Ein Haus voller Träume - Fanny Blake - E-Book
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Ein Haus voller Träume E-Book

Fanny Blake

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Beschreibung

In ihrem Haus in den andalusischen Bergen wartet Lucy auf ihre Geschwister Jo und Tom. An diesem Wochenende müssen sie sich von ihrem »Haus der Träume« verabschieden, dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbrachten und das nach dem Tod der Mutter nun verkauft werden soll.
Aufgeregt sitzt Jo in Málaga am Flughafen und wartet vergeblich auf den Koffer, in dem die Urne mit der Asche ihrer Mutter ist, während ihre kleine Tochter ein Riesentheater veranstaltet. Tom hingegen kämpft sich mit seinen halbwüchsigen Söhnen und Ehefrau Belle im Mietwagen durch die Hitze, nicht ahnend, dass ihn an diesem Wochenende die Vergangenheit in Gestalt seiner Jugendliebe Maria einholen wird. Und Lucy? Gerade wieder Single, möchte sie am liebsten das Haus behalten, in dem so viele liebgewordene Erinnerungen stecken.
Die drei Geschwister erwarten ein paar Tage voller Entdeckungen, denn ihre Mutter hat jedem der drei etwas hinterlassen, das so manche Überraschung bereithält …

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»Ein wunderbares, sonniges, mitreißendes Buch!« Daily Mail

In ihrem Haus in den andalusischen Bergen wartet Lucy auf ihre Geschwister Jo und Tom. An diesem Wochenende müssen sie sich von ihrem »Haus der Träume« verabschieden, dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbrachten und das nach dem Tod der Mutter nun verkauft werden soll.

 Aufgeregt sitzt Jo in Malaga am Flughafen und wartet vergeblich auf den Koffer, in dem sich die Urne mit der Asche ihrer Mutter befindet, während ihre kleine Tochter ein Riesentheater veranstaltet. Tom hingegen kämpft sich mit seinen halbwüchsigen Söhnen und Ehefrau Belle im Mietwagen durch die Hitze, nicht ahnend, dass ihn an diesem Wochenende die Vergangenheit in Gestalt seiner Jugendliebe Maria einholen wird. Und Lucy? Gerade wieder Single, möchte sie am liebsten das Haus behalten, in dem so viele liebgewordene Erinnerungen stecken.

 Die drei Geschwister erwarten ein paar Tage voller Entdeckungen, denn ihre Mutter hat jedem der drei etwas hinterlassen, das so manche Überraschung bereithält …

Fanny Blake studierte Romanistik in Edinburgh und arbeitete viele Jahre als Lektorin, Journalistin und Kritikerin, bevor sie selbst Autorin zahlreicher Romane wurde. Im insel taschenbuch erschien 2014 Eine italienische Affäre

FANNY BLAKE

EIN HAUS VOLLER TRÄUME

Roman

Aus dem Englischen

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel House of Dreams bei Orion Books, London

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4584.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017

Copyright: © Fanny Blake, 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Für Julie – eine wunderbare Freundin,

Vorher …

Alles war bereit. Unter dem Weinlaub der Pergola stand der Tisch gedeckt fürs Mittagessen. Der große cremefarbene Sonnenschirm warf seinen Schatten auf die Gartenstühle am anderen Ende der Terrasse. Drinnen sah es aus wie früher – nur ein bisschen aufgeräumter, vielleicht. Im ersten Stock waren die Betten gemacht und die Zimmer gelüftet.

Lucy rückte einen Krug mit weißen Rosen auf dem Tisch zurecht. Zufrieden bewunderte sie ihr Werk und ging dann in die Sonne, die warm auf ihre Haut schien. Sie räkelte sich. Heute war die Luft so klar, sie konnte die Küste im Süden sehen und jenseits der Meerenge den Felsen von Gibraltar. Bailey, die grau-weiße zottelige Promenadenmischung ihrer Mutter, tapste vor ihr die Steinstufen hinunter und ließ sich schnaufend im Schatten eines knorrigen Olivenbaums fallen.

Ein Distelfalter flatterte über den Töpfen mit weißen und roten Geranien, vorbei am Sonnenschirm und den Gartenstühlen, hinaus in den Garten. Im Lavendel unterhalb der Gartenmauer summten Bienen. Ein Bussardpärchen kreiste über den tiefer gelegenen Wiesen. Irgendwo krähte ein Hahn. Lucy schaute auf die Uhr. Ihre Schwester und ihr Bruder müssten nun gelandet sein. Bald würden sie eintreffen.

Obwohl sie schon seit ein paar Tagen wieder hier war, um alles für die Ankunft der anderen vorzubereiten, hatte sich Lucy noch nicht an die Abwesenheit ihrer Mutter gewöhnt. Hin und wieder glaubte sie, aus dem Augenwinkel Hope zu sehen, wie sie in der Tür stand oder im Garten den Pflanzen gut zuredete. Manchmal saß sie auch am Klavier, die Brille in die grauen Locken geschoben, oder mit Handarbeiten beschäftigt in ihrem Nähsessel. Dann wieder verkündete sie, was sie für den Tag plante, überlegte, wo sie etwas hingelegt hatte, oder entkorkte eine Flasche Wein. Sie war da, auch jetzt noch, Wochen nach ihrem Tod.

Hope war in England gestorben, hatte aber darum gebeten, dass ihre Asche an dem Ort verstreut wurde, den sie auf der Welt am meisten liebte, wo sie am glücklichsten gewesen war. Ihre drei Kinder sorgten nun dafür, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging, und Jo brachte sie, gemäß ihren letzten Verfügungen, nach Hause.

1

In der schlecht beleuchteten Ankunftshalle wiesen große grüne Schilder den Weg zu den Mietwagenschaltern im Untergeschoss. Die Passagiere hatten die farbenfrohen Plakate hinter sich gelassen, die sie in Südspanien willkommen hießen, und betraten eine auf Zweckmäßigkeit getrimmte Unterwelt. Hier herrschten, dank einer übereifrigen Klimaanlage, frostige Temperaturen. Von wem auch immer der Ausspruch stammte, die Hölle seien die anderen, er hatte Recht, überlegte Jo. In der Hand hielt sie eine Karte mit den Sehenswürdigkeiten der Umgebung, die ihr ein Fremdenführer überreicht hatte, als sie zur Gepäckausgabe ging. Sie vermisste die Wärme und den typischen Geruch der kratzigen spanischen Zigaretten, die vor Jahren die Landung hier zu etwas Besonderem gemacht hatten. Jetzt unterschied sich die Ankunft in Málaga kaum von der Ankunft an jedem beliebigen modernen Flughafen irgendwo auf der Welt.

Auf dem Karussell kreiste das Gepäck aus ihrem Flugzeug, aber Jos Koffer war noch nicht aufgetaucht. Sie drehte sich zu Ivy um, die auf dem leeren Trolley hockte. Ihre vierjährige Tochter, goldig in ihren pinkfarbenen Leggings und dem Blümchentop, rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte nur Augen für die Kinder einer Familie, deren Mutter bunte Lutscher austeilte. Eines der Mädchen, ungefähr in Ivys Alter, fing ihren Blick auf und kam, mit ihrem kleinen Rollkoffer im Schlepptau, auf sie zu. Die beiden musterten einander. Ivy blieb sitzen, machte aber ein finsteres Gesicht. Das war abzusehen gewesen. Jo wünschte, sie hätte die Packung Gummibärchen, die sie für solche Augenblicke gekauft hatte, nicht an der Kasse des Buchladens in Gatwick liegen lassen. Sie konzentrierte sich wieder auf das Gepäck. Mit Klebeband verstärkte Umzugskartons, Buggys und Koffer aller Art, Rucksäcke und Reisetaschen rumpelten an ihr vorüber – aber der weitgereiste grüne Koffer mit dem unverkennbaren violetten Vorhängeschloss war nicht dabei.

Rund um das Karussell hatten sich Familien in Ferienlaune geschart. Kinder rannten um ihre genervten Eltern herum. Teenager beugten sich über ihre Smartphones, ließen hastig den Daumen über das Display gleiten. Junge Frauen, die einen Junggesellinnenabschied feierten, auf dem Flug in Streit geraten und von der Crew getrennt worden waren, standen nun in zwei traurigen Gruppen da und kehrten einander den Rücken zu. Die glitzernden pinkfarbenen Bommeln an ihren Haarreifen hingen schlapp herunter. Verträumte Pärchen schauten einander in die Augen, ohne das Chaos ringsum zu bemerken. Ältere Paare mit Wanderschuhen und Stöcken hatten ihre Rucksäcke vom Laufband geholt und marschierten nun zielstrebig zum Ausgang.

Jo wurde von einem Mann zur Seite gedrängt, der sich einen großen, mit Aufklebern übersäten Karton griff und damit ihr Schienbein rammte. Sie fluchte leise. Er murmelte eine Entschuldigung, während sie ihr Bein rieb und hoffte, ihr Koffer würde endlich eintrudeln. Wieder wandte sie sich Ivy zu, überwältigt vom vertrauten Gefühl der Liebe, das sie in seiner Heftigkeit immer noch überraschte. Wer hätte gedacht, dass ein Kind so spät im Leben ihr so viel geben würde?

»Dauert nicht mehr lange«, sagte sie. »Gleich kommt unser Koffer, dann können wir los. Geht's dir gut?«

Ivy blickte noch missmutiger drein, murmelte, den Daumen im Mund, etwas Unverständliches und schaute ihre Mutter aus großen braunen Augen über den peinlich schmutzigen Kopf von Bampy hinweg an. Bampy, ein Stoffhase, war Ivys ständiger Begleiter.

»Wie bitte?« Jo beugte sich über ihre Tochter.

»Ich will einen Lutscher.« Ivys Blick wanderten zu den leuchtend bunten Lollis, an denen die Kinder der Familie nebenan lutschten.

»Kriege ich bitte einen Lutscher«, korrigierte Jo mechanisch, während sie in ihrem Rucksack wühlte und hoffte, die Gummibärchen würden wie durch Zauberhand auftauchen. Mein Gott, sie hatte gar nichts dabei, was als Ersatz taugte. Schließlich zog sie eine Tupperdose mit Karotten- und Apfelstücken heraus. »Die Kekse haben wir schon aufgegessen. Probier die mal. Lecker.« Wie halbherzig klang das selbst in ihren Ohren.

Nun wurde Ivy böse. »Nein, nein, nein, nein! Ich will einen Lutscher.« Bampy landete auf dem Boden, und Ivy sprang auf. Wahrscheinlich konnte man sie im ganzen Flughafen hören. Die Leute drehten sich zu ihnen um.

Mein Gott, bloß kein Trotzanfall. Bitte nicht jetzt. »Iss erst mal die. Wir kaufen später einen. Versprochen«, sagte Jo ruhig und deutlich, wenn auch zähneknirschend.

»Nein, je-e-e-etzt«, heulte Ivy, stieß Jos Hand weg und warf sich auf den Boden.

»Gleich, wenn wir unseren Koffer haben.« Jo widerstand der übergroßen Versuchung, Ivy mittels körperlicher Gewalt wieder auf den Trolley zu bugsieren. Alle Blicke waren jetzt auf sie gerichtet. Mit Vernunft war hier nichts auszurichten. Ivy war rot angelaufen, verdrehte die Augen und riss den Mund auf, um mit einem weiteren Aufheulen zu beweisen, welche Qualen sie litt. Allerdings ohne eine Träne zu vergießen.

Überzeugt, dass die Zuschauer sie für eine schlechte Mutter hielten, ging Jo in die Hocke, nahm Ivys Arm und versuchte sie laut flüsternd zu beruhigen. Aber Ivy, die mit den Füßen auf den Boden trommelte, wollte nicht hören. Unterdessen zogen Gepäckstücke vorüber; aber keines hatte ein violettes Vorhängeschloss.

»Vielleicht hilft einer von denen?«, sagte eine Stimme neben ihr. Jo blickte auf und sah die Mutter der Nachbarfamilie, die ihr einen runden, cremefarbenen Lutscher hinhielt, auf dem eine tiefrote Rose prangte. »Ich weiß, wie das ist. Die habe ich für Notfälle einstecken. Hilft immer.«

Jo warf einen Blick auf die drei kleinen Kinder ihrer Retterin, die, eifrig an ihren Lollis lutschend, Ivy aus großen Augen anstarrten.

»Vielen Dank.« Jo nahm den Lutscher. Im selben Moment hörte sie ihre Tagesmutter Sue, die sich über Unmengen an Zusatzstoffen und den Zucker ausließ, der ein Leben auf dem Zahnarztstuhl verhieß. Aber gleichzeitig versprach die Zuckerdröhnung Ruhe und Frieden. Was war wichtiger: die unmittelbare Gegenwart oder eine unbekannte Zukunft? Keine Frage. Ivys Geheul war bereits zu einem gelegentlichen Wimmern abgeflaut, während sie das Objekt ihrer Begierde fixierte. Jo konnte sich lebhaft vorstellen, wie Sue ihr Missfallen kundtat. Den hohen Maßstäben von Ivys Tagesmutter gerecht zu werden war nicht leicht. Vor allem seit Ivy sprechen, also die Fehltritte ihrer Mutter verraten konnte.

»Es ist meine Schuld«, bekannte die Frau. »Ich hätte ihr gleich einen anbieten sollen, als ich sie verteilt habe, damit meine Kinder Ruhe geben, aber das ist ja auch immer ein Problem: Nimm keine Süßigkeiten von Fremden, und so weiter.«

»Ach, nein. Sie können nichts dafür …« Jo bemerkte, wie erschöpft die Frau aussah, ihr Gesicht war blass, mit Ringen unter den Augen, Haarsträhnen lösten sich aus einem hastig zusammengebundenen Pferdeschwanz. »Ich hätte selbst welche besorgen …« Aber bevor Jo zu Ende gesprochen hatte, drehte sich die Frau zu ihrem Mann um, der gerade das letzte Gepäckstück vom Karussell geholt hatte und weiterwollte. Erfüllt von grenzenloser Dankbarkeit legte Jo den Lolli in Ivys ausgestreckte Hand und setzte sie neben den Rucksack auf den Trolley. Jo schob den Wagen nah an das Karussell heran, wo nur noch eine Handvoll Passagiere warteten, und hielt mit wachsender Sorge nach ihrem Koffer Ausschau.

»Wenn wir unser Gepäck haben, können wir gehen«, erklärte sie noch einmal, aber Ivy war so mit den wechselnden Farben ihres Lutschers beschäftigt, dass sie ihrer Mutter eine Antwort schuldig blieb.

Inzwischen rotierten bloß noch wenige Gepäckstücke auf dem Band. Jos Koffer war nicht darunter. Sie schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Der Koffer durfte nicht verloren gehen. Nicht jetzt, und schon gar nicht mit diesem Inhalt.

Was hatte sie sich nur gedacht, als sie ihre Mutter einpackte? So praktisch die Lösung ihr auch erschienen war, wenn der Behälter mit der Asche nicht mehr auftauchen sollte, wären die Folgen verheerend.

Das Packen war wegen der Vorgaben der Billig-Airline ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Jo hatte versucht, die 20×30-Zentimeter-Box, die ihr das Beerdigungsinstitut ausgehändigt hatte, im Rucksack zu verstauen. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie brachte nicht alles unter. Etwas musste in den Koffer. Ivy natürlich nicht – obwohl der Flug ohne sie durchaus entspannter gewesen wäre – und deshalb auch nicht die Dinge, die ihr unterwegs die Zeit vertrieben: Bilderbücher, Malbücher und Stifte, das Tablet, wenn alles nichts mehr half, und natürlich Bampy. Unverzichtbar war auch eine Garnitur Wäsche zum Wechseln für den Notfall. Und der Proviant durfte ebenfalls nicht fehlen. Und Jos Laptop – zu wertvoll, zu empfindlich. Unwahrscheinlich, dass sie am Wochenende dazu kam, ihre E-Mails zu checken, aber sie fühlte sich besser, wenn sie die Möglichkeit hatte, es zu tun. Also blieb nur der Behälter mit der Asche.

Ursprünglich hatte sie geplant, ihre Mutter mit in den Passagierraum zu nehmen, obwohl ihr die Vorstellung, zumal Ivy mitreiste, unheimlich war. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie bei der Sicherheitskontrolle aufgehalten würde und im Beisein ihrer Tochter erklären müsste, dass außer der Plastiktüte mit der feinen, blassen Asche nichts mehr von Oma Hope übrig war. Ivy wäre womöglich für immer traumatisiert worden. Natürlich wollte Jo das vermeiden. Das Thema Tod kam zwischen ihnen ohnehin zu oft zur Sprache, seit ihre Mutter gestorben war. Nein, die Lebenden waren wichtiger als die Toten – selbst wenn es sich bei der Toten um die eigene Mutter handelte.

Wahrscheinlich verlangten die Vorschriften der Airline, dass sterbliche Überreste im Handgepäck befördert wurden – aber wer sollte herausfinden, dass sie sich in ihrem Koffer befanden? Mit etwas Glück niemand. Ihre Mutter jedenfalls ganz sicher nicht. Und wenn, hätte Hope vermutlich nur gelacht. Sie hätte darüber gewitzelt, dass sie sich, in ihren algengrünen Pashminaschal gehüllt, in einem gemütlichen Koffer unendlich viel wohler fühlte als eingequetscht zwischen Kabinengepäck, den Siebensachen von allen möglichen Leuten. »Das entspricht mir viel eher, Schatz.« Jo konnte fast Hopes Stimme durch den Flughafen von Málaga hallen hören.

Noch eine Umdrehung, dann musste sie die Hoffnung aufgeben. Sie lächelte über die Ironie des Schicksals. Hope würde ein anderes Ziel ansteuern, sicher eingepackt in ihren Lieblingsschal, der sie im bitterkalten Gepäckraum warm hielt. Jo erinnerte sich an die Klagen ihrer Mutter: »Das Leben in Spanien hat mich verdorben. Ich wünschte, ich hätte mehr von der Welt gesehen.« Tja, vielleicht ging dieser Traum ja jetzt in Erfüllung.

So schwer sie sich mit den Tatsachen abfinden konnte, Jo hatte nur eine Möglichkeit. Sie musste den Verlust des Koffers melden und das Beste hoffen. Mit Ivy, die zufrieden auf dem ansonsten leeren Trolley ihren Lolli lutschte, trat sie den langen Weg zum Gepäckservice an. Als sie sich an die Spitze der Schlange vorgekämpft hatte, berichtete sie in fließendem Spanisch von dem fehlenden Gepäckstück. Dann verfolgte sie geduldig, wie das entsprechende Formular ausgefüllt wurde, wobei ihr nicht entging, dass von Ivys Lutscher fast nichts mehr übrig war und das kleine Mädchen allmählich wieder zappelig wurde. Während sie den entscheidenden Inhalt ihres Koffers verschwieg, eilten ihre Gedanken zu ihren Angehörigen voraus, die auf ihre Ankunft warteten. Verglichen mit der Leistung ihrer Schwester Lucy, die ihre kranke Mutter wochenlang gepflegt hatte, war es eigentlich keine schwierige Aufgabe, Hopes Asche nach Hause zu bringen. Aber sie hatte es gründlich vermasselt.

Der Rest der Familie würde erfahren, dass sie ihre Mutter unterwegs verloren hatte. Sie stellte sich das ungläubige Entsetzen ihres Bruders und ihrer Schwester vor: Lucys Verzweiflung, Toms Empörung und den vertrauten Gesichtsausdruck seiner Frau, der besagte: Ich hab dir ja gleich gesagt, was passiert, wenn du das ihr überlässt. Inzwischen waren sie vermutlich schon in dem Haus angekommen, in dem Hopes letzte Geburtstagsparty stattfinden sollte. Casa de Sueños – Haus der Träume – das Zuhause ihrer Kindheit. Jo war mindestens seit einem Jahr nicht mehr dort gewesen, und bis zu diesem Augenblick hatte sie sich auf den Besuch gefreut, so traurig der Anlass sein mochte.

Die Flucht ergreifen und den nächsten Flug nach Hause nehmen kam nicht in Frage. Außerdem würde der Koffer garantiert irgendwann auftauchen. Sie versuchte, die vielen Geschichten über verlorenes Gepäck, das für immer verschwunden blieb, zu verdrängen – was ihr nicht ganz gelang. Während sie in der Hosentasche ihrer abgeschnittenen Jeans nach einem Taschentuch suchte, um Ivys kirschroten Mund abzuwischen, schloss sich ihre Hand um ihr Handy, an dem ein angelutschtes Bonbon klebte. Na klar. Wenn sie Tom anrief und es ihm jetzt erklärte, musste sie wenigstens nicht mit ansehen, wie sich seine Miene verdüsterte, und Lucys entsetztes Stöhnen blieb ihr auch erspart. Tom konnte den anderen sagen, was passiert war, ehe Jo und Ivy ankamen. Immerhin ein Plan.

Sie löste das Limettenbonbon von ihrem Handy und steckte es mangels Alternative in den Mund, ehe sie ihren Bruder anrief. Ivy schleuderte einen ihrer Schuhe weg, der über den glänzenden Marmorboden schlitterte. Jo hob ihn wieder auf und steckte ihn, statt sich auf ein Spiel einzulassen, für das sie gerade keine Nerven hatte, in den Rucksack. Protestbereit öffnete Ivy den Mund.

»Schsch«, befahl Jo, als das Freizeichen erklang.

2

Ethan und Alex auf der Rückbank befanden sich ganz im Bann ihrer elektronischen Geräte. Ethans Tablet war zwar auf stumm geschaltet, aber er kommentierte grunzend seine Triumphe und Niederlagen bei dem Ego-Shooter, den er spielte. Alex lehnte, Stöpsel in den Ohren, den Kopf halb unter der schwarzen Kapuze versteckt, am Fenster und starrte auf sein E-Book. Beide bekamen von dem Drama, das sich vorne im Wagen abspielte, ebenso wenig mit wie von der vorbeiziehenden Landschaft.

Südlich der Autobahn erstreckten sich die Betonwüsten von Fuengirola, Marbella, Estepona mit ihren Hotelklötzen und Feriensiedlungen. In der Ferne lag das Mittelmeer: bis zum blassen Horizont ein schimmernder blauer Teppich, auf dem die Sonne glitzerte. Ein oder zwei Tanker lagen weit draußen vor der Küste, während weiße Segelyachten über das Wasser glitten. Im Norden erhoben sich die Berge der Sierra Bermeja vor einem klaren kornblumenblauen Himmel.

Tom, auf dem Beifahrersitz, beendete das Gespräch mit seiner Schwester und steckte das Handy in die Brusttasche seines kurzärmeligen karierten Hemds. »Kannst du dir das vorstellen?«, wandte er sich an seine Frau. Belle hatte, wie stets am Steuer, eine seltsam steife Haltung angenommen, den Körper leicht vorgeneigt, das Kinn gereckt, die Hände auf zehn vor zwei.

Sie wandte sich ihm zu. Ihr präzise geschnittener Bob, goldbraun wie Ingwerkekse, schwang mit und reflektierte das Sonnenlicht. »Ja, kann ich.« Einen Augenblick sah sie ihn aus großen dunklen Augen an, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Tunnel, auf den sie zusteuerten. Sie war immer noch eine attraktive Frau, aber Tom hatte sie eigentlich noch besser gefallen, bevor sie ihre Naturwellen gnadenlos geglättet und die grauen Strähnen chemisch eliminiert hatte. Das gemeinsame Konto und ihre verdächtig faltenfreie Haut ließen ahnen, dass sie auch ihr Gesicht einer Verjüngungskur unterzogen hatte, allerdings ohne es je zu erwähnen, und ehrlich gesagt, wollte er es, zartbesaitet wie er war, gar nicht so genau wissen. Ihm ging es nur darum, dass Belle glücklich war.

Tom wusste, was sie dachte, aber auf eine Diskussion über die guten und schlechten Seiten seiner Schwestern wollte er sich nicht einlassen. Die hatten sie schon zu oft geführt, und er wusste genau, was Belle von Jo und Lucy hielt. Ihretwegen gab es häufiger Streit. Er selbst durfte seine Familie kritisieren, aber wenn irgendjemand sonst es wagte – und sei es seine liebe Frau –, verteidigte er sie wie eine Löwin ihr Junges. Belles Meinung musste er jetzt nicht noch einmal hören, zumal einige gemeinsame, zweifellos emotional belastende Tage mit seinen beiden Schwestern bevorstanden.

Der nächste Tunnel schluckte sie, aus dem Dunkel leuchteten die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge und das harte Neonlicht der Deckenlampen. Tom spürte, dass sich in der gepolsterten Tasche auf seinem Schoß etwas rührte. Ferdie, Belles kleiner Dackel, machte es sich bequem. Das Tierchen war gechipt und besaß einen Impfpass, damit es Belle auf allen Wegen begleiten konnte, also reiste es mit – obwohl ihre Söhne spotteten. Tom suchte sich ebenfalls eine bequemere Position und regulierte die Klimaanlage, die eisige Luft ausspuckte.

»Was hat sie sich dabei gedacht?«, murmelte er und blinzelte der Sonne entgegen. Von den drei Geschwistern war Jo immer am wenigsten berechenbar gewesen – das sorgte häufig für Enttäuschungen. Dennoch hatte sie es geschafft, in der Werbebranche Karriere zu machen, und sogar gemeinsam mit Richard Fowler eine eigene Agentur gegründet. Tom war stolz auf sie, wunderte sich aber auch über ihren Erfolg – er konnte nur annehmen, dass sie bei der Arbeit ein ganz anderer Mensch war als privat, eine Art Persönlichkeitsspaltung. »Und wenn der Koffer nicht auftaucht?«, fragte er. »Das kann unter Umständen Wochen dauern.«

»Dann müssen wir die Asche eben ein andermal verstreuen. Hast du Kleingeld für die Maut?« Belle war und blieb eine Pragmatikerin. Sie tauschten einen Blick. Belles Gesicht war schmaler nach ihrer strengen Diät, die offenbar hauptsächlich aus Schüsselchen, gefüllt mit übelriechender, eklig aussehender Pampe bestand. Er wühlte in seiner Hosentasche nach Münzen. Kurze Zeit später ratterte das Kleingeld durch den Automaten und die Schranke hob sich.

»Aber es wäre Mums siebzigster Geburtstag gewesen. Alles ist so geplant, wie sie es sich gewünscht hat.« Es hätte ihn sehr geschmerzt, sie zu enttäuschen.

»Dann müssen wir eben umdisponieren.« Ein bitteres kleines Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie das Lenkrad noch ein wenig fester umklammerte. »Dank Jo.«

»Das geht nicht. Alle kommen. Die Geburtstagsparty findet am Samstag statt, am Sonntag wird die Asche verstreut.« Er holte tief Luft und zwickte sich in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand, bis es wehtat. Eine Technik, die Frank, der Therapeut, den er hin und wieder aufsuchte, empfohlen hatte, um sich abzulenken.

»Hope wird es ja wohl kaum erfahren.«

»Darum geht es nicht.« Seine Panik ließ allmählich nach. »Vielleicht sollten wir umkehren?«

»Warum?«

»Wir könnten Jo helfen, den Koffer zu finden. Moralische Unterstützung leisten.«

»Nein.« Seine Frau reckte das Kinn. »Wenn sie ihn nicht findet, wird uns das auch nicht gelingen. Außerdem wartet Lucy im Haus auf uns. Wir sind sowieso schon spät dran.«

Natürlich hatte Belle Recht, aber er konnte das Thema einfach nicht fallen lassen. »Alles, was sie tun sollte, war, Mum mitzubringen. Viel Platz braucht sie ja wirklich nicht mehr.« Der Galgenhumor amüsierte ihn, obwohl Belle missbilligend den Kopf schüttelte.

Sie richtete den Blick starr auf die Straße. »Ich habe dir gleich gesagt, du sollst das übernehmen.«

»Aber Jo hat es angeboten, weil sie auch etwas beitragen wollte. Schließlich hat sich Lucy wochenlang um Mum gekümmert, und wir haben den Großteil der Rechnungen bezahlt.« Das verbitterte innere Kind, das er im Umgang mit seiner Familie manchmal schwer unterdrücken konnte, gewann wieder einmal die Oberhand.

»Welche Rechnungen?« Belle war sofort in Alarmbereitschaft. Wenn es um Geld ging, passte sie auf wie ein Schießhund. Beim Thema Finanzen hatten sie eine klare Abmachung, die ihnen beiden taugte. Als Immobiliensachverständiger verdiente er das Geld, und Belle, die Buchhalterin, verwaltete es (und gab es aus). Er beklagte sich nicht darüber.

»Nichts, wovon du nichts weißt«, rechtfertigte er sich hastig. »Wenn noch was gewesen wäre, hätte ich es dir gesagt.«

Sie nickte zufrieden.

Hinter dem Casares-Tunnel nahmen sie die A-377 landeinwärts. Sie kamen an riesigen Windmühlen vorbei, die sich behäbig drehten, leuchtend weiß vor dem tiefblauen Himmel. Belle, deren Fingernägel makellos rosa glänzten, tätschelte sanft Toms Schenkel. Er legte seine Hand auf die ihre, aber nach einer Weile zog Belle die Hand weg und umfasste wieder das Lenkrad. »Du fragst doch die Mädels wegen des Rings?«

Tom nickte. »Mm-hmm.« Er wusste, welchen Ring sie meinte, und wünschte, sie würde nicht ständig darauf zurückkommen. Walter, Stiefvater von Tom und Jo, hatte ihn Hope geschenkt, als Lucy zur Welt kam. Es war ein Jugendstilring, den Walters Großmutter ihm »für die Richtige« hinterlassen hatte: zwei Bänder mit funkelnden Diamanten, die sich wie glitzernde Wellen um den Rubin in der Mitte schlossen. Tom und Jo hatten oft beobachtet, wie das Licht durch die Steine tanzte, wenn ihre Mutter in der spanischen Sonne die Hand drehte. »Schaut, was Daddy mir geschenkt hat«, sagte sie, dann lachte sie, wenn die beiden danach griffen, und scheuchte sie fort.

»Sie wollte, dass ich ihn bekomme«, beharrte Belle.

Tom konnte sich schwer vorstellen, dass Hope den Ring jemand anderem vermachen wollte als Jo, die ihn schon so lange bewunderte, oder Lucy, zu deren Geburt er verschenkt worden war. Aber seine Mutter hatte auf ihre Besitztümer so wenig Wert gelegt und war gegen Ende ihres Lebens immer unberechenbarer geworden, also hatte sie vielleicht … »Hat sie das tatsächlich gesagt?«, hakte er nach.

»So gut wie.« Belle hob die Hand mit dem funkelnden Solitär an ihrem Ehering in die Höhe. »Als wir das letzte Mal alle hier zusammen waren.«

Im vergangenen Oktober hatten sie, gegen den Protest der Jungs, die Herbstferien hier verbracht. Obwohl Tom ihnen gut zuredete, konnte er sie nicht für die idyllische Umgebung begeistern, in der ihr Vater seine Kindheit verlebt hatte. Sie hingen in den Ferien lieber mit ihren Kumpels in geschlossenen Räumen ab. Das heißt, sie trieben sich im Einkaufszentrum herum, schauten sich die Premier League im Fernsehen an, spielten Computerspiele ohne Ende, hörten Musik und verplemperten ihre Zeit bei Facebook oder was sonst gerade in Mode sein mochte. Tom fand das zum Verzweifeln, obwohl Belle ihm versicherte, für Jungs von heute sei das völlig normal. Wenigstens las Alex. Oder Tom vermutete, dass sein Sohn las, obwohl er dank E-Book nicht wirklich beurteilen konnte, ob Alex' Lektüre etwas zu seiner Bildung beitrug.

Damals hatte keiner geahnt, dass Hope sechs Monate später tot sein würde, nach der Diagnose Darmkrebs mit Metastasen im ganzen Körper. Wenn sie es gewusst hätten, wie hätten sie sich dann wohl verhalten? Beschämt dachte Tom daran zurück, wie die lockere Einstellung seiner Mutter zum Alltag in ihm die Ängste seiner Kindheit wieder wachgerufen hatte; er war mit ihrer Spontaneität nicht zurechtgekommen. Bei ihr wusste man nie, worauf man sich gefasst machen musste. Wie ein so unzuverlässiger Mensch es schaffte, Gäste in sein Bed & Breakfast zu locken, war ihm ein Rätsel – wahrscheinlich lag es einfach an ihrer Ausstrahlung. Und natürlich sorgten Rosa und Luisa aus dem Dorf dafür, dass das Frühstück pünktlich auf dem Tisch stand und die Zimmer geputzt wurden. Angesichts seiner Stimmung hatte Belle zunehmend gereizt versucht, ein bisschen Struktur in Hopes Tagesablauf zu bringen. Gleichzeitig hatte sie Tom erklärt, es sei halb so schlimm, wenn sie erst nach zehn Uhr zu Abend äßen. Unterdessen hatten Ethan und Alex ihre Eltern auf Trab gehalten. Ethan reagierte mürrisch auf alle Vorschläge für Unternehmungen. Alex zeigte sich zwar versöhnlicher, war aber am glücklichsten, wenn er sich in Ruhe mit seinem E-Book oder seinem Smartphone beschäftigen konnte.

Wie aufs Stichwort wurde es auf der Rückbank unruhig. »Lass das!«

Aus dem Augenwinkel sah Tom, wie Alex nach Ethan schlug.

»Hört sofort auf! Sonst baut eure Mum einen Unfall.«

»Garantiert nicht!«, widersprach Belle halblaut, während sie über ein riesiges Schlagloch holperten.

»Scheiße«, fluchte Tom leise, der an das Fahrgestell dachte.

»Sag bloß nichts«, warnte ihn Belle, den Blick auf die Straße geheftet.

»Was ist los, Ethan?« Tom versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken, als er sich zu seinen Söhnen umdrehte.

»Er hat mich getreten!«, protestierte Alex und rieb sich das Schienbein.

»Gar nicht wahr.« Ethan streckte sein langes Bein in den Spalt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und dehnte seinen nackten Fuß. »Ich hab einen Krampf. Das Scheißauto ist zu klein, das ist los.«

»Solche Ausdrücke will ich nicht hören«, sagte Belle. »Und zieh um Gottes willen deine Schuhe an.«

»Ist es aber.« Ethan streckte seine langen Arme und Beine so weit aus wie möglich. Also nicht sehr weit. Dabei riss er Alex die Kapuze vom Kopf.

»Flossen weg von mir!«, protestierte Alex und fuhr sich mit der Hand durch seinen braunen Haarschopf. »Lass mich in Frieden!« Er drückte sich in die Ecke, wie um sich zu verkriechen.

»Du bist so ein Nerd. Was liest du da eigentlich?« Ethan griff nach dem E-Book seines Bruders. Beim Versuch, sein Lesegerät zu retten, schlug Alex seinem Vater auf den Hinterkopf.

»Jungs!«, brüllte Tom und fasste sich an den Kopf. »Ist es zu viel verlangt, dass ihr euch wie zivilisierte Menschen benehmt, bis wir ankommen?« Er sah, dass Belles Knöchel am Lenkrad weiß wurden.

»Tut mir leid, Dad.« Alex stopfte sein E-Book vorne in seinen Kapuzenpulli, außer Reichweite von Ethan.

Ethan zog sein Bein zurück und versuchte umständlich, eine bequeme Haltung für seine schlaksige Gestalt zu finden. Dann wandte er sich wieder seinem Spiel zu.

»Du hast doch das neue Hemd und die Hose eingepackt, die ich Dir aufs Bett gelegt habe?«, fragte Belle, die ihren eigenen Gedanken nachhing.

Von hinten war nichts zu hören, dann ertönte ein »Ja!«, vermutlich weil jemand oder etwas gerade in Flammen aufging. War es gut, solche Freude an Gewalt zu fördern, überlegte Tom.

»Ethan?« Belle ließ nicht locker.

Er unterbrach sein Spiel und blickte auf. Tom sah so viel von Belle im Gesicht seines Ältesten, der Schwung seiner Lippen, das energisch vorgereckte Kinn. Sein Sohn schüttelte den Kopf. »Du hast nicht gesagt, dass ich die Hose einpacken soll. Hier trage ich nie lange Hosen. Ist zu warm.«

»Das ist etwas anderes. Es ist die letzte Geburtstagsparty deiner Großmutter. Dass man sich anständig kleidet, ist ein Zeichen von Respekt.« Belle fing Ethans Blick im Rückspiegel auf. Sie verlagerte ihre Hände am Lenkrad auf zwanzig vor vier. Vor ihnen flimmerte ein Hitzeschleier über dem glänzenden Asphalt.

»Ich denke nicht, dass es darauf ankommt«, meinte Tom. »Niemand wird sich darüber aufregen. Mums Freunde halten sich nicht gerade sklavisch an Konventionen.«

»Natürlich kommt es darauf an«, gab Belle zurück und hämmerte mit der Hand aufs Lenkrad. »Ich möchte, dass die Jungs anständig gekleidet sind. Dann müssen wir eben nach Ronda fahren und Sachen kaufen.«

»Ich kaufe da gar nichts ein«, murrte Ethan. »Oma würde es nicht stören. Wegen Klamotten hat sie nie ein Theater gemacht.«

Es hatte keinen Sinn, Belle irgendetwas erklären zu wollen. Das Erscheinungsbild war ihr wichtig. Tom schnappte jäh nach Luft und wedelte mit der Hand über der Tasche auf seinem Schoß. Für so einen kleinen Hund konnte Ferdie ziemlich üble Gerüche absondern. Sogar Belle verzog die Nase, als sie ihm einen Blick zuwarf.

»Belle! Pass auf, wo du hinfährst!«

Sie konnte das Steuer gerade noch herumreißen, um einem weißen Geländewagen auszuweichen, der auf sie zuraste. Eine Hand reckte sich aus dem Wagenfenster und zeigte ihnen den Stinkefinger.

»Verdammte Unverschämtheit! Was hat er mitten auf der Straße verloren?«

Tom starrte auf den gelben Ginster, der die Straße säumte, und seufzte.

Belle fuhr rechts ran, machte den Motor aus und stieg aus. Die Hitze legte sich wie eine warme Decke über den kühlen Innenraum. »Schalten wir alle einen Gang runter.« Sie schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug, ein und aus, dann reckte sie die Arme zum Himmel und wandte das Gesicht der Sonne zu. »Warum steigt ihr nicht alle aus und vertretet euch die Beine?«

Froh, dem erstickenden Gestank zu entrinnen, schob Tom Ferdies Tasche über die heiße Motorhaube, damit Belle den Hund rauslassen konnte. Nun stieg Ethan aus, reckte seine langen Glieder und schüttelte sich. Alex machte weniger Aufhebens, er ging ein Stück, wollte für sich sein, bevor es weiterging. Während Ferdie das trockene Gras und die Wildblumen am Straßenrand beschnupperte, verzog sich Ethan zum Pinkeln ins Gebüsch. Belle schaute in die andere Richtung und holte schließlich ihren breitkrempigen Hut von der Ablage hinten im Auto.

Sie rückte ihn zurecht und prüfte ihr Spiegelbild im Seitenfenster. »Ich dachte, ich könnte mich auf ihn verlassen.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf ihren ältesten Sohn.

»Was er anzieht, ist nicht entscheidend, wichtig ist nur, dass Mums Asche auftaucht. Mach dir da mal keine Sorgen.« Tom strich mit der Hand über seinen neuen Ultrakurzhaarschnitt, der von seiner Halbglatze ablenken sollte, und befürchtete, dass damit sein breiter Scheitel noch mehr auffiel. Die Sonnenhitze ließ seine Kopfhaut prickeln. Er holte den Safarihut aus dem Auto, den er vor ein paar Jahren in Australien gekauft hatte.

»Na gut.« Belle machte einen Satz nach hinten und schlug nach einem großen schwarzen Käfer, der daraufhin strauchelnd seine Flugbahn änderte. »Aber sie wird schon eintrudeln. Ihre Party lässt sich Hope bestimmt nicht entgehen.« An der rosafarbenen Flexi-Hundeleine zog sie Ferdie zu sich heran wie ein Jo-Jo, damit sie ihn wieder in die Transporttasche sperren konnte. Sie hielt ihn wie ein Baby an der Brust. Er leckte ihr das Kinn, und sie lächelte.

Tom schaute auf die Uhr. »Ich rufe lieber mal Lucy an. Sie wird sich fragen, wo wir bleiben.«

Er ging auf einen Telegrafenmast zu. Allmählich lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter. In sicherer Entfernung holte er sein Handy heraus und rief im Haus an. Er ließ es eine Weile läuten. Als er schon auflegen wollte, meldete sich ein Mann. »Dígame.« Er klang außer Atem.

Antonio. Er war der letzte, mit dem Tom jetzt sprechen wollte. In seiner Anwesenheit fühlte er sich immer unwohl, weil er nie recht wusste, in welchem Verhältnis Antonio zu Hope gestanden hatte. Ihm war nur klar, dass Hope gern geflirtet und die Gesellschaft von Männern gemocht hatte – in der Hinsicht war sie unverbesserlich gewesen. Tom war nicht prüde, keineswegs. Aber die Vorstellung, dass ein Mann, der nicht viel älter war als er selbst, mit seiner Mutter im Bett lag … offen gestanden, das passte ihm einfach nicht. Allerdings entzog es sich Toms Kenntnis, ob es wirklich so weit gekommen war, aber Antonio war so oft da gewesen, und die beiden hatten sich blendend verstanden. Antonio hatte die Stellung gehalten, seit Hope beschlossen hatte, nach England zu gehen, um im Kreis ihrer Kinder zu sterben. Sie konnten ja nicht alle ihre Arbeit ruhen lassen, um bei ihr in der Casa de Sueños zu sein, also waren sie Antonio wohl zu Dank verpflichtet, dass er sich, neben dem Hotel, das er an der Küste führte, um das Haus kümmerte. Aber trotzdem …

»Antonio. Ich bin's, Tom.«

»Ah. Du möchtest mit Lucy sprechen? Ich hole sie.«

Tom hörte Schritte klappern, dann einen Ruf. Gleichzeitig vernahm er laut und klar Belles Stimme: »Vergiss es nicht – das mit dem Ring.« Er hob die Hand, als hinderte sie ihn, seinen Gesprächspartner zu verstehen.

Dann meldete sich Lucy. »Tom? Wo bist du?«

»Fast da. Wir haben angehalten, weil es im Auto ein bisschen hitzig wurde – du weißt schon.« Er wischte sich die Stirn. »Aber draußen ist es auch ganz schön heiß.«

Sie lachte. »Die Jungs?«

»Teilweise. Aber Jo ist auch nicht viel besser.«

»Jo? Ich dachte, ihr reist getrennt an. Ist ihr Flug nicht nach deinem gelandet?«

»Schon, aber sie ist noch am Flughafen. Ihr Koffer ist verloren gegangen.«

»Oh, nein. Die Ärmste. Aber wir essen kalt, ist also nicht so tragisch.« Sie wusste, dass Tom gern pünktlich aß.

Er zögerte. Vielleicht war es besser, es ihr gleich zu sagen. Dann konnte sie sich auf die Neuigkeit einstellen, bis Tom mit seiner Familie eintraf. »Nur eins noch.«

»Was denn?«

Er drehte sich zu Belle um. Die Jungs standen nebeneinander und wirbelten mit den Füßen scharrend graue Staubwölkchen auf.

»Die Asche war im Koffer.«

Schweigen. Dann: »Du meinst …«

»Ja, Mum hat sich unentschuldigt von der Truppe entfernt.«

Vom anderen Ende der Verbindung kam ein Geräusch, als wäre Lucy in Tränen ausgebrochen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte nur, du solltest es wissen. Ich hätte die Asche selbst mitbringen sollen. Dass sie so idiotisch sein könnte, wäre mir nie in den Sinn …«

Wieder wurde er von einem Geräusch unterbrochen. Plötzlich wurde ihm klar, dass es kein Weinen war, sondern ein hysterisches Lachen. »Das ist so komisch!«, brachte Lucy zwischen Lachanfällen heraus. »Die Familie und ihre alten Freunde kommen am Samstag, und ausgerechnet sie ist nicht da.« Unvermittelt heulte sie los.

Tom verzichtete auf den Hinweis, dass Hope ohnehin nicht wirklich da sein würde. Belle versuchte sich unterdessen mit Zeichensprache zu verständigen und tippte auf ihren Ringfinger. Warum konnte sie sich nicht gedulden? Manchmal dachte er, die Frauen in seiner Familie würden ihn noch ins Grab bringen.

»Luce, eins noch.«

»Ja?« Er hörte etwas, das wie ein Schniefen klang.

»Der alte Ring von Mum. Der mit dem Rubin. Anscheinend hat sie ihn Belle versprochen. Könntest du ihn für sie heraussuchen?«

Jetzt war es eindeutig ein Schniefen. »Hat sie das?«

»Ich glaube schon.«

»Na ja, gut.« Sie putzte sich die Nase. »Ich dachte eigentlich, wir machen das gemeinsam, wenn du und Jo da seid. Ich habe die Klebezettel besorgt, wie du gesagt hast. Aber wenn du meinst, dass Mum es so gewollt hat, suche ich den Ring für sie raus.«

3

Lucy spürte die Träne, die ihr über die Wange lief, und machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. In den letzten Wochen hatte sie sich daran gewöhnt, dass unvermittelt Gefühle ans Licht drängten. Inzwischen ließ sie die Tränen einfach laufen, ohne ihr Tun zu unterbrechen, so als wäre das ganz normal. Sie setzte sich auf die niedrige Mauer, die die Terrasse begrenzte, streckte die Beine aus, legte das Telefon neben sich und gab sich Erinnerungen hin.

Ihr Leben lang hatte Hope es eilig gehabt, sie hatte Dinge rasch erledigt, aus dem Weg geräumt, abgehakt, und beim Sterben hielt sie es nicht anders. Sobald sie wusste, dass es unausweichlich war, wollte sie es schnell hinter sich bringen, so wie alles andere auch. Als auf der Hand lag, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb, war sie heim nach England geflogen, »um bei meinen Kindern zu sein«. Die drei Geschwister hatten die nötigen Vorkehrungen getroffen. Alle waren sich einig, es sei das Beste, wenn sie bei Lucy wohnte, bis es notwendig würde, etwas anderes zu organisieren.

»Du hast doch nichts dagegen, mein Schatz?«, hatte Hope sie beschwatzt. »Jo hat so viel mit Ivy Rose zu tun. Und sie muss sich um die Agentur kümmern. Ich weiß nicht, wie sie das schafft.« Sie schauderte. »Und bei Tom ist kein Platz wegen Ethan und Alex. Außerdem kann Belle jede erwachsene Frau zur Verzweiflung treiben. Der Tod ist eine Sache, aber dass einem der letzte Nerv geraubt wird, ist nochmal etwas anderes. Außerdem ist Art doch so oft unterwegs bei seinen Filmaufnahmen, da kann ich dir doch Gesellschaft leisten.«

Was hätte sie einwenden sollen? Aber sie hatte nichts einzuwenden. Sie hätte alles getan, damit ihre Mutter so sterben konnte, wie sie es sich wünschte. Aber im Lauf der folgenden Wochen hielt Art ihr immer wieder vor, Jo und Tom würden sie ausnützen, und sie sei immer diejenige, die in die Bresche sprang, wenn ihre Mutter Hilfe brauchte. Sie hatte ja auch längst aufgehört mitzuzählen, wie oft sie in der Hochsaison nach Spanien geflogen war, um im B & B auszuhelfen, wenn Hope nicht zurechtkam. Lucy versuchte ihre Geschwister zu verteidigen, die beide voll berufstätig waren. Von ihnen konnte man nicht erwarten, dass sie Hals über Kopf alles liegen und stehen ließen, während sie, eine kinderlose selbstständige Köchin, sich Zeit freischaufeln und aushelfen konnte, solange Art arbeitete. Und das tat sie auch.

»Bailey! Komm her!«

Der Hund, der im Gras lag, hob kurz den Kopf, dann streckte er sich ächzend.

»Bailey!« Diesmal war sie strenger, schnippte mit den Fingern. »Komm rein, da ist es kühler. Los. Ich suche jetzt diesen Ring, bevor ich es vergesse. Wenn die anderen kommen, geht das Chaos los.«

Widerstrebend stand der Hund auf und folgte ihr ins Haus, schaffte es aber nur bis zu den kühlen Terrakottafliesen im Eingangsbereich. Dort legte er sich hin. Lucy ging nach oben.

Seit ihrer Ankunft hatte sie das Zimmer ihrer Mutter nur einmal betreten. Wie überall im Haus war auch hier alles so, wie Hope es zurückgelassen hatte. Luisa hatte zwar den gefliesten Boden geputzt, die Ziegenfellvorleger ausgeschüttelt und das Moskitonetz über dem breiten Doppelbett verknotet, aber alles Übrige wirkte unberührt. Mit einem Blick nach oben stellte Lucy fest, dass sogar die schweren Eichenbalken in dem weiß gestrichenen Raum abgestaubt worden waren. Bevor Luisa hier schaltete und waltete, hatte niemand die Spinnweben entfernt, aber zu guter Letzt hatte Hope eine pedantische Putzfrau gefunden.

Lucy trat ans Fenster und zog die geblümten Vorhänge zurück, deren Ringe in der Stille klirrten. Licht strömte herein. Auf der alten Frisierkommode stand eine eckige Flasche Chanel N°5 neben der kleinen Glasschale, die Lucy ihrer Mutter vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte und die seitdem Hopes Haarspangen barg. In der alten Haarbürste hatten sich ein paar graue Haare verfangen. Lucy griff nach dem Parfum, schraubte die Flasche auf und gab ein wenig davon auf ihre Handgelenke, dann tupfte sie mit dem Finger etwas von dem Duft hinter ihre Ohren und schloss die Augen. Es war, als hätte ihre Mutter gerade den Raum betreten. Ihr stockte der Atem, sie setzte sich aufs Bett und grub ihre Zehen in den Ziegenfellvorleger. Der Gedanke, dass sie Hope nie wiedersehen würde, schien ihr unerträglich. Ein Erinnerungsbild flackerte auf, wie sie mit vier oder fünf Jahren auf eben diesem Bett herumhüpfte und in die offenen Arme ihrer Mutter sprang.

Aber der Ring.

Lucy sah die Hände ihrer Mutter vor sich, an denen Silberschmuck glänzte, und die Ringe, die aufgereiht in der Küche auf dem Fensterbrett lagen, wenn sie kochte. Vor langer Zeit hatte Hope bei einem schwedischen Silberschmied gelernt, der ein paar Jahre in Gaucín gelebt hatte. Als er wegzog, verkaufte sie ihre Sachen über Läden in Ronda, Estepona und Marbella. Das ging eine Weile so. Dann hängte sie ihr Hobby plötzlich an den Nagel und trug auch ihre Ringe nicht mehr. Und jetzt steckten sie angelaufen an den Fingern von zwei hölzernen Händen, die als Ringhalter dienten. Perlenschnüre hingen an den Ecken des Frisierspiegels. Irgendwo hier musste auch die Schachtel mit den losen Perlen sein: ein perfektes Geschenk für Ivy. In einer grünen Keramikschale lagen haufenweise Silberarmreifen. Lucy griff nach der hölzernen Box für Räucherstäbchen, die seitlich Messingelefanten in Einlegearbeit zierten und deren Deckel ein Lochmuster aufwies. Darin fand sie schlichte Ohrringe, aber nicht das, was sie suchte. Auf dem Nachtkästchen lag ein zerlesenes Exemplar von Die Giftholzbibel neben ein paar Nagelknipsern. Während Lucy in dem Roman blätterte, flatterte ein Zettel zu Boden. In der schrägen Schulmädchenschrift ihrer Mutter waren Spülmaschinentabs, Tomaten, Zwiebeln, Schweinefilet und Weißwein aufgelistet.

Lucy schaute auf die Uhr. Die anderen würden bald hier sein. Sie trat zu der Mahagonikommode, öffnete einen Schub nach dem anderen, ohne Erfolg. Dass sie auch in dem Korb mit den Flipflops und Espadrilles unter dem Bett nichts fand, war wenig überraschend, aber bei Hope konnte man nie wissen. Die einzige Möglichkeit, die blieb, war der Schrank. Lucy sah sich in dem matten Spiegel – rotäugig und erschöpft. Als sie sich mit der Hand durch die widerspenstigen Locken fuhr, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, sah sie nur noch verstörter aus. Zögernd näherte sie sich dem Schrank, denn ihr war klar, dass eine Flut von Erinnerungen herandrängen würde, sobald sie die Türen öffnete.

Als sie klein waren, hatte Tom behauptet, er hätte hinten im Schrank eine Tür entdeckt, die in eine andere Welt führte – »so ähnlich wie Narnia«. Lucy hatte bald festgestellt, dass es nicht stimmte. Sie musste sechs gewesen sein, als sie sich beim Versteckenspielen hier verkroch. Sie hatte die Tür zugezogen und Jos Zählen nur noch gedämpft wahrgenommen. Dann streckte sie die Hand aus und suchte nach der Geheimtür, tastete nach dem Knauf, drückte gegen das Holz, hoffte auf einen verborgenen Riegel, aber da war nichts. Enttäuscht kauerte sie sich zwischen die Schuhe und machte sich so klein wie möglich, die Knie ans Kinn gezogen, und wagte kaum zu atmen. Die Säume der Röcke ihrer Mutter streiften ihren Kopf, verströmten den vertrauten Duft, sodass sie sich im Dunkeln geborgen fühlte. Wenn sie sich bewegte, vibrierten die leeren Drahtbügel an der Stange. Sie hörte, wie die anderen beiden ins Schlafzimmer stürmten. »Ich komme!« Vorhänge wurden zurückgezogen, die beiden krochen unters Bett, dann ging die Tür zu und es wurde still. Die Minuten zogen sich in die Länge. Lucy wurde in der Wärme müde und konnte die Augen nicht mehr offen halten. Schließlich wurde sie von Hope geweckt. Die beiden anderen waren des Spiels sehr schnell überdrüssig geworden, beschäftigten sich mit etwas anderem und vergaßen ihre Schwester. Mindestens eine Stunde lang war niemandem aufgefallen, dass Lucy fehlte. Manchmal hatte sie das Gefühl, das sei typisch für ihr ganzes Leben.

Quietschend ließ sich die Tür öffnen. So viele vertraute Kleidungsstücke hingen da. Ihr Anblick rief die letzten Jahre ihrer Mutter wach: die Jacke, die sie bei der Gartenarbeit trug, mit losen Fäden, die ihre englischen Rosen gezogen hatten; Walters Cordhosen, die sie im Winter gern anzog (»Es wäre Quatsch, sie wegzuwerfen, außerdem erinnern sie mich an ihn«), an der Taille gehalten von einem Gürtel oder einem Stück Schnur. Dazwischen die leichteren Hosen für den Vorfrühling. Sobald die Sonne schien, griff sie auf die Kleider und Röcke zurück, die noch aus ihrer Hippiezeit stammten. Lucy fühlte sich als Eindringling, während sie ein Kleidungsstück nach dem anderen abtastete und in die Taschen griff. Das war nicht richtig, es war, als würde sie das Vertrauen ihrer Mutter missbrauchen und sich in ihre Privatsphäre drängen. Aber es musste sein. Belle und Tom würden sich beklagen, wenn sie nicht nachsah. Sie entdeckte einige Taschentücher, Wäscheklammern, Korken, Samentütchen, Pflanzenschilder, aber keinen Ring.

Auf dem Schrankboden standen die eleganteren Schuhe, die Hope für besondere Anlässe bereithielt, die es allerdings nicht gerade häufig gab: Glitzersandalen, die marineblauen Pumps, die sie zu Ivys Taufe im herbstlichen London getragen hatte, Lederstiefel für den Winter. Im Regal darüber befanden sich ihre wenigen Handtaschen. Auch dafür hatte Hope kaum Verwendung, denn sie warf ihre Geldbörse meist einfach in einen der großen Einkaufskörbe, die auf der hinteren Terrasse an der Wand hingen. Lucy, die sich nicht geschlagen geben wollte, leerte das Regal, in dem auch ein, zwei formlose breitrandige Sonnenhüte und der aquamarinblaue Pillbox-Hut lagen, den Hope bei Lucys und Arts Hochzeit getragen hatte. Wie lange war das her!

Als sie in ein mit schwarzen Perlen besticktes Abendtäschchen griff, ertastete sie etwas Hartes. Sie öffnete ein Reißverschlussfach und fand inmitten von Kleingeld das Objekt der Begierde. So ging Hope also mit Walters Geschenk um! Ihre Mutter hatte den Ring doch bestimmt nicht Belle versprochen? Das war einfach nicht richtig.

Sie probierte den Ring an, merkte aber bald, dass sie ihn, wenn sie ihn über den Knöchel drückte, nie wieder würde abziehen können. Als sie ihn aufs Bett legte, funkelte der Rubin auf der weißen Bettdecke wie ein Blutstropfen. Sie räumte alles wieder an seinen Platz und machte, erleichtert, dass ihr weiteres Suchen erspart blieb, den Schrank zu. Dann ging sie mit ihrer Trophäe hinunter, um letzte Vorbereitungen fürs Mittagessen zu treffen. Belle hielt vermutlich wieder mal Diät – solange Lucy zurückdenken konnte, arbeitete ihre Schwägerin immer in irgendeiner Weise an ihrem Erscheinungsbild. Wenigstens hatten sich die beiden Jungs endlich von der Spezialdiät verabschiedet, die nichts außer Würstchen, Hühnchen und Pommes zuließ. Und Ivy – sie stutzte. Allein schon beim Gedanken an das kleine Mädchen spürte sie eine schmerzliche innere Leere. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Jo bekommen, was sie, Lucy, sich immer sehnlichst gewünscht hatte. Bei ihrer Hochzeit mit Art hatten sie einer gemeinsamen Zukunft mit einer großen Kinderschar entgegengeblickt – ihrer eigenen Familie –, aber das Schicksal hatte andere Pläne.

Sie ging in die Küche, um die letzten Handgriffe zu erledigen. Tom und Anhang würden bald da sein. Der Minutenzeiger der Küchenuhr rückte auf zwanzig nach eins vor. Wenn es später als zwei Essen gab, würde das ihrem Bruder die Laune verderben. Sie griff nach der blau-weißen Schürze, die an der Tür hing. Als sie diese typische Geste ihrer Mutter nachahmte, spürte sie einen Kloß im Hals, und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie nahm die gewürfelten grünen und roten Paprika, die geschnittenen Oliven und die zerkleinerten hartgekochten Eier aus dem Kühlschrank und füllte damit blau-weiße Keramikschalen. Anschließend gab sie Olivenöl aus dem Kanister in die Pfanne, machte den Gasherd an und wartete, bis das Öl heiß genug war, um die Brotwürfel zu rösten. Lucy schüttelte die Pfanne und wendete das Brot immer wieder, bis es schön gebräunt war. Nachdem sie die Würfel mit einem Schaumlöffel auf ein Geschirrtuch gegeben hatte, damit sie knusprig blieben, ging sie schließlich hinaus auf die Terrasse, um nach dem Tisch zu sehen.

Zwei dunkelgrüne Eidechsen huschten über die niedrige weiße Mauer, als Lucy einen Stuhl zurechtrückte. Sie hatte ein weißes Tischtuch mit passenden Servietten gefunden und gewaschen, Gläser poliert und die runden Schilfmatten herausgeholt. Es sah ganz anders aus als zu Hopes und Walters Glanzzeiten, als sich niemand um solche Feinheiten scherte und sich auf dem blanken Holztisch Platten mit Essen, Weinflaschen, Gläser drängten, dazwischen Aschenbecher gefüllt mit den Kippen der filterlosen Celtas oder Walters schwarzen Cheroot-Zigarren. Hope hatte immer gern Gesellschaft gehabt, je lauter und ausgelassener desto besser.

Nicht einmal Belle würde an dieser Tafel etwas auszusetzen finden. Lucy zupfte das Musselintuch auf dem Wasserkrug zurecht, sodass die bunten Perlen auf dem Glas klimperten. Sie würde ihn mit Eiswasser füllen, wenn sie sich zum Essen setzten. Über ihr bewegte sich das Weinlaub in der lauen Brise.

Zurück in der Küche arrangierte sie aufgeschnittenen Chorizo, Jamón Ibérico, Salchichón und Lomo auf einer Platte. Ein großes Stück Manchego erhielt zusammen mit einer Portion Quittengelee einen eigenen Teller. Dann holte sie den Salat aus großen Fleischtomaten aus dem Kühlschrank, gab eine kleingeschnittene Avocado zu dem Blattsalat in der Olivenholzschüssel und machte ihn mit Knoblauchsauce an. Siehe da. Kaum war sie fertig, knirschten draußen auf der Einfahrt Reifen.

Autotüren wurden geöffnet und wieder zugeworfen. Schritte hallten durchs Haus. »Lucy, wo bist du?«

»Hier«, rief sie und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ich komme.«

Doch bevor sie hinausgehen und die Ankömmlinge begrüßen konnte, stand Tom vor ihr und schloss sie in die Arme. »Hey, Schwesterherz. Du kochst wieder mal groß auf, hoffe ich.«

Sie drückte ihn an sich – und schloss die Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Als sie sie wieder öffnete, stand Belle hinter ihm, Ferdie bei Fuß. Lucy löste sich aus der tröstlichen Umarmung ihres Bruders.

»Belle. Schön, dich zu sehen. Schicke Frisur.« Sie umarmte ihre Schwägerin, was sich anfühlte, als hätte sie es mit einer Eisenstange zu tun – so wenig gab sie nach.

Belle wich einen Schritt zurück und tastete nach ihrem Bob. »Wirklich? Meine Farbberaterin hat mir die Tönung aufgeschwatzt. Ich war mir erst nicht so sicher.« Sie bückte sich und hob Ferdie auf, damit niemand auf ihn trat.

»Ja, es ist … na ja, ungewöhnlich.« Lucy suchte krampfhaft nach dem richtigen Wort für den goldbraunen Helm. »Und abgenommen hast du auch seit dem letzten Mal.« Das war ein Kompliment, das immer gut ankam.

»Ich bin dabei.« Stolz legte Belle die Hand auf die Wölbung ihres Bauchs, den sie offensichtlich mit übermenschlicher Anstrengung einzog.

»Bringt doch eure Sachen nach oben, und ich stelle schon mal das Essen auf den Tisch«, schlug Lucy vor. »Wir sollten einfach ohne Jo anfangen.«

»Gott weiß, wie lange sie noch braucht.« Kopfschüttelnd ging Tom zum Auto. »Ich hätte Mum selbst mitbringen sollen.«

»Genau das habe ich ihm gleich gesagt«, rief Belle Lucy über die Schulter zu, ohne Hilfe bei der Essensvorbereitung anzubieten.

Resigniert holte Lucy das Eiswasser aus dem Kühlschrank.

Sekunden später hallte ein scharfes Bellen durch den Flur, gefolgt von einem Schrei und dem Geräusch von Pfoten auf den Fliesen. Dann fiel etwas scheppernd zu Boden.

»Bailey!«, brüllte Tom. »Nein!«

Lucy eilte auf den Flur, wo sie zwei Hinterteile vor sich sah, ein großes und ein kleines, die sich vor der Eichenkommode in die Höhe reckten. Über Belles Hintern spannte sich ihre etwas zu enge pinkfarbene Caprihose, die in Gefahr schwebte, an der entscheidenden Naht zu reißen. Rechts von ihr wedelte Bailey eifrig mit dem Schwanz. Belle lag auf den Knien, die Nase buchstäblich auf dem Boden. Die pinkfarbene Leine, die sie hielt, führte unter die Kommode. Bailey hatte genau dieselbe Haltung angenommen wie Belle: die Vorderbeine auf die Ellbogen gestützt, die Nase unten, die Ohren gespitzt, und der zottelige Schwanz flatterte wie eine Fahne im Sturm. Der Läufer war zur Seite geschoben, die Zinnplatte für Briefe lag ebenso auf dem Boden wie die ungeöffnete Post. In der Tür standen breit grinsend Ethan und Alex und machten keine Anstalten zu helfen.

»Um Himmels willen bringt mal jemand den Hund nach draußen!«, kreischte Belle und blickte kurz zu ihnen auf. »Ferdie traut sich nicht raus. Komm schon, Baby«, lockte sie ihn und ruckelte ein wenig an der pinkfarbenen Leine. »Er hat eine Heidenangst, der arme Kleine.«

»Bailey denkt bestimmt, das ist eine Ratte. Wahrscheinlich frisst er ihn.« Ethan stupste Alex an, und sie kriegten sich nicht ein vor Lachen.

»Ist mir egal, was er denkt. Tut doch jemand etwas. Ferdie, Schätzchen, es ist alles gut …«

Als Lucy den größeren Hund energisch am Halsband packte und wegzerrte, zog Belle heftig an der Leine, Ferdie kam unter der Kommode hervorgeschossen wie ein Korken aus einer Flasche Cava und landete in Belles Armen. Bailey machte einen Satz vorwärts, schleppte Lucy mit sich und bellte aufgeregt.

»Aus, Bailey!« Lucy fand ihr Gleichgewicht wieder und riss ihn zurück.

Belle war nun wieder auf den Beinen und drückte ihren zwergenhaften Schatz an die Brust. »Dieser Hund kann nicht im Haus bleiben, solange Ferdie hier ist«, protestierte sie. »Du musst ihn draußen anbinden.«

»Ich werde nichts dergleichen tun«, widersprach Lucy. »Er ist hier zu Hause. Sitz!« Zu ihrem Erstaunen gehorchte Bailey, ohne sein erhofftes neues Spielzeug aus den Augen zu lassen. Lucy holte tief Luft. Das Wochenende fing ja gut an. Sie würde nicht zulassen, dass gleich alles schief ging. »Vielleicht ist es besser, wenn ihr in der casita übernachtet. Dort ist Ferdie in Sicherheit.«

»Ich dachte, wir würden, weil es das letzte Mal ist, alle im Haupthaus schlafen?«, warf Tom verunsichert ein, obwohl er bestimmt wusste, wie die Antwort seiner Frau ausfallen würde.

»Nicht, solange dieses Tier hier ist«, beharrte Belle. »Ich werde kein Auge zutun, wenn Ferdie in Gefahr ist.«

»Ach, Belle …« Tom klang verzweifelt.

»Dieses Tier ist Mums Hund«, erklärte Lucy. »Bailey wohnt hier, seit er ein Welpe war, seit sie Carlos davon abgehalten hat, den Wurf zu ersäufen. Das weißt du. Er wird keinesfalls ausquartiert.« Als sein Name fiel, versuchte Bailey, sich freizukämpfen, was ihn in Atemnot brachte, weil Lucy mit eisernem Griff sein Halsband festhielt.

»Bailey! Sitz!«, wiederholte sie.

Sein Schwanz klopfte auf den Boden, als er ihr für einen Sekundenbruchteil seine Aufmerksamkeit zuwandte.

»Lucy, bitte …«, flehte Tom. »Wir hatten es doch so ausgemacht. Weil es das letzte Mal ist.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Mit Ferdie könnt ihr nicht im Haus schlafen.« Wenn sie jetzt nicht hart blieb, würden sie am Wochenende keine ruhige Minute haben. Toms sentimentale Anwandlung musste eben hinter der Unterbringung des lächerlichen Haustiers seiner Frau zurückstehen. Schließlich hatte niemand sie gebeten, Ferdie mitzubringen. Hätten sie ihn nicht bei Freunden lassen können? »Es wird auch so verrückt genug, ohne dass wir alle fünf Minuten einen Hundekampf haben«, gab sie zu bedenken. »Und was ist, wenn jemand gebissen wird? Ivy zum Beispiel.«

Belle war bereits draußen und ging zum Auto. »Übernachten wir einfach in der casita, Tom. Es spielt doch keine Rolle, wo wir schlafen.«

4

Als Jo den Wagen in die Einfahrt lenkte, rief der Anblick des alten Hauses eine wahre Flut an Erinnerungen wach. Der Fensterladen oben rechts, über der tiefroten Bougainvillea, die oberhalb der weinumrankten Pergola am Haus emporkletterte, war so wie die anderen dunkelgrün gestrichen; dahinter hatte sie früher geschlafen. Sie kannte alle Geheimnisse des Zimmers: die Eigenart des Fensters, nach einem Gewitter zu klemmen – Tom hatte einmal mit dem Handballen die Scheibe eingeschlagen, als er versuchte, es für sie zu öffnen; das Dielenbrett, das sich anheben ließ und unter dem sie ihr Tagebuch und das Geld fürs Weglaufen versteckte; das wacklige Bücherregal, das nur eine bestimmte Anzahl Bücher verkraftete, sonst fielen alle auf den Boden; die Löcher in der Tür, wo sie einen Riegel anbringen wollte, bis Hope dahinterkam und ihn ihr wegnahm. Obwohl Hope schon vor langer Zeit renoviert hatte und die Spuren von Jos Postern und Ansichtskarten an der Wand verschwunden waren, hoffte sie, dass Lucy ihr und Ivy ihr ehemaliges Zimmer zugeteilt hatte.

Von unten betrachtet, verbarg sich das weiß gestrichene Bauernhaus teilweise hinter dem kleinen Olivenhain, den es gab, solange Jo zurückdenken konnte. Zur Erntezeit sammelte Walter, unterstützt von ein paar Einheimischen, die Früchte und brachte sie zu einer kleinen Presse in der Nähe von Ronda, wo man sein eigenes Öl erhielt. Aus diesem Blickwinkel sah man gerade noch die weißen Häuser von Gaucín auf dem Bergkamm, wo die Ruine einer maurischen Burg über den Ort wachte. Jo hielt und machte den Motor aus, um diesen friedvollen Augenblick zu genießen. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Ivy im Kindersitz schlief tief und fest, schweißnasses Haar klebte ihr an der Stirn, die Wangen waren rosig von der Hitze, die Lippen leicht geöffnet. Bampy hing über den Rand ihres Sitzes. Wieder diese überwältigende Liebe. Sie war einfach nicht zu unterdrücken.

Jo richtete den Blick erneut auf das zweistöckige Haus, das in der Sonne leuchtete, die ockerfarbenen Dachpfannen auf dem leicht abfallenden Dach, die beiden weißen viereckigen Kamine, auf denen Vogelschutzgitter thronten. Sie sah gerade noch die vordere Terrasse, die Pergola, die dem gedeckten Tisch Schatten spendete. Links vom Haus lag der Garten ihrer Mutter. Hope erzählte gern, dass alle sie ausgelacht hatten, als sie ankündigte, sie wolle einen englischen Garten anlegen. »Un jardin Inglés! Aquí?!« Aber mit sorgfältiger Bepflanzung und Pflege hatte sie bewiesen, dass es ging. Das war Hopes kleines Stück England. Im Kontrast zu den Wildblumen, die ringsum überall wuchsen, blühten hier weiße Rosen neben Rittersporn, Akelei, Malven, Baldrian und silbrigem Wollziest. Jo konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter irgendetwas anderem so viel Fürsorge und Aufmerksamkeit gewidmet hätte – einschließlich ihrer drei Kinder. Sie bemerkte jeden neuen Trieb, bewässerte und hegte die Pflanzen den ganzen Sommer lang, und im Winter konsultierte sie Saatgutkataloge und plante den neuen Look für das kommende Jahr, schickte ihre Bestellungen ab und wartete ungeduldig, bis die Päckchen eintrafen.

»Na los«, sagte sich Jo. »Fahr weiter. Sie warten bestimmt.« Doch ihr war klar, dass sie genau das nicht taten. Tom wartete nie auf jemanden, wenn das für ihn eine Verspätung bedeutete.

Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und fuhr langsam die Zufahrt hinauf, vorbei an der Wiese mit den leuchtenden Wildblumen und dem Olivenhain, und stellte ihr Auto neben Toms silbern glänzendem Mietwagen ab. Als sie ausstieg, blieb sie kurz stehen und ließ sich von der Hitze des Tages umfangen. Dann holte sie den Rucksack aus dem Kofferraum und stellte ihn neben dem Haus ab. Das Gepäck hatte Zeit. Ivy aus dem Sitz zu heben erwies sich als schwieriger. Ihre aus dem Tiefschlaf gerissene Tochter wehrte sich, verschwitzt und schlecht gelaunt, gegen jeden Versuch, sie aus dem Auto zu holen.

»Komm schon, Süße. Hilf ein bisschen mit. Lucy ist drinnen, sie freut sich schon auf dich. Nach dem Essen gehen wir schwimmen.« Und wenn du jetzt keine Zicken machst, wäre das Leben so viel leichter.

»Ich will nicht schwimmen!« Ivy versetzte ihrer Mutter einen Kinnhaken mit dem rechten Fuß.

Sie unterdrückte den Impuls, ihre Tochter anzuschreien, weil das alles nur noch schlimmer machen würde.