Die erste große Liebe ist für jeden etwas Besonderes. Erweckte Gefühle verändern uns maßgeblich. Wir tragen sie auf ewig in unseren Herzen, sodass wir sie niemals vergessen. Durch widrige Umstände trennte Hugh und Brody von heute auf morgen ein ganzer Ozean. Während der eine in Schottland blieb, ging der andere nach Kanada. Vorher gaben sie sich jedoch das Versprechen zusammenzubleiben. Was sie nicht ahnten, war, dass sie dieses Versprechen nicht würden halten können. Ein halbes Leben später begegnen sie sich wieder. Eine Chance, an dem Punkt anzuknüpfen, als sie in Liebe vereint gemeinsame Zukunftspläne schmiedeten? Wenn ja, wollen sie diese Gelegenheit nach so vielen Jahren überhaupt ergreifen? Immerhin hat sich jeder ein Leben aufgebaut – der eine in Ullapool, der andere in Halifax.
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Impressum
(1. Ausgabe April 2020)
2. Ausgabe Februar 2023
Copyright © Text, Satz & Layout, Cover Design: Nele Betra, 2023
Nele Betra
c/o easy-shop
K. Mothes
Schloßstraße 20
06869 Coswig Anhalt
www.nelebetra.de
Alle Rechte vorbehalten. Übersetzung, Nachdruck und Veröffentlichung jeglicher Art, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autorin.
Lektorat: Brigitte Melchers, Gela Fischer
Korrektur: Bernd Frielingsdorf
Bildrechte vermittelt durch: depositphotos
ISBN: 978-3-75-469615-6
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Für Gela, mein blumiges (B)Engelchen, das mich von Zeit zu Zeit in den kreativen Wahnsinn treibt.
Kleine Wörterkunde
Prolog
1. Frostiger Empfang
2. Neuigkeiten
3. Die Welt gerät aus den Fugen
4. Hühnersuppe
5. Unwetter
6. Dorftratsch
7. Zeitreise
8. Besucher
9. Aussprache
10. Rettung
11. Der Brief
12. Rückkehr
13. Freundschaft im Praxistest
14. Anschiss
15. Familie ist nicht gleich Familie
16. Gemeindeversammlung
17. Rückkehr oder Heimkehr?
18. I Don’t Want to Miss a Thing
19. Lachlains Offenbarung
Epilog
Über den Autor
Bücher von Nele Betra
Die erste große Liebe ist für jeden etwas Besonderes. Erweckte Gefühle verändern uns maßgeblich. Wir tragen sie auf ewig in unseren Herzen, sodass wir sie niemals vergessen.
Durch widrige Umstände trennte Hugh und Brody von heute auf morgen ein ganzer Ozean. Während der eine in Schottland blieb, ging der andere nach Kanada. Vorher gaben sie sich jedoch das Versprechen zusammenzubleiben.
Was sie nicht ahnten, war, dass sie dieses Versprechen nicht würden halten können.
Ein halbes Leben später begegnen sie sich wieder.
Eine Chance, an dem Punkt anzuknüpfen, als sie in Liebe vereint gemeinsame Zukunftspläne schmiedeten?
Wenn ja, wollen sie diese Gelegenheit nach so vielen Jahren überhaupt ergreifen? Immerhin hat sich jeder ein Leben aufgebaut – der eine in Ullapool, der andere in Halifax.
Sassenach - abwertend für Engländer
Dùin do ghob! – Halt die Klappe!
Pòg mo Thòin! – Leck mich am Arsch!
Abair sgudal! - Was für ein Müll!
Mhac na Galla! – Hurensohn!
Magairlean! – Blödsinn!
Aye – Ja
Sláinte mhath! – Zum Wohl! (wörtlich: Gute Gesundheit!)
20 Jahre zuvor
»Du willst mich doch verarschen!«, spucke ich Hugh stinksauer vor die Füße.
»Brody, es tut mir leid.«
»Dann war das gerade nur ein Abschiedsfick, oder was?«
Hugh greift nach mir, aber mir ist die Lust auf Kuscheln-danach gründlich vergangen. Ich krieche aus dem ausgemusterten Kahn, den wir seit einigen Wochen als geheimes, improvisiertes Liebesnest nutzen, und gehe auf Distanz, soweit es mir in meinem nackten Zustand möglich ist, ohne Aufsehen zu erregen. Im Bootshaus meiner Großeltern ein aussichtsloses Unterfangen, da es nicht viel größer als besagter Kahn ist. Am Sprossenfenster, das den Blick auf die zugehörige winzige Anlegestelle und den Loch Broom freigibt, stoppe ich. Die untergehende Sonne zaubert goldene Sprenkel auf die sich leicht kräuselnde Wasseroberfläche. Interessant. Es weht kaum ein Lüftchen. Eine Seltenheit für ein weit im schottischen Norden gelegenes Küstenstädtchen wie Ullapool.
»Brody, bitte versteh doch. Ich …«
»Keine Sorge, ich versteh’s«, brumme ich wütend. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, würde wie immer weich werden. Hughs Geheimwaffe, wenn man so will. Zumindest funktioniert sie bei mir.
Ein tiefer Seufzer versetzt mir einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz. Ah ja, los geht’s, mit einem kleinen Vorgeschmack auf das, was mich erwartet, wenn mein Kerl verschwindet. Und das, obwohl er mich doch liebt, wie er mir vor einigen Tagen erst gestanden hat.
Scheiße, ich war so glücklich wie noch nie. Denn verdammt, ich liebte ihn auch. Wir hatten bereits Zukunftspläne geschmiedet. Wollten die Schule beenden, zusammenziehen und einen Fischtrawler kaufen. Schellfisch von September bis Dezember, danach Hering bis März und anschließend Makrelen bis Juni, um dann für zwei Monate eine Auszeit zu nehmen. Wir hatten alles perfekt geplant.
Ernsthaft, ich versuche wirklich, Hughs Worte zu verdauen. Aber das klappt nicht. Ich fühle mich schlicht und ergreifend verraten.
Zur Hölle mit ihm! Dieses Arschloch bringt es tatsächlich fertig, mir ganz nebenher zu verklickern, dass er mit seiner Familie nach Kanada zieht? Wie kann er das tun?
Eine sanfte Brandung drückt ein am Steg vertäutes Boot gegen die morschen Bohlen. Sacht und stetig. Wie ein Countdown zählt das monotone Klopfen von Holz auf Holz herunter. Denn was mir Hugh eben eröffnet hat, bedeutet nur eins: Das mit uns hat ein Ablaufdatum, und das liegt keine vier Wochen in der Zukunft.
Arme schlingen sich von hinten um meine Mitte. »Ich gehe nicht für immer. Ich komme wieder, glaub mir doch.«
»Denkst du?«
Hughs warme Lippen pressen sich in meinen Nacken. »Versprochen, es ist nur vorübergehend, bis ich meinen Abschluss gemacht habe. Sobald ich kann, bin ich zurück.« Ein Kuss auf meine nackte Schulter. »Wir kaufen uns das Schiff und fahren gemeinsam raus. Wir werden die erfolgreichsten Fischer, die man je gesehen hat. Es wird so sein, wie wir geplant haben.« Er leckt mir über den Hals und murmelt: »Ich liebe dich. Scheiß auf die Leute. Wir gehören zusammen und werden das jeden sehen lassen.«
»Darum geht’s mir nicht. Mir ist scheißegal, ob sie sich die Mäuler über uns zerreißen. Aber dazu wird es gar nicht erst kommen. Du gehst weg und …« Ich schlucke hart. »Und du wirst wegbleiben. Warum solltest du auch zurückkommen? Hier gibt es nichts für dich. In Kanada … Tja, da kannst du deinen Traum wahr machen.«
»Mein Traum ist, mit dir zusammen zu sein.«
Ich drehe mich in Hughs Armen um und blicke ihn eindringlich an. »Dein Traum ist es, Arzt zu werden.«
Schweigen. Er weiß, ich würde sehen, wenn er lügt. Schließlich kennen wir uns seit unserer Geburt.
»Du wirst mich anrufen und mir schreiben«, fordere ich. Es klingt eher nach betteln. Sei’s drum.
»Jeden Tag, bis ich wieder zurück bin.«
* * *
Wir waren sechzehn, als wir erkannten, dass wir zusammengehören.
Wir waren sechzehn, als Hugh ging und mein Herz für immer mit sich nahm.
Gegenwart
Brody und ich kannten uns unser Leben lang – wortwörtlich. Unsere Mütter lagen zur gleichen Zeit in den Wehen und brachten uns im Abstand von nicht mal achtzehn Stunden zur Welt. Im Kindergarten spielten wir zusammen im Sandkasten, um anschließend nebeneinander die Schulbank zu drücken. Wir verbrachten jede Minute unserer Freizeit miteinander. Selbst als Theresa in der ersten Klasse zu uns stieß und wir sie wie eine Schwester aufnahmen.
Wir fühlten uns von jeher wohl in der Gegenwart des anderen. Wir waren wie Pech und Schwefel. Eines Tages veränderte sich unsere vertraute und offene Art zueinander. Es wurde seltsam.
Ich hatte nie wie andere Jungs darüber nachgedacht, etwas mit Mädchen anzufangen. Was nicht hieß, ich hätte den Anblick einer hübschen Lady wie Tess nicht gewürdigt. Nur kam mir nie in den Sinn, in diese Richtung was zu versuchen. Plötzlich zog mich Brody auf eine Art an, die mich verwirrte. Ich träumte merkwürdiges Zeug und bekam spontan einen Ständer, sobald ich nach dem Sportunterricht in der Umkleide einen Blick auf seinen Arsch werfen konnte. Das war mir furchtbar peinlich und ich ging unwillkürlich auf Abstand. Aber auch Brody schien Distanz zu halten. Das erklärte ich mir damit, dass er meine Reaktionen bemerkt haben muss. Wir führten kaum noch Gespräche unter vier Augen oder alberten wie früher sorglos miteinander herum.
Irgendwann lungerten wir wieder zu dritt am Hafen rum und sahen Fischkuttern beim Anlegen zu und wie ihre Fracht entladen wurde. Um Brodys körperlicher Nähe zu entfliehen, sorgte ich dafür, dass Tess als Pufferzone zwischen uns saß, was sich scheiße anfühlte.
Und dann schritt Tess zur Tat. Sie stand auf, sah uns an und meinte: »Kriegt diesen Mist endlich in den Griff. Das hält keine Sau aus. Oh, und noch was. Egal, was am Ende rauskommt, für mich wird das Ergebnis okay sein.« Sie drehte sich um, stapfte davon und ließ uns zwei verdattert zurück.
Die darauffolgende Aussprache änderte alles.
Anfangs war es mir unangenehm, mit der Wahrheit herauszurücken. Aber als Brody mir das Gleiche beichtete … Verdammt, wir waren perfekt zusammen. Und ja, Tess hielt Wort. Wir erzählten ihr von uns und sie winkte ab. Als wäre es belangloses Zeug, ging sie zur Tagesordnung über.
* * *
Ich hatte nicht vor, jemals nach Schottland zurückzukehren, nicht mal für ein paar Tage.
Zu viele Erinnerungen – schöne wie schmerzvolle. Wobei die schmerzvollen, trotz ihrer Seltenheit, die schönen überwiegen.
Allerdings hatte ich keine Wahl. Schon wieder – irgendwie.
Das letzte Mal, als es mir so erging, war ich sechzehn. Meine Güte, ist das zwanzig Jahre her?
Ich kann mich gut an die Zeit erinnern, in der Abschied nur ein Wort war, das sich zu vielen anderen bedeutungslosen Buchstabenkonstrukten einreihte. Doch dann stellten mich meine Eltern vor die vollendete Tatsache, dass wir die Highlands verlassen. Später ergab dieses kleine unscheinbare Wörtchen Abschied einen tieferen Sinn. Ich erkannte, dass dieser immer endgültig ist, egal was man dir erzählt.
Ja, ich war sechzehn und ja, somit gerade eben volljährig in Schottland. Was nicht gleichbedeutend damit war, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Also ging ich, wenn auch unter Protest, mit meiner Familie nach Halifax auf Nova Scotia. Eine Halbinsel, die zu den ostkanadischen Atlantikprovinzen gehört.
Der Grund für unseren Umzug? Mein Vater. Ursprünglich stammt er aus Edinburgh und war auf dem besten Weg, sich als jüngster Chirurg einen Namen zu machen. Er lernte Mom auf einer Tagung über Lebensmittel-Hygiene kennen und lieben und zog ihr zuliebe nach Ullapool. Er übernahm Doc MacDhubs Praxis, der händeringend einen Nachfolger suchte, um endlich seinen Ruhestand genießen zu können. Meine Mutter arbeitete nur widerwillig – diese Tatsache erkannte ich jedoch erst viel später – wie alle Mitglieder der Ogilvys im familieneigenen Fischfangbetrieb.
Nach einigen Jahren, in denen mein Vater den Dorfarzt gab und von Tag zu Tag unzufriedener wurde – wahrscheinlich trug meine Mutter einen wesentlichen Anteil zu seiner Unzufriedenheit bei –, unterbreitete man ihm das Angebot, in Kanada Karriere zu machen. Große Überredungskünste brauchte es nicht. Mutter witterte ihre Chance, gesellschaftlich aufzusteigen und ihr unbedeutendes Leben at acta zu legen. Zumindest nannte sie es so, als ich sie vor Jahren erneut auf ihre Beweggründe, unsere Heimat zu verlassen, ansprach. Mein Vater fing im Dartmouth General Hospital als chirurgischer Assistenzarzt an und arbeitete sich innerhalb kürzester Zeit bis zum Chefarzt hoch.
Der Abschied ging nicht reibungslos vonstatten, da meine Großeltern mit allen Mitteln unseren Fortgang verhindern wollten. Die Sache nahm kein gutes Ende. Es kam zu einem folgenschweren Streit. Meine Eltern sprachen seitdem kein einziges Wort mehr mit ihnen. Na ja, und meine Großeltern auch nicht mit uns.
Ich war erschüttert, als ich erfuhr, dass Grandpa jeden Kontakt zu uns abgebrochen hatte. In meiner jugendlichen Naivität versuchte ich zu vermitteln, ohne den tatsächlichen Grund des Zerwürfnisses zu kennen. Doch ich hatte nicht wirklich eine Chance, da mich meine Mutter erst auf der Fahrt zum Flughafen darüber informierte. Sie erzählte mir, Grandpa hätte sie vor die Wahl gestellt, entweder zu bleiben oder zu riskieren, keine Eltern mehr zu haben. Wie gesagt, ich war entsetzt und hielt wie der brave Sohn, der ich nun mal war, zu meinen Eltern. Zu diesem Zeitpunkt meiner Meinung nach die einzig richtige Entscheidung, obwohl diese mir schwerfiel. Doch mein Plan, nach dem Schulabschluss zurückzukehren, stand so fest wie das Amen in der Kirche. Einzig und allein für Brody.
Von meines Vaters Seite gibt es niemanden. Seine Eltern sind kurz nach unserem Weggang verstorben. Allerdings war auch dieses Verhältnis nicht liebevoll zu nennen, immerhin erdreistete sich mein Vater, eine Frau aus Ullapool zu ehelichen, die kaum den Kinderschuhen entwachsen war. So wurde es mir jedenfalls erzählt. Meine Mutter war achtzehn, als ich auf die Welt kam, mein Vater siebenundzwanzig. Ich denke, mehr muss dazu nicht gesagt werden. Hin und wieder stellte ich mir die feinen Damen der Gesellschaft als Möwen vor, die lauthals von Edinburghs Dächern schrien: »Skandal!«
Somit bestand keinerlei familiärer Kontakt mehr nach Schottland.
Rückblickend kommt mir unsere Ankunft in Kanada wie ein seltsamer Traum vor. Die Ereignisse liegen im Nebel und ich habe das Gefühl, erst Tage nachdem wir in Halifax angekommen sind, zur Besinnung gekommen zu sein. Ab da wirken meine Erinnerungen glasklar.
Meine Eltern ließen mir keine Zeit, großartig über irgendetwas nachzudenken, in meine Sehnsucht nach meinem Freund und Geliebten zu versinken oder auch nur Luft zu holen. Die Highschool wartete bereits auf mich. Mein Brody gegebenes Versprechen hielt ich dennoch. Wir blieben in Kontakt … bis dieser nach einigen Monaten von Brodys Seite abbrach. Er reagierte nicht mehr auf Anrufe, Mails oder Briefe. Mein Gott, ich schrieb tatsächlich Briefe, und das im Zeitalter der digitalen Kommunikation. Aber ich sah sie als letzten Ausweg, ihn doch noch zu erreichen. Ich bekam nie eine Antwort. Natürlich hätte ich es über Tess versuchen können, bloß das erschien mir … Na ja, mein Stolz hielt mich davon ab, zu betteln. Vor allem, nachdem ich von ihr eine Nachricht erhielt, in der sie unmissverständlich zu verstehen gab, was sie von mir hielt: »Du wolltest nach dem Schulabschluss zurückkommen. Und jetzt? Ein Studium, ausgerechnet in Kanada? Ernsthaft? Es war also doch alles nur eine dumme Lüge. Das hätte ich niemals von dir erwartet. Tu mir den Gefallen und bleib, wo der Pfeffer wächst.«
Was mir von Brody geblieben war, waren Erinnerungen, Spekulationen und ein gebrochenes Teenagerherz.
Wir waren zu jung, zu verliebt, zu euphorisch. Vielleicht stand damals bereits fest, dass sich unsere Wege unwiderruflich trennen würden. Wer weiß das schon so genau? Monate voller Liebeskummer vergingen, bis ich die Wahrheit akzeptierte, dass Brody nichts mehr von mir wissen wollte. Ich nahm mein Leben in die Hand, verschloss mein Herz und gab mir das Versprechen, nie in die Highlands zurückzukehren.
Habe ich zu schnell aufgegeben? Hätte ich mehr tun sollen, um unsere Beziehung zu retten? Diese Zweifel verblassten zwar mit der Zeit, schwelten aber tief verborgen in meiner Brust weiter.
* * *
Jetzt, zwanzig Jahre später, sitze ich wieder am Hafen und genieße die besten Garnelen in Knoblauchbutter, die ich jemals gegessen habe. Der kleine Umweg über die Argyle Street hat sich gelohnt. Die Mädels von Seafood Shack bieten die köstlichste Zubereitung von Meeresfrüchten an, und das zu einem absolut annehmbaren Preis. Verdammt, das ist etwas, was ich definitiv vermisst habe.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Eine Stunde bis zum vereinbarten Termin bei Mr Ferguson. Der Grund meines temporären Aufenthalts.
Vor zwei Wochen bekam ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich als einziger Nachlassempfänger meines Großvaters zur Testamentseröffnung persönlich anwesend sein musste.
Im ersten Moment dachte ich an einen schlechten Scherz, aber dann begriff ich, dass es bitterer Ernst war. Also rief ich beim Absender an, eben jenem Mr Ferguson. Es stellte sich heraus, dass er der Anwalt meines Großvaters war und somit die treuhänderische Aufgabe des Testamentsvollstreckers übernommen hatte. Als ich ihn fragte, warum ausgerechnet ich als Erbe eingesetzt wurde und nicht meine Großmutter, teilte er mir mit, dass sie vor fünf Jahren verstorben sei. Es war wie ein Schlag ins Gesicht.
Dass der alte Kauz einen Bogen um meine Eltern gemacht hatte, erklärte ich mit unserem Weggang. Schließlich hatte er meiner Mutter angedroht, sie wäre nicht mehr seine Tochter, würde sie gehen. Dennoch fand ich seltsam, dass er mich bedachte. Ich hatte ihn einen Tag vor unserer damaligen Abreise das letzte Mal gesehen. Nicht dass unser Abschied zu diesem Zeitpunkt unterkühlt gewesen wäre, aber am nächsten Tag erfuhr ich ja von bereits erwähnter Auseinandersetzung zwischen ihm und meiner Mutter.
Natürlich erzählte ich meinen Eltern von dem Brief. Dad zeigte wie immer höfliches Desinteresse. Meine Mutter zuckte die Schultern, um uns dann Kaffee einzuschenken, als hätte ich vom Wetter gesprochen.
Vor einigen Tagen versuchte ich erneut, mit ihr zu reden. Sie wollte von alldem nichts wissen, meinte ganz beiläufig: »Mir wäre lieber, du würdest auf die Reise verzichten. Immerhin hast du hier gesellschaftliche Verpflichtungen. Und was wird mit Chris?«
»Es sind nur ein paar Tage. Chris ist erwachsen und wird es überleben.« Übrigens mein Partner. »Ich sollte mir zumindest anhören, worum es geht, findest du nicht?«
»Nein. Dieser Teil unserer Familie hat ihr Anrecht auf uns vor Jahren verwirkt. Wenn du rüberfliegst, wird nichts Gutes dabei rauskommen. Glaub mir.« Sie wirkte einerseits distanziert wie eh und je, andererseits schwang etwas mit, das ich als schlechtes Gewissen eingestuft hätte, wäre sie nicht meine Mutter. Also verwarf ich diesen abwegigen Gedanken.
Vater pflichtete nickend bei. »Hör auf deine Mutter. Sie hat wie immer recht.« Ich hätte auch nichts anderes von ihm erwartet. So klischeehaft es klingen mag, in der Ehe meiner Eltern trägt die Frau die Hosen. Mein Vater würde im Traum nicht einfallen, meiner Mutter zu widersprechen.
»Meine Entscheidung steht fest. Ich fliege.«
Damit endete das Gespräch, wir schlürften unseren Kaffee und schwiegen uns ohrenbetäubend an, während ich meine Mutter heimlich beobachtete.
War es Besorgnis, die hinter ihrer perfekten Fassade aufblitzte? Nein, Brianna MacRaes sorgt sich niemals. Ebenso wenig entkäme ihr ein spontanes Lachen. Schließlich würde das jegliche Bemühungen zunichtemachen, ihr Gesicht faltenfrei zu halten. Der Erfolg gibt ihr recht. Sie wirkt kein Jahr älter als fünfundvierzig, obwohl sie bereits die fünfzig überschritten hat. Hin und wieder geschieht es, dass sie als meine große Schwester durchgeht. Nicht gut für ihr sowieso schon übersteigertes Ego. Doch was ihre schottische Schönheit nicht verbergen kann, ist ihre emotionale Kälte, die sie in Wellen ausstrahlt. Und ja, ich würde sie durchaus als berechnend beschreiben. Ebenfalls ein Charakterzug, der mir an ihr erst in Halifax und lange nach meinem Schulabschluss aufgefallen ist.
Ob ich blind war? Ja, ich würde sagen, das war ich eindeutig. Doch ist es nicht der Jugend geschuldet, seine Eltern zu idealisieren? Ich denke schon. Und nein, das soll keine Rechtfertigung dafür sein, mich schlussendlich damit arrangiert zu haben. Mit ein wenig Abstand betrachtet gebe ich zu, es hat einen fahlen Beigeschmack von Feigheit, Gleichgültigkeit und Verdrängungstaktik. Üble Mischung.
Nun gut, ich bin jetzt hier und gespannt, was mich erwartet. Sollte ich das Haus und die Firma samt Kutter erben, engagiere ich jemanden, der alles verkauft. Anschließend begebe ich mich schleunigst auf den Heimweg. Ich fühle mich hier extrem fehl am Platz.
Ich beobachte das geschäftige Treiben am Hafen. Die Fähre nach Stornoway legt ab, derweil ich mir die letzten Garnelen schmecken lasse und meine Gedanken wie in den vergangenen Tagen zu Brody wandern. Ob er noch hier lebt? Sollte ich ihn aufspüren und besuchen? Neugierig wäre ich schon. Sicher keine gute Idee. Es würde nur alte Wunden aufreißen.
»Hugh? Hugh MacRaes? Das kann ja wohl nicht wahr sein!«
Ich drehe mich um und blicke in ein wettergegerbtes Gesicht, aus dem mich wütend funkelnde Augen anstarren, als wäre ich Luzifer höchstselbst und gerade aus der Hölle emporgestiegen. Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, von irgendjemandem erkannt zu werden, nicht nach all den Jahren. Und doch steht Lachlain Fraser vor mir. Niemand Geringerer als Brodys Vater. Scheiße!
»Hallo, Mr Fraser«, begrüße ich ihn höflich und erhebe mich, nachdem ich die Styroporschachtel auf der Mauer deponiert und meine Finger mit einer Serviette gesäubert habe.
Seine Körperhaltung wirkt bedrohlich. Keinerlei Erstaunen. Als hätte er damit gerechnet, mich zu treffen. »Pòg mo Thòin! – Leck mich am Arsch!« Kopfschüttelnd fügt er hinzu: »Da hol mich doch der Teufel!«
Tja, da lag ich mit meiner Einschätzung bezüglich Hölle gar nicht so verkehrt. Mr Fraser war schon immer geradeheraus und hatte Fluchen zur Kunstform erhoben. Man konnte ihm an der Nasenspitze ansehen, was er dachte. Wie jetzt. Er ist nicht erfreut, mich zu sehen.
Sein Blick gleitet an mir auf und ab. Die Hände stecken in den Taschen seiner Latzhose und er macht keine Anstalten, daran etwas zu ändern.
Okay, ich bin nicht von gestern. Er will also nicht, dass ich auf die Idee komme, ihm die Hand zu schütteln. Offensichtlicher kann er mir gar nicht zeigen, dass ich eine unerwünschte Person bin.
»Scheinst was aus dir gemacht zu haben«, stellt er nüchtern fest. »Bist wohl in die Fußstapfen deines Daddys getreten, hm?« Sein herablassender Tonfall räumt jeglichen Irrtum aus, wie er das gemeint haben könnte.
Ehe ich auch nur zu einer Antwort ansetzen kann, höre ich jemanden rufen: »Lachlain, was stehst du da rum und tratschst? Das Zeug lädt sich nicht von allein ein.«
Ich schaue in die Richtung, aus der das Gemecker kommt, und sehe einen älteren Mann einen Kleintransporter beladen.
»Dùin do ghob, Kenneth! – Halt die Klappe, Kenneth!« Daraufhin sieht er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Bist wegen des Geldes hier, aye? Der alte Ogilvy ist noch nicht kalt und plötzlich finden Leute den Weg hierher, die ihn jahrelang wie die Pest gemieden haben. Deine Eltern hatten wohl die Hosen voll selbst herzukommen und haben stattdessen ihren Sprössling geschickt.«
Ich setze einen Schritt zurück und hebe beschwichtigend die Hände. »Mr Fraser, ich …«
»Mhac na Galla! – Hurensohn!«, spuckt er mir vor die Füße, ehe er auf dem Absatz kehrtmacht und mich fassungslos stehen lässt.
* * *
Eine halbe Stunde später treffe ich in Fergusons Büro ein und werde von einem zerzaust wirkenden, grauhaarigen Mann in seinen Siebzigern herzlich empfangen. Was nach dem Zusammenstoß mit Brodys Vater eine Wohltat ist.
»Bitte nehmen Sie Platz, Mr MacRaes.«
Immer noch über das vorherige Erlebnis verstört, setze ich mich an einen runden Tisch, auf dem Gebäck, eine Thermoskanne sowie Tassen stehen.
»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Kaffee? Gern auch was anderes?«
»Das ist wirklich nett, danke. Ich nehme Tee, wenn es keine Umstände bereitet.«
»Aber nicht doch.« Daraufhin verschwindet er zum Vorzimmer hinaus, das bei meiner Ankunft unbesetzt war und nicht den Eindruck vermittelt hat, dort würde sonst jemand sitzen.
»Sind Sie allein?«
Ferguson taucht mit einem Wasserkocher auf und lächelt. Er gießt mir einen Earl Grey auf. »Milch und Zucker?«
»Nein danke.«
»In Ordnung. Und ja, ich muss im Moment auf meine Sekretärin verzichten. Sie hat vor zwei Wochen ihren Sohn zur Welt gebracht. Und ich bring’s einfach nicht übers Herz, Ersatz für sie einzustellen.« Er winkt ab. »Aber das ist auch nicht notwendig. Ich meine, wir sind hier in Ullapool und nicht in London, verstehen Sie?«
»Dann haben Sie in London ein Büro?«
Ferguson lacht. »Oh nein, das liegt weit in der Vergangenheit und war nur als Vergleich gedacht. Ich wollte vor einigen Jahren in Pension gehen und folgte meiner lieben Linda hierher. Sie mochte schon immer die Highlands. Früher verbrachten wir unsere Urlaube hier. Na ja, sie lag mir lange in den Ohren, dass sie gern hier leben würde. Also erfüllte ich ihr den Wunsch. Leider ist meine bessere Hälfte vor vier Jahren von mir gegangen. Nachdem ich aus meiner Trauer auftauchte, brauchte ich etwas, womit ich mich beschäftigen konnte. Zurück nach London wollte ich nicht. Ich fühlte mich inzwischen wohl hier. Somit besann ich mich auf das, was ich am besten kann. Was in einer Stadt mit 1500 Seelen nicht zwingend ein Vollzeitjob ist, wie Sie sich sicher denken können. Natürlich hat es eine Weile gedauert, bis wir Sassenachs aus dem Süden ansatzweise akzeptiert wurden, und dann will dieser Rotrock auch noch eine Kanzlei eröffnen? Sie wissen, was ich meine, nicht wahr?«
Ich seufze. »Ja, ich habe es vorhin am eigenen Leib erfahren dürfen.«
»Oh, das tut mir leid. Ich hoffe, es war nicht allzu schlimm. Zumal Sie ja ursprünglich von hier sind.«
»Keine Ahnung. Ich bin irgendwie schockiert und verwirrt zugleich, da ich angenommen hatte, mich würde niemand erkennen.«
»Ich will nicht gutheißen, dass man Sie unfreundlich empfangen hat, aber die Highlander sind ein stolzes Völkchen. In ihren Augen haben Sie sie im Stich gelassen, als sie fortgegangen sind, egal wie alt Sie damals waren. Aber das muss ich Ihnen sicher nicht erklären.« Ferguson setzt sich mir gegenüber und deutet auf die Haferplätzchen. »Bedienen Sie sich.«
»Vielen Dank. Stimmt schon. Dennoch, es kam mir vor, als wäre der Mann direkt auf mich zugekommen, als wüsste er bereits, dass ich in Ullapool bin. Bloß woher sollte er das erfahren haben?«
»Wo sind Sie untergekommen, Mr MacRaes?«
»Im Rosslyn Cottage.«
»Gute Wahl, dort ist es nett. Andererseits erklärt sich Ihr Eindruck, der Rüpel hätte von Ihrer Ankunft gewusst. Lorna ist nicht für ihre Verschwiegenheit bekannt. Sie haben sich doch sicher unter Ihrem richtigen Namen angemeldet. Von daher wird mittlerweile jeder im Umkreis von fünfzig Meilen wissen, dass Sie hier sind. Da fällt mir ein, Sie könnten im Haus Ihrer Großeltern übernachten.«
Das fehlte mir noch. Und ja, auf die Idee mit Lorna hätte ich selbst kommen können. »Ich habe nicht vor, länger zu bleiben als notwendig.«
»Verstehe.« Voller Tatendrang klatscht Ferguson in die Hände und steht erneut auf, um vom Schreibtisch einen versiegelten Umschlag zu holen. Er setzt sich, hält diesen hoch und fragt: »Ist es okay, wenn ich es nicht allzu förmlich werden lasse? Es kommt schließlich niemand mehr.«
Ich zucke die Schultern. »Sicher doch.«
Ferguson lehnt sich zurück, holt eine Lesebrille aus seiner Hemdtasche und schiebt sie sich auf seine Knubbelnase. »Früher war die nie nötig«, sinniert er vor sich hin und zwinkert mir dabei zu.
»Meine Güte, das scheint ein Roman zu sein«, kommentiere ich die Dicke des Kuverts.
Ferguson zieht mit der Kuppe des Zeigefingers die Brille zur Nasenspitze herunter und mustert mich über den Rand hinweg. »Nun ja, es ist ja auch einiges, was Ihnen der starrsinnige Hund hinterlassen hat. Sorry, dass ich so direkt bin. Das war er nun mal.«
»Schon in Ordnung. Das zu leugnen, wäre lächerlich. Wenn man bedenkt, wie hartnäckig er den Kontakt zu uns gemieden hat. Ich nehme an, es geht um das Haus und die Firma?«
»Ähm, tja … Also diese Frage wird sich von selbst beantworten, sobald ich das Testament verlesen habe.«
Jetzt lehne ich mich zurück und verschränke die Arme. »Ich muss schon sagen, Sie machen es spannend. Sie sind der geborene Showmaster, Mr Ferguson.«
Ein heiteres Schmunzeln, bevor er das Siegel bricht. »Das hat mir auch noch niemand vorgeworfen. Zumindest nicht bei einer Testamentseröffnung.«
Irgendetwas sagt mir, dass ich dieses Geräusch, wie das harte Wachs zwischen Fergusons Fingern zerbricht, niemals vergessen werde.
»Brody, mein Schatz, du siehst aus wie das blühende Leben«, stellt Tess ironisch fest.