Ein Herz aus Papier und Sternen - Cecelia Ahern - E-Book

Ein Herz aus Papier und Sternen E-Book

Cecelia Ahern

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Beschreibung

Ein zutiefst bewegender Roman über die Suche nach sich selbst und dem Weg nach Hause - von der Autorin des Weltbestsellers »P.S. Ich liebe dich«. Ein zutiefst bewegender Roman über die Suche nach sich selbst und dem Weg nach Hause - von der Autorin des Weltbestsellers »P.S. Ich liebe dich«. Pips Leben hat enge Grenzen. Jahrelang bleiben ihre Träume nur Träume, macht sie sich selbst stets klein, so wie die filigranen Origami-Kunstwerke, die sie heimlich in ihrem Zimmer anfertigt. Erst eine unerwartete Begegnung schenkt ihr Hoffnung: Ein Astronom aus der örtlichen Sternwarte lehrt sie, zu den Sternen zu blicken und damit auch ihre Welt ganz neu zu sehen: viel größer und schöner, als sie es sich je vorgestellt hat. Und vielleicht wartet darin sogar jemand auf sie. Wenn sie den Mut findet, ihr Herz zu öffnen. Pip hat nie aufgehört zu träumen - doch jetzt ist es Zeit, wirklich zu leben, und vielleicht sogar: zu lieben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Englischen von Ute Brammertz und Carola Fischer

© Greenlight Go Ltd 2025

Titel der englischen Originalausgabe: »Paper Heart« Harper Collins Publishers, London 2025

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Hanna Bauer

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Claire Desjardins

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Motto

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Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Sarah-Jayne Tobin

Motto

Origami-Mädchen

verkriecht sich in ihrem Innern

sie versteckt und faltet

einen Kern in ihrer Schale

sie spricht durch Formen

tastet mit spitzen Ecken

fühlt mit einem verborgenen Herz aus Papier

sie flüstert in Tinte

1

Normalerweise tröpfelt das Leben so gleichmäßig dahin wie Wasser aus einem undichten Hahn, aber heute ist es anders.

Der Verkehr durch die Ballybeg Main Street ist zum Stehen gekommen. Wie immer sitzt Pip auf dem Rücksitz, ihre Mutter Josephine am Steuer, und Pips Tochter Bella hockt vorn auf dem Beifahrersitz.

Josephine drückt auf die Hupe, und Bella lacht über die Ungeduld ihrer Großmutter. Peinlich berührt sinkt Pip tiefer in den Rücksitz. Das Hupen ihrer Mutter nützt nichts. Es gibt eindeutig ein Problem, denn eine lange Autokolonne bewegt sich aus dem Ort raus, aber niemand fährt hinein. Ein Engpass im Verkehrsfluss.

Da die Situation nicht zu ändern ist, lehnt Pip sich zurück, sieht aus dem Fenster und verliert sich in Träumereien. In ihrer Fantasie kann sie die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichen Leben und einer je eigenen Liebesgeschichte sein. Unzählige Versionen ihrer selbst, die ihr im echten Leben verwehrt bleiben. Ihre Tagträume sind von wahrer romantischer Liebe überschwemmt, die sie von Grund auf verwandelt. Trotz aller Tiefschläge glaubt sie immer noch an die große Liebe, eine Art Zauber, dem täglich aufs Neue Menschen verfallen. Nur um sie scheint diese Kraft einen großen Bogen zu machen, was tiefe Verwirrung in Pip hervorruft. Sie wünscht sich den Himmel auf Erden.

Sie weiß, dass es die große Liebe gibt, denn sie hat sie einmal besessen, bevor man sie – ihn – ihr wegnahm.

»Hup noch mal, Nan«, sagt Bella fröhlich, und ihre laute Stimme holt Pip aus ihren Gedanken zurück in den Verkehrsstau.

Bella beugt sich hinüber und versucht, die Hupe zu betätigen.

»Hör auf, du«, fährt Josephine sie an. Nach einem Moment der Stille hupt sie selbst wieder.

Der Fahrer des Wagens vor ihnen steigt aus.

»Oh, oh«, sagt Bella. »Jetzt hast du ihn verärgert.«

Doch der Mann kommt nicht zu ihnen, er läuft quer über die Straße zu einem Laden, dessen Besitzer vor der Tür steht, um nachzusehen, was los ist. Informationen werden ausgetauscht, die Josephine neugierig machen. Sie muss immer über alles Bescheid wissen.

»Bleibt im Wagen«, weist sie Bella und Pip an und stellt den Motor ab.

Vom Rücksitz aus beobachtet Pip, wie Josephine, die kleine, neunundfünfzigjährige Frau in Jeans, Fleecejacke und Nike-Turnschuhen, mit geschäftsmäßiger Miene aus dem Auto steigt.

Den Kopf gesenkt.

Schneller Gang.

Trippelschritte.

Knallhart.

Ohne ein Wort der Entschuldigung oder eine Begrüßung mischt sich Josephine in das Gespräch der Männer ein. Kurz sind sie verstimmt, machen der Dazugekommenen aber Platz. Dann sprechen die Männer lange. Josephine hört zu, das kann sie gut, bei ihr fangen die Menschen an zu reden. Sie entlockt jedem ein Geständnis. Pips Vater Philip ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie seine Frau. Die beiden arbeiten zusammen wie das örtliche Ballybeg-Ermittlungsteam. Er schweigt, während sie nachbohrt, aber sie hat seine volle Unterstützung.

Bella öffnet die Beifahrertür.

»Sie hat gesagt, wir sollen drinnen …«

Bella steigt aus und knallt die Tür zu. Pip sieht, wie ihre sechzehnjährige Tochter selbstbewusst die Straße überquert.

Schwarze Leggings.

Bauchfreies Top.

Schwingende Hüften.

Forsch.

Bellas Stringtanga zeichnet sich unter ihren Leggings ab. Das Selbstvertrauen ihrer Tochter erstaunt Pip. Mit sechzehn wäre es ihr unangenehm gewesen, allein an einer Wagenkolonne vorbeizulaufen. Sie war damals befangen und hatte das Gefühl, die Augen der ganzen Welt wären auf sie gerichtet und würden sie beurteilen. Reumütig hielt sie den Kopf gesenkt, ein langes Shirt oder einen Pulli über den Po gezogen, für den Fall, dass jemand hinsah. Pip wollte so schnell wie möglich ans Ziel gelangen, wohingegen Bella ihren Weg genießt. Sie macht lange Schritte, und die Arme schwingen locker an ihrer Seite.

In dem Alter hat Pip ihren Körper unter sackartigen Kapuzenpullis und schlabbrigen T-Shirts versteckt, weil sie mit Bella schwanger war. Sie schämte sich, eine Frau zu sein, es war ihr peinlich, wie ihr Körper sich veränderte. Anscheinend war sie in ganz Ballybeg die Erste, die mit sechzehn ein Kind bekam. Sie spürte die brennende Schande, litt unter Schuldgefühlen, empfand Reue. Mit dem kaschierten Babybauch und den hochgezogenen Schultern war sie ein wandelndes schlechtes Gewissen.

Pip lehnt den Kopf gegen das Seitenfenster und versucht, zu ihrem Tagtraum zurückzukehren, aber der Anblick von Josephine und Bella, die nach Informationen graben, lenkt sie ab. In Ballybeg, einem Ort in den Midlands von Irland, im Herzen der Moorlandschaft, sind die Menschen immerzu am Graben.

Die Bauern graben Torf, im Steinbruch brechen die Arbeiter Gestein, und in der hiesigen Forschungssternwarte fördern die Astronomen neue Erkenntnisse über das Universum zutage.

Überall bringt ihre Arbeit Verborgenes ans Licht.

In den Mooren ist das Graben ein Ritual, es wird von Generation zu Generation weitergereicht, und ihm wohnt ein Rhythmus inne, der dieser Gegend Identität verleiht. Torfstechen sei ihr gottgegebenes Recht, würde man hier sagen. Das Land gehört den Menschen, die natürlichen Ressourcen versorgen sie mit reichlich Energie.

Im Steinbruch, wo Pips Vater arbeitet, schuften sie, was das Zeug hält. Das Graben ist hungrig und gierig, es verschlingt die Erde und labt sich. Es zieht die Haut ab und steuert direkt auf die Knochen zu. Es nährt einen anderen fürchterlichen Hunger, füllt Taschen, die niemals bis oben hin vollgestopft sein können.

Mit der gleichen Gier wird im Observatorium Neues aus der Tiefe des Alls hervorgebracht. Es ist ein intellektueller Hunger, ein tiefes Bedürfnis, zu forschen und zu lernen, die Beschaffenheit des Universums kennenzulernen und den Ursprung des Lebens zu entdecken.

Im Moor benutzen sie einen zweiseitigen Spaten, der sleán genannt wird.

Im Steinbruch arbeiten sie mit Baggern, Radladern, Planierraupen, Sprengstoff.

Für die Himmelsforschung stehen Radioteleskope und Satelliten bereit.

Stein aus Felswänden, Torf aus der Erde, Objekte am Himmel.

Tief im Herzen Verborgenes. Es ist Zeit für Pip, sich zu ihren eigenen Herzensangelegenheiten vorzugraben. Erneut verliert sie sich in ihren Fantasien und träumt von prickelnden Begegnungen.

Josephine dreht sich von den Männern weg und hastet mit gesenktem Kopf zurück zum Auto, Bella im Schlepptau. Die Männer betrachten Bellas Hintern. Pip wendet den Blick ab.

Der Verkehr fließt wieder.

»Was war los?«, will Pip wissen.

Als Antwort startet Josephine den Motor, und Bella schließt den Sicherheitsgurt.

Während sie aus dem Zentrum von Ballybeg hinausfahren, sieht Pip eine Reihe parkender Autos, die die Gegenfahrbahn blockieren. Ein Polizist von der Garda regelt den Verkehr, während sich eine Menschentraube vor einem Haus versammelt hat, das Pip allzu vertraut ist. Mitten im Garten entdeckt sie Lorcan Murphy, Bellas Großvater väterlicherseits.

Mehrere Gardaí umringen ihn.

Roter Kopf.

Geballte Fäuste.

Verzerrter Mund.

Wutentbrannt.

Er brüllt und reckt wiederholt die Faust in die Luft. Pip drückt den Knopf, um das Seitenfenster herunterzulassen, aber es ist verriegelt.

»Starr da nicht hin«, verlangt Josephine barsch und schaltet das Radio ein, als würden sie dadurch alle weniger sehen.

Bella reißt die Augen auf, dreht dann abrupt den Kopf zurück nach vorn und begutachtet ihre Fingernägel, als wäre nichts passiert.

Pip prellt sich beinahe die Stirn, die sie gegen die Scheibe presst, während sie den Kopf im Vorbeifahren hin- und herwendet, um Jamie, Bellas Vater, in der Menge zu erspähen.

»Philippa«, ruft Josephine.

Ihr bellender Tonfall duldet keinen Widerspruch. Selbst mit zweiunddreißig Jahren gehorcht Pip noch ihrer zornigen Mutter und wendet den Blick nach vorn.

Ihr Herz pocht vor Aufregung über das, was sie dort im Garten gesehen hat, und sie weiß, dass Josephine nie mit ihr über diesen Vorfall sprechen wird. Also lehnt sie sich zurück und versucht, wieder in einen Tagtraum zu entfliehen.

Doch sie kann nicht länger die Mitfahrerin auf der Rückbank sein, die tut, wie ihr geheißen.

Heute ist es anders.

2

Pip wird an ihrer Arbeitsstelle, der Ballybeg Service Station, abgesetzt, aber so heißt das nur bei den Zugezogenen der Gegend. Die Einheimischen nennen die Tankstelle Crossroads Station. Sie liegt an einer Straßenkreuzung, an der es schon vor Ewigkeiten, gefühlt schon seit vor Christi Geburt, eine Baracke mit einer einzelnen Benzinsäule und der Möglichkeit zu tanken gab. Pip hat kaum genug Zeit, aus dem Wagen zu steigen, als Josephine bereits in Richtung des Observatoriums losbraust. Großmutter und Enkelin sind dort in der Kantine tätig. Bis vor Kurzem war das auch Pips Arbeitsstelle, doch vor einigen Wochen hat sie die aufgegeben, damit Bella den Sommer über dort jobben kann.

Pip sieht ihnen hinterher, dann blickt sie zurück in Richtung Ballybeg, als wäre dort immer noch Lorcan Murphy zu sehen. Sie ist geschockt. Wurde er verhaftet? Sie kommt zehn Minuten zu spät zur Arbeit, aber das ist egal, denn ihr Kollege Ronnie trifft erst nach ihr auf seinem E-Scooter ein.

Rothaariger Irokese.

Eingebildeter Typ.

Stadtbekannter Blödmann.

Aggro.

Als er seinen Helm absetzt, kommen seine platt gedrückten Haare zum Vorschein, die er sofort mit einer verklemmten Bewegung wieder aufrichtet. Die kahlen Seiten seines Kopfs sind mit Tattoos bedeckt. Er erinnert Pip an einen Gockel.

»Deine Verbrecherfamilie sorgt für ordentlich Chaos«, poltert er im Vorbeilaufen und streckt ihr die gepiercte Zunge heraus.

Ronnie danach zu fragen, was er im Ort gesehen hat, scheidet leider aus, auch wenn die bloße Überlegung verrät, wie verzweifelt Pip in Erfahrung bringen möchte, was passiert ist. Doch im Umgang mit Ronnie empfiehlt es sich, so wenig wie möglich auf ihn einzugehen.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagt sie zu Krish, ihrem Chef, und geht dann in den Personalraum, um ihre Jacke und ihre Tasche zu verstauen.

»Kein Problem, Philippa. Lass dir Zeit.«

Sie kann die Angespanntheit in seiner Stimme hören. Mehrere Lkw-Fahrer warten in einer Schlange vor der Sandwichtheke und möchten bei Krish ihre Frühstücksbrötchen bestellen.

Sikh-Gläubiger.

Familienmensch.

Vertrauenswürdiger Chef.

Solide.

»Was hat Farmer Murphy verbrochen? Hat er jemanden umgebracht und ihn dann in seinem Moor vergraben?«, fragt Ronnie und zieht sich sein T-Shirt über den Kopf, um in das rote Poloshirt mit dem Logo der Tankstelle zu schlüpfen. Er ist am ganzen Oberkörper tätowiert und hat zahllose Piercings. Pip sieht weg. »Gar keine dumme Idee«, fährt Ronnie fort, »ich fand schon immer, dass das ein guter Ort ist, um eine Leiche verschwinden zu lassen. Die Besuche im Gefängnis werden dir Spaß machen. Sicher lieben die Knastbrüder deinen Geruch.«

Er schnuppert in die Luft und lässt die gepiercte Zunge vor- und zurückschnellen.

Angewidert legt Pip Jacke und Tasche in ihren Spind und verdeckt mit einer Hand den Code, als sie das Vorhängeschloss anbringt. Dann verlässt sie schnell den Raum. Das Schloss soll sie vor Ronnie schützen, seit sie eine Reihe Dick-pics auf ihrem Telefon gefunden hat, Aufnahmen von seinen Genitalien, als er sich ihr Handy einmal in die Hose gesteckt hat. Sie hat so viel Desinfektionsmittel auf den Bildschirm gesprüht, dass das Gerät eine Woche lang nicht funktionierte.

Sie geht zu Krish an die Sandwichtheke, reinigt ihre Hände, bevor sie viel zu große Plastikhandschuhe überzieht, die ihre Finger winzig aussehen lassen.

»Entschuldige«, sagt sie noch einmal.

»Keine Ursache, heute ist ein Wahnsinnsverkehr im Ort. Ein Full-Irish-Breakfast-Sandwich für den Herren«, erwidert Krish in seinem indisch-irischen Akzent und reicht ihr das mit Butter verschmierte Messer. »Weiß man denn, was da draußen los ist?«

»Nein«, antwortet Pip leise und nimmt das Messer entgegen. Da zu viel Butter daran klebt, wischt sie es an einem Küchentuch ab. Inzwischen kann sie beim Anblick einer Brotscheibe sagen, welche Menge sie benötigt. Nur ungern streicht sie den Rest vom Messer wieder in den Behälter, denn dann kommen immer Krumen in die Butter.

»Irgendein Bauer beschwert sich lauthals übers Torfstechen«, erklärt ein Kunde. »Die Gardaí haben sich eingeschaltet.«

»War das Lorcan Murphy? Ich weiß, dass er seine Anhörung vor Gericht verpasst hat«, sagt der dritte Mann in der Schlange und zieht sich schniefend die Jeans hoch. »Wenn man nicht erscheint, kommen sie einen holen.«

Der erste Mann schnaubt. »Die Gardaí kommen nicht, wenn man den Termin ein- oder zweimal versäumt. Wenn sie ihn in Gewahrsam nehmen, dann, weil er sich dem Gericht entzieht.«

»Es ist richtig, dass er sich zur Wehr setzt«, sagt nun der zweite Mann und nimmt eine straffe Haltung an. »Das ist sein gutes Recht, schließlich ist es sein Land.«

Seit das Torfstechen aus Umweltschutzgründen verboten wurde, musste Ballybeg sich neu erfinden. Einige können die Vergangenheit loslassen, andere klammern sich daran fest. Die Emotionen der Menschen schlagen hoch, auf der einen Seite wird das Recht, Torf als Brennstoff für die Häuser zu stechen, verfochten, auf der anderen hält man mahnend den hohen Preis des Ausgrabens für die Umwelt dagegen

Einige aus dem Ort haben die neuen Regeln voll und ganz akzeptiert. Sie erhalten ihre Moore, damit diese wieder als Kohlenstoffsenke zur Verbesserung des Klimas fungieren können und als Habitate fortbestehen. Lorcan Murphys Familie besitzt ein Stück Moorland, wo seit Generationen Torf gestochen wird. Nun wurde es zum Naturschutzgebiet erklärt, aber er weigert sich, auf sein Recht als Torfbauer zu verzichten.

»Das ist ihre Lebensgrundlage«, sagt Krish respektvoll.

Krish wechselt einen wissenden Blick mit Pip, als er ihr den Platz hinter der Theke überlässt.

Das Gerede über Lorcan Murphy geht Pip nicht aus dem Kopf. Der Gedanke, dass Bellas Großvater ins Gefängnis wandern könnte, ist schrecklich, dennoch pocht Pips Herz, und sie fühlt eine Aufregung und eine Hoffnung, für die sie sich schämt.

Jamie wird nach Hause kommen müssen.

Sie hat Jamie seit Jahren nicht gesehen. Das war so beabsichtigt, die beiden sollten keine Gelegenheit haben, noch mehr Babys zu machen, als wären sie wilde Tiere. Mit sechzehn Jahren haben ihre Eltern ihnen eine alles beherrschende Furcht davor eingeflößt, sich im selben Raum aufzuhalten. Tief verängstigt erfüllten sie die Forderungen ihrer Familien und gingen bereitwillig auf großen Abstand zueinander. Eine mickrige Stunde pro Woche durften sie sich sehen, damit Jamie etwas Zeit mit Bella verbringen konnte. Dann hockte er mit dem Baby auf dem Boden, während ihrer beider Eltern und Pip ringsherum auf Stühlen saßen und ihn beobachteten, als wäre diese Zusammenkunft vom Gericht angeordnet worden. Für Pip war es qualvoll, nicht wie eine richtige Familie, nicht an Jamies Seite mit Bella spielen zu können.

Vor allem Josephine schürte absichtlich Pips Angst. »Wenn du es auch nur wagst, ihn anzusehen …«, drohte sie häufig zornig mit zusammengebissenen Zähnen. Doch auch das minderte nie Pips Sehnsucht, mit Jamie zusammen sein zu wollen.

Und dann, sobald Jamie die Schule beendet hatte, schickte seine Familie ihn nach Liverpool.

Er kam so oft wie möglich nach Hause, aber während der Pandemie blieb er häufiger lange fort, was schließlich die Norm wurde. Inzwischen ist er nur noch an Weihnachten und Ostern ein paar Tage in Ballybeg, und seine Beziehung zu Bella beschränkt sich auf eine festgelegte Zeit am Telefon jeden Sonntag. Doch eine gerichtliche Anhörung und ein Prozess für Lorcan Murphy könnten sich über Wochen hinziehen, und sicher würde Jamie seiner Familie in dieser Zeit beistehen wollen. Pip muss ihre Nervosität bezwingen, während sie mit zitternden Fingern Würstchen für das Frühstücksbrötchen schneidet.

Die Tankstelle verfügt über einen größeren Gastronomiebereich. Das Angebot bleibt immer gleich: warme Speisen, eine Auswahl an Sandwichbelägen und Salate. Verschiedene Soßen in Plastikflaschen. Das Frühstücksbrötchen wird den ganzen Tag serviert, es ist der Verkaufsschlager, mit dem sie auf einem doppelseitigen Aufsteller an der Straße werben, ein Allheilmittel gegen jedes Übel.

Manche Kunden wollen sich gern ein wenig unterhalten, andere hingegen bleiben während ihrer Pause für sich, sind froh, nicht reden zu müssen, und verlieren sich in den digitalen Welten ihrer Handys. Die meisten Kunden sind Männer aus dem Steinbruch, in dem auch Pips Vater arbeitet, und Bauarbeiter von der Neubausiedlung kurz hinter der Ortsgrenze. Auf der Rückseite der Ballybeg Service Station gibt es eine schicke Parkbucht, ebenso eine Autowaschanlage, moderne Toiletten und Duschräume sowie Waschmaschinen, was Fernfahrer anlockt. Manchmal haben diese Männer die Kunst der Unterhaltung verlernt und überfallen Pip mit allen Gedanken, die ihnen während ihrer stundenlangen Fahrten in den Sinn gekommen sind. Es ist erstaunlich, was Menschen in wenigen kurzen Momenten offenbaren können. Vielleicht fühlen sie sich bei Pip sicher; einer Fremden mitten im Nirgendwo, die sie nie wiedersehen werden, können sie ihr Herz ausschütten. Das gilt nicht nur für Friseure, Kosmetikerinnen und Barkeeper, sondern auch für Tankstellenmitarbeiterinnen.

Die kulinarischen Entscheidungen eines Kunden vermitteln ihr eine Vorstellung von seinem Charakter. Die Geschmäcker sind so verschiedenartig wie die Menschen selbst. Pip stellt sich vor, dass die Sandwichwahl ein persönliches Geheimnis verrät. Obwohl nichts Wahres dahintersteckt, ist es doch ein netter Zeitvertreib.

»Was bekommen Sie?«, fragt sie den nächsten Kunden in der Schlange.

»Hühnchen mit allem, bitte.«

Pip hat gerade das Brötchen in der einen und das Messer in der anderen Hand, als der Mann sich verschwörerisch umsieht, sich dann über die Theke beugt und nuschelnd sagt: »Mach auch ein paar von diesen Gewürzgurken drauf, ja?«

Während sie sorgfältig die Gewürzgurke aufschneidet, malt sie sich das Spitzenhöschen aus, das er unter seiner Jeans trägt.

»Kann ich mit dir reden?«, fragt Krish, der kurze Zeit später plötzlich neben ihr am Zeitungsständer auftaucht und ihr einen Schreck einjagt.

Obwohl Pip weiß, dass über den Vorfall noch nichts in den Lokalzeitungen stehen kann, wollte sie nachschauen, ob sie etwas über Lorcan Murphy herausfinden kann, vielleicht wird eine gerichtliche Anhörung erwähnt.

Krish sieht sich um, wahrscheinlich nach Ronnie, dann spricht er mit leiser Stimme: »Philippa, in ein paar Wochen höre ich hier auf.«

»Warum hörst du auf?«, fragt sie im Flüsterton.

»Ich habe einen neuen Job als Nachtwächter im Wolverson-Steinbruch«, sagt er mit stolzgeschwellter Brust. »Mary kehrt in ihren Job zurück, also arbeite ich nachts und sie tagsüber. Das passt uns beiden perfekt in den Kram. Ronnie habe ich noch nichts davon erzählt, verstehst du?«

So richtig versteht sie es nicht. Ronnie ist eine Nervensäge, aber sie weiß nicht, was er zu Krishs Neuigkeit sagen wird. Besonders traurig wird er sicher nicht sein.

»Sie werden eine neue Leitung für den Laden benötigen«, hilft Krish ihr auf die Sprünge.

»Oh, richtig.«

»Und Ronnie wird sich darum bewerben wollen.«

»Ohhh.«

»Du arbeitest zwar noch nicht lange hier, aber du bist perfekt geeignet für den Job. Du bist die engagierteste Mitarbeiterin, die ich je hatte, Philippa, absolut zuverlässig, gewissenhaft und wunderbar im Umgang mit der Kundschaft. Du zeigst ein ehrliches Interesse an den Menschen – andere muss ich ermahnen, ihnen ins Gesicht zu sehen.«

»Vielen Dank, aber ich glaube kaum, dass ich den Posten als Filialleiterin übernehmen kann. Ich wüsste gar nicht, was zu tun ist.«

»Du sorgst einfach dafür, dass alle anderen ihren Job machen.«

Mit den Jobs der anderen kennt sich Pip gar nicht aus. Sie konzentriert sich nur auf ihre eigenen Aufgaben. Es läuft gut. Ronnie sitzt an der Kasse und macht unpassende Kommentare, wenn nötig, kümmert er sich auch um die Zapfsäulen draußen, während Krish überall in Aktion tritt, wo es nötig ist. Pip belegt Sandwiches.

Nicht einmal das Kassieren ist ihre Sache. Nachdem sie die Sandwiches und Brötchen eingewickelt und gewogen hat, klebt sie ein Preisschild aufs Päckchen und reicht es dem Kunden, der dann an der Kasse bezahlt.

»Du willst doch nicht für immer und ewig nur Brötchen belegen«, sagt er. »Ganz besonders nicht mit einem Ekel als Chef, und sicher hast du Pläne für dich und Isabella. Mir wäre es lieber, wenn du den Job bekommst, und das werde ich der Geschäftsführung auch sagen.«

In dem Moment erlischt ihr Lächeln, nicht, weil Ronnie ihr Chef werden könnte, obwohl die Vorstellung schrecklich ist, aber sie belegt nicht nur Sandwiches, sondern hat noch sehr viel mehr zu bieten. Und vor allem bedrückt sie, dass Krish angenommen hat, dieser Job wäre nur eine Stufe auf der Leiter nach oben für sie und ihre »Pläne für Isabella«. Welche Pläne hat sie überhaupt?

Pip denkt an das Ende des Sommers, wenn Bella wieder zur Schule gehen und Pip wahrscheinlich wieder in ihren alten Job in der Kantine des Observatoriums zusammen mit Josephine zurückkehren wird. In ihren Tagträumen haben ihre Gedanken Flügel, im echten Leben sind diese gestutzt, und ihren Gedanken bleibt kaum Bewegungsfreiheit.

An der Sandwichtheke stellt sie jedem Menschen, der offen für eine kurze Unterhaltung scheint, zwei Fragen: »Wohin fahren Sie?« und »Woher kommen Sie?«.

Alle, die an der Tankstelle vorbeikommen, ausgenommen die Einheimischen, die Pip bereits kennt, haben ein bestimmtes Ziel. Das hier ist ein Zwischenstopp, niemals der Endpunkt. Hier herrscht eine flüchtige Atmosphäre, wie auf einem Flughafen oder einem Bahnhof. Manchmal werden die Menschen gesprächiger, sie erklären den Grund ihrer Reise oder erzählen Pip mehr über ihr Ziel. Pip liebt es, ihren Worten zu lauschen, von fremden Orten zu hören.

Denn Pip fährt nie irgendwohin.

3

Nach der Arbeit wartet Philip, Pips Vater, draußen im Wagen auf sie. Er trägt noch seine Arbeitsjacke aus dem Steinbruch. Deren leuchtend orange Farbe umhüllt ihn wie eine zweite Hautschicht und springt Pip ins Auge, bevor sie Philips Gesicht erkennt. Er hat das Fenster heruntergelassen, sein breiter Unterarm ruht auf der Fahrertür, das Hemd bis zum Ellbogen aufgekrempelt.

Gewaltige Pranken.

Schweigsamer Geselle.

Steinbrucharbeiter.

Enttäuscht.

Die Enttäuschung ist stumm, aber kein Geheimnis, und sie gilt Pip. Seit Philip mit siebzehn die Schule verlassen hat, arbeitet er im Wolverson-Steinbruch, der auf Schotter, Zement und Steinblöcke spezialisiert ist. Die meisten Männer aus Ballybeg sind dort angestellt. Der Steinbruch befindet sich seit Generationen im Besitz der Familie Wolverson. Mit den Politikern und der Gemeinde stehen die Wolversons auf gutem Fuß, daher sind sie so etwas wie lokale Prominenz und spielen hier in der Gegend eine wichtige Rolle. Philip verehrt die Wolversons, ist ihnen ewiglich dankbar für das, was sie ihm, seiner Familie, dem Ort geben. Er lässt nichts auf sie kommen.

Seit er als junger Mann im Steinbruch anfing, hat er so ziemlich jeden Job gemacht, den es dort gibt, vom Hilfsarbeiter beim Brecher über Gabelstaplerfahrer, Baggerführer bis hin zum Sprenger. Inzwischen ist er Sprengmeister. Sein Körper hat unter den Strapazen seiner Arbeit gelitten. Philip hat Rückenprobleme, Belastungsschmerzen vom schweren Heben. Pip erinnert sich, dass er bereits rücklings auf dem Fußboden geschlafen hat, als sie noch ein kleines Kind war. Kein Wunder, dass sie Einzelkind geblieben ist.

Philip ist groß und stark und selbst wie ein Fels gebaut, mit ledriger Haut voller Schwielen, einem faltigen Gesicht, Furchen um den Mund beim Lächeln, Furchen auf der Stirn beim Runzeln, als wäre er halb Mensch, halb Steinbruch. Ein Kalksteinriese.

»Was ist das?«, fragt er mit einem Blick auf das Paket in ihren Händen, als sie neben ihn in den Wagen steigt.

»Ich habe mir etwas in die Arbeit liefern lassen. Zu Hause würde ich die Sendung verpassen. Sie legen das Paket nicht vor der Haustür ab.«

»Was ist das?«

»Papier.«

Genauer gesagt handelt es sich um Origami-Papier. Ein Packen von fünfhundert festen, hellweißen Blättern. Leer, sie müssen erst noch gefüllt werden. Vor ihr liegt eine Welt von Möglichkeiten. Es ist aufregend. Sie drückt das Paket an ihre Brust.

»Wofür brauchst du das?«

»Das ist Fotopapier. Für den Drucker«, lügt sie.

Philip hat kein Interesse an Fotos, weder daran, Aufnahmen mit seinem Handy zu machen, noch sie auszudrucken. Das wird die letzte Frage gewesen sein, die er Pip zu dem Paket Papier stellt. Aber er will stets alles wissen, darin ist er Josephine sehr ähnlich. Wenn Bella oder Pip das Zimmer verlassen, sagen sie immer, wohin sie gehen. Wenn nicht, werden sie danach gefragt. Keine von beiden kommt und geht einfach so. Man nimmt auch nicht einfach so ein Paket an der Tür entgegen, ohne zu sagen, was sich darin befindet. Man geht nicht einfach für ein paar Stunden aus dem Haus, ohne Bescheid zu sagen. So war es schon immer, und es ist der natürliche Umgang von Eltern mit ihrem Kind, aber nicht mit einer Zweiunddreißigjährigen.

Pip ist sich der ständigen Überwachung bewusst, doch wenn sie es ansprechen würde, gäbe es nur Ärger. Es würde ihr das Leben schwer machen, und sie ist definitiv ein Mensch, der Konfrontationen meidet.

Pip reckt den Hals, um im Vorbeifahren einen Blick auf Jamies Haus zu erhaschen, doch in dem hübschen, ordentlichen Eigenheim mit dem perfekt gepflegten Garten ist wieder die übliche Ruhe eingekehrt. An der Haustür hängen Blumenampeln in leuchtenden Farben, und unter dem vorderen Fenster steht eine Gartenbank. Früher stieg Pip auf die Banklehne und stützte sich dann auf dem Fenstersims ab, um auf der Halterung der Blumenampel stehen zu können. Von dort kletterte sie auf das Dach der Veranda und konnte unbemerkt in Jamies Zimmer gelangen. Was sie häufig getan hat, als sie beide noch Teenager waren.

Pip beißt sich auf die Lippe, als sie sich daran erinnert, wie ihr Fuß einmal nicht die Halterung fand und sie beinahe böse gestürzt wäre. Und sie kann immer noch Jamies unterdrücktes Lachen hören, als sie beim Hinausklettern ausrutschte und auf dem Hintern das schräge Verandadach hinunterglitt. Noch mehr, als sich den Hals zu brechen, fürchtete sie, erwischt zu werden, daher entfuhren ihr nur erstickte Schreie. Sie hatte ihn noch nie so sehr lachen gesehen. Die Erinnerung daran, wie sie auf dem kalten, feuchten Rasen lag und in den nächtlichen Sternenhimmel schaute, als er den Kopf aus dem Fenster seines Zimmers steckte und seine weißen Zähne in der Dunkelheit strahlten, während er hysterisch japsend lachte, zaubert ein Lächeln in ihr Gesicht.

Jamie haben sie ihr weggenommen, aber ihre Erinnerungen an ihn können sie Pip nicht entreißen.

Josephine und Bella sind zu Hause, als Pip zurückkehrt. Josephines Wagen steht in der Einfahrt vor dem Eigenheim in der Nurney Road, das Philip selbst gebaut hat. Vier Jahre hat er dafür gebraucht. Nach der anstrengenden körperlichen Tätigkeit im Steinbruch hat er, trotz aller Erschöpfung, seine gesamte Freizeit mit der Arbeit am Bau verbracht, unterstützt von sämtlichen Freunden und Handwerkern, die abends oder am Wochenende dazu bereit waren.

Es ist sein Traumhaus. Sein eigenes Stück Land, fernab des Trubels im Ort, wo sie bis dahin ihr ganzes Leben lang gewohnt haben. Von hier kann man nicht ins Zentrum laufen, die Straße ist zu gefährlich, es gibt keine Fußgängerwege, und da Pip nicht Auto fahren kann, ist sie darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie überall hinbringen und wieder abholen. Sie vermisst die Freiheit, ihre Ziele zu Fuß erreichen zu können.

Auf der anderen Straßenseite stehen fünf weitere Häuser, jeweils knapp fünfzig Meter voneinander entfernt. Das Grundstück direkt gegenüber gehört Tom und Mary Fitzgerald. Sie haben es in einzelne Parzellen unterteilt und für jedes ihrer drei Kinder ein eigenes Heim gebaut. Eine Tochter ist fortgezogen und hat ihren Teil an die Brennans verkauft. Daneben befindet sich noch ein Haus, wo die Slatterys wohnen, ein älteres Ehepaar mit erwachsenen Kindern und einer großen Enkelschar.

Als Pip und Philip zu ihrem Eingang gehen, steigt ihr Nachbar Aleksy aus seinem Auto und humpelt auf Krücken zu seiner Tür. Pip will schon den Arm heben und winken, aber Aleksy sieht nicht in ihre Richtung. Nie schenken die Nachbarn ihr einen freundlichen Blick, und sie grüßen auch nicht, sondern weichen ihr stets mit gesenktem Kopf aus. Womöglich sind die Nachbarn sauer, dass gegenüber von ihnen ein Neubau entstanden ist, der die Aussicht über die freie Landschaft versperrt. Oder sie ist einfach paranoid. So genau weiß Pip das nicht.

Philip geht zur Garage neben dem Haus und holt fröhlich pfeifend den Hausschlüssel aus dem Hängekorb, um die Tür aufzuschließen. Die Garage ist mit Auto- und Maschinenteilen sowie Unmengen Kleinzeug vollgestopft. Die Arbeit geht ihm nie aus. Philip hat das Haus noch nicht fertiggestellt, sobald der Zustand so war, dass die Familie einziehen konnte, wurde seine Arbeit langsamer. Die Außenwände sind noch nicht gestrichen, an verschiedenen Stellen ragen Leitungen aus den Mauern. Einige würden es als unfertigen grauen Betonklotz bezeichnen, aber für Philip und Josephine ist mit diesem Haus ein Traum in Erfüllung gegangen, sie sehen darin ihre Zukunft.

Pip sieht das Gleiche: den Traum und die Zukunft ihrer Eltern.

»Also«, sagt Philip und rollt die Grundrisspläne aus, ohne davor den Küchentisch abzuräumen. Josephine wirft ihrer Tochter einen scharfen Blick zu, woraufhin Pip sofort aufsteht und die Milchtüte in den Kühlschrank stellt, ebenso die Marmelade und die Butter, die bereits Fettflecken auf dem Papier hinterlassen hat. Als Pip zum Tisch zurückkehrt, haben die drei anderen schon Platz genommen und beugen sich über den Grundriss.

Pip stellt sich hinter Bella. Die Pläne interessieren sie nicht. Sie ist einfach glücklich, ihrer Tochter nahe zu sein, die mit ihren zwölf Jahren körperliche Berührungen vollkommen ablehnt. Pip riecht das Apfelshampoo in den Haaren, die Bella nun selbst wäscht.

In dem Wunsch, diesen seltenen Moment zu bewahren, versucht Pip, nicht zu schwer zu atmen und sich nicht zu rühren. Doch Bella schaudert theatralisch angesichts der Nähe ihrer Mutter und schiebt sie mit dem Ellbogen fort. Pip rückt ein Stück von ihrer Tochter ab.

Den Grundriss begreift Pip auf den ersten Blick, während Philip Josephine quälend lange erklären muss, welche der Zeichnungen das Obergeschoss und welche das Erdgeschoss darstellt und wo sich die Haustür befindet. Sie lassen sich Zeit und besprechen jede Einzelheit. Pip hört nicht mehr hin, es ist ihr gleich, wo der Trockner stehen wird, doch der Grundriss des Obergeschosses weckt ihr Interesse.

Zwei große Schlafzimmer mit eigenem Bad, dann noch ein kleines Schlafzimmer und ein extra Badezimmer. Ein Blick genügt Pip, um zu wissen, wo Philip und Josephine schlafen werden, ihr Bad ist mit einer Wanne ausgestattet. Philip badet häufig und gern, denn das hilft ihm gegen seine Schmerzen.

Das zweite große Schlafzimmer wird ihres sein, schlussfolgert Pip. In ihrer Fantasie malt sie sich das Zimmer aus, die Farben der Wände und der Einrichtung und das Bett. Sie hatte noch nie ein Doppelbett in ihrem Zimmer. Das ist wie in einer Hotelsuite, richtig erwachsen. Mit einer Dusche, die Pip ganz für sich allein haben wird und nicht mehr mit den anderen teilen muss, so wie jetzt in dem Reihenhäuschen aus den 1940er-Jahren im Zentrum.

Sie muss so tun, als würde sie dem Gespräch über Steckdosen und Deckenbeleuchtung folgen, während sie in Gedanken schon ihr neues Zimmer einrichtet, mit so vielen Kissen auf ihrem großen Bett, dass kaum Platz für sie selbst bleibt. Ihr eigenes Reich.

Endlich wendet sich das Gespräch der anderen dem Obergeschoss zu.

»Das hier ist unser Zimmer«, sagt Philip und drückt seinen baumstammdicken Finger, breiter als das eingezeichnete Doppelbett, auf das hintere Schlafzimmer mit der Wanne im eigenen Bad.

Pip stellt sich vor, wie ein riesiger Finger aus der Decke herauskommt, Putz in alle Richtungen versprengt und dann auf dem Bett landet, wo er das saubere Bettzeug zerwühlt und Kissen auf den Boden wirft.

»Kann ich dieses Zimmer haben?«, fragt Bella aufgeregt, während ihr Fingernagel mit dem abgeplatzten Lack auf dem zweiten Doppelzimmer herumkratzt, in das Pip schon eingezogen ist.

Pip lächelt über Bellas Aufregung, über ihren Wunsch, so ein Erwachsenenzimmer zu haben.

»Sicher kannst du das haben«, erwidert Josephine, streckt den Arm aus und fährt mit der Hand durch Bellas Haar.

»Deins hat allerdings keine eigene Badewanne so wie unseres, aber immerhin eine Dusche.«

Pips Lächeln ist erstarrt, ihre Familie soll nicht wissen, dass sie sich in ihrer Fantasie bereits in diesem Zimmer niedergelassen und dort die vergangenen zehn Minuten gewohnt hat. Dass sie ihre sämtliche Kleidung in die Schubladen geräumt und ihre neuen Kleider in den Schrank gehängt hat. Auch ihre Bettwäsche hatte sie schon ausgewählt und ihre Kissen aufgeschüttelt. Ihre Augen brennen, während sie den Blick weiter auf die Pläne auf dem Tisch heftet und sich wünscht, die drohenden Tränen zurückhalten zu können.

Während die anderen darüber diskutieren, wo sie die Möbel aufstellen wollen und welche Nachttische die besten seien, versucht Pip, etwas Enthusiasmus aufzubringen. Sie sollte das hier für ihre Tochter wollen. Sie sollte das Beste für Bella wollen. Sie möchte ihr alles geben.

Doch das Brennen in ihren Augen wird stärker, und ihre Gedanken schlagen ins Gegenteil um.

Sie hat ihrer Tochter bereits alles gegeben. Sie hat Bella ihr ganzes Leben gewidmet, ihre Teenagerjahre, ihre Zwanziger, ihre gesamte Zukunft.

Dieses Doppelzimmer war ihr einziger Wunsch.

Pip trägt das Papierpaket nach oben, um es in ihrem Schreibtisch zu verstauen. Durch Bellas geschlossene Tür dringt Musik. Wenn sie könnte, würde Bella absperren, aber Josephine besteht auf der Einhaltung ihrer Regeln. Zögernd bleibt Pip stehen und überlegt, was sie Wichtiges sagen könnte, das eine Störung rechtfertigt. Ihr fällt nichts ein.

Sie geht in ihr Zimmer. An einer Wand stehen ein Einzelbett und ein zweitüriger Schrank. Dann gibt es noch einen kleinen Schreibtisch mit Stuhl, das ist Pips Lieblingsplatz. Alles ist weiß.

Das Fenster geht nach vorn hinaus, man blickt auf die wenigen Häuser gegenüber und dahinter die Torflandschaft. Über den Moorwiesen nichts als Himmel, so weit sie blickt, und obwohl sich die Aussicht nie grundlegend verändert, ist sie doch niemals die gleiche. An manchen Tagen leuchtet die mosaikartige Landschaft farbenprächtig, die Wolken in der Höhe werfen Schatten und Licht auf den Boden, und in anderen Momenten lässt der verhangene Himmel das ganze Land grau aussehen. Aschgraue Wolken, graublaues Grasland, schiefergraue Moore.

Es ist jedes Mal wunderschön.

Der Torfgeruch, der aus jedem Schornstein im Ort aufsteigt, vermittelt ein Gefühl von Heimat. Die Moore sind die Lebensgrundlage der Menschen hier, sie liefern Heizmaterial für die Häuser, Brennstoff zum Handeltreiben, und sie wärmen die Seele. Die Moore nehmen, und die Moore geben.

Pips Schreibtisch ist tadellos aufgeräumt, alles steht an seinem Platz. Es macht ihr Freude, die Dinge ordentlich zu arrangieren. Für die Schreibtischschubladen hat sie durchsichtige Plastikboxen besorgt, in denen sie Stifte, Spitzer und Radiergummi aufbewahrt.

Pip nimmt das neue Papier aus der Verpackung und verstaut es in der Schublade unter der Tischplatte. Dann legt sie einen frischen Bogen auf den Tisch.

Mehrmals streicht sie mit konzentriertem Blick darüber. Unbeschriebenes Papier auf einem weißen Schreibtisch. Es ist ihr Moment, und sie kann ihn nach ihren Wünschen gestalten. Durchs Fenster strahlt die Sonne auf ihr Blatt, als würde sie ein Schlaglicht werfen, die Helligkeit macht Pip Mut, hilft ihren Worten zu blühen und zu gedeihen.

Es war ein turbulenter Tag. Die Verhaftung von Lorcan Murphy hat ihr vor allem Jamie wieder in Erinnerung gebracht. Über den genauen Hergang der Ereignisse wurde Pip in der Tankstelle von einem Kunden auf der Durchfahrt nach Rosslare Harbour aufgeklärt, der mit seiner Familie und vollgepacktem Wagen in den Campingurlaub nach Frankreich unterwegs war. Lorcan war mehrmals verwarnt worden, er solle aufhören, auf seinem Land Torf zu stechen. Da er zwei gerichtlichen Anhörungen fernblieb, stellte der zuständige Richter einen Haftbefehl aus. Allerdings durfte Lorcan bald nach seiner Festnahme unter der strikten Auflage, zur dritten Anhörung zu erscheinen, wieder nach Hause.

Sicher wird Jamie kommen, um seiner Familie in dieser schwierigen Zeit beizustehen.

Auch wenn Jamie physisch nicht mehr Teil ihres Lebens ist, hat er ihr Herz nicht eine Sekunde lang verlassen.

Sie dreht das Blatt vor sich schräg zur Seite, sodass es sich in Übereinstimmung mit der Haltung des Füllers in ihrer Hand befindet. Dann schreibt sie in sehr kleiner Schrift:

Origami-Mädchen

Hat ein Origami-Herz

Sie faltet es

Und faltet es erneut

Maskiert es

Als Dreieck

Macht es so klein

Niemand kann es sehen

Oder finden

Sie versteckt es

Zur sicheren Verwahrung

Sorgfältig faltet Pip das Blatt in einer Abfolge von Bewegungen, die beruhigend auf sie wirken. Sie weiß nie im Voraus, welche Form das Papier annehmen wird, aber wenn sie mit dem Falten beginnt, entsteht unversehens eine neue Figur oder Form. Sie lässt sich Zeit, und während sie die hypnotischen Handgriffe vollführt, werden ihre Gedanken klarer. Sie hat ein Origami-Herz geschaffen, ihre Zeilen sind im Inneren verborgen, zusammen mit dem winzigen Dreieck, das sie in eine der Falten im Papier steckt.

Dann holt sie eine Schachtel aus der Schublade, legt das Origami-Herz zu den Dutzenden anderen Origami-Formen und räumt alles wieder weg.

An einen sicheren Ort. Damit niemand sie finden kann.

4

Um sechs Uhr ruft Josephine Bella und Pip zum Abendessen. Pip wartet, bis Bellas Tür aufgeht, dann tritt sie sofort aus ihrem Zimmer, sodass sie nebeneinander auf dem Flur stehen. Pip tut erstaunt, ihre Tochter zu sehen, was für ein Zufall. Für einen Moment sickert Bellas sechzehnjährige Welt nach draußen. Rasch schließt sie die Tür hinter sich.

»Hallo«, sagt Pip und lächelt Bella an. »Wie war dein Tag?«

Pip genießt diese Zeit, den kurzen Augenblick, den sie mit Bella allein hat, während sie die Treppe zum Abendessen hinuntergehen. Es erinnert Pip an früher, als sie Bella von der Schule abholte, die den ganzen Nachhauseweg, vom Schultor bis zu ihrer Haustür, über ihre Erlebnisse plauderte. Wenn Pip nur mehr solcher Momente ungestörter Zweisamkeit mit ihrer Tochter verbringen könnte.

Sie setzen sich an den Küchentisch.

»Gibt es irgendwas Neues?«, fragt Josephine.

Die Sensation des Tages ist natürlich Lorcan Murphys Verhaftung, aber darüber wird niemand sprechen. Die bloße Erwähnung seines Namens ruft Josephine und Philip Pips schreckliche Verfehlung ins Gedächtnis zurück, durch die sie alle leiden mussten: die Tatsache, dass sie mit sechzehn schwanger geworden ist. Bellas Verbindung mit der Familie ihres Vaters besteht aus einem verkrampften Sonntagsessen einmal im Monat, in Begleitung von Josephine. Bella würde alles tun, um nicht dorthin gehen zu müssen.

Philip berichtet als Erster. Im Steinbruch wurde ein Arbeiter verletzt und musste eilig ins Krankenhaus gebracht werden.

»Er hat seine Fingerkuppe verloren«, sagt Philip, während er auf einer Zuckerschote kaut. Er beißt die Spitze ab und schiebt sich den Rest in den Mund.

Meist isst er mit den Fingern und vergisst, dass er mit seinem Besteck ein Werkzeug zur Hand hat.

»Schon wieder ein Unfall?«, fragt Bella mit vollem Mund. Immer ist sie bereit, genau die Fragen zu stellen, die Pip hinunterschluckt.

»Sprich nicht mit vollem Mund«, erwidert Josephine, und eine andere Antwort erhält Bella nicht.

»Krish hört in ein paar Wochen in der Tankstelle auf«, bricht Pip das entstandene Schweigen.

Zwar hat Krish sie gebeten, es nicht weiterzutragen, aber Pip erzählt ihren Eltern solche Dinge eigentlich immer. Sie möchte noch sagen, dass Krish sie für eine Beförderung vorschlagen wird, aber dann unterlässt sie es doch. Denn ihre Eltern sollen nicht schon jetzt ihre Hoffnungen zerstören, Pip möchte noch eine Weile mit diesem Traum leben.

»Wohin geht er?«, will Philip wissen.

»Er wird Nachtwächter im Steinbruch.«

Sofort drückt Philip seine volle Anerkennung aus. »Dort werden sie sich gut um ihn kümmern«, sagt er. »Und wir brauchen ihn.«

»Seine Frau Mary fängt wieder an zu arbeiten«, berichtet Pip. Ihr persönlich sind diese Informationen gleichgültig, aber ihre Eltern lieben Klatsch und Tratsch.

»Fünf Kinder und ein Job als Krankenschwester, sie ist eine tolle Frau«, sagt Josephine und nimmt eine kleine Gabel voll Kartoffelbrei. Sie isst wie ein Spatz und scheint allein von Adrenalin zu leben.

Ihre Bemerkung versetzt Pip einen Stich, als wäre sie nur eine Mutter, keine »tolle Frau«. Und nicht einmal eine richtige Mutter.

»Warum habt ihr beide eigentlich nur ein Kind bekommen?«, will Bella plötzlich wissen. Erneut stellt ihre Tochter eine Frage, zu der Pip stets der Mut gefehlt hat.

Bella ist wagemutig, sie überschreitet die Grenzen, ohne die Schranken zu sehen. Drückendes Schweigen spürt sie meist nicht, und wenn doch, hat sie nicht das Gefühl, ein Teil davon zu sein. Wenn es lärmig ist, schreit sie noch lauter. Pips angespannte und kleingehaltene Existenz ist für die Außenwelt unsichtbar, und sie hat fälschlicherweise angenommen, dass Bella mit ihr darin leben würde. Nun sieht Pip mit tiefer Ehrfurcht und großer Freude, dass ihre heranwachsende Tochter wie selbstverständlich immer mehr Raum einnimmt und ihr lautes Rufen das Schweigen ausfüllt.

»Wir hätten mehr Kinder haben sollen?«, fragt Josephine. »Wo Philippa doch so viel Arbeit wie fünf Balgen gemacht hat? Und wir haben doch auch noch dich, oder?«

Mit einem Mal vergeht Pip der Appetit.

Am Telefon klingt Josephines Stimme angestrengt und förmlich. So spricht sie, wenn sie das Gefühl hat, kein falsches Wort sagen zu dürfen. Als würde sie auf der Polizeiwache verhört oder im Zeugenstand vor Gericht befragt. Jedes Wort ist genau durchdacht, bedeutungsschwer. Pip weiß sofort, dass Josephine mit Maureen Murphy, Jamies Mutter, telefoniert.

Pip bleibt auf der Treppe stehen, um zu lauschen. Sie bemüht sich, kein Geräusch zu machen, sonst wird Josephine das Gespräch unterbrechen.

»Das verstehe ich, aber trotzdem denke ich, es wäre das Beste, wenn sie euch dieses Wochenende nicht besucht. Ihr habt heute Morgen für einiges Aufsehen gesorgt. Besser, wir warten, bis sich die Aufregung wieder gelegt hat.«

Josephine wäre jedes Ereignis als Ausrede recht, um Bella bei sich zu behalten, selbst wenn es sich um einen Besuch bei ihren anderen Großeltern handelt. Seit Bellas Geburt hat Josephine die Kontrolle über ihre Enkelin nicht aus der Hand gegeben, im Gegenteil, ihr Griff ist noch fester geworden.

Ein Stuhlbein kratzt über den Boden, und Pip sieht ihre Mutter vor sich, wie sie kerzengerade am Küchentisch sitzt und mittels emotionaler Manipulation blitzschnell versucht, in dieser Diskussion die Nase vorn zu haben.

Pip kann sich nur denken, wie Maureens Antwort lautet: Wir möchten Isabella sehen. Warum darf Isabella uns nicht öfter besuchen?

Sie heißt Bella.

Pip hatte den Namen ausgesucht, und Jamie war einverstanden gewesen. Beide waren glücklich mit der Namenswahl für ihre Tochter.

Bella. Auf diesen Namen haben sich Jamie und Pip geeinigt, und drei Wochen nachdem ihre Tochter zur Welt gekommen ist, sind sie auf dem Standesamt, um die Geburt registrieren zu lassen. Josephine und Maureen sitzen zwischen Pip und Jamie. Seit ihre Eltern von der Schwangerschaft erfahren haben, wurde ihnen kaum erlaubt, sich auch nur anzusehen. Es ist zwei Wochen her, dass sie sich zuletzt im selben Raum aufgehalten haben. Bei der Geburt war Jamie nicht dabei und durfte sein Kind seitdem nur für wenige Minuten sehen. Im Krankenhaus konnten sie nicht richtig miteinander sprechen. Jamie saß mit Bella auf dem Arm in dem Sessel neben dem Bett, hinter ihm der blaue Vorhang. Pip wollte so tun, als würde kein Anstandswauwau sie beide überwachen. Anscheinend befürchtete Josephine, Jamie würde direkt zu Pip ins Bett springen, um gleich nach der Geburt wieder Sex mit ihr zu haben.

Jamie machte sich große Sorgen um Pip, fragte immer wieder, ob es ihr gut ging. Und in seine kleine Tochter war er völlig vernarrt. Sie hatte seine langen Wimpern. Er spielte mit ihren kleinen Zehen, strich zählend über ihre Fingerchen und staunte über dieses Wunder. Gelegentlich blickte er zu Pip und lächelte. Und obwohl ihre Situation ausweglos schien und sie beide auf schreckliche Weise auseinandergerissen worden waren, erfüllte sein Strahlen sie mit Hoffnung. Er war so voller Liebe für Bella.

Pip spürt, wie peinlich es Josephine ist, zusammen mit ihrer jungen Tochter auf dem Standesamt zu warten. Wenn Bella weint, nimmt Josephine sie sofort auf den Arm.

Das Anmeldeformular hat Josephine ausgefüllt, und Maureen hat es überprüft. Jamie und Pip haben nur ihre Unterschrift daruntergesetzt. Pip hat sich gar nicht weiter damit beschäftigt, und Jamie wurde von seiner Mutter unsanft zur Seite gedrängt, als er es sich genau durchlesen wollte.

Dann wird Jamie eine Kopie der Geburtsurkunde gereicht.

»Bella«, sagt er plötzlich, das erste Wort, das an diesem Tag aus seinem Mund zu hören ist. »Sie sollte Bella heißen.«

Alarmiert versucht Pip, einen Blick auf das Dokument zu werfen, aber Josephine zieht es fort.

»Das kann man nicht auf eine Geburtsurkunde schreiben«, entgegnet Josephine zornbebend. »Es ist kein richtiger Name. Offiziell wird sie Isabella heißen müssen.«

»Aber das ist nicht der Name, den wir ausgesucht haben«, erwidert Jamie niedergeschlagen und scheint den Tränen nahe. Er sieht zu Pip, sie soll ihm den Rücken stärken, aber sie hat den Blick unverwandt auf den Boden geheftet, unfähig, ihn zu unterstützen. Pip ist nicht in der Lage, in die Auseinandersetzung einzugreifen, nicht hier in der Öffentlichkeit und auch nirgendwo sonst. Sie ist erschöpft und fühlt sich körperlich und emotional ausgelaugt. Ihr fehlt die Energie für einen weiteren Kampf mit Josephine, eine erneute Niederlage kann sie nicht verkraften. Jeder Augenblick eines jeden Tages ist furchtbar anstrengend. Aber in diesem Moment, als sie nach einem Versteck für sich sucht, im Moment der Kapitulation, hat sie das Gefühl, ihn verraten zu haben.

Auf dem Heimweg schläft sie vor Müdigkeit im Auto ein. Als Josephine ungeduldig einige Knöpfe ihrer Bluse öffnet, wacht Pip auf.

»Isabella muss trinken«, sagt Josephine und legt Pip ihr winziges Baby in den Arm.

Pip lauscht immer noch still auf der Treppe dem Telefongespräch. Josephine sagt ein paar abschließende Worte.

»Kommt er nach Hause, was denkst du?«, fragt Josephine, und ihre Stimme klingt eine verräterische Oktave höher. »Nun, lass es mich bitte wissen, wenn du etwas erfährst. Es ist wichtig, dass ich darüber Bescheid weiß.«

Die beiden sprechen über Jamie. Bei dem Gedanken daran, dass er heimkommen könnte, schlägt Pips Herz schneller.

»Maureen, wir werden gemeinsam überlegen, was das Beste für Isabella ist.«

So ist es schon immer gewesen.

Leise steigt Pip die Stufen wieder nach oben. Sie ist zittrig und fühlt sich vollkommen machtlos, deshalb wendet sie sich der einzigen Betätigung zu, die sie innerlich beruhigt und ihre Selbstbeherrschung stärkt – die Kunst der Origami-Gedichte. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch.

Origami-Mädchen

Hat ein Origami-Baby

Bei der Geburt

Reißt ihr zartes Papier

Sie faltet ihr Baby

Einmal

Dann zweimal

Und steckt es nach innen

Eine eigene Faltung

Niemand kann es

Mitnehmen

Niemand bringt es

Fort

5

Pip liegt auf ihrem Bett, den Blick auf den Kunstdruck von Monets Brücke über einen Seerosenteich gerichtet, der über dem Schreibtisch an der Wand hängt. Dieses Bild kann sie stundenlang betrachten – und hat das auch schon oft getan.

In der Schule war Kunst ihr Lieblingsfach. Sie fand es toll, den normalen Unterricht hinter sich zu lassen und in eine andere Welt einzutauchen. Sie mochte es, dass Farbe an ihren Fingern klebte und ihre Uniform Flecken hatte, wenn die verschiedenen Gruppen für die nächste Stunde wieder im Klassenzimmer zusammenkamen. Die Jungen hatten vom Holzarbeiten Sägespäne auf ihren Pullis und Schnittwunden an den Händen, diejenigen, die Technisches Zeichnen gewählt hatten, trugen ihre Reißschienen über der Schulter, als wären sie alle Bergarbeiter, und die Kunstschülerinnen und -schüler kehrten zurück, als hätten sie ein Abenteuer erlebt oder einen Ausflug in die freie Natur unternommen, um Licht und Schatten zu studieren und unzählige verschiedene Töne ein und derselben Farbe zu finden. Anschließend schlüpften diese Kunstwildlinge, diese Seelentröster wieder zurück in das gewohnte Schulleben.

Pip war schwanger, als sie anfing, die Origami-Mädchen-Gedichte zu schreiben. Sie hatte den Wunsch, sich kleiner zu machen, aber sie wurde immer größer. Daher begann sie, sich auf andere Art zusammenzufalten und alles unter vielen Schichten zu verbergen, und das Origami ergab sich auf ganz natürliche Weise. Ihr Stift findet Worte, die sie nicht laut aussprechen kann, ihre Finger finden die Formen, die Formen geben Gefühlen eine Gestalt, die sie anders nicht ausdrücken kann.

Sie muss die Schachtel nicht öffnen, um sich an das erste Origami-Mädchen-Gedicht zu erinnern, das sie je geschrieben hat, denn sie kann es auswendig:

 

Origami-Mädchen

Ist ein papierdünnes Mädchen

So fein

Und zierlich

Die Faltung macht sie stärker

Doch darunter ist sie

Immer noch verletzt

 

Zu Schulzeiten war Claude Monet ihr Lieblingskünstler, und obwohl sie keinen Schulabschluss machen und auch ihr Interesse an der Kunst nicht vertiefen konnte, blieb er der Künstler, der sie am meisten inspirierte. Das lag möglicherweise daran, dass sein Werk sie an eine Zeit in ihrem Leben erinnerte, als sie sich jung und unbeschwert gefühlt hatte, frei von der Scham und der Enttäuschung, die später auf ihr lasteten. Bella hatte ihr Leben um viele schöne Momente bereichert. Jeden Tag gab es etwas Neues zu feiern, jedes Kichern, jedes Lied, jedes neue Wort, jeder Zahn und die ersten Schritte ihrer Tochter waren unschlagbare Momente der Freude – nie hätte sie sich wünschen können, dieses Kind und dieses pure Glück nicht zu erleben –, und dennoch hatte das alles sie verändert. Vorher war sie ein Teenager gewesen, unbesorgt, verliebt, naiv und zuversichtlich, neun Monate später hatte sie ein gebrochenes Herz, Angst und Reue beherrschten sie, und es mangelte ihr an Selbstbewusstsein.

Ein gerahmter Druck der Seerosen hängt über Pips weißem Schreibtisch. Es ist der einzige Farbtupfer in ihrem ansonsten blassen Schlafzimmer. Pip mag das beruhigende Gefühl, das ihr kleines Zimmer ihr gibt – es ist das Einzige im ganzen Haus, was sie für sich allein hat. Ihre Mutter neigt zu Unordnung, jede Oberfläche und jedes Regal wird vollgestellt, und in den Ecken und Schubladen stapelt sie Zeug, auch in diesem neuen Haus.

Josephine findet, dass Pips Zimmer noch nicht fertig eingerichtet ist. Eine weiße, leere Leinwand.

Vielleicht hat Josephine in diesem Punkt recht – Pips Zimmer ist eine Leinwand für ihre Fantasie, ihre Gedanken, ihre Träume, ihre Wünsche. Fast nichts davon ist mit dem bloßen Auge sichtbar, denn die Bilder sind in ihrem Kopf.

Pip betrachtet das Gemälde von Monet so lange und intensiv, dass es sich zu bewegen scheint. Das Wasser im Seerosenteich kräuselt sich und breitet sich über die gesamte Wand aus. Pip betrachtet den Rahmen des Bildes und stellt sich vor, dass die Wand Risse bekommt, weil der Druck des Wassers aus dem überlaufenden Gemälde steigt und droht die Mauer zu durchbrechen.

Sie runzelt die Stirn und setzt sich auf. Tatsächlich ist dort ein Sprung in der Wand. Sie geht hinüber und legt den Finger darauf, fährt ihn bis zum Rahmen nach.

Hat sie das mit ihren Gedanken bewirkt?

Pip hebt den Rahmen ein wenig an, dann folgt ihr Blick der Linie des Risses, die sich bis zu dem Nagel hinaufzieht, den sie für ihr Bild in die Wand geschlagen hat.

Philip darf nichts von dem Schaden erfahren. Sie kann niemandem in ihrer Familie davon erzählen. Es hatte Pip solche Anstrengungen gekostet, unter dem Radar zu bleiben, vor sechzehn Jahren hatte ihr Verhalten ihre Familie, und auch sie selbst, im tiefsten Inneren erschüttert, und anschließend hatten sie so lange Zeit zu kämpfen gehabt. Der Umzug in das selbst gebaute Traumhaus war ein Neuanfang gewesen. Pip kann unmöglich dafür verantwortlich sein, dass wieder Risse zum Vorschein kommen.

Sie zieht die oberste Schublade ihres Schreibtischs auf und tastet nach einem Skizzenblock.

»Mädchen! Essen!«, tönt Josephines Stimme herauf.

Bella hat laute Musik an und wird daher nichts hören, deshalb ist es Pips Aufgabe, sie zum Essen zu rufen.

»In Ordnung!«, antwortet Pip ihrer Mutter.