Ein Grab auf Sylt - Renate Folkers - E-Book

Ein Grab auf Sylt E-Book

Renate Folkers

3,9

Beschreibung

DAS AUSMASS DER TRAGISCHEN EREIGNISSE IST UNERMESSLICH UND SCHÄNDLICH Eine Tote am Rantumer Strand und die Aufzeichnungen eines Tagebuches beschäftigen Hauptkommissar Nane Lüders von der Husumer Kriminalpolizei. Ihm offenbart sich ein ergreifendes Schicksal. Die Feinsinnigkeit und Menschenkenntnis des Beamten führen schließlich zu der Gewissheit, dass der Tod eines Unschuldigen hätte verhindert werden können. Stalking, gepaart mit Symptomen der Borderline Krankheit, lässt zwei Menschen aufeinandertreffen, deren Zusammenspiel vernichtender nicht sein könnte. Die Geschichte scheint wie eine Inszenierung, eine Show und ist zugleich ein Abbild der zerstörenden Auswüchse jener Krankheitsbilder.

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Ähnliche


Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Abschied von alten Gewohnheiten

Hannes Baum – Die Reise mit Olga

Hannes’ Traum

Die Reise mit Olga – Teil II

Recherche im TSBW

Antrag auf Hartz IV

Auf dem Friedhof

Date mit Marion

Entlassung

Im Haus

Auszug aus dem Tagebuch für Torge

Kleiner Klönschnack am Rande

Stadtbummel

Erste Begegnung mit Hannes

Rote Rosen

Zug um Zug

Happy auf Sylt

Wochenende

Im Hotel Bad Minden

Alltag

Die Entbindung

Biikefeuer

Fritz Petersens Fund

Torges Rückkehr

Krisensitzung

Ergebnisse

Observation läuft

Marion beißt an

Endspurt

Eingetütet

Mitgehört

Zu Gast bei Hannes Baum

Ich habe es getan

Nach der Vernehmung

Ein Brief für Torge

Auf dem Weg in die JVA

Ankunft in der JVA

Alltag in der JVA

Ein Traum in der JVA

Ein Plan entsteht

Ein toller Geburtstag

Notfall in der Zelle

Ein spannender Trip nach Sylt

In Memoriam

Strandspaziergang

Wer ist die Tote am Strand?

Post für Nane Lüders

Wir haben sie gefunden

Tagebucheinträge

Neuigkeiten

Was ist mit Frauke?

Lüders kontaktiert Marion

Neue Erkenntnisse

Noch ein paar Fragen, Frau Petereit

Ein raffiniertes Frauenzimmer

Der letzte Akt

Das Geständnis

Ein Tag mit vielen Facetten

Danksagung

Renate Folkers

Ein Grab auf Sylt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123RF.com

eISBN: 978-3-8271-9893-8

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten um Husum und auf Sylt, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

Über die Autorin:

 

1950 auf Nordstrand bei Husum geboren

nach der Schule Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten

insgesamt über 25 Jahre an Schreibtischen öffentlicher Arbeitgeber

von 1978 bis 1988 Familiengründung und Kindererziehung (4)

2001 Lebensmittelpunkt nach Minden verlegt

2009 Abschied aus dem Berufsleben und mit dem Schreiben begonnen

größte Herausforderung als Autorin der 2014 fertiggestellte Kriminalroman „Der Tote hinter dem Knick“

Mehr über Renate Folkers und ihre Aktivitäten erfahren Sie auf Facebook.

Ein Autor ist jemand,

der seinen Geist gelehrt hat,

sich unpassend zu benehmen.

(Oscar Wilde)

Abschied von alten Gewohnheiten

‚HIN UND WIEDER AUSSERGEWÖHNLICHEN SEX IN ERSTKLASSIGEM AMBIENTE ERHÖHT DIE GENUSSFÄHIGKEIT‘, stand in großen Lettern auf dem Titelblatt einer Zeitschrift. Genau das hat er sich gegönnt, außergewöhnlichen Sex in erstklassigem Ambiente, intensivsten Genuss.

Hannes schließt den Reißverschluss seiner Hose und zupft das Hemd zurecht. Er schaut in den Spiegel, der die Sicht auf das luxuriöse Doppelbett im Nebenzimmer freigibt. Wie tot liegt der junge Frauenkörper inmitten der mit seidener Bettwäsche bezogenen Kissen und Decken. Das dichte, leuchtend rote Haar, das anfangs zu einem Zopf geflochten gewesen war, schlängelt sich wie züngelndes Feuer auf dem champagnerfarbenen Kissen.

„Nimm das Band aus dem Haar“, hatte er gesagt, es ihr aus der Hand gezogen und um den Hals gelegt. Seine Finger hatten das Geflecht der Haare gelöst. Die wilde Mähne, die nun ungebändigt ihre Schultern berührte, verdeckte teilweise ihr Gesicht. Der schlanke, nackte Körper wand sich wie der einer Schlange. Ihre Augen mit Riesenpupillen, die sich in seinem Blick versenkten, hatten ihn in Ekstase versetzt und seine Hände die Enden des weinroten samtenen Haarbandes zusammenziehen lassen. Luftnot ließ sie auf das Bett sinken. In diesem Augenblick glaubte er, sie sei in anderen Sphären. Bewegungslos der Körper, nur der regelmäßige Rhythmus des Atems, der die Nasenflügel hob und senkte, ließ ihn wissen, dass sie nicht tot war. Das war das Spiel, das er liebte, das ihn reiten ließ auf einer Welle, die ihn erregte und berauschte, ihm eine an Wahnsinn grenzende Entspannung bescherte.

Karenina war keine professionelle Prostituierte, dafür war sie zu jung. Auf etwa fünfzehn Jahre schätzte er sie. Die meisten Mädels hier waren unwesentlich älter und auf Drogen, damit sie das Geschäft nicht ruinierten. Der Stoff machte sie auf unproblematische Art gefügig. Eine lohnende Investition für die Betreiber des Bordells. Die Zuhälter waren wenig zimperlich. Wer nicht parierte, wurde bedroht, geschlagen, gegebenenfalls rigoros aus dem Verkehr gezogen. Ein Scheißgeschäft irgendwie, und er machte mit. Er zahlte nicht schlecht, und wenn er nicht käme, gäbe es genügend andere. Immerhin behandelte er sie gut.

Karenina war high, das hatte ihm ihr Blick bereits beim Betreten des Etablissements verraten. Zwangsweise enthemmt, damit der Kunde zufrieden war, so konnte man es wohl ausdrücken. Genau das war es, was die Sache für ihn so reizvoll machte, dieses Enthemmtsein. Er liebte die jungen Mädels. Sie waren unverdorben, gefügig und sie konnten einen, wie gesagt, zum Wahnsinn treiben.

Seit seinem Umzug nach Husum war er nicht mehr hier gewesen. Das Etablissement, in dem er regelmäßig verkehrt hatte, war aufgeflogen. Er hatte davon in der Zeitung gelesen. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten Polizei, Gewerbeamt, Zoll und Finanzbehörden erfolgreich zugeschlagen. Menschenhandel, Zuhälterei und Schutzgelderpressung wurden den Betreibern des illegalen Bordells vorgeworfen. Wegen Zwangsprostitution und sexueller Ausbeutung waren seine Kontaktperson und mit ihr einige Mitglieder des Schleuser- und Drogenrings in Haft genommen worden. Einige Tage später hatte man ihn angerufen und informiert, dass das Etablissement aus gegebener Veranlassung habe verlegt werden müssen. Leider sei Irina, das von ihm bevorzugte Püppchen, wie der Anrufer sich ausdrückte, wegen Vertrauensmissbrauch nicht mehr im Geschäft. Später hatte er erfahren, dass sie in Abschiebehaft gekommen war. Die Organisation hatte mit anderen Hintermännern die Stammkunden weiter bedient und ihm, wegen seiner Vorliebe für ganz junge Mädchen, ein perfektes Äquivalent zu Irina angeboten. Die Sache war ihm zu heiß gewesen, deshalb hatte er vorerst keinen Gebrauch davon gemacht.

Nun schien Gras über die Angelegenheit gewachsen zu sein. Er gönnte sich ein Wohlfühlwochenende in Düsseldorf, seiner alten Heimat, und dazu gehörte zweifelsfrei auch dieser Besuch.

In seine Gedanken versunken nimmt er Platz in dem pompösen schwarz-rot-goldenen Plüschsessel. Er rückt ihn so zurecht, dass er über den Blick in den Spiegel die Frau auf dem Bett im Auge behält.

Damals war er guter Kunde gewesen, vertrauenswürdig, und hatte, was die Auswahl der Mädels betraf, immer eine bevorzugte Behandlung genossen. Auch heute war er nicht enttäuscht worden.

Seit jenem Tag, an dem er Tanja begegnete, war er süchtig nach dem Kick, den Mädchenkörper in ihm auslösten. Tanja war dreizehn und die Tochter seines Nachbarn in der Düsseldorfer Straße in Oberkassel. Paul Gerhard hatte ihn zu einer Gartenparty eingeladen. Sie hatten nie großartig Kontakt gehabt, aber eines Tages gab Paul in der Nachbarschaft bekannt, dass er am Wochenende eine Fete veranstalten würde. Es könne an diesem Abend etwas lauter zugehen, und wer Lust habe, möge vorbeikommen. Hannes selbst hatte keinen Garten, er wohnte in der Einliegerwohnung seines Vermieters, die lag im ersten Stock gegenüber vom Haus der Gerhards. Von seiner Wohnung aus konnte er in ihren Garten sehen.

„Macht mir nichts aus“, hatte er zu Paul gesagt. „Ich werde mir das Spektakel von oben anschauen. Aber danke fürs Bescheidgeben.“

„Komm doch einfach vorbei, wenn du nichts Besseres vorhast“, war es Paul spontan über die Lippen gekommen. „Essen, trinken und Spaß garantiert. Das Tanzbein kann übrigens auch geschwungen werden, das solltest du dir nicht entgehen lassen.“

Tatsächlich hatte er fürs Wochenende nichts geplant und sich am Samstag kurzerhand entschlossen, zu den Gerhards zu gehen. Pauls Frau Lene kannte er flüchtig. Manchmal hatten sie einander zugewunken, wenn er auf dem Balkon, sie zufällig im Garten gewesen war.

Lene freute sich sichtlich, ihren Nachbarn persönlich kennenzulernen. Spontan zeigte sie ihm das Haus. Hannes gefiel ihre offene Art. Sie war eine Frau zum Schockverlieben, wie er fand. Sie trug ein schwarzes, schulterfreies Kleid. Ihre braunen Locken, die bei jedem Schritt wie kleine Spiralfedern wippten und auf den nackten Schultern tanzten, faszinierten ihn. Und sie verströmte einen betörenden Duft.

„Hier ist das Reich von Tanja“, sagte Lene. Nachdem sie angeklopft hatte, öffnete sie die Kinderzimmertür. Hannes war verblüfft über die Ähnlichkeit von Mutter und Tochter.

„Kannst nicht leugnen, dass sie deine Tochter ist. Hübsch wie die Mama. Hallo, Tanja.“

„Das ist unser Nachbar Hannes Baum, er wohnt drüben bei den Schünemanns. Tanja ist dreizehn. Wie alle Mädchen in ihrem Alter ist sie von Zeit zu Zeit nicht ganz unkompliziert“, hatte Lene gesagt und Hannes dabei zugezwinkert. Hübsche braune Augen hatte Lene. Eine Art ewiges Lächeln lag in ihnen und eine unergründliche Tiefe.

Dem Gesichtsausdruck des Mädchens entnahm er, dass die Beschreibung „nicht ganz unkompliziert“ deutlich untertrieben war.

„Was macht ein Mädchen in deinem Alter denn so in seiner Freizeit?“, hatte Hannes sie zu einem Gespräch zu ermuntern versucht.

„Da mach ich was, wovon ältere Männer ganz bestimmt keine Ahnung haben.“

„Tanja!“

„Lass nur, Lene, ist schon in Ordnung. Ich spiele die neuesten Nintendo-Spiele, schon mal was davon gehört? Ich rede hier nicht von Papieralarm im Pilzkönigreich. Bin leider ein richtiger Stubenzocker, wenn man so will.“

„Echt? Krass! Können wir zusammen mal was machen?“

Er hatte Tanja aus dem Schneckenhaus gelockt, darauf konnte er sich, nachdem sie ihn als älteren Mann betitelt hatte, etwas einbilden.

„Klar, sag Bescheid, wenn du mal Lust und Zeit hast, mit einem älteren Mann ein Spiel zu machen.“ Die Spitze konnte er sich nicht verkneifen.

Später war Tanja sogar auf der Party erschienen, hatte seine Nähe gesucht. Das fand er interessant, wo sie am frühen Abend noch mit Nullbockstimmung kokettiert hatte.

Das Fest war in vollem Gang, es wurde getanzt.

„Darf ich um einen Tanz bitten, Prinzessin?“, fragte er sie.

„Oh mein Gott, was ist das denn für eine Ansage? Willkommen bei Anna und Elsa im Eisprinzessinnenland. Aber nein, ich kann nicht tanzen“, maulte sie und verdrehte die Augen.

„Kann ich nicht, gibt’s nicht. Sicher hast du schon mal so richtig abgetanzt, oder? Komm, ich zeig’s dir.“

Widerwillig hatte sie sich mit ihm ins Getümmel begeben.

„Klappt doch super. Du bist die geborene Partymaus!“

Bei der schnulzigen Schmusemusik zog er sie dicht zu sich heran.

„Mach am besten die Augen zu, die Füße tanzen automatisch die richtigen Schritte, lass dich einfach fallen.“

Während er sie in seinen Armen hielt, dachte er an Lene und ihre wippenden Locken. In einem Anflug von, er wusste selbst nicht wie, passierte es. Er beugte sich zu ihr herab, küsste sie und schob gierig seine Zunge in ihren Hals.

„Lass das, das ist eklig!“, hatte Tanja geschrien, woraufhin er sie noch enger an sich gezogen und seinen erigierten Penis gegen ihren Bauch gedrückt hatte.

„Stell dich nicht so an, das gehört zum Erwachsenwerden dazu“, hatte er gekeucht. „Da können wir doch schon mal ein bisschen üben.“

Sie hatte sich von ihm losgerissen und ihn angeschrien: „Igitt, das ist so eklig, du bist pervers!“

Vor allen Gästen hatte er dagestanden, schrecklich blamiert. Er ging davon aus, dass aufgrund der lauteren Musik nur er mitbekommen hatte, was genau Tanja gekreischt hatte. Doch die Leute hatten abwechselnd ihn angesehen und Tanja hinterher geschaut, die daraufhin ins Haus gerannt war.

„Was ist passiert?“, hörte er Pauls Stimme.

„Lass nur, sicherlich hat Tanja wieder einen von ihren abscheulichen Trotzanfällen. Das ist das Alter, sie kommt schon wieder zu sich. Mach dir nichts draus, Hannes“, hatte Lene sich eingemischt, der das schlechte Benehmen der Tochter vom frühen Abend in den Sinn kam. Offensichtlich ging Lene tatsächlich von einem harmlosen kleinen Zwischenfall aus, der von ihrer pubertären Tochter mit viel Aufsehen hochgespielt wurde.

Dankbar hatte er Lene angelächelt und ihren Ball aufgenommen: „Manchmal sind sie ein bisschen empfindlich in dem Alter. Das darf man nicht zu ernst nehmen.“

Eine gewagte Aussage, aber irgendwie musste er den Kopf aus der Schlinge kriegen. Das war ihm gelungen, wie er fand.

Die Sache hatte zwar kein Nachspiel, was ein Aufgreifen des Vorfalls durch die Eltern anging, doch er selbst hatte sie nie vergessen. Das Gefühl der Zurückweisung, in höchster Erregung stehen gelassen und vor versammelter Mannschaft blamiert zu werden, nagte an seinem Selbstwertgefühl. Sie hatte ihn vorgeführt, er war gescheitert und bloßgestellt worden!

Diese Begebenheit war das Schlüsselerlebnis, das in ihm diesen innerlichen Zwang auslöste, seine Gier nach jungen Frauen, Kinderfrauen, zu befriedigen. So war er in den Puffs gelandet. Hier gab es keine Blamagen.

Dessen ungeachtet lässt ihn der Gedanke, sich an der Gattung Frau insgesamt rächen zu müssen, nicht in Ruhe. Er wird ihn nicht los.

Verdrängt hatte er die abscheulichen Erlebnisse aus der Zeit, als er selbst noch minderjährig, etwa zwölf Jahre alt war. Die Erinnerungen wären vielleicht nicht wieder so nah an ihn herangekommen, wenn er nicht kürzlich zufällig in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem Publizisten Fritz Raddatz gelesen hätte. Tief in seinem Inneren hatten die schrecklichen Geschehnisse geschlummert, bis er auf dieses Interview gestoßen war.

Ähnlich wie Fritz Raddatz war auch er missbraucht worden. Seine Mutter – sie hatte nach dem Tod des Vaters noch einmal geheiratet – hatte ihn verführt. Hannes musste ihr und ihrem Mann im Schlafzimmer beim Sex zuschauen. Danach hatte der Mann sich an ihm vergangen. Freunde hatte er damals nicht. Mit wem hätte er darüber reden sollen? Vielleicht mit seiner Lehrerin, aber die Scham war groß. Er konnte sich niemandem anvertrauen.

Die Verletzungen sitzen tief. Die plötzlich wieder aufkeimenden Erinnerungen produzieren Gefühle zwischen Hass, Wut und Erniedrigung. Sie fordern eine Wiedergutmachung. Wenn er Ruhe finden will, muss er sich revanchieren! Er ist überzeugt, dass die Frauen ihm etwas schuldig sind. Zwei Frauen tragen dafür die Verantwortung, dass er so geworden ist: seine Mutter und Tanja.

Die Mutter ist tot. Sie hatte ihm keine Geborgenheit gegeben, Nähe nicht zugelassen. Jedenfalls nicht die Nähe, die ihm als Junge nach dem Tod des Vaters so sehr gefehlt hatte. Anstatt ihn zu trösten, hatte sie ihn lächerlich gemacht vor anderen. Beschimpfungen und Bestrafungen waren das tägliche Brot. Die Gedanken an seine Kinderjahre fühlen sich kalt, leer und schmerzhaft an.

Er spürt tief in seinem Inneren ein Gefühl von Hass, wenn die Erinnerungen sich, wie jetzt, in sein Gedächtnis schleichen. Körperliches und seelisches Leid, Zurückweisung und Spott, Schmerz. Das kann so nicht bleiben. Die jungen Dinger können nichts dafür, die Frau an sich ist der Übeltäter.

Karenina ist aus ihrem Rausch aufgewacht. „Du bist noch da! Wie spät ist es?“

„Wir haben noch Zeit.“

Trotz seiner sarkastischen Gedanken, der Verletztheit mit Rache und Vergeltung zu Leibe zu rücken, schafft er es, der jungen Frau ein Lächeln zu schenken. Er legt den vereinbarten Betrag und ein anständiges Trinkgeld neben sie auf das Kopfkissen.

Sieht aus wie ein Traum, denkt er beim Anblick des makellosen Körpers in der luxuriösen Umgebung. Im Gehen streichelt er ihre Wange.

Lautlos lässt sich die Tür ins Schloss ziehen. Der dicke Teppich auf dem langen, schmalen Flur schluckt jegliches Geräusch. Er zählt die Türen zu den Zimmern nicht. Es mögen zwanzig oder mehr sein, hinter denen täglich illegal mit Prostitution Geld verdient wird. Und er ist dabei.

Den Code zum Öffnen der stählernen Brandschutztür am Ende des Flures entnimmt er dem in Augenhöhe neben dem Türrahmen befindlichen Kästchen. Durch Eingabe der angegebenen Zahlenkombination und dem Drücken der Okay-Taste springt die Verriegelung der schweren Tür auf.

Kurz darauf betritt er den nackten Betonboden des dritten Obergeschosses. Hier werden in Kürze ein Friseursalon und eine Massagepraxis ihre Tore öffnen, verrät ein Aufsteller. Der Gebäudekomplex besteht aus drei Etagen. Auf den ersten beiden haben Firmen, Anwälte, Versicherungen und Ärzte ihre Büros und Praxen. Dass sich über ehrbaren Bruttosozialprodukt-Erzeugern ein Bordell vom Feinsten befindet, ahnt niemand. Hier wird gedealt, mit der Ware Mensch gehandelt und im großen Stil Kohle am Fiskus vorbei verdient. Doch was haben ihn die Dinge zu interessieren? Er bereichert sich nicht mit, er nimmt eine Dienstleistung in Anspruch und zahlt dafür. Puffs hat es immer schon gegeben. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, hier nicht und auch sonst nicht. Es ist ein Geschäft. Zweihundert Euro die Stunde für Sex in exklusivem Ambiente inklusive einer Flasche Mumm Dry, das ist okay. Heute hatte er eineinhalb Stunden gebucht.

Er ist dabei, sein Leben neu einzurichten. Der heutige Tag dient dem endgültigen Abschied von Düsseldorf und dem illegalen Bordell mit minderjährigen, zur Prostitution gezwungenen Frauen. Er will Distanz, den Rückzug aus jener Art Leben.

Er geht ein Stockwerk zu Fuß die Treppe hinunter, nimmt von hier aus den Aufzug ins Erdgeschoss. Der Fahrstuhl gleitet nach unten. Der direkte Weg führt ihn an einem Informationsschalter vorbei. Unauffällig, als würde er aus einem der Büros kommen, verlässt er das Gebäude. Auf der Straße herrscht rege Betriebsamkeit. Ein paar Mal tief durchatmen, und er ist in der Realität wieder angekommen. Die Rachegedanken verflüchtigen sich ebenso wie die Erinnerungen an Karenina.

Er betrachtet sein Spiegelbild in der Fensterfront eines Herrenausstatters, ist zufrieden mit seinem Aussehen.

Die hellblaue Jeans mit aufliegenden Nähten macht eine ausgesprochen gute Figur. Hässlich sieht anders aus, sagt er zu sich selbst. Unter dem Ton in Ton zur Hose ausgewählten blau-grün karierten Hemd strahlt ein weißes T-Shirt, das seinen braunen Teint optimal zu Geltung bringt. Die kinnlangen blonden Haare hat er hinter die Ohren geschoben, Ponyfransen fallen lässig in die Stirn. Verwegen, abenteuerlich. Ja, so mag er sich. Zweiundvierzig Jahre und kein graues Haar.

„Ich sollte mich als Model bei Dolce & Gabbana bewerben“, brummelt er und grinst in sich hinein.

Im Block House in der Altstadt am Burgplatz werde ich eine Kleinigkeit essen. Ausgezeichnete Steaks soll es dort geben. Danach kann der Abend im Hotel gemütlich ausklingen.

Er winkt ein Taxi heran, lässt sich lässig in den Beifahrersitz fallen und gibt dem Fahrer Anweisung, wohin es gehen soll. Als das Handy einen Anruf meldet, weist er das Gespräch ab und klappt den Deckel der ledernen Hülle zu.

Wer immer du auch bist, lass mich in Ruhe, es ist Feierabend, und was für einer.

Kurze Zeit später zahlt er das Fahrgeld und steigt aus dem Wagen.

Das sieht ja ganz schlecht aus, nicht ein einziger freier Platz hier draußen, denkt er bei sich, als sein Blick den Außenbereich des Restaurants inspiziert.

„Sie können hier Platz nehmen, wir gehen!“ Eine Frau, die seinen suchenden Blick beobachtet hat, winkt zu ihm herüber. Wie ein Blitz durchzuckt es ihn.

Mutter, fährt es ihm durch den Kopf.

So ein Unsinn, Mutter ist tot. Aber verdammt viel Ähnlichkeit hat diese Frau mit seiner Mutter.

„Scheint heute der Tag der bösen Erinnerungen zu sein“, brummelt er vor sich hin.

„Das ist nett von Ihnen, danke“, stammelt er und zieht sich einen Stuhl zurecht. Von seinem Platz aus hat er einen Überblick über die gesamte Terrasse. Die Augen verlieren sich suchend in der Menge der Menschen um ihn herum.

Dass die Frau ihn an seine Mutter erinnert, muss mit den gruseligen Erinnerungen, die immer noch in seinem Kopf herumspuken, zusammenhängen. Das Feindbild Mutter.

Doch auch Tanja geht ihm nicht aus dem Sinn.

Er denkt an ihren schlanken Mädchenkörper, den er mit seinen Armen umschlungen hielt. Und an die Erregung, die plötzlich in ihm aufgestiegen war. Bis dahin war alles gut, bis die kleine widerborstige Göre sich aus seinen Armen befreit und laut zu schreien angefangen hatte.

„Das ist eklig!“ Die Worte klangen in seinen Ohren, wann immer er später daran gedacht hatte. Auch in diesem Augenblick dröhnt in seinem Kopf der Widerhall der Worte. „EKLIG!“

Und dann haut das kleine Luder ab, lässt mich stehen und alle kriegen es mit.

Er redet sich innerlich in Rage, greift mit beiden Händen an seinen Kopf und durchkämmt mit den Fingern die Haare.

Niemals werde ich diese peinliche Bloßstellung vergessen. Abgeblitzt von einer kleinen Zicke.

Die verkrampften Hände lösen sich und sein Blick kehrt zurück zu den Menschen an den Nachbartischen. Erst jetzt bemerkt er, wie einige der Gäste in seine Richtung starren. Mit einem Räuspern nimmt er eine andere Sitzposition ein und verschenkt ein verzerrtes Lächeln in alle Richtungen. Er nimmt die Getränkekarte zur Hand.

Ich werde mir etwas sehr Spezielles ausdenken. Mit dem Alten aufräumen gehört zu einem Neubeginn.

„Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?“, holt ihn der Ober aus seinen Gedanken.

„Gerne, eine Bloody Mary, bitte“, kommt es ihm wie selbstverständlich über die Lippen.

„Virgin oder mit Umdrehung?“

„Mit, bitte.“

Die nervös auf der Tischplatte trommelnden Finger kommen zur Ruhe. Der spitze Gesichtszug verschwindet. Eine Bloody Mary. Ihm gefällt sein spontaner Entschluss, gerade dieses Getränk bestellt zu haben, das mit einem Mal eine weitaus bedeutendere Relevanz als nur die des die Katerstimmung vertreibenden Drinks bekommt. Eine außerordentlich interessante und spannende Bedeutung. Die Betonung liegt auf bloody, oder nicht?

„Möglicherweise“, murmelt er in sich hinein. „Noch kann ich es nicht abschätzen. Was für ein schöner Sommerabend.“

Hannes Baum – Die Reise mit Olga

Das Essen im Block House war hervorragend. Gegen zweiundzwanzig Uhr steigt Hannes am Düsseldorfer Carathotel in der Benrather Straße aus dem Taxi.

Er steuert direkt die Wintergarten-Bar an, um seine Mails zu checken und einen Absacker zu bestellen. Nur wenige Tische sind besetzt. Er nimmt Platz am Tresen und bestellt einen Dry-Martini-Cocktail. Sein Lieblingsgetränk, wenn ein Tag nach einem harmonischen Ausklang verlangt.

Die brünette Bedienung serviert das Getränk und stellt ein Schälchen mit Oliven neben das Glas. Genüsslich zerkleinern seine Zähne die fein salzige, grüne Frucht, die er mit Gin und Martini hingebungsvoll herunterspült. Er überlegt kurz, einen weiteren Cocktail zu bestellen, entscheidet sich aber doch, sein Zimmer aufzusuchen.

„Den Drink buchen Sie bitte auf Zimmer Nummer dreihundertfünf“, sagt er. „Plus zwei Euro Tipp für Sie“, fügt er lächelnd hinzu.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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