. Wie tot liegt der junge Frauenkörper inmitten der mit seidener Bettwäsche bezogenen Kissen und Decken. Das dichte, leuchtend rote Haar, das anfangs zu einem Zopf geflochten gewesen war, schlängelt sich wie züngelndes Feuer auf dem champagnerfarbenen Kissen.

„Nimm das Band aus dem Haar“, hatte er gesagt, es ihr aus der Hand gezogen und um den Hals gelegt. Seine Finger hatten das Geflecht der Haare gelöst. Die wilde Mähne, die nun ungebändigt ihre Schultern berührte, verdeckte teilweise ihr Gesicht. Der schlanke, nackte Körper wand sich wie der einer Schlange. Ihre Augen mit Riesenpupillen, die sich in seinem Blick versenkten, hatten ihn in Ekstase versetzt und seine Hände die Enden des weinroten samtenen Haarbandes zusammenziehen lassen. Luftnot ließ sie auf das Bett sinken. In diesem Augenblick glaubte er, sie sei in anderen Sphären. Bewegungslos der Körper, nur der regelmäßige Rhythmus des Atems, der die Nasenflügel hob und senkte, ließ ihn wissen, dass sie nicht tot war. Das war das Spiel, das er liebte, das ihn reiten ließ auf einer Welle, die ihn erregte und berauschte, ihm eine an Wahnsinn grenzende Entspannung bescherte.

Karenina war keine professionelle Prostituierte, dafür war sie zu jung. Auf etwa fünfzehn Jahre schätzte er sie. Die meisten Mädels hier waren unwesentlich älter und auf Drogen, damit sie das Geschäft nicht ruinierten. Der Stoff machte sie auf unproblematische Art gefügig. Eine lohnende Investition für die Betreiber des Bordells. Die Zuhälter waren wenig zimperlich. Wer nicht parierte, wurde bedroht, geschlagen, gegebenenfalls rigoros aus dem Verkehr gezogen. Ein Scheißgeschäft irgendwie, und er machte mit. Er zahlte nicht schlecht, und wenn er nicht käme, gäbe es genügend andere. Immerhin behandelte er sie gut.

Karenina war high, das hatte ihm ihr Blick bereits beim Betreten des Etablissements verraten. Zwangsweise enthemmt, damit der Kunde zufrieden war, so konnte man es wohl ausdrücken. Genau das war es, was die Sache für ihn so reizvoll machte, dieses Enthemmtsein. Er liebte die jungen Mädels. Sie waren unverdorben, gefügig und sie konnten einen, wie gesagt, zum Wahnsinn treiben.

Seit seinem Umzug nach Husum war er nicht mehr hier gewesen. Das Etablissement, in dem er regelmäßig verkehrt hatte, war aufgeflogen. Er hatte davon in der Zeitung gelesen. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten Polizei, Gewerbeamt, Zoll und Finanzbehörden erfolgreich zugeschlagen. Menschenhandel, Zuhälterei und Schutzgelderpressung wurden den Betreibern des illegalen Bordells vorgeworfen. Wegen Zwangsprostitution und sexueller Ausbeutung waren seine Kontaktperson und mit ihr einige Mitglieder des Schleuser- und Drogenrings in Haft genommen worden. Einige Tage später hatte man ihn angerufen und informiert, dass das Etablissement aus gegebener Veranlassung habe verlegt werden müssen. Leider sei Irina, das von ihm bevorzugte Püppchen, wie der Anrufer sich ausdrückte, wegen Vertrauensmissbrauch nicht mehr im Geschäft. Später hatte er erfahren, dass sie in Abschiebehaft gekommen war. Die Organisation hatte mit anderen Hintermännern die Stammkunden weiter bedient und ihm, wegen seiner Vorliebe für ganz junge Mädchen, ein perfektes Äquivalent zu Irina angeboten. Die Sache war ihm zu heiß gewesen, deshalb hatte er vorerst keinen Gebrauch davon gemacht.

Nun schien Gras über die Angelegenheit gewachsen zu sein. Er gönnte sich ein Wohlfühlwochenende in Düsseldorf, seiner alten Heimat, und dazu gehörte zweifelsfrei auch dieser Besuch.

In seine Gedanken versunken nimmt er Platz in dem pompösen schwarz-rot-goldenen Plüschsessel. Er rückt ihn so zurecht, dass er über den Blick in den Spiegel die Frau auf dem Bett im Auge behält.

Damals war er guter Kunde gewesen, vertrauenswürdig, und hatte, was die Auswahl der Mädels betraf, immer eine bevorzugte Behandlung genossen. Auch heute war er nicht enttäuscht worden.

Seit jenem Tag, an dem er Tanja begegnete, war er süchtig nach dem Kick, den Mädchenkörper in ihm auslösten. Tanja war dreizehn und die Tochter seines Nachbarn in der Düsseldorfer Straße in Oberkassel. Paul Gerhard hatte ihn zu einer Gartenparty eingeladen. Sie hatten nie großartig Kontakt gehabt, aber eines Tages gab Paul in der Nachbarschaft bekannt, dass er am Wochenende eine Fete veranstalten würde. Es könne an diesem Abend etwas lauter zugehen, und wer Lust habe, möge vorbeikommen. Hannes selbst hatte keinen Garten, er wohnte in der Einliegerwohnung seines Vermieters, die lag im ersten Stock gegenüber vom Haus der Gerhards. Von seiner Wohnung aus konnte er in ihren Garten sehen.

„Macht mir nichts aus“, hatte er zu Paul gesagt. „Ich werde mir das Spektakel von oben anschauen. Aber danke fürs Bescheidgeben.“

„Komm doch einfach vorbei, wenn du nichts Besseres vorhast“, war es Paul spontan über die Lippen gekommen. „Essen, trinken und Spaß garantiert. Das Tanzbein kann übrigens auch geschwungen werden, das solltest du dir nicht entgehen lassen.“

Tatsächlich hatte er fürs Wochenende nichts geplant und sich am Samstag kurzerhand entschlossen, zu den Gerhards zu gehen. Pauls Frau Lene kannte er flüchtig. Manchmal hatten sie einander zugewunken, wenn er auf dem Balkon, sie zufällig im Garten gewesen war.

Lene freute sich sichtlich, ihren Nachbarn persönlich kennenzulernen. Spontan zeigte sie ihm das Haus. Hannes gefiel ihre offene Art. Sie war eine Frau zum Schockverlieben, wie er fand. Sie trug ein schwarzes, schulterfreies Kleid. Ihre braunen Locken, die bei jedem Schritt wie kleine Spiralfedern wippten und auf den nackten Schultern tanzten, faszinierten ihn. Und sie verströmte einen betörenden Duft.

„Hier ist das Reich von Tanja“, sagte Lene. Nachdem sie angeklopft hatte, öffnete sie die Kinderzimmertür. Hannes war verblüfft über die Ähnlichkeit von Mutter und Tochter.

„Kannst nicht leugnen, dass sie deine Tochter ist. Hübsch wie die Mama. Hallo, Tanja.“

„Das ist unser Nachbar Hannes Baum, er wohnt drüben bei den Schünemanns. Tanja ist dreizehn. Wie alle Mädchen in ihrem Alter ist sie von Zeit zu Zeit nicht ganz unkompliziert“, hatte Lene gesagt und Hannes dabei zugezwinkert. Hübsche braune Augen hatte Lene. Eine Art ewiges Lächeln lag in ihnen und eine unergründliche Tiefe.

Dem Gesichtsausdruck des Mädchens entnahm er, dass die Beschreibung „nicht ganz unkompliziert“ deutlich untertrieben war.

„Was macht ein Mädchen in deinem Alter denn so in seiner Freizeit?“, hatte Hannes sie zu einem Gespräch zu ermuntern versucht.

„Da mach ich was, wovon ältere Männer ganz bestimmt keine Ahnung haben.“

„Tanja!“

„Lass nur, Lene, ist schon in Ordnung. Ich spiele die neuesten Nintendo-Spiele, schon mal was davon gehört? Ich rede hier nicht von Papieralarm im Pilzkönigreich. Bin leider ein richtiger Stubenzocker, wenn man so will.“

„Echt? Krass! Können wir zusammen mal was machen?“

Er hatte Tanja aus dem Schneckenhaus gelockt, darauf konnte er sich, nachdem sie ihn als älteren Mann betitelt hatte, etwas einbilden.

„Klar, sag Bescheid, wenn du mal Lust und Zeit hast, mit einem älteren Mann ein Spiel zu machen.“ Die Spitze konnte er sich nicht verkneifen.

Später war Tanja sogar auf der Party erschienen, hatte seine Nähe gesucht. Das fand er interessant, wo sie am frühen Abend noch mit Nullbockstimmung kokettiert hatte.

Das Fest war in vollem Gang, es wurde getanzt.

„Darf ich um einen Tanz bitten, Prinzessin?“, fragte er sie.

„Oh mein Gott, was ist das denn für eine Ansage? Willkommen bei Anna und Elsa im Eisprinzessinnenland. Aber nein, ich kann nicht tanzen“, maulte sie und verdrehte die Augen.

„Kann ich nicht, gibt’s nicht. Sicher hast du schon mal so richtig abgetanzt, oder? Komm, ich zeig’s dir.“

Widerwillig hatte sie sich mit ihm ins Getümmel begeben.

„Klappt doch super. Du bist die geborene Partymaus!“

Bei der schnulzigen Schmusemusik zog er sie dicht zu sich heran.

„Mach am besten die Augen zu, die Füße tanzen automatisch die richtigen Schritte, lass dich einfach fallen.“

Während er sie in seinen Armen hielt, dachte er an Lene und ihre wippenden Locken. In einem Anflug von, er wusste selbst nicht wie, passierte es. Er beugte sich zu ihr herab, küsste sie und schob gierig seine Zunge in ihren Hals.

„Lass das, das ist eklig!“, hatte Tanja geschrien, woraufhin er sie noch enger an sich gezogen und seinen erigierten Penis gegen ihren Bauch gedrückt hatte.

„Stell dich nicht so an, das gehört zum Erwachsenwerden dazu“, hatte er gekeucht. „Da können wir doch schon mal ein bisschen üben.“

Sie hatte sich von ihm losgerissen und ihn angeschrien: „Igitt, das ist so eklig, du bist pervers!“

Vor allen Gästen hatte er dagestanden, schrecklich blamiert. Er ging davon aus, dass aufgrund der lauteren Musik nur er mitbekommen hatte, was genau Tanja gekreischt hatte. Doch die Leute hatten abwechselnd ihn angesehen und Tanja hinterher geschaut, die daraufhin ins Haus gerannt war.

„Was ist passiert?“, hörte er Pauls Stimme.

„Lass nur, sicherlich hat Tanja wieder einen von ihren abscheulichen Trotzanfällen. Das ist das Alter, sie kommt schon wieder zu sich. Mach dir nichts draus, Hannes“, hatte Lene sich eingemischt, der das schlechte Benehmen der Tochter vom frühen Abend in den Sinn kam. Offensichtlich ging Lene tatsächlich von einem harmlosen kleinen Zwischenfall aus, der von ihrer pubertären Tochter mit viel Aufsehen hochgespielt wurde.

Dankbar hatte er Lene angelächelt und ihren Ball aufgenommen: „Manchmal sind sie ein bisschen empfindlich in dem Alter. Das darf man nicht zu ernst nehmen.“

Eine gewagte Aussage, aber irgendwie musste er den Kopf aus der Schlinge kriegen. Das war ihm gelungen, wie er fand.

Die Sache hatte zwar kein Nachspiel, was ein Aufgreifen des Vorfalls durch die Eltern anging, doch er selbst hatte sie nie vergessen. Das Gefühl der Zurückweisung, in höchster Erregung stehen gelassen und vor versammelter Mannschaft blamiert zu werden, nagte an seinem Selbstwertgefühl. Sie hatte ihn vorgeführt, er war gescheitert und bloßgestellt worden!

Diese Begebenheit war das Schlüsselerlebnis, das in ihm diesen innerlichen Zwang auslöste, seine Gier nach jungen Frauen, Kinderfrauen, zu befriedigen. So war er in den Puffs gelandet. Hier gab es keine Blamagen.

Dessen ungeachtet lässt ihn der Gedanke, sich an der Gattung Frau insgesamt rächen zu müssen, nicht in Ruhe. Er wird ihn nicht los.

Verdrängt hatte er die abscheulichen Erlebnisse aus der Zeit, als er selbst noch minderjährig, etwa zwölf Jahre alt war. Die Erinnerungen wären vielleicht nicht wieder so nah an ihn herangekommen, wenn er nicht kürzlich zufällig in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem Publizisten Fritz Raddatz gelesen hätte. Tief in seinem Inneren hatten die schrecklichen Geschehnisse geschlummert, bis er auf dieses Interview gestoßen war.

Ähnlich wie Fritz Raddatz war auch er missbraucht worden. Seine Mutter – sie hatte nach dem Tod des Vaters noch einmal geheiratet – hatte ihn verführt. Hannes musste ihr und ihrem Mann im Schlafzimmer beim Sex zuschauen. Danach hatte der Mann sich an ihm vergangen. Freunde hatte er damals nicht. Mit wem hätte er darüber reden sollen? Vielleicht mit seiner Lehrerin, aber die Scham war groß. Er konnte sich niemandem anvertrauen.

Die Verletzungen sitzen tief. Die plötzlich wieder aufkeimenden Erinnerungen produzieren Gefühle zwischen Hass, Wut und Erniedrigung. Sie fordern eine Wiedergutmachung. Wenn er Ruhe finden will, muss er sich revanchieren! Er ist überzeugt, dass die Frauen ihm etwas schuldig sind. Zwei Frauen tragen dafür die Verantwortung, dass er so geworden ist: seine Mutter und Tanja.

Die Mutter ist tot. Sie hatte ihm keine Geborgenheit gegeben, Nähe nicht zugelassen. Jedenfalls nicht die Nähe, die ihm als Junge nach dem Tod des Vaters so sehr gefehlt hatte. Anstatt ihn zu trösten, hatte sie ihn lächerlich gemacht vor anderen. Beschimpfungen und Bestrafungen waren das tägliche Brot. Die Gedanken an seine Kinderjahre fühlen sich kalt, leer und schmerzhaft an.

Er spürt tief in seinem Inneren ein Gefühl von Hass, wenn die Erinnerungen sich, wie jetzt, in sein Gedächtnis schleichen. Körperliches und seelisches Leid, Zurückweisung und Spott, Schmerz. Das kann so nicht bleiben. Die jungen Dinger können nichts dafür, die Frau an sich ist der Übeltäter.

Karenina ist aus ihrem Rausch aufgewacht. „Du bist noch da! Wie spät ist es?“

„Wir haben noch Zeit.“

Trotz seiner sarkastischen Gedanken, der Verletztheit mit Rache und Vergeltung zu Leibe zu rücken, schafft er es, der jungen Frau ein Lächeln zu schenken. Er legt den vereinbarten Betrag und ein anständiges Trinkgeld neben sie auf das Kopfkissen.

Sieht aus wie ein Traum, denkt er beim Anblick des makellosen Körpers in der luxuriösen Umgebung. Im Gehen streichelt er ihre Wange.

Lautlos lässt sich die Tür ins Schloss ziehen. Der dicke Teppich auf dem langen, schmalen Flur schluckt jegliches Geräusch. Er zählt die Türen zu den Zimmern nicht. Es mögen zwanzig oder mehr sein, hinter denen täglich illegal mit Prostitution Geld verdient wird. Und er ist dabei.

Den Code zum Öffnen der stählernen Brandschutztür am Ende des Flures entnimmt er dem in Augenhöhe neben dem Türrahmen befindlichen Kästchen. Durch Eingabe der angegebenen Zahlenkombination und dem Drücken der Okay-Taste springt die Verriegelung der schweren Tür auf.

Kurz darauf betritt er den nackten Betonboden des dritten Obergeschosses. Hier werden in Kürze ein Friseursalon und eine Massagepraxis ihre Tore öffnen, verrät ein Aufsteller. Der Gebäudekomplex besteht aus drei Etagen. Auf den ersten beiden haben Firmen, Anwälte, Versicherungen und Ärzte ihre Büros und Praxen. Dass sich über ehrbaren Bruttosozialprodukt-Erzeugern ein Bordell vom Feinsten befindet, ahnt niemand. Hier wird gedealt, mit der Ware Mensch gehandelt und im großen Stil Kohle am Fiskus vorbei verdient. Doch was haben ihn die Dinge zu interessieren? Er bereichert sich nicht mit, er nimmt eine Dienstleistung in Anspruch und zahlt dafür. Puffs hat es immer schon gegeben. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, hier nicht und auch sonst nicht. Es ist ein Geschäft. Zweihundert Euro die Stunde für Sex in exklusivem Ambiente inklusive einer Flasche Mumm Dry, das ist okay. Heute hatte er eineinhalb Stunden gebucht.

Er ist dabei, sein Leben neu einzurichten. Der heutige Tag dient dem endgültigen Abschied von Düsseldorf und dem illegalen Bordell mit minderjährigen, zur Prostitution gezwungenen Frauen. Er will Distanz, den Rückzug aus jener Art Leben.

Er geht ein Stockwerk zu Fuß die Treppe hinunter, nimmt von hier aus den Aufzug ins Erdgeschoss. Der Fahrstuhl gleitet nach unten. Der direkte Weg führt ihn an einem Informationsschalter vorbei. Unauffällig, als würde er aus einem der Büros kommen, verlässt er das Gebäude. Auf der Straße herrscht rege Betriebsamkeit. Ein paar Mal tief durchatmen, und er ist in der Realität wieder angekommen. Die Rachegedanken verflüchtigen sich ebenso wie die Erinnerungen an Karenina.

Er betrachtet sein Spiegelbild in der Fensterfront eines Herrenausstatters, ist zufrieden mit seinem Aussehen.

Die hellblaue Jeans mit aufliegenden Nähten macht eine ausgesprochen gute Figur. Hässlich sieht anders aus, sagt er zu sich selbst. Unter dem Ton in Ton zur Hose ausgewählten blau-grün karierten Hemd strahlt ein weißes T-Shirt, das seinen braunen Teint optimal zu Geltung bringt. Die kinnlangen blonden Haare hat er hinter die Ohren geschoben, Ponyfransen fallen lässig in die Stirn. Verwegen, abenteuerlich. Ja, so mag er sich. Zweiundvierzig Jahre und kein graues Haar.

„Ich sollte mich als Model bei Dolce & Gabbana bewerben“, brummelt er und grinst in sich hinein.

Im Block House in der Altstadt am Burgplatz werde ich eine Kleinigkeit essen. Ausgezeichnete Steaks soll es dort geben. Danach kann der Abend im Hotel gemütlich ausklingen.

Er winkt ein Taxi heran, lässt sich lässig in den Beifahrersitz fallen und gibt dem Fahrer Anweisung, wohin es gehen soll. Als das Handy einen Anruf meldet, weist er das Gespräch ab und klappt den Deckel der ledernen Hülle zu.

Wer immer du auch bist, lass mich in Ruhe, es ist Feierabend, und was für einer.

Kurze Zeit später zahlt er das Fahrgeld und steigt aus dem Wagen.

Das sieht ja ganz schlecht aus, nicht ein einziger freier Platz hier draußen, denkt er bei sich, als sein Blick den Außenbereich des Restaurants inspiziert.

„Sie können hier Platz nehmen, wir gehen!“ Eine Frau, die seinen suchenden Blick beobachtet hat, winkt zu ihm herüber. Wie ein Blitz durchzuckt es ihn.

Mutter, fährt es ihm durch den Kopf.

So ein Unsinn, Mutter ist tot. Aber verdammt viel Ähnlichkeit hat diese Frau mit seiner Mutter.

„Scheint heute der Tag der bösen Erinnerungen zu sein“, brummelt er vor sich hin.

„Das ist nett von Ihnen, danke“, stammelt er und zieht sich einen Stuhl zurecht. Von seinem Platz aus hat er einen Überblick über die gesamte Terrasse. Die Augen verlieren sich suchend in der Menge der Menschen um ihn herum.

Dass die Frau ihn an seine Mutter erinnert, muss mit den gruseligen Erinnerungen, die immer noch in seinem Kopf herumspuken, zusammenhängen. Das Feindbild Mutter.

Doch auch Tanja geht ihm nicht aus dem Sinn.

Er denkt an ihren schlanken Mädchenkörper, den er mit seinen Armen umschlungen hielt. Und an die Erregung, die plötzlich in ihm aufgestiegen war. Bis dahin war alles gut, bis die kleine widerborstige Göre sich aus seinen Armen befreit und laut zu schreien angefangen hatte.

„Das ist eklig!“ Die Worte klangen in seinen Ohren, wann immer er später daran gedacht hatte. Auch in diesem Augenblick dröhnt in seinem Kopf der Widerhall der Worte. „EKLIG!“

Und dann haut das kleine Luder ab, lässt mich stehen und alle kriegen es mit.

Er redet sich innerlich in Rage, greift mit beiden Händen an seinen Kopf und durchkämmt mit den Fingern die Haare.

Niemals werde ich diese peinliche Bloßstellung vergessen. Abgeblitzt von einer kleinen Zicke.

Die verkrampften Hände lösen sich und sein Blick kehrt zurück zu den Menschen an den Nachbartischen. Erst jetzt bemerkt er, wie einige der Gäste in seine Richtung starren. Mit einem Räuspern nimmt er eine andere Sitzposition ein und verschenkt ein verzerrtes Lächeln in alle Richtungen. Er nimmt die Getränkekarte zur Hand.

Ich werde mir etwas sehr Spezielles ausdenken. Mit dem Alten aufräumen gehört zu einem Neubeginn.

„Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?“, holt ihn der Ober aus seinen Gedanken.

„Gerne, eine Bloody Mary, bitte“, kommt es ihm wie selbstverständlich über die Lippen.

„Virgin oder mit Umdrehung?“

„Mit, bitte.“

Die nervös auf der Tischplatte trommelnden Finger kommen zur Ruhe. Der spitze Gesichtszug verschwindet. Eine Bloody Mary. Ihm gefällt sein spontaner Entschluss, gerade dieses Getränk bestellt zu haben, das mit einem Mal eine weitaus bedeutendere Relevanz als nur die des die Katerstimmung vertreibenden Drinks bekommt. Eine außerordentlich interessante und spannende Bedeutung. Die Betonung liegt auf bloody, oder nicht?

„Möglicherweise“, murmelt er in sich hinein. „Noch kann ich es nicht abschätzen. Was für ein schöner Sommerabend.“

Hannes Baum – Die Reise mit Olga

Das Essen im Block House war hervorragend. Gegen zweiundzwanzig Uhr steigt Hannes am Düsseldorfer Carathotel in der Benrather Straße aus dem Taxi.

Er steuert direkt die Wintergarten-Bar an, um seine Mails zu checken und einen Absacker zu bestellen. Nur wenige Tische sind besetzt. Er nimmt Platz am Tresen und bestellt einen Dry-Martini-Cocktail. Sein Lieblingsgetränk, wenn ein Tag nach einem harmonischen Ausklang verlangt.

Die brünette Bedienung serviert das Getränk und stellt ein Schälchen mit Oliven neben das Glas. Genüsslich zerkleinern seine Zähne die fein salzige, grüne Frucht, die er mit Gin und Martini hingebungsvoll herunterspült. Er überlegt kurz, einen weiteren Cocktail zu bestellen, entscheidet sich aber doch, sein Zimmer aufzusuchen.

„Den Drink buchen Sie bitte auf Zimmer Nummer dreihundertfünf“, sagt er. „Plus zwei Euro Tipp für Sie“, fügt er lächelnd hinzu.

Frau Merlot belohnt seine Großzügigkeit mit einem flüchtig in seine Richtung gehauchten Kuss. Hannes kritzelt seinen Namenszug auf den Beleg und verschwindet mit einem Augenzwinkern in Richtung Fahrstuhl. Sein Zimmer liegt im dritten Stock.

Ein kurzer Klick und die Karte hat das Türschloss entriegelt. Beim Betreten des Raumes empfängt ihn ein dezenter Duft, der ihn an das Etablissement vom Nachmittag erinnert. Er lässt den Blick schweifen.

Oh, mal eine andere Art von Betthupferl als diese langweilige Schokolade oder Gummibärchentüten, denkt er bei sich, als er einen grünen Apfel auf dem Kopfkissen entdeckt. Das Zimmer ist ruhig nach hinten zur Wintergarten-Bar gelegen, ausgestattet mit einer Nespresso-Maschine. Er liebt es, am Morgen schlaftrunken aus dem Bett zu steigen, die Maschine einzuschalten und sich mit dem kleinen starken Kaffee mit einer Prise Kardamom und viel braunem Zucker noch einmal ins Bett zurückzuziehen. So kann ein Tag beginnen!

Seine Umhängetasche legt er auf dem Sessel ab und beginnt sich zu entkleiden, um ein ausgiebiges Duschbad zu nehmen.

Später, vor dem Einschlafen, zappt er sich noch eine Weile durch die Fernsehprogramme, löscht schließlich das Licht und lässt den Tag vor den geschlossenen Augenlidern Revue passieren.

Der Bordellbesuch am Nachmittag war eine gute Idee gewesen. Es sollte sein letztes Amüsement in diesem Haus gewesen sein, so hatte er es jedenfalls geplant.

Man soll eine Sache erst ordentlich zu Ende bringen, bevor man etwas Neues beginnt, hatte seine Oma oft zu ihm gesagt. Das klang nach geordnetem Leben. Und damit wollte er jetzt beginnen.

Er denkt an die junge Nutte Karenina und überlegt, welche Chancen sie hätte, aus dem Milieu auszusteigen, wenn sie es wollte. Das würde die Organisation nicht zulassen, und die Wahrscheinlichkeit, dass man sie, bevor es dazu käme, einfach verschwinden ließe, wäre groß. So, wie sie Olga aus dem Verkehr gezogen hatten.

Die Geschichte mit Olga steckt ihm immer noch tief in den Knochen. Er ist glimpflich davongekommen, die Sache hätte auch anders ausgehen können.

Seine Gedanken driften ab. Er denkt an die Reise, die unter anderen Umständen ein wunderbares Erlebnis gewesen wäre.

Damals, er hatte seinen Wohnsitz noch in Düsseldorf, verkehrte er regelmäßig in dem Bordell von Igor und seinen Männern. Eines Tages wollte ihn der Boss der Russengang als Mitarbeiter anwerben. Hannes lehnte ab. Doch Igor war hartnäckig.

„Keine großen Sachen“, hatte er sein Ansinnen heruntergespielt. „Nur mal aushelfen, wenn’s eng wird. Natürlich wird gut bezahlt, sehr gut.“

Wenngleich er sich nicht hatte vorstellen können, welcher Art seine Mitarbeit in diesen Kreisen sein sollte, hatte das Geld gelockt und er schließlich eingewilligt, doch Drecksarbeit wollte er nicht erledigen.

„Keine großen Sachen, mal aushelfen“ klang verlockend und Geld konnte er immer gebrauchen.

Fast vergessen war seine Zusage von damals, als er plötzlich Anfang November letzten Jahres einen Anruf erhielt.

Für zwanzigtausend Euro zuzüglich Spesen sollte er die junge Prostituierte Olga aus dem Weg schaffen.

Igors Nötigungen nahmen kein Ende, er setzte ihn unter Druck. Hannes sah sich gezwungen, den Auftrag anzunehmen.

Seine Gefühle fuhren Achterbahn. Igor hatte ihm keine Wahl gelassen, und weil er die rigorosen und skrupellosen Repressalien der Bande fürchtete, hatte er seine Chancenlosigkeit gesehen und es blieb bei der Einwilligung. Über mögliche Konsequenzen hatte er nicht nachgedacht.

Er würde mit Olga auf einem großen Kreuzfahrtschiff von Hamburg nach New York reisen. Die Rückreise nach Deutschland sollte er allein antreten. Man verlangte mehr von ihm, als er jemals in seinem Leben an krimineller Energie aufgewendet hatte.

Eine Anzahlung von zehntausend Euro war für ihn vor Antritt der Reise in bar in einem Umschlag an der Rezeption eines Hotels hinterlegt worden. Weitere zehntausend Euro sollten nach seiner Rückkehr für das Beweisfoto, dass sie tot war, fließen. Eine Menge Geld, aber so ausgebufft und abgebrüht, ein Menschenleben auszulöschen, war er nicht. Doch er wusste, dass man ihn nicht in Ruhe lassen würde, wenn er das großzügige Angebot, wie Igor es nannte, nicht annahm.

Die minderjährige Olga kam aus der Ukraine und natürlich war sie illegal in Deutschland. Sie arbeitete als Prostituierte für Igor, dem Boss des Zuhälterringes, der mit einer großen Anzahl junger Frauen Riesengeschäfte machte.

Wegen verschiedener Delikte stand sie auf der Fahndungsliste der Polizei. Ein geschädigter Juwelier hatte eine perfekte Personenbeschreibung abgegeben, nach der ein Phantombild gefertigt worden war, das einem Foto der Frau gleichkam. Nun hing es an fast jeder Litfaßsäule, und dass man sie schnappen würde, war nur eine Frage der Zeit.

Vielseitig war Olga unterwegs gewesen: Räuberischer Diebstahl, Handtaschenraub, Betrug. Igor musste handeln. Der Kopf der Bande hatte beschlossen, Olga auf schnellstem Wege verschwinden zu lassen, denn hätte man sie geschnappt, wäre die Polizei sehr schnell auf Igor gekommen und er wäre erledigt gewesen. Aufgeflogen, wie andere vor ihm. Natürlich hätten seine Leute das Mädchen auch in Düsseldorf aus dem Verkehr ziehen können, aber die Düsseldorfer Polizei hatte eine Menge fähiger Leute und deshalb war es sicherer, sich die Sache etwas kosten zu lassen.

An einem Tag im November checkten Hannes und Olga in Hamburg auf dem Kreuzfahrtschiff ein. Der mächtige Schiffskörper des Luxusliners wirkte trotz seiner Größe elegant und graziös. Die maritime Farbgebung verlieh ihm eine edle Nuance. Nicht nur von außen war dieses Schiff beeindruckend. War man erst ins Innere gelangt, kam man aus dem Staunen nicht heraus. Exquisit und luxuriös das Ambiente, ob Kino, Theater oder Bibliothek. Überwiegend exquisit und elitär auch die Gäste. Mehr als dreitausend sollte das Schiff in Kabinen und Luxussuiten aufnehmen können, das Bordpersonal nicht mitgerechnet.

Hannes’ und Olgas Kabinen befanden sich auf unterschiedlichen Decks. Er hatte eine luxuriöse Balkonkabine ohne Sichtbehinderung auf Deck neun bezogen. Für Olga war eine Innenkabine auf einem der unteren Decks gebucht. Er ließ das Mädchen in dem Glauben, zu seiner eigenen Sicherheit für eine Weile aus Deutschland verschwinden zu müssen. So war sie guter Dinge, genoss die Fahrt und hielt sich an die Absprache, sich gemeinsam mit ihm nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Anfangs hatte er Gefallen an der Reise, besuchte nach dem Abendessen eine Show oder ein Konzert und traf anschließend, scheinbar zufällig, an der Bar auf Olga, um später in seiner Kabine die Nacht mit ihr zu verbringen.

Die eingeschleusten Drogen hatte er sorgfältig eingeteilt. Jeweils auf seine Bedürfnisse abgestimmt, hatte er Olga mit den Päckchen versorgt. So konnte er sich bedienen, an ihr seine Vorlieben ausleben, an ihr und ihrem Mädchenkörper.

Es war der letzte Abend an Bord. Er hatte Olga die Karte für seine Kabine zugesteckt, während er noch eine Weile an einem Fenster Platz nahm und auf den Atlantik schaute, auf dem ein diesiger Schleier lag. Er hing seinen Gedanken nach, dachte an das Mädchen und an seinen Auftrag, der in greifbare Nähe rückte. Unbehagen befiel ihn und beim Blick auf die Wellen verspürte er nicht wie sonst die Vorfreude auf die Nacht und das Verlangen nach der jungen Frau. Ein Druckgefühl im Brustbereich breitete sich aus. Er versuchte es zu ignorieren.

Gigantisch, wie der mächtige Schiffskörper das Wasser verdrängte. Vor seine Augen trat das Bild der riesigen Blätter der Schiffsschrauben, die er sich vor zwei Tagen auf dem oberen Deck angesehen hatte. Gewaltig und beeindruckend standen sie da, die in der Sonne glänzenden Wasserpropeller.

Warum nicht hier?, war ihm die Frage durch den Kopf geschossen. Das Ergebnis zählt, nicht das Wo und Wie!

Die Auftrag lautete, dass Olga in New York aus dem Fenster ihres Hotelzimmers stürzen sollte, aber das hier? Das Blut in seinen Adern hatte mächtig zu pulsieren begonnen, und die Wirkung der Cocktails sorgte für Turbulenzen in seinem Kopf. WARUM NICHT HIER?

Den Gedanken hatte er kaum aushalten können. Nicht zwangsläufig würde man einen Sturz über die Reling von der Brücke oder dem Observationsdeck aus beobachten. Nein, niemand würde es mitbekommen. Es war dunkel und diesig. Die Gäste, die sich um diese Zeit an Deck aufhielten, waren Verliebte, nicht Detektive. Es wäre nicht das erste Mal, dass auf einer Kreuzfahrt eine Person über Bord ging, und die mörderische See gab selten wieder jemanden frei.

Hineingesteigert hatte er sich in die Idee, es jetzt und gleich zu tun, und halblaut vor sich hin gedacht: „Wenn es heute Abend passiert, und wenn niemand ‚Mann über Bord’ schreit, wenn der unvorstellbare Sog der Schiffsschrauben ... Sie wird nichts spüren.“

Er hatte das Gefühl, ihm würde der Schädel platzen, und wie besessen von der Idee, die sich in seinem Kopf gerade zusammengebraut hatte, war ihm die Ausführung seines Auftrages plötzlich wie ein Kinderspiel vorgekommen.

Die zierliche Olga würde sich über die Reling beugen und wenn er wieder hinschaute, wäre sie nicht mehr da. Nicht neben ihm und auch in den dunklen Wellen nicht. Und da sie offiziell nichts miteinander zu tun hatten, musste er sie auch nicht als vermisst melden.

Er nahm eine aufrechtere Sitzposition ein. Ein Blick auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Wie war das doch noch? Tu es jetzt und tu es gleich. Jetzt würde er es tun können!

Ein übermäßiger Wille hatte ihn angetrieben, und der beschleunigte Schritt in Richtung Kabine tat ein Übriges. Keine Menschenseele auf den langen Gängen. Die dicken Teppiche schluckten jedes Geräusch. Vor seiner Kabine angekommen, hatte er in den Briefkasten gegriffen und hektisch die Kabinentürkarte aus dem Umschlag gerissen. Ein leises „Klick“ öffnete die Tür, die er sofort lautlos von innen wieder schloss. Das Dämmerlicht tat seinen Augen wohl. Er trat an das Bett.

Zieh dich an, ich werde dir etwas zeigen, wollte er sagen, als Olga ihm die Arme entgegenstreckte, ihm ins Gesicht schaute und lächelnd „Schön, dass es dich gibt“ in seine Richtung flüsterte. Wie ein Stich ins Herz trafen ihn ihre Worte.

„Unsere letzte Nacht an Bord“, fügte sie hinzu. „Ich freu mich auf New York.“

Ihr betörender Duft zog ihn in seinen Bann.

„Komm, ich werde dir etwas zeigen“, hauchte er ihr ins Ohr und zog sie zu sich heran.

Es war beinahe drei Uhr gewesen, als er erschöpft die Balkontür geschlossen und das Licht gelöscht hatte.

Ich hatte die Wahl damals, denkt er bei sich und zieht die Bettdecke bis unter das Kinn.

Über Bord oder Sturz aus dem Hotelfenster. Ich denke, ich habe die richtige Entscheidung getroffen.

Hannes’ Traum

Verstört und nass vom Schweiß wacht Hannes mitten in der Nacht in seinem Hotelzimmer auf. Sofort schaut er auf seine Hände. Blut ist an ihnen nicht zu sehen, so viel kann er ohne Licht erkennen. Er hat Gliederschmerzen und sein Kopf dröhnt wie nach einem Saufgelage. Er sucht den Schalter der Nachttischlampe und knipst die Beleuchtung an. Die Armbanduhr zeigt kurz nach drei Uhr an.

Wieder einmal hat ihm dieser schreckliche Albtraum zugesetzt. Seit Jahren malträtiert er ihn in Abständen immer wieder. Ein furchtbarer Film, der sich auch dann fortsetzt, wenn er zwischendrin aufwacht und sich auf die andere Seite wälzt.

Um den schlechten Geschmack aus dem Mund loszuwerden, beißt er in den Apfel, das Betthupferl auf dem Nachttisch. Er lehnt seinen Rücken an das Kopfende des Bettes.

Über die vielen Gedanken an die Reise mit Olga musste er schließlich eingeschlafen sein. Er muss etwas unternehmen, damit ihn dieser mit Wahnvorstellungen übersäte Traum nicht immer wieder fertigmacht. Er hält ihn gefangen in Irrealität und Gaukelei, und das Gefühl von Angst senkt sich wie eine Dunstglocke über ihn. Die Luft zum Atmen wird dünn, die Beine bringen ihn keinen Schritt voran. Vielleicht ist er geistesgestört oder pervers? Wieso verfolgt ihn dieser Traum? Seine Mutter spielt immer eine Rolle. Unmittelbar nach dem Aufwachen hat er immer dasselbe Gefühl: Irgendwann wird er durchdrehen.

Gestalten, er weiß nicht, ob es Frauen oder nur Kreaturen mit Brüsten aus Imagination und Fantasie sind, verfolgen ihn. Sie kreisen ihn ein, zerren an seiner Kleidung und lachen, sobald er nackt ist.

Früher, als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter ihn auch häufig ausgelacht, wenn er nackt herumlief. Die Häme der Mutter wird er nie vergessen können. Wahrscheinlich sind es die schrecklichen frühkindlichen Erinnerungen, die diesen Traum hervorrufen.

Mit den Händen versucht er seine Nacktheit zu verbergen und davonzulaufen, doch nicht einen einzigen Schritt kommt er von der Stelle.

Die Gestalten tragen Schneidewerkzeuge bei sich, kleine scharfe Klingen, die das Licht reflektieren und bei jeder Bewegung blitzen. Die nackte Angst treibt ihm den Schweiß auf die Stirn. Der Versuch zu fliehen misslingt. In seinen Ohren dröhnt ein Lachen wie von Schwachsinnigen und Geisteskranken.

Sie bugsieren ihn in einen Raum, eine Art Konferenzzimmer. Stühle sind in Reihen aufgestellt. Wortlos wird ihm ein Platz in der ersten Reihe zugewiesen. Ängstlich schaut er sich um. Hinter ihm sitzt seine Mutter. Was macht sie hier? Ihr Blick prophezeit nichts Gutes. Der Blick seiner Mutter hatte nie etwas Gutes verheißen. Sie schaut an ihm vorbei ins Leere. Selbst jetzt hat sie nicht den Mumm, ihn anzusehen, ihr Mund bleibt stumm. Im gesamten Raum eine Stille, die er hören kann. Er gerät in Panik.

Eine der merkwürdigen Gestalten kommt auf ihn zu.

„Die alte Weltenseele hat beschlossen, einige der hier Anwesenden ins Jenseits zu befördern“, sagt sie. „Diejenigen, die es betrifft, werden ein Getränk verabreicht bekommen, eine Betäubung, die den Körper schmerzunempfindlich macht. Zuvor ist jegliche Kleidung abzulegen. Dann werden Kutten verteilt, und die Reise ins Jenseits wird angetreten.“

Die Gesichter würden mit der Klinge bearbeitet. Kreuz und quer verlaufende Schnitte sollten eine spätere Wiedererkennung unmöglich machen. In einem sorgfältig verschnürten und mit einem Stein beschwerten Sack würden sie mit einem Lastwagen zum Hafenbecken gebracht und dort versenkt werden.

Er ist wie gelähmt, wagt nicht, sich noch einmal nach seiner Mutter umzusehen, und ist voller Hoffnung, dass er nicht zu den Auserwählten gehören wird. Doch ist er der Erste, der den todbringenden Trunk gereicht bekommt. Ein kleiner Becher, gefüllt mit einem zähflüssigen, trüben Schleim. Nun ist es egal. Er schaut sich um. Gesichter wie tot. An seiner Mutter geht der Kelch vorbei. Sie sieht ihn immer noch nicht an, blickt geradeaus. Selbst im Angesicht des Todes sieht sie ihn nicht an. In ihren kalten Augen spiegelt sich etwas, das ihn schaudern lässt.

Es folgt das Anlegen der Kutte. Der an ein Mönchsgewand aus beigefarbenem Sackleinen erinnernde Umhang bedeckt nun seine Haut. Ihm ist kalt, kälter denn je. Dann der Todestrunk. Ab in den Mund und runter mit dem Zeug. Die Flüssigkeit verselbstständigt sich, findet den Weg aus dem Mundwinkel, fließt außen am Hals entlang und verteilt sich unter dem Cape über den Körper.

Die Tür des Raumes wird geöffnet. Etwa ein Dutzend Menschen drängen sich dem Ausgang entgegen, um die Stätte verlassen und vielleicht doch noch entkommen zu können.

Sein Körper nimmt die Gestalt einer Schlange an. Durch die Beine der anderen hindurch gelingt ihm die Flucht nach draußen. Nun steht er da, wieder in Menschengestalt und auf dem Sprung ins Jenseits. Er muss fliehen, doch wohin? Weit wird er nicht kommen in dieser Montur.

Er rennt die menschenleere Straße entlang, biegt um die Ecke und winkt hektisch ein sich näherndes Auto heran. Die Frau am Steuer lässt die Scheibe herunter, fragt, ob sie ihn mitnehmen kann. Sie bemerkt die Panik in seinen Augen und öffnet die Beifahrertür. Er nimmt Platz und schaut sich um. In dem riesigen Wageninneren erblickt er mehrere Frauen, die heftig diskutieren und offensichtlich großen Spaß haben. Er spürt Erleichterung. Kurze Zeit später legen sie einen Stopp ein und betreten ein Speiselokal.

Das Restaurant ist von puristischem Ambiente, gediegen die Speisen auf den Tellern, die der Ober an ihnen vorbei zu den Tischen trägt. Er verspürt keinen Appetit. Doch zu verweilen und der Bedrohung entrückt, scheint ihm ein guter Kompromiss zu sein. Er bestellt eine kleine Portion Chili con Carne.

Bevor die Fahrt fortgesetzt wird, sucht er die Toilette auf. Kaum, dass sich die Tür hinter ihm schließt, wird er von einer Gruppe von Männern eingekreist. Sie fordern ihn auf, seine Kutte abzulegen. Er sieht keine Möglichkeit zu entkommen und ringt nach Luft. In seiner Kopflosigkeit wendet er sich einem der Männer zu, streicht über dessen Arm und lächelt ihn an.

Noch nie in seinem Leben hat er mit einem Mann etwas angefangen. Der absolute Horror. Der Mann, ein schmal gebauter Schwarzer mit glänzender Haut, schiebt ihn grinsend vor sich her in einen Nebenraum. Bis auf einen breiten Gürtel, in dem ein Messer steckt, ist der Mann nackt.

Die zurückgelassene Gruppe stimmt einen Gesang an. Er klingt rhythmisch wie Musik indianischer Ureinwohner. Der Schwarze bugsiert ihn in Richtung Wand. Von Panik getrieben zieht Hannes blitzschnell das Messer des Mannes aus dessen Gürtel und trifft ihn im selben Augenblick mit dem Knie und voller Kraft an der empfindlichsten Stelle. Seine rechte Hand vollstreckt mit dem fremden Messer, was dem unter Schmerzen zu Boden sinkenden Mann eine Bewusstlosigkeit und ihm selbst das Gefühl der Befreiung beschert.

Sein eigener greller Schrei und das Bild einer riesigen Blutlache haben ihn aus dem Traum gerissen.

Immer noch benommen, schleppt er sich aus dem Bett und öffnet einen Spalt weit die Vorhänge, durch die von den hell erleuchteten Werbeflächen auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein schmaler Lichtstrahl ins Zimmer fällt. Der Himmel ist noch dunkel.

Die Reise mit Olga – Teil II

Die kalte Dusche hat ihm gutgetan und die Hirngespinste des schrecklichen Traumes vertrieben. Ins Bett zurückgekehrt, lenkt er seine Gedanken noch einmal auf die Reise mit Olga.

Das Auschecken vom Schiff war um neun Uhr morgens erledigt. Die kurze Nacht und der Spagat der Gefühle hatten ihm zugesetzt. Doch an diesem Morgen war keine Zeit, um darüber nachzudenken. Mit Olga war alles besprochen. Sie begaben sich zum Taxistand. Die Schlange der Menschen, die auf ein Fahrzeug warteten, war lang. Die meisten Leute standen paarweise oder in kleinen Gruppen mit großen Koffern an. Sie alle benötigten ein Fahrzeug mit großem, wenn nicht gar riesigem Kofferraum.

Hannes und Olga würden jeder ein eigenes Taxi zum Hotel nehmen und fanden als Alleinreisende mit nur einem Gepäckstück schnell ein passendes Fahrzeug. Kurz nachdem Olga in ein Taxi gestiegen war, nahm Hannes im Fond einer schwarzen Ford-Limousine Platz. Er nannte sein Ziel und einigte sich mit dem chinesischen Chauffeur auf einen Preis von achtzig Dollar.

Im Milford Plaza Hotel auf der 8th Avenue war auf seinen Namen ein Doppelzimmer mit Einzelbelegung reserviert. Auch für Olga, deren Pass er nach dem Auschecken an sich genommen und ausgetauscht hatte, war ein Zimmer gebucht.

Nikolett Esterhazy, geboren am 05. Mai 1997 in Cegléd, einer Stadt etwa achtzig Kilometer südöstlich von Budapest. Täglich hatte er die Daten ihrer neuen Identität abgefragt.

Olga alias Nikolett stand bereits am Anmeldetresen des Hotels, während er sich in der langen Reihe hinten anstellte. Selbstsicher hatte sie ihren Koffer genommen und sich, ohne ihn anzuschauen, auf den Weg Richtung Aufzug gemacht. Recht beachtenswert, wie er fand. Olgas Zimmer lag im elften Stock, Hannes’ im sechsten.

Gemessen an der knapp dreißig Quadratmeter großen Balkonkabine auf dem Schiff, hatte er das Gefühl, einen Kerker zu betreten. Dieses Zimmer war ein Schock, ein kleines dunkles Loch, gut fünfzig Zentimeter Platz rund um das Bett, der zum Kofferablegen nicht reichte. Vom Fenster aus blickte er in einen Innenhof, in dem eine Reihe Abfallcontainer standen und der offensichtlich nur zum Zweck der Müllentsorgung von Menschen betreten wurde. Eine Ratte flitzte zwischen Wand und Müllgefäßen über den steinernen Boden. Sie machte sich über einen Fischkadaver her, der, anstatt in einem der Container, davor gelandet war.

Der Blick nach oben gab ein Stück Himmel frei, immerhin. Sonne hatte dieses Zimmer noch nie gesehen. Doch hatte er nicht die Möglichkeit, sich zu beschweren, und ebenso konnte er keine Umbuchung vornehmen. Jegliches Aufsehen war zu vermeiden. Genau hier, in diesem Innenhof, so lautete sein Auftrag, sollte Olga tot aufgefunden werden. Hier, neben dem abgenagten Fischkadaver und der gefräßigen Ratte. Abgestürzt aus dem elften Stock.

„Freitod nach Drogenkonsum“ oder „Wer stieß die junge Frau in den Tod?“, sah er die Schlagzeilen der Zeitungen vor seinen Augen.

*

Die Tage auf See waren wie im Flug vergangen. Dann und wann hatten die attraktiven Unterhaltungsangebote für ein unbeschwertes Urlaubsfeeling gesorgt. Doch das Ende der Reise rückte näher und als er an die letzte Nacht auf dem Schiff dachte, stieg Groll in ihm auf. Er hatte die Umsetzung seiner Idee, Olga an jenem Abend über Bord gehen zu lassen, verpasst. Hatte sich von ihr umgarnen und verführen lassen. Zwischen dem, was war und was hätte sein können, lag sein klägliches Versagen, Olgas Verführungskünsten nicht widerstanden zu haben. Hätte er sich nur nicht für die Liebesnacht entschieden.

Er warf seinen Koffer auf das Bett und öffnete den Deckel, um einige Kleidungsstücke in den Schrank zu hängen. Zufällig fiel sein Blick auf den ESTA-Antrag. Er nahm das Blatt in die Hand. Bei allen Fragen hatte er „Nein“ angekreuzt, auch im letzten Teil: „Haben Sie jemals Drogen in Umlauf gebracht, oder beabsichtigen Sie, zum Zwecke krimineller oder sittenwidriger Handlungen einzureisen?“

Mein Gott, wie grotesk und lächerlich, dachte er bei sich. Einzig und allein aus diesem Grund war er eingereist. Allerdings war es ihm unerklärlich, dass trotz strengster Kontrollen niemand auf die Drogenpäckchen gestoßen war, die er eingeführt hatte.

„Verlass dich drauf, es ist nicht das erste Mal, dass unsere Leute den Stoff ‚unsichtbar’ machen, den sie den Kurieren mitgeben. Denk einfach nicht dran, niemand wird etwas finden.“

Und recht hatte Igor behalten.

Hannes löste den Knoten seiner Krawatte und schnappte nach Luft. Seine Hände begannen zu zittern. Noch nie war er seinem Auftrag so nah gewesen. Und er hatte keine Vorstellung, wie er ihn ausführen würde oder konnte. Von heute an zwei Tage, und heute war schon halb vorbei! Er trank einen Schluck Wasser und schob das Fenster nach oben, um Luft hereinzulassen. Immerhin ließ es sich öffnen, das würde die Sache zumindest nicht erschweren. Die Gedanken daran, wie er seine Aufgabe erledigen würde, ließen Übelkeit in ihm aufsteigen. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Olga würde sterben, heute nicht, aber übermorgen ...

Die Dusche hatte ihn belebt und die Gedanken an übermorgen erst einmal vertrieben. Mit einer frischen Jeans, weißem T-Shirt und hellblauem Sakko bekleidet fuhr er in die Lobby, entnahm dort einem Ständer einige Broschüren und benutzte die Drehtür nach draußen. Nach wenigen Minuten erreichte er den Times Square an der Kreuzung Broadway und 7th Avenue.

Noch niemals zuvor war er in New York gewesen und unter anderen Umständen hätten ihn das quirlige Treiben und die riesigen Leuchtreklamen beeindruckt, die Filme, Theater oder Automarken bewarben. Doch das ununterbrochene Aufflackern der Lichter und die bewegten Bilder der Reklamen machten ihn kirre. Hier musste es auch mitten in der Nacht taghell sein.

Der Straßenlärm, das Hupen ungeduldiger Autofahrer, das war zu viel für seine Nerven. Am TKTS-Ticket-Point besorgte er sich für den Abend eine Karte für das „Phantom der Oper“, das in einem Theater in der Nähe aufgeführt wurde. Irgendwie musste er diesen verfluchten Abend und die Nacht überstehen.

In das Hotel zurückgekehrt, warf er sich aufs Bett und schaltete den überdimensionierten Fernseher ein. In den Nachrichten der Bericht, dass das Rockefeller Center Tree Lightning, ein besonders beliebtes Spektakel, in wenigen Tagen bevorstünde. Der beleuchtete Weihnachtsbaum, das Wahrzeichen der beginnenden Weihnachtssaison. In seiner derzeitigen Situation klang es grauenhaft und grässlich. Weihnachtssaison, nicht jetzt.