Ein Ire in Paris - Jo Baker - E-Book

Ein Ire in Paris E-Book

Jo Baker

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Beschreibung

Über die Kraft des Schreibens – Samuel Becketts Kriegsjahre

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, hält sich der Schriftsteller in seinem Elternhaus in Irland auf. Die Mutter ist froh, sie möchte den Sohn immer in ihrer Nähe wissen. Trotzdem verlässt der junge Mann seine sichere Heimat und kehrt zum Künstlerkreis um James Joyce und Marcel Duchamp und zu seiner Geliebten nach Paris zurück. Als seine Freunde nach und nach verschwinden, schließt er sich der Résistance an. Jo Baker nähert sich dem rätselhaften Samuel Beckett über die dunklen Jahre seiner künstlerischen Anfänge und zeigt, wie die entbehrungsreichen Kriegsjahre und das endlose Warten auf ein Ende sein Werk prägten, das Jahrzehnte später weltbekannt wurde.

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Über das Buch:

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, hält sich der Schriftsteller in seinem Elternhaus in Irland auf. Die Mutter ist froh, sie möchte den Sohn immer in ihrer Nähe wissen. Trotzdem verlässt der junge Mann seine sichere Heimat und kehrt zum Künstlerkreis um James Joyce und Marcel Duchamp und zu seiner Geliebten nach Paris zurück. Als seine Freunde nach und nach verschwinden, schließt er sich der Résistance an. Jo Baker nähert sich dem rätselhaften Samuel Beckett über die dunklen Jahre seiner künstlerischen Anfänge und zeigt, wie die entbehrungsreichen Kriegsjahre und das endlose Warten auf ein Ende sein Werk prägten, das Jahrzehnte später weltbekannt wurde.

Über die Autorin:

Jo Baker wurde in Lancashire geboren und studierte an der Oxford University und der Queen’s University in Belfast, wo sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Im Hause Longbourn«. Das Buch wurde auch in Deutschland ein Bestseller. Jo Baker lebt mit ihrer Familie in Lancaster.

Jo Baker

Ein Ire in Paris

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Schwenk

Knaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »A Country Road, A Tree« bei Doubleday, an imprint of Transworld Publishers, London
Copyright © der Originalausgabe by Jo Baker 2016 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 beim Albrecht Knaus Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlag: Sabine Kwauka Umschlagmotiv: ullstein bild/Roger-Viollet/Roger Berson Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-20152-4V002www.knaus-verlag.de

»Die Blüte der einen Sorte begann, wenn die der anderen aufhörte.«

Molloy, Samuel Beckett

Prolog

Cooldrinagh

Frühling 1919

Ein Rauschen ging durch die Nadeln des Baums. Schhhh. Der Junge legte ein Bein über den Ast, zog sich hoch und ließ die Füße baumeln. Der Duft der Lärche machte ihm den Kopf frei, alles war jetzt scharf umrissen und so klar wie Glas. Schwach hörte er noch die Klänge des Klaviers, doch von hier oben konnte er meilenweit über die Felder blicken, der Himmel so weit wie ein gähnendes Katzenmaul.

Er hörte die Seitentür des Hauses knarren, dann den Singsang ihrer Stimme, die nach ihm rief: »Es ist Za-heit!«

Er kaute an seiner Lippe und rührte sich nicht. Durch die aufschwingende Tür war das Plätschern der Musik deutlicher zu hören, dann ein Stocken, und dieselbe Tonfolge setzte ein zweites Mal ein. Frank gab sich alle Mühe, es richtig zu machen. Doch diesen Gefallen würde er ihr nicht tun. Unter ihrem Blick konnte er sich der Musik nicht hingeben, und wenn er sich nicht hingeben konnte, warum sollte er dann überhaupt spielen?

»Ich war-te!«

Er bewegte sich nicht. Sie seufzte, klappernd schlug die Tür hinter ihr zu, und sie kam die Treppe herunter in den Garten, um nach ihm zu suchen.

Er knibbelte mit seinem Daumennagel an einer Rindenschuppe.

»Wo bist du denn schon wieder, du kleiner Ausreißer?« Sie redete mit sich selbst, während sie durch den Garten ging und Ausschau hielt. Er rutschte näher an den Stamm und schlang den Arm darum.

Unter seinen baumelnden Tennisschuhen sah er sie – die weiße Linie ihres Scheitels, den Rock, der ihre ausholenden Schritte umflatterte. Ihre Füße schnellten vor wie Pfeile, die die Richtung wiesen. Es war die falsche, doch sie würde daran festhalten. Wäre sie stehen geblieben, hätte sie beide Füße fest auf den Boden gestellt und den Kopf in den Nacken gelegt, dann wäre es aus gewesen. Doch auf diesen Gedanken kam sie nicht: Wo er nicht sein durfte, da konnte er nicht sein, so einfach war das. Er war aus ihrer Vorstellung hinausgeklettert.

Die Musik hörte auf. Frank war fertig mit seinem Stück. Er wartete darauf, gehen zu dürfen.

Inzwischen überquerte sie den Rasen, und er war wieder allein mit den Lärchenzweigen, die sich wie eine Wendeltreppe der braunen Erde entgegenschraubten, dem Teppich aus abgefallenen Nadeln und dem Klang ihrer Stimme, die weiter nach ihm rief und bald hinter dem Gebäude verhallte.

Er wartete, bis er ihre Schritte wieder hörte, dann das Klappern, als sie die Seitentür öffnete und hinter sich zuschnappen ließ. Gleich darauf fing auch die Musik wieder an. Armer alter Frank, jetzt bekam er noch mehr aufgehalst, musste für das Verschwinden seines kleinen Bruders büßen.

Er wusste, dass auch er später, wenn sie ihn gefunden hätte, dafür büßen würde, und zwar gehörig; seine Mutter hatte eine kräftige Hand. Doch für den Augenblick war er verschwunden, in Luft aufgelöst, ein Wunder.

Er rutschte den Ast entlang und zog die Hosenbeine seiner Shorts zum Schutz gegen die raue Rinde über die empfindlichen Kniekehlen. Schon spürte er den Sog der Schwerkraft, als würde sein Bauch Achterbahn fahren. Er hörte Vogelgesang: Irgendwo schmetterte eine Amsel ihr Lied in die österliche Luft.

Er nahm einen tiefen Atemzug, der nach Pflanzensaft schmeckte, nach Frühling und nach dem Gummi seiner Tennisschuhe. Er ließ den Ast los, ließ den Stamm los, hob die Arme und breitete sie aus. Dann der kurze Moment des Innehaltens am Rande des Abgrunds, und er stürzte sich ins Leere.

Die Schwerkraft erfasste ihn. Luft strömte ihm in den Mund, blähte Hemd und Hose auf, Äste trommelten auf ihn ein, Zweige peitschten gegen seine Wangen, seine Beine, seine Arme und den Bauch und rissen an seinem Hemd.

Auf einen Schlag, der Boden. Er raubte ihm die Luft, raubte ihm das Licht. Machte ihn reglos.

Mit der Wange auf der harten Erde lag er da. Kein Atem: leer, rot, pochend, und kein Atem. Aufgerissener Mund, aber kein Atem. Dann sah er die abgefallenen Nadeln und den aufgewirbelten Staub: Mühsam sog er einen Klumpen Luft ein und presste ihn wieder aus sich heraus. Es tat weh.

In seiner Hand spürte er ein heißes Klopfen, und sein Oberschenkel brannte. Das alles registrierte er wie auch die Empfindlichkeit seiner geprellten Rippen und den Druck des Bodens.

Als sich sein Atem wieder normalisiert hatte, kam er ächzend auf alle viere. Dann ließ er sich auf die Fersen sinken und wischte die Nadeln von seinen Handflächen. Nach einer Weile rutschte er von den Fersen auf den Boden und streckte die Beine vor sich aus. Er untersuchte die Schramme an seinem Daumenballen, die alles in allem nicht so schlimm war, dann den Kratzer am Oberschenkel, der nur ein bisschen blutete, und den rosa Fleck am Knie, wo sich eine alte Kruste gelöst hatte. Als er an seiner Hand leckte, schmeckte er nicht nur Blut, sondern auch die salzige Süße von ungewaschener Haut und den herben Geschmack von Lärchennadeln. Er rieb über seine Schienbeine und band den Schnürsenkel zu, der sich gelöst hatte. Dann richtete er sich vorsichtig auf, Gelenk für Gelenk, wie man einen Liegestuhl aufklappt. Er zog an seinen Shorts, bis der Kratzer am Bein mehr oder weniger verdeckt war, sie würde ihn nicht bemerken.

Ihm war ein bisschen schwindelig. Aber es ging ihm gut.

Er sah zum Haus hinüber, dessen Fenster ihn anstarrten. Die Musik quälte sich weiter. Keine Tür flog auf, niemand kam herausgestürmt, um ihn am Genick zu packen, ins Haus zu schleifen und ihm den Hintern zu versohlen, weil er etwas zugegebenermaßen Halsbrecherisches getan, sich einer Gefahr ausgesetzt, Leib und Leben riskiert hatte, nachdem man ihm doch so eingeschärft hatte, nie wieder etwas derart Idiotisches zu tun. Bestimmt stand sie aufrecht neben dem Flügel, und ihr strenger Blick ging zwischen Franks Händen und den Noten hin und her, damit wenigstens sein Bruder etwas zustande brachte.

Und weil er das Stück kannte, wusste er, dass es noch ein Weilchen dauern würde, bis Frank fertig war.

Er blickte durch die Spirale aus Ästen zum Himmel hoch, wo sich Wolken zusammenballten und vom Meer her auf die Berge zurasten. Am niedrigsten Ast war die Rinde in der Nähe des Stamms durch seine eigenen Hände glattpoliert. Er hob die Arme, griff mit brennden Handflächen nach dem Ast und zog sich hoch, bis er den Bauch ans Holz pressen konnte. Dann hob er das rechte Knie, stützte es auf die schuppige Rinde, und es begann wieder zu bluten. Er streckte eine Hand nach dem nächsten Ast aus, der direkt über seinem Kopf hing. Wieder begann er zu klettern.

Und dieses Mal, ja, dieses Mal würde er bis in die Wolken steigen. Dieses Mal würde er fliegen.

TEIL 1

Das Ende

1

Greystones, County Wicklow

September 1939

In seinem Magen rumort es. Seine Hand zittert, und zwischen den Augen spürt er ein leichtes, unangenehmes Stechen. Die Sonne fällt schräg durchs Fenster und bricht sich in geschliffenem Glas und Tafelsilber. Geblendet verzieht er das Gesicht. Alle anderen haben schon gefrühstückt, und die Reste sind mehr oder weniger kalt.

»Soll ich nach mehr Bacon klingeln?«

Er schüttelt den Kopf, was wehtut.

Der Alkohol scheint immer notwendig, scheint immer die Lösung zu sein. Allerdings schwindet diese Gewissheit beim Trinken; er trinkt bis zum Ekel, und jetzt, einige schlaflose Stunden und einen höllischen Brand später, schwitzt er den Whiskey aus und schluckt bitteren Speichel, während er Butter auf kalten Toast streicht und sie dabei jede Bewegung verfolgt, jedes Zucken registriert. Sie scheint den Whiskey und das Elend zu wittern. Deshalb löchert sie ihn, stochert nach Lösungen.

»Und Eier? Möchtest du Eier essen?« Sie steht schon. »Ich sage Lily, dass sie dir welche machen soll.«

Er antwortet zu schnell, was an der aufsteigenden Übelkeit liegt: »Nein. Danke.«

Sie setzt sich wieder. »Aber du musst doch etwas essen.«

Er beißt in eine Ecke seines Toasts und legt ihn wieder aus der Hand. Er kaut und schluckt. Er isst doch.

»Ich meine etwas Gehaltvolles. Nahrhaftes. Nicht nur Toast.«

»Ich mag Toast.«

»Du isst wie ein Spatz. Bist du krank? Du bist nicht krank.«

Wie ein Spatz … warum nicht wie ein Reiher oder ein Papageientaucher oder ein Basstölpel: ein einziges Schnappen und Stechen, Schütteln und Schlingen; essen wie ein Adler oder ein Falke, der seine Beute zu Boden schleudert und zerrupft. Eulen schlucken ihr Nachtmahl als Ganzes herunter und würgen anschließend einen Brei aus Knochen und Fell hoch. Er zerkleinert seine Toastscheibe und isst noch ein Bröckchen: Vielleicht isst er ja wie ein Pinguin?

Oben schlägt etwas hart auf den Boden: eine Bürste oder ein Schuh. Er zuckt zusammen, doch er schaut nicht auf, während sie, für einen Moment abgelenkt, zu den Rissen in der Decke hochblickt. Ihr Ausdruck wird weicher. Man hört Stimmen und laute Schritte. Eine Tür schlägt zu.

»Die schaffen es noch, dass das ganze Haus über uns zusammenbricht.«

Stabil ist es wirklich nicht, dieses kleine, gemietete Haus am Hafen mit seinen klappernden Fenstern und rauchenden Kaminen. Damit die Wände nicht einknicken und ihr das Dach nicht auf den Kopf fällt, stopft sie die Zimmer mit Gästen voll, seinen Kusinen Sheila und Mollie und Sheilas Mädchen, Jill und Diana – all den Töchtern, die seine Mutter nicht bekommen hat. Von Abreise will sie nichts hören, sosehr der Sommer auch dahinschwindet. Es fegt kein kalter Wind. Der Sommer wird nicht enden. Es gibt keine Wolken.

»Diese Mädchen.« Sie lächelt kopfschüttelnd.

Er schluckt den nächsten Toastbissen hinunter; sie gießt sich eine Tasse Milchkaffee ein. Ein kleiner, glänzender Tropfen sammelt sich am Rand der Tülle, und beide schauen zu, wie er herunterläuft. Als er gerade seinen Stuhl zurückschieben will, blickt sie auf: »Ach, übrigens, neulich habe ich in der Stadt einen Freund von dir getroffen. Reizender Junge. Mediziner. Kann mich jetzt beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern. An der Portora Royal müsste er ein paar Jahrgänge unter dir gewesen sein.«

Er weiß, wen sie meint. »Das war bestimmt Alan Thompson.«

»Ach, ja, Doktor Thompson, genau. Er schlägt sich sehr gut.«

»Bestimmt.«

Und war damals in Enniskillen ein farbloser Frosch in den trüben Wassern der Erne; in der Bibliothek immer mittendrin, wenn flüsternd Köpfe zusammengesteckt wurden, weiße Cricketkleidung, reumütig-freches Lächeln; auch später im Medizin-Studium am Trinity immer mitten im Getümmel, wenn eine Meute den Hof überquerte, mit Weinflaschen bewaffnet und von Zigarrenrauch umweht. Schien immer im Zentrum des Geschehens zu sein, wie jemand, der einfach weiß, wie es geht. Ist ihm seitdem hin und wieder begegnet, haben zusammen getrunken, immer hilfsbereit, wenn Hilfe gebraucht wird. Ein guter Mann.

Er fischt die fettige Haut von seinem Kaffee und legt sie auf seine Untertasse. Und dann sagt er, obwohl er ihr das eigentlich nicht antun sollte: »Es sei denn, es war sein Bruder Geoffrey.«

Sie presst die Lippen zusammen. Geoffrey ist Psychiater. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich so etwas als Medizin bezeichnen würde.«

Aber es bringt Linderung, möchte er sagen. Immerhin kann ich jetzt manchmal schlafen. Und ich kann wieder atmen: Luft strömt in mich hinein und aus mir heraus. Das kann man durchaus als einen Gewinn betrachten. Als sinnvoll verwendetes Geld. Ist es insofern nicht doch Medizin?

»Nun ja«, sagt er. »Jedenfalls schön für die alte Mutter, bestimmt ist sie sehr stolz.«

Er nimmt den kleinen Silberdeckel von der Marmelade und hebt den Löffel aus dem Glas.

»Hast du in Paris irgendetwas … geschrieben?«, fragt sie.

Er beobachtet die herabtropfende Marmelade. Sie ist flüssig und gleitet wie Spucke vom Löffel. Er spürt ihr Unbehagen und ihren Wunsch. Könnte er nicht ausnahmsweise einmal etwas Seriöses schreiben, etwas, das sie ihren Gästen zum Bewundern hinlegen könnte? Er stellt den Löffel ins Glas zurück, legt den kleinen Silberdeckel wieder darauf.

»Nein«, sagt er. »Nicht viel.«

»Nun, dann könntest du eigentlich auch hierbleiben.«

Er schaut auf und blickt in ihr kräftiges Gesicht mit den feinen Falten. »Meinst du das ernst?«

»Du bekommst hier viel mehr geschafft, wenn wir uns um dich kümmern. Du kannst diese Artikel für die Zeitung schreiben. Ich weiß, Paris ist billig, aber das hilft dir nicht, weil es dich nur dazu ermuntert, verschwenderisch zu sein. Wenn deine Zuwendungen …«

Er sagt keinen Ton. Genau das beherrscht sie inzwischen perfekt. Der Schnitt präzise gesetzt, die Pause genau platziert.

»… wenn du in Paris von deinen Zuwendungen nicht vernünftig leben kannst und du zu sehr vom Schreiben abgelenkt wirst, bleibt dir nichts anders übrig, als hierzubleiben. Zu deinem eigenen Besten.«

Um dann hier das Gefühl zu haben, dass man ihm alles missgönnt. Als wäre ihm nicht jetzt schon hinreichend bewusst, dass alles, was er isst, die Luft, die er atmet, jedes Glas Whiskey und sogar das Wasser, das er trinkt, dass einfach der ganze Raum, den er in der Welt einnimmt, an ihn verschwendet ist.

»Immerhin könntest du deinem Bruder in der Firma helfen.«

»Der würde sich bedanken.«

»Er könnte Hilfe gebrauchen.«

»Beim letzten Mal habe ich ein einziges Durcheinander angerichtet. Auf solchen Ärger kann Frank verzichten.«

Sie verzieht das Gesicht, als hätte sie etwas Saures geschluckt.

»Ich weiß, wenn du dir Mühe geben würdest, wenn du dich anstrengen würdest, dann könntest du …« Sie verstummt. »Auf dem College warst du so gut. Das haben alle gesagt.«

An diesem Punkt angelangt, müsste sie fast fertig sein.

»Es tut mir leid, Mutter.« Sein langer, schmaler Körper richtet sich auf, er schiebt den Stuhl zurück.

»Wohin gehst du?«, fragt sie.

»Frische Luft.«

»Du hast doch noch gar nicht zu Ende gefrühstückt.«

»Das reicht mir, danke.«

Ihr hörbar langes Ausatmen verfolgt ihn durchs Zimmer in den Flur; seine Schultern stemmen sich dagegen.

Allein vor den verstreuten Resten des Frühstücks, von oben der Klang junger Stimmen, presst sie die Finger gegen ihre geschlossenen Lider. Der Lebensstil ihres Sohns, alles so vage, so dürftig; immer von der Hand in den Mund, von einem Tag auf den anderen. Und dann diese Clique in Paris: Was weiß sie schon darüber, so gut wie nichts, und sie will es im Grunde auch gar nicht wissen. Aber ihn so zu sehen, in diesem Krankenhausbett, seine bandagierte Brust, die Französisch plappernden Schwestern: Ihre Augen werden feucht, und sie blinzelt. Wenn sie daran denkt, was aus ihm hätte werden können. Ihr schöner, talentierter Junge. Wirft alles weg, wirft einfach alles weg. Irgendwann wird er ihr damit noch das Herz zerreißen.

Denn es macht ihn doch nicht einmal glücklich, oder? Wenn er doch nur glücklich sein könnte.

Die Mädchen poltern die Treppe hinunter und begrüßen im Flur ihren Onkel; seine Antwort klingt munter, herzlich. Ein Blick auf ihn aus der Ferne. Warum muss er immer gehen.

An diesem Vormittag wollen Jill und Diana in ihren glänzenden Spangenschuhen und adretten Strickjäckchen ausgehen. Er kommt sich schäbig und mürrisch vor, fühlt sich schuldig; die beiden sind so hell und so hübsch und so strahlend. Voller Energie wie zwei ausgelassene Ponys.

»He, wartet mal eine Sekunde«, sagt er.

Er kramt eine Handvoll Münzen hervor, legt sie in die geöffneten Hände. »Kauft euch ein paar Toffees.«

»Danke!«

Als sie die Eingangsstufen zur Straße hinuntertraben, folgt er ihnen. Sie schwatzen fröhlich, und es klingt so englisch; gleich werden sie mit zusammengesteckten Köpfen am Meer die Gehwege entlangschlendern, an den Zeitungsständern vorbei, den Vertrauenskassen vor den Kisten mit Äpfeln, Pflaumen und Tomaten. Auf den Regalen der Süßwarenläden stehen fröhlich die Gläser in Reih und Glied, mit pastellfarbenen Zuckerarmbändern und kreideweißem Pfefferminz gefüllt, mit glänzenden Toffees und Bonbons wie aus buntem Kirchenfensterglas. Knabbernd und lutschend werden die beiden am Kai die im Wind lehnenden Schiffe und das Gerangel der Wellen beobachten und auf das Schlagen der Takelagen lauschen. Er hat das Gefühl, diese Momente sammeln zu müssen: aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, damit man sie in späteren Zeiten durchzählen kann.

Er überlässt die Mädchen sich selbst und läuft in entgegengesetzter Richtung den Strand entlang, die Steine rutschen weg unter seinen schmal geschnittenen italienischen Stiefeln, die für größere Herausforderungen als städtisches Kopfsteinpflaster ungeeignet sind. Wie ein Watvogel stelzt er unbeholfen einen Streifen aus moderigem Seetang entlang, auf dem er einigermaßen vorankommt. Dann geht er mit ausholenden Schritten weiter durch Meerkohl und ausgeblichene Strand-Grasnelken, an deren kleinen Köpfen der Wind reißt. Durch das Salzgras folgt er einer kahlen, ausgetretenen Spur, die ihn hochführt zur Straße und den letzten Häusern der Stadt. Die Sonne steht niedrig. Die Schatten sind lang. Von den Bergen herunter bläst der Wind.

Vor ihm liegt der kleine Friedhof. Das Tor lockt ihn, und er bleibt davor stehen. Vom Fenster seiner Mutter aus kann man es sehen. Jetzt, in diesem Moment beobachtet sie ihn vielleicht, insektenhaft klein vor der Bergflanke, wie eine Gestalt in einer Landschaft von Seghers.

Sie haben das Grab mit Torf und Moos ausgepolstert. Er und seine Mutter, gemeinsam. Als legten sie einen Garten an. Als brächten sie eine Saat aus.

Der Vater hat ihn früher immer begleitet, von Cooldrinagh, ihrem alten Haus, sind sie losmarschiert, durch Vorstadtstraßen gewandert, über Feldwege und dann kraxelnd weiter die Heidelandschaft hoch, bis sie einen bestimmten Punkt erreichten, bis hierher und nicht weiter, wie das Ende eines aufgerollten Fadens. Dort saßen sie dann, zerpflückten Wollgräser, schoben mit den Fußspitzen Steine herum und starrten vor sich hin.

Irgendwann sagte sein Vater: »Sie wird sich fragen, wo wir bleiben.«

Also rafften sie sich auf und nahmen den langen, beschwerlichen Marsch in Angriff, der sie wieder hinunterführen würde, den ganzen verschlungenen Weg zurück zu dem grauen Kasten namens Zuhause. Kein Ariadnefaden, nichts so Fragiles, nicht bei ihr. Ein Seilzug eher, zäh und robust.

Und jetzt ist er allein, der Vater eingepflanzt in ein Beet voller Moos, und nichts ist gewachsen, nur der Schmerz des Verlusts. Er wendet sich vom Friedhofstor ab und geht weiter. Im Schatten hoher Hecken, die mit roten Fuchsien besprenkelt sind wie mit Blut, steigt der Weg zwischen Feldern an; durch die Sohlen seiner Stiefel spürt er jedes Steinchen, und die Schafe blöken, und über ihm torkeln die Möwen in der Luft.

Er schwingt sich über ein Gatter ins freie Gelände: An den Ginsterbüschen rasseln Samenschoten im Wind, und in seiner Brust rasselt der Atem. Von der Anstrengung beginnt seine Narbe zu ziehen. Doch er steigt weiter, über grauen, schorfigen Kalkstein, und als er den Kamm erreicht, fällt vor ihm der Boden steil ab und offenbart ihm den geschwungenen Küstenstrich, wo die Vororte zur rostgrauen Stadt hinwuchern wie Pilzkolonien. Links erheben sich die Berge, von denen der Wind herabpeitscht, an seiner Jacke zerrt und ihm Tränen in die Augen treibt. Er dreht ihm den Rücken zu und schaut blinzelnd über das schiefergraue, zerfurchte Meer zur alten Welt hin, die dahinterliegt.

… Du hörst das tosende Prasseln

der Kiesel, vom Sog der Wellen mitgerissen …

Aber du hörst es doch gar nicht, oder? Nicht hier oben: Hier oben hört er außer dem Wind nur das Rauschen seines Bluts und das Raspeln seines Atems. Tief unter ihm bewegt das Meer lautlos seine Lippen, nagt an den Rändern der Stadt, dem Friedhof und dem Fuß dieses dunklen Hügels. Dort hinten aber, hinter dem Horizont, in den Weiten Europas jenseits dieses Inselkeils türmt sich eine Flutwelle auf, und der Moment, in dem alles kippt, kann nun jederzeit kommen, der Rausch und Zusammenbruch, der Wettlauf bis zur Vernichtung.

Er dreht sich um und sucht das Dach mit der unverkennbaren Rauchsäule, wo seine Mutter wartend am Feuer sitzt, sich Saatgutverzeichnisse ansieht und es nicht erträgt, wenn das Radio läuft.

Er weiß, dass er nicht bleiben kann. Er kann Frank nicht helfen. Er kann nicht auf Bestellung Artikel für die Irish Times schreiben. Er würde keinen Schlaf mehr finden; er würde trinken, damit seine Hände nicht zittern und sein Herz nicht so laut pocht. Bald müsste er sich anstrengen, um überhaupt noch zu atmen. Bevor er nach Paris ging, hatte es Nächte und sogar Tage gegeben, an denen er eine frische Rasierklinge genommen, sich säuberlich die Pulsadern aufgeschnitten und dem Ganzen ein Ende bereitet hätte, wenn das angerichtete Chaos nur nicht so groß gewesen wäre. Die Blutflecken auf dem Boden. Ihre empörte Trauer.

Er wird ihr sagen müssen, dass er geht, auch wenn er ihr das nicht sagen kann. Er zieht an seinen Manschetten, schiebt die Brille auf dem Nasenrücken hoch und beginnt den unvermeidlichen Abstieg zurück in die gefährdete kleine Stadt, hin zu all dem, was nicht gesagt werden kann.

»Setzt du dich zu uns, May?«, fragt Sheila.

Die Antwort seiner Mutter aus dem Esszimmer ist eine Spur sanfter, als wenn er diese Frage gestellt hätte.

»Ich sitze gut hier, danke.«

Gebückt über den Geruch nach Staub und heißen Kabeln dreht er am Suchknopf, bis er durch das Rauschen und Kreischen ein Signal der BBC empfängt und den Sender einstellen kann. Er richtet sich auf und lehnt sich mit verschränkten Armen ans Buffet.

Sheila lässt sich in einen Sessel sinken, Mollie hockt sich auf die Armlehne.

»Wo sind die Mädchen?«, fragt er.

»Noch draußen«, sagt Sheila.

Vor dem Radio versammelt, wissen die drei, was sie erwartet, jedenfalls mehr oder weniger; sie wissen, wie die Dinge stehen. Die Übertragung beginnt, und der britische Premierminister spricht mit seiner präzisen, bebenden Stimme aus London zu ihnen. Alle starren konzentriert auf den Teppich.

Heute Morgen hat der britische Botschafter in Berlin der deutschen Regierung eine letzte Erklärung übergeben …

Vor der geöffneten Zimmertür bewegt sich etwas. Seine Mutter steht dort im Profil. Hinter ihr hält Lily das Geschirr, wie versteinert durch den Ernst einer Situation, auf die sich seit Jahren unweigerlich alles zubewegt.

… bis elf Uhr keine Nachricht erhalten, dass sie bereit sind, unverzüglich ihre Truppen aus Polen abzuziehen, der Kriegszustand zwischen uns herrscht.

Seine Mutter hält sich die Hand vor den Mund.

Ich muss Ihnen nun mitteilen, dass keine Zusicherung dieser Art eingetroffen ist und sich unser Land somit im Krieg mit Deutschland befindet.

Bei diesen Worten lehnt sich Sheila im Sessel zurück; Mollie reibt sich die Arme. Seine Mutter greift nach dem Türrahmen. Chamberlains Stimme windet sich weiter aus dem Radioapparat und verfängt sich im Teppich.

»Bitte, da haben wir’s«, sagt Mollie.

Sheila greift nach dem Arm ihrer Schwester, und ihre Hände umklammern sich. Seine Mutter steht regungslos in der Tür, die Hand noch immer am Rahmen. Ihr Gesicht ist grau geworden. Er löst sich vom Buffet, geht durchs Zimmer, nimmt ihre Hand und legt sie auf seinen Arm.

»Hier«, sagt er. Er führt sie zu ihrem Sessel. Sie zittert.

Er schaltet das Radio aus. Durchs Fenster fällt die Morgensonne in das kleine Wohnzimmer, draußen braust der Seewind, und man könnte sich einreden, dass sich nichts verändert hat, doch diese Worte haben die Welt verändert.

Aber die Mädchen, denkt er, die Mädchen mit ihrem windzerzausten Haar in ihren aufgeblähten Wolljacken. Bestimmt kauern sie auf einer Bank, wo sie ihre Zitronenbonbons und Lakritze auflutschen; die Mädchen sind noch frei von allem. Der Wind, die Haare, die Süßigkeiten – ein zauberhaftes Bild fernab jeder Realität.

»Kann ich dir etwas holen?«, fragt er.

Seine Mutter schüttelt den Kopf.

Er sieht kurz zu Sheila hinüber – rosa Wangen, rosa Nase, über dem Kinngrübchen ein gezwungenes Lächeln –, und unter seinem Blick schwindet selbst dieses Lächeln, mit zusammengepressten, zitternden Lippen sackt sie an ihre Schwester gelehnt in sich zusammen.

»Kopf hoch, Schätzchen«, sagt Mollie und streicht ihr über den Arm. »Denk an dein Gesicht.«

Nach einer Weile nickt Sheila schniefend und löst sich wieder von ihr. Mit dem Daumenballen tupft sie ihre Augen ab. Die Mädchen sollen nicht sehen, wie aufgelöst sie ist.

»Ich muss mich um eine frühere Überfahrt kümmern«, sagt sie.

Seine Mutter hebt den Kopf. »Warum denn das?«

»Wir müssen zurück, May.«

»Nein, das müsst ihr ganz und gar nicht. Du hast doch gehört, was er gesagt hat: Es wird wieder Krieg geben. Hier seid ihr sicherer.«

Sheila richtet sich auf und ordnet ihr Haar. »Das ist sehr lieb von dir, May, aber weißt du, die Kinder wollen bestimmt zu ihrem Vater. Donald muss wieder zum Regiment, und da möchten wir ihn vorher noch sehen.«

»Aber du, Mollie«, sagt May. »Du bleibst.«

Mollie verzieht entschuldigend den Mund. »Noch ein bisschen, May, aber dann muss ich leider auch zurück.«

»Wozu?«

»Arbeit. Die warten auf mich.«

Schweigend wendet May ihr Gesicht ab, was bleibt ihr anderes übrig. Diesen Brocken muss sie jetzt schlucken, diese widerwärtige Wahrheit, an der sie alle schon seit Monaten zu kauen haben. Auch den anderen schmeckt sie nicht, nur haben sie sich schon an den Geschmack gewöhnt.

Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, spürt die Knochen. Sie richtet ihre stechenden blauen Augen auf ihn.

»Es tut mir leid«, sagt er.

»Dafür kannst du ja wohl nichts.«

Aus der Starre erwacht, beginnt das ganze Haus zu rotieren. Wie Perlen einer gerissenen Kette hüpfen und schwirren die Stimmen durch alle Räume. Schritte hämmern die Treppe hoch und wieder hinunter. Telefonate werden getätigt, Fahrpläne studiert, grob umrissene Pläne konkretisiert.

Lily räumt die gefalteten Strümpfe, Unterhemden und Blusen der Mädchen aus dem Wäscheschrank. Sheila und Mollie diskutieren in wechselnden Lautstärken und Entfernungen darüber, was sie brauchen, nicht brauchen oder suchen. Wo sind die guten Schuhe der Mädchen? (An ihren staubigen Füßen, wie sich später herausstellt, als die beiden klebrig und zerzaust zurückkommen.) Was ist mit den Büchern hier? Hast du die Haarbürste gesehen? Wessen Haarbürste? Meine, die aus Schildpatt. Meinst du die hier? Laute Schritte gehen im Flur hin und her, die Stufen hoch und runter, und während die Dinge langsam beginnen, Form anzunehmen, werden auch die Stimmen trauter und leiser.

Er achtet darauf, niemandem im Weg zu sein; er kann hier nicht helfen. Sein Kopf schmerzt noch; er ist reizbar, nimmt sich vor Fragen in Acht, will seine Pläne für sich behalten. Er versteckt sich hinter seinen Büchern.

Als sie fertig sind und das Taxi bestellt haben, trägt er das Gepäck nach unten und reiht es im Flur auf, die artigen kleinen Koffer der Mädchen und den großen Koffer ihrer Mutter. Alle warten, denn sonst ist nun nichts mehr zu tun. Durch den Ernst der Lage gereift, sitzen die Mädchen Seite an Seite auf den steifen Flurstühlen. Das eine Paar Spangenschuhe mit den weißen Söckchen schwingt sachte vor und zurück, das andere steht manierlich auf dem Parkett.

Die Zeit dehnt sich, verlangsamt sich; die Uhr tickt. Mollie äußert Besorgnis wegen des Taxis. May beunruhigt das Wetter; das wird eine raue Überfahrt, wagt sie zu sagen. Es gibt nichts, was wirklich wert wäre, gesagt zu werden, doch das hindert sie nicht am Reden, und die leisen Worte sammeln sich wie Sand, der durch ein Stundenglas rieselt. Bis zu den Knien versinken sie darin und können trotzdem nicht aufhören.

Dann hören sie ein Auto die Hafenstraße entlangrumpeln, und das Gespräch bricht ab, zerfasert.

»Ist das …«

»Ah, das wird wohl …«

»Habt ihr …«

Vor dem Haus brummt der Motor im Leerlauf. Schon steht Sheila vor der Tür; der Fahrer steigt aus, um mit dem Gepäck zu helfen.

Die Mädchen riechen nach Wolle, Seife und warmer Milch, als man sich küsst; ihre Wangen sind heiß, und bestimmt registrieren sie seinen schuldbewussten Erwachsenengeruch nach Zigaretten, Schweiß und dem Whiskey der letzten Nacht.

Sheila umarmt ihn abrupt und fest. Ihm fehlen die Worte.

»Gott segne dich, Junge.«

»Dich auch«, bringt er heraus.

Und dann schiebt sich Sheila neben die zusammenrückenden Mädchen ins Taxi, die Tür schlägt zu, der Fahrer nimmt wieder vorne Platz, der Wagen dreht knirschend vor dem schieferblauen Hafenwasser und rollt davon.

Er geht ins Haus, zündet sich eine Zigarette an. Junge hat sie gesagt, das ist das treffende Wort. Er ist ein Kind. Ein Bärenjunges, dessen Muttertier es nicht für nötig hielt, es zu lecken und lebenstauglich zu machen.

Im Haus ist es dämmrig und kalt. Auf der Konsole im Flur ist ein Kiesel aus Kalkstein liegen geblieben. Grau und glatt, hat er in etwa die Größe eines Pfefferminzbonbons. Einmal ist er ihm in der schmutzigen, zerknitterten Handfläche des Mädchens kurz gezeigt worden wie ein Geheimnis, von dem sie wusste, dass er es wahren würde, ehe sie den Stein mit leisem Zahnlückenlächeln wieder verschwinden ließ. Da liegt er nun, verlassen, vergessen, seiner Bedeutung entledigt. Er nimmt den Stein. Kühl fühlt er sich an. Einen Moment lang hält er ihn fest umschlossen, dann schiebt er die Hand in seine Tasche und lässt den Stein los.

Wie ein erschöpfter Jagdhund trabt er neben Mollie her. Sie hat sich bei ihm untergehakt, als würde sie ihn an die Leine nehmen, damit er ihr nicht davonläuft. Ihr Körper ist weich und kompakt in ihrem irischen Tweed. Es ist ein herrlicher Nachmittag, windig und blau, wie zum Hohn. Die tiefstehende Sonne blendet.

»Sagst du’s mir jetzt?«, fragt sie ihn.

Prüfend blickt er auf sie herab. »Was?«

»Ach, komm schon. Sheila und ich haben es doch sofort gemerkt.«

»Was denn?«

»Wer ist das Mädchen?«

Immer noch untergehakt, gehen sie langsam weiter. Er sagt nichts. Möwen kreisen in der Luft, darunter das Klatschen und Tosen der Wellen.

»Los, spuck’s aus.« Sie zieht an seinem Arm.

»Wie kommst du darauf, dass es etwas auszuspucken gibt?«

»Du weißt doch selbst, wie du bist. Auf dich allein gestellt, fällst du dir selbst zur Last. Du wirst krank, du nimmst ab, mein Gott, du wirst sogar niedergestochen! Du kannst einfach nicht auf dich aufpassen. Und jetzt schau dich an.« Sie bleibt stehen und dreht ihn zu sich hin. »Schau dich einfach nur an.« Mit windgeröteten Wangen betrachtet sie ihn. »Auf dich passt ganz eindeutig jemand auf.« Ihr Blick ist prüfend, die Stirn gerunzelt. Mit dem Handrücken schlägt sie gegen seine Brust. »Irgendjemand hat an diesem Hemd ein Loch gestopft.«

Er blickt an sich herab. Seine Lippen zucken. Er hält Mollie wieder den Arm hin; sie nimmt ihn, und sie gehen weiter.

»Es gibt ein Mädchen«, sagt er.

»Ich weiß.«

Mehr sagt er nicht und hält ein Lächeln zurück.

»Und …?«

Er zuckt mit den Schultern.

»Ach, jetzt komm schon!«

Er lächelt. »Vor Jahren, als ich an der École Normale war, haben wir zusammen Tennis gespielt, gemischtes Doppel. Aber seitdem hatte ich sie nicht mehr gesehen, erst letztes Jahr wieder, nach dem Überfall. Sie hat in der Zeitung davon gelesen und sich an mich erinnert. Sie ist ins Krankenhaus gekommen und, na ja.«

»Da hast du dich verliebt.«

Was anzunehmen ist. Er bestätigt es weder, noch widerspricht er ihr oder korrigiert sie. »Sie hat Vorhänge für meine Wohnung genäht.«

Mollie lacht.

»Die sind sogar ziemlich schön.«

»Entschuldige, ich bin mir sicher, dass sie wunderschön sind …« Sie wedelt mit der Hand. »Ich wollte nicht … aber ich habe dich noch nie so gesehen, ich meine, wenn man dich kennt … ich hätte nie gedacht, dass dir so etwas wichtig ist.«

»Wichtig habe ich nicht gesagt. Aber wenn es dunkel wird, braucht man Vorhänge.«

Das hatte jedenfalls Suzanne gesagt, als sie nackt auf den verhedderten Laken lag und durch das Dachfenster oben in der Schlafmansarde blickte, das dunkle Haar offen und wirr, Mondlicht auf ihrer Haut. Er hatte ihr zugestimmt, jedoch beschlossen, dass er unter keinen Umständen jemals welche haben würde; hinter Vorhängen müssten sie in tiefster Dunkelheit zusammenliegen – eine schändliche Verschwendung von Suzannes Nacktheit.

Als sie ihm dann die Vorhänge überreichte, da hatte er sich bedankt und sich sogar am Aufhängen beteiligt.

»Ich weiß nicht, was die ganze Aufregung soll.«

»Ich freue mich einfach für dich, ja, ich bin begeistert. Dass du ein nettes Mädchen hast, das dir die Hemden flickt und Vorhänge für dich näht.«

»Sie ist noch viel mehr. Sie ist Musikerin. Sie hat am Conservatoire studiert. Sie ist auch Schriftstellerin. Sie schreibt.«

»Dann helf euch Gott, euch beiden.«

An diesem Abend sind die Vorhänge in dem kleinen Haus bereits zugezogen, als es noch gar nicht dunkel ist. Das Radio knistert und kreischt, als er wieder die BBC sucht. Nachdem er sie gefunden hat, stellt er sich neben seine Mutter und legt eine Hand auf die Rückenlehne ihres Sessels. Diesmal hat sie sich fürs Zuhören gewappnet.

An ihrem Hinterkopf ragen graue, krause Härchen unter den Haarnadeln hervor. Ihre alten Hände umklammern die Armstützen. Mollie kauert auf dem Platz ihr gegenüber, mit angezogenen Beinen an einem Fingernagel kauend. Lily steht mit gesenktem Blick am Buffet, zugehörig und doch außen vor.

Heute um fünf Uhr hat Frankreich Deutschland den Krieg erklärt.

Tastend hebt seine Mutter eine Hand. Er nimmt sie. Sie ist kalt. Sie hören weiter zu, doch nur ein geringer Teil der Erklärung kommt wirklich in ihren Köpfen an. Mit dem Daumen streicht er über ihren Handrücken. Da nun alle Figuren im Spiel sind, lotet man sämtliche Möglichkeiten aus und endet … ja, wo? Bei Stacheldraht und Schützengräben – wird es das wieder sein? Er könnte sich als Freiwilliger beim Sanitätskorps melden … Ob er, zurück in Frankreich, auch von dort aus einrücken könnte? Es ist so bitter. Ihm schwirrt der Kopf, als hätte jemand den Deckel von einem Glas voller Fliegen genommen. Seine Mutter dreht sich in ihrem Sessel um und schaut zu ihm hoch. Der Griff ihrer Hand wird fester, und sie zieht ihn näher zu sich.

»Das war’s dann wohl«, sagt sie.

Er nickt. Ja, genau, das war’s dann wohl.

»Du kannst jetzt nicht zurück.«

Er blickt auf ihr Gesicht herab, die scharfen Kanten, die Falten. Aber er kann nicht bleiben. »Ich habe allen gesagt, dass ich zurückkomme.«

»Allen?«

»All meinen Freunden.«

»Deinen Freunden.«

Er nickt.

Mit verdrehtem Kopf schaut sie lange zu ihm hoch. Diese zwielichtigen, verruchten Menschen mit ihrem unvorstellbaren Lebenswandel ziehen ihn von ihr weg. Weg von Sicherheit, Behaglichkeit und einem respektablen Leben.

»Und von welchem Nutzen wärst du dort«, fragt sie, »deiner Meinung nach?«

2

Paris

Herbst 1939

Es ist verrückt, jetzt glücklich zu sein, denkt Suzanne. Unmöglich. Doch sie kann nicht anders.

Sie hakt sich bei ihm unter. Er verkürzt seine Schritte für sie, und der Gleichschritt bringt sie zum Lächeln. Sie atmet den warmen Geruch nach Tabak, Wein und Rasierseife ein. Ihre Schritte hallen über die Place Saint-Michel. Die beiden sind losgegangen in der Hoffnung, dass das billige kleine Café in der Rue de la Huchette nicht die Nerven verloren und weiter geöffnet hat; so viele der schickeren Bistros haben inzwischen Fenster und Türen verbarrikadiert und dichtgemacht.

Er musste nicht zurückkommen. Aber da ist er. Schultern, Hals, Kiefer, Wangenknochen und blaue Augen, die einem vorbeifahrenden Auto folgen. Sie lehnt sich an ihn, und alles ist gut.

Am Morgen schlüpft sie aus seinem Bett gleich in ihre Kleider, gleich raus auf die Straße, zwischen Müllmännern, Lieferjungen und Markthändlern zurück in ihre eigene Wohnung, um ihm aus den Füßen zu sein. Ein Nebelschleier liegt in der Luft, und die Stadt, der sie jahrelang kaum Beachtung schenkte, ist wieder neu und schön.

Er hat seine Arbeit, und sie ist wichtig: Sie darf ihm nicht ins Gehege kommen. Im Übrigen hat auch sie eine Arbeit, der sie nachgehen muss, all die fruchtlosen Stunden in den bourgeoisen quartiers mit pummeligen Kindern, die auf Klavieren herumstümpern, die viel zu gut dafür sind und unweigerlich Suzannes Neid erwecken. Auch pflegt sie die ruhigen Stunden allein in ihrer Wohnung – in Erwartung des kälteren Wetters näht sie sich gerade eine neue Jacke mit kleinen Elfenbeinknöpfen, die schon fast fertig ist. Sie geht auf den Markt, in die Bücherei, und sie trifft sich mit Freunden. Sie beschäftigt sich selbst. Ihre Besuche bleiben wohldosiert, ein Tröpfchen hier, ein Tröpfchen dort. Sie wird sich nicht zum Plagegeist machen.

Jedes Mal, wenn sie zu ihm geht, bringt sie kleine Annehmlichkeiten mit. Ein Gebäck, das sie sich teilen, eine Tafel Schokolade, eine kleine Handarbeit, um die scharfen Kanten seiner Enthaltsamkeit abzupolstern. In der kleinen Küche gibt es meist nur Kaffee und Staub. Sie will es ihm angenehm machen. Angenehmer, als er es sich selbst machen kann.

Dieser blasse, verletzte Ire, mit einbandagierter Brust unter Krankenhauslaken fixiert. Seit diesem Tag versucht sie, es ihm angenehm zu machen.

Nichts geschieht.

Ende September werden die Tage milder, dann kühl, und Paris ist immer noch schön. Auf der Straße laufen die Kinder in Zweierreihen; tagsüber eingesperrt, hängen ihre Stimmen wie Dunstglocken über den Schulgebäuden: Die Passanten laufen durch Wolken von Gesang und Schwaden von Reimen und Einmaleins.

In der Nachbarwohnung gibt es ein Radio; am Wochenende sickern Jazzklänge, Unterhaltungsmusik und Wellen von Gelächter durch die Wand. Das Baby der Nachbarn schreit.

Jemand kommt, um die Straßenlaternen in blaues Papier zu wickeln; nachts fahren die Autos dank Verdunkelungsstreifen halb blind. Aus der Rue de Vaugirard wird ein tiefblauer Strom, der an den toten Wassern der Rue des Favorites vorbeifließt. Er schließt die Fensterläden, zieht die Blenden herunter, macht eine Lampe an und schenkt sich einen Schluck Jameson ein, nur einen, er muss ja noch vorhalten. Er vertieft sich in ein Buch oder in seine Arbeit, die französische Übersetzung von Murphy.

Suzanne kommt und geht. Sie dreht ihr melassefarbenes Haar ein, steckt es fest und wirft ihm ein strahlendes Lächeln zu. Immer wieder verblüfft ihn dieses Lächeln, das ihm aus heiterem Himmel entgegenfliegt wie ein Ball, direkt in seine geöffnete Hand. Die Kunst besteht natürlich darin, den Ball im Spiel zu halten, doch häufig reagiert er einen Hauch zu spät. Sie räumt schon die Zeitungen weg, geht Richtung Küche, schüttelt ein Kissen auf, ist schon fast durch die Tür. Aber er weiß, dass sie etwas will. Als würde ihm eine Katze um die Beine streichen, seidig und anschmiegsam und doch so, als müsste er jederzeit damit rechnen, etwas falsch zu machen und ungewollt Schaden anzurichten.

Er bemüht sich um sie. Macht auf dem Gasherd Kaffee warm, bestreicht Brot mit Rillettes, angelt Cornichons aus dem Glas.

Sie essen im Bett, mit ineinander verschränkten Füßen. Mit der Hand fegt sie Krustenkrümel vom Laken. Arme und Beine sind vom Sommer gebräunt, die Brüste und der Bauch unter dem Badeanzug jedoch weiß geblieben; so einen sepiabraunen, teilbelichteten Körper hatte er, bevor er nach Frankreich kam, noch nie gesehen. Während seine Hand über ihren Rücken gleitet, von hellbraun zu weiß wieder zu hellbraun, empfindet er Dankbarkeit. Sie hebt die Tasse und trinkt schlückchenweise ihren Kaffee. Er wendet sich ab, um sein Gesicht zu verbergen. Unsinnig, das hier mit Worten aufzuspießen. Es lieber vorbeischweben lassen.

Sie geht mit ihm zur irischen Gesandtschaft, um ein für alle Mal seinen Status zu klären. Wenn du willst, dass etwas erledigt wird, sagt sie, frag eine tatkräftige Frau. Durch verwehte Platanenblätter wandert sie mit ihm zur Place Vendôme und nimmt seinen Arm. Sie passieren die Oper. Dunkel liegt sie da. Das Gebäude ist verriegelt, die Fensterläden geschlossen, die Pforten mit Ketten barrikadiert.

»Oh«, sagt er.

»Wir kommen zurück, wenn sie wieder aufmacht«, sagt sie und zieht ihn an sich.

»Du glaubst, dass sie wieder aufmacht?«

»Natürlich«, sagt sie. »Irgendwann.«

Im Gebäude der Gesandtschaft überall glänzendes Holz, Marmor und Staubpartikel, die in den Strahlen der Herbstsonne tanzen. Sie erreichen das Ende einer unbewegten Warteschlange. Irische Stimmen und Gespräche verwirbeln die Luft und rauben ihm den Atem. Er schweigt und senkt den Blick, um Kontakt zu vermeiden, der bei einem so kleinen Heimatland an solchen Orten zwangsläufig ist – Freunde von Freunden und Cousins von Cousins.

»Es tut mir leid, ich … Sie möchten bleiben?«

Der Sachbearbeiter ist ein blasser Bursche, mit dem er bisher noch nie zu tun hatte.

»Ja.«

»Sie beide, Mr und Mrs …?«

»Nein.«

»Aber … Gut.«

Er sieht den Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes, die stummen Fragen. Warum bleiben? Was soll es bringen, wenn Sie bleiben?

»Wir sind im Moment dabei, Ausreiseanträge zu bearbeiten …« Der Mann sieht ihn länger an, blickt dann stirnrunzelnd auf den Pass, blättert darin; er presst die Lippen zusammen, schaut wieder auf. »Lassen Sie mich eben, ähm …« Er erhebt sich ungelenk von seinem Tisch, schiebt ein paar Schriftstücke zusammen, klemmt den Pass dazwischen. »Einen Augenblick …«

Allein vor dem Pult, bleiben sie im Licht der hohen Fenster und dem Geruch von Bienenwachs und Tabakrauch zurück; an seinem Fuß hängt ein vertrocknetes, eingerolltes Platanenblatt, das er hereingeschleppt hat. Ungeduldig verzieht sie den Mund.

Nach einer Weile kommt der Sachbearbeiter zurück und händigt ihm den Pass wieder aus. »Er sagt, Sie brauchen einen Nachweis über Ihre Berufstätigkeit. Zusammen mit Ihrem Pass sollte das genügen, um die Aufenthaltserlaubnis für Paris zu erhalten. Nach dem gegenwärtigen Vergabeverfahren.«

»Wie kommt er an so einen Nachweis?«, fragt Suzanne in ihrem ungelenken Englisch.

»Durch einen Antrag hier bei uns.«

Sie öffnet den Mund. Der Mann kommt ihr zuvor: »Wir brauchen ein formelles Bewerbungsschreiben. Mit Referenzen.«

»Wie lange dauert die Bearbeitung, wenn Sie das haben?«

»Das kann ich nicht sagen. Wir haben hier im Moment ziemlich viel am Hals.«

Er nickt, steckt den Pass ein. »Ja«, sagt er. Und dann: »Danke.«

Sie wenden sich ab, und Suzanne schüttelt missbilligend den Kopf.

Draußen fegt plötzlich ein kühler Wind über die Place Vendôme. Er hält Suzanne seinen Arm hin. Gegen die Kälte aneinandergeschmiegt, gehen sie los.

»Wenn wir zu Hause sind, musst du deinem Verlag schreiben. Dann schicken sie Referenzen und sagen, wer du bist.«

»Das werde ich«, antwortet er, ohne die Zuversicht zu empfinden, die seine Worte suggerieren.

»Und dann bist du endlich vollberechtigt hier.«

Er nickt. »Ich hoffe.«

Auf Französisch klingt es nicht ganz so unwahrscheinlich, nicht ganz so beklommen. J’espère.

Im Jardin des Tuileries türmt sich Laub auf dem Kies. Der Staub auf dem Weg färbt ihre Schuhe weiß.

Er schreibt seinen Bewerbungsbrief. Und er schreibt mit einem gewissen Unbehagen nach London an Mr Read bei Routledge mit der Bitte um eine kurze Empfehlung. Er frankiert den Brief, schickt ihn ab. Er kommt sich schrecklich aufdringlich vor. Als würde er den Mann bitten, sich ihm zuliebe an einem Betrug zu beteiligen.

Doch nichts passiert.

Oder besser gesagt, es passieren weiterhin Dinge, aber nicht ihm. Ihm passiert nichts.

Als er morgens das Haus verlässt, um Brot zu holen, steht in der Rue des Favorites ein grüner Lieferwagen am Bordstein. Die Art von Wagen, die Einheimische als panier à salade bezeichnen; dort wird man hineingepackt, durchgerüttelt und herumgeschleudert. Ein Polizeiwagen.

Seine Schultern versteifen sich. Er hat noch keine Papiere.

Aber es ist das Nachbarhaus. Er sieht, wie von innen die Toreinfahrt aufgezogen wird und ein flic über die Schwelle auf den Gehweg tritt; ein junger Mann stolpert hinter ihm her, das dunkle Haar zerwühlt, das Hemd falsch geknöpft, eben noch im Bett. Ein zweiter Polizist folgt ihnen. Menschen bleiben stehen oder treten zurück, um nicht in irgendetwas hineingezogen zu werden. Er findet sich unter den Zuschauern wieder, obwohl er gar nicht vorhatte zuzuschauen.

Der junge Mann steigt hinten in den Wagen, er sieht verwirrt und aufgebracht aus. Die Tür schließt sich hinter ihm; dann steigen auch die Polizisten ein, einer hinten, einer vorn, und der Wagen rumpelt über das Kopfsteinpflaster davon.

»Wer war das?«, fragt eine Frau in seiner Nähe.

»Ausländer.«

»Was hat er gemacht?«

»Weiß nicht.«

»Wo bringen sie ihn hin?«

Eine andere Frau beugt sich an ihm vorbei nach vorn, um zu antworten. Er riecht ihren Atem. »Vielleicht zur Préfecture oder in die Santé.«

»Ist doch eine Schande, oder?«

»Wenn man die sich selbst überlässt, kommt so was dabei raus, hab ich nicht recht?«

Er hält den Mund und macht nichts. Das alles scheint nichts mit ihm zu tun zu haben: Jemand wurde abrupt aus dem Alltag entfernt. Doch mit einem Mal sind Menschen wie dieser allgegenwärtig und unübersehbar, all die Vertriebenen und Gejagten in ihren heruntergekommenen Anzügen. Im Vorbeigehen aufgeschnappt, unterscheiden sich ihre Akzente, doch es gibt einen bestimmten Typus: gebildet, nachdenklich, still und voller Angst. Sie sind das Treibgut eines halben Dutzend unterschiedlicher Nationen, schwach und erschöpft, von den Hochwassern ihrer Heimat angeschwemmt.

Manchmal sieht er, dass sie sich gegenseitig zur Kenntnis nehmen wie Busfahrer, die sich im Vorbeifahren mit einem kurzen Wink grüßen. Beklommen verfangen sich ihre Blicke: Da ist ein Drang nach Gemeinschaft, aber auch der Sog der Angst. Wer möchte schon damit in Verbindung gebracht werden, dazugehören zu dieser Gemeinschaft von Ausgeschlossenen?

Zu Beginn ist es ein milder Herbst, und die Dinge nehmen ihren mehr oder weniger normalen Lauf. Er versucht zu arbeiten und der Tatsache, dass er hier ist, Bedeutung zu verleihen. Mit Alfred Péron spielt er ein bisschen Tennis; sie treffen sich in Cafés oder in der Wohnung der Pérons, um an seiner Übersetzung zu arbeiten. Mania begegnet ihm herzlich und scheint nichts dagegen zu haben, dass Alfy für seinen irischen Freund so viel Zeit vergeudet. In seinem müßigen Unterfangen ist ihm Alfy ein zuverlässiger Gefährte geworden. Wie Raupen fressen sich sich in Rauch gehüllt und an Kaffee oder Wein nippend durch den Text von Murphy, tief eingetaucht in das Problem, sein eigenes, besonderes Englisch in sein eigenes, besonderes Französisch zu übertragen. Was in etwa so sinnvoll ist wie das Lösen eines Kreuzworträtsels: hin und wieder der angenehme Aha-Effekt eines gelösten Problems, aber mehr auch nicht. Wenn sie fertig sind, wird es, so vermutet er, ein Buch geben, das auf Englisch keine Leser fand und nun auf Französisch keine finden wird.

Die Heizung funktioniert noch; wenn er sich rasieren will, kommt noch heißes Wasser aus dem Hahn; tagsüber ruckelt noch der Aufzug durchs Haus; und durch die Wand zur Nachbarwohnung dringen noch die Klänge des Radios, auf dem Le Poste Parisien läuft. Hin und wieder schreit das Baby. Gern würde er Joyce treffen, mit ihm trinken gehen, sich im Saufen und Reden verlieren, doch die Joyces sind nicht in der Stadt, und dann sind sie wieder da und dann doch wieder weg, und obwohl er eine Nachricht geschickt hat, ist nichts zurückgekommen. Wie soll man da nicht den Überblick verlieren.

»Die Laken müssen gewaschen werden«, sagt Suzanne.

»Ich weiß.«

»Sie fangen an zu riechen.«

»Ich weiß.«

»Ich finde, sie fühlen sich dreckig an.«

»Ja.«

»Glaubst du, die ligne hält?«

Ihr Schenkel auf seinem Schenkel, ihre Hand an seiner Brust, unter ihrem Daumen die hellviolette, zerklüftete Narbe; dieser lädierte Mann ist auch der Junge, den sie in weißen Tennissachen vor sich sieht, die langen Glieder wie ein wunderbares Tier nach dem Ball gestreckt. Die Zeitspanne zwischen diesen Momenten und jetzt erscheint ihr manchmal so kurz, als hätte eine Uhr zweimal getickt. Manchmal ist sie aber auch gewaltig.

»Was?«, fragt er, obwohl er sie gehört hat.

»Glaubst du, die ligne hält?«, wiederholt sie.

Er rollt sich auf die Seite und tastet nach einer Zigarette. Ligne, hat sie gesagt, Leine. Er hat an die Betttücher gedacht und eine Leine mit wehenden, knatternden Laken vor sich gesehen. Doch sie meint natürlich die Maginot-Linie, die Ligne Maginot. »Ich habe keine Ahnung.«

»Sie verlassen sich zu sehr darauf«, sagt sie. »Meiner Meinung nach.«

»Womöglich.«

»Die Generäle tun so, als wäre sie die Antwort auf alles. Für die geht jetzt einfach der letzte Krieg wieder von vorn los. Aber es ist ein anderer Krieg. Und deshalb ist diese verdammte Linie auch nicht die Antwort.«

Er zündet die Zigarette an, zieht daran, gibt sie ihr. »Vielleicht ist es ja doch derselbe Krieg. Mehr oder weniger.«

»Die Zeiten haben sich geändert«, sagt Suzanne. »Die Dinge haben sich weiterentwickelt. Die Welt ist schneller geworden. Und der Krieg auch.«

Er sieht zu, wie sie an der Zigarette zieht; mit ihren spitzen Lippen, wie eine Möwe im Flug.

Durch eine Wolke aus Rauch sagt sie: »Sie werden drumrumfahren. Quetschen sich in ihre Volkswagen und brettern einfach durch.« Sie hält inne. »Vielleicht hättest du in Irland bleiben sollen.«

Blinzelnd schaut er sie an, wendet sich ab und blickt zur Decke hoch, wo ein Spinnennetz in der Zugluft schwebt. »Meinst du?«

»Es wird nicht ewig so bleiben, dass nichts passiert. Dieser Krieg wird nicht mehr lange so weitergehen. Drôle de guerre. Bald wird er nicht mehr lustig sein.«

»Ist er jetzt auch nicht gerade.«

»Wenn du gehen wolltest, würden sie dir auf der Gesandtschaft helfen.«

Mr und Mrs hat der junge Mann gesagt.

»In Irland kann ich nicht atmen. Und schon gar nicht schreiben.«

»Tja, dann.« Die Augenbrauen hochgezogen, die Lippen geschürzt. »Dann musst du bleiben, egal was passiert.«

Er nimmt die Zigarette zurück und raucht weiter.

Sie setzt sich auf, schwingt die Beine aus dem Bett. »Wenn ich die Bettlaken abziehe«, sagt sie, »würdest du sie dann runter zum pressing bringen?«

Zwei Straßen von der Wohnung entfernt, an der Place Falguière, fragt ihn ein Clochard höflich nach der Uhrzeit. Er bleibt stehen, blickt auf seine Uhr und hält dem Mann das Handgelenk hin, worauf der andere nickt. Auch eine Zigarette bietet er ihm an, der Mann greift dankend zu und neigt sich zu dem Streichholz hin, das er angezündet hat.

»Sie sind nicht von hier, oder?« Die Frage prallt an der verschlissenen Rundung einer ursprünglich schwarzen Melone ab. Misstrauisch blickt der alte Mann unter der Krempe zu ihm hoch. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ihr Akzent.«

»Sie haben auch einen.«

»Um mich mache ich mir keine Sorgen.«

Der alte Mann grinst und entblößt das schlechteste Gebiss, das er je gesehen hat. »Das sollten Sie aber vielleicht, mein Freund.« Er gibt ein kehliges Geräusch voller Schleim von sich, vielleicht ein leises Lachen. »Wir sind doch alle gefährlich, alle verseucht. Aus deren Sicht sind wir alle sales métèques. Und wenn Sie jetzt von denen eingelocht werden und dann irgendwann diese Nazi-Brüder hier sind, dann sind Sie geliefert. Kaputt.«

Er sträubt sich gegen die harten Worte, die der Mann so selbstverständlich in den Mund genommen hat: dreckige Ausländer. »Ich habe bald meine Papiere«, erwidert er. Seine Stimme klingt zuversichtlich.

Der alte Mann atmet Rauch aus und zupft wehmütig einen Tabakfaden von seiner bleichen Zunge. »Früher hatte ich auch mal Papiere.«

»Jetzt nicht mehr?«

Er schüttelt den Kopf. »Weg, alles weg.«

»Können Sie neue bekommen?«

»Es gibt niemanden mehr, der mir welche ausstellen würde. Ich habe kein Heimatland mehr, keine Rechte. Keiner will mich anhören.«

»Mein Gott.«

Der alte Mann nickt, zieht wieder an der Zigarette, und die Spitze zerbröselt zu Asche. Mit dem Rauch stößt er ein genüssliches Schnauben aus.

Der Drang zu helfen ist ein Instinkt … Der Älteste trug am schwersten … aber was kann er tun? Dies hier ist so extrem und so abstrakt, wo soll man da ansetzen? Er späht in die Zigarettenpackung, schüttelt sie, klopft dagegen: noch drei Zigaretten. »Hier.« Er gibt ihm die Packung. Winkt ab, als der andere sich bedankt.

Hastig steckt der alte Mann die Zigaretten ein, nicht dass doch noch ein Rückzieher kommt. »Gott segne Sie, Sir.«

»Gott segne Sie.«

Er wendet sich ab und biegt, an der Innenseite seiner Wange kauend, um die Ecke in die Rue d’Alleray. Das Wetter schlägt um; es wird kalt. Alles kann nur schlimmer werden. Seine Hand findet den runden Kalkkiesel vom Strand in Greystones; kühl und glatt wie ein Pfefferminzbonbon liegt er zwischen seinen Fingern. Er nimmt den Stein, schiebt ihn sich in den Mund. Den Blick auf seine abgeschabten, ausgetretenen Stiefel gerichtet, lutscht er daran, während in seinem Kopf die traurigen, schönen Klänge der Winterreise anschwellen.

Wunderlicher Alter!

Soll ich mit dir geh’n?

Wenigstens hat er jetzt eine Antwort auf die Frage seiner Mutter: keinerlei Nutzen.

3

Paris

Winter 1939-1940

In der Uniform sieht Alfy fremd aus, sie verleiht seinem Körper mehr Festigkeit, verklärt ihn; zwischen den halbleeren Gläsern und dem halbvollen Aschenbecher liegt sein Käppi auf dem Cafétisch. Er spielt mit einem Untersetzer, zwischen den Fingern eingeklemmt, eine langsam vor sich hin rauchende Zigarette. Er spricht mit leiser Stimme und abgewandtem Blick, als schämte er sich ein bisschen für seinen neuen Rang, für den dicken grünen Wintermantel an seinem stämmigen Leib. Er tut, was er tun kann. Er hat sich verpflichtet. Der Professor wird für die Kavallerie die Ställe ausmisten.

Kavallerie. Als er das Wort hört, schließt er die Augen und schüttelt langsam den Kopf über diesen Gedanken, allein schon das Wort, so ein antiquiertes, irrsinniges Wort für einen modernen Krieg. Mein Gott: Kavallerie. Warum nicht Kalvarie wie Kalvarienberg, genauso überschattet von Opfern und Gemetzeln.

»Ich wollte dich fragen«, sagt Alfy, »ob du während meiner Abwesenheit ein Auge auf die Familie haben kannst, auf Mania und die Jungs.«

»Natürlich.«

»Ich weiß«, sagt Alfy, »dass du das ohnehin tun würdest. Aber es war mir ein Bedürfnis, es auszusprechen. Und wenn ich nicht wiederkomme …«

»Herrgott, Alfy, bitte.«

»Es sieht nicht gut aus, wenn wir ehrlich sind, deshalb.«

Alfy senkt den Kopf, schnippt Asche in den Aschenbecher. »Also, wenn ich nicht zurückkomme …«

»Nicht, Alfy …«

»Betrachte sie als deine Familie, ja? Mania und die Jungs. Das wollte ich dir sagen. Würdest du das für mich tun, falls ich nicht zurückkomme?«

»Natürlich. Verlass dich drauf. Aber tu du mir auch einen Gefallen.«

»Alles, was du willst, mein Freund.«

»Komm zurück.«

Alfy lässt sein breites Lächeln aufleuchten; mit einem Händedruck und einem Wangenkuss gehen sie auseinander. An der Straßenecke wirft er einen Blick zurück auf die gedrungene, uniformierte Gestalt, ein schmerzhaftes Ziehen im Hals.

Alfred, sein alter Freund und neuer Bruder, fährt zu seinem Regiment; er hingegen kehrt zu seinen Notizbüchern zurück, seinem Schreibtisch, seiner sinnlosen Arbeit, die sich immer nur im Kreis dreht. Vielleicht sollte er auch versuchen, sich zu verpflichten. Mist schaufeln wie jeder andere. Es wäre lohnenswerter als das hier.

Seine Freunde treiben davon.

Sie, die ohnehin schon entwurzelt sind, werden von Winden verweht und durcheinandergewirbelt. Sie kommen und gehen; nie weiß man, wer wo ist.

Die Joyces sind zurück. In einem lärmenden Durcheinander treffen James und Nora mit Taschen und Koffern beladen am Bahnhof ein. Er und Paul Léon, die gekommen sind, um sie zu begrüßen und ihnen zu helfen, stoßen auf blank liegende Nerven und Unbeherrschtheit, auf Starrsinn und Gebrechlichkeit. Mr Joyce mit seiner glimmenden Cheroot-Zigarre, seinem Stock und seiner Sonnenbrille erkundigt sich bei Léon, was mit Giorgio ist, und fragt nach Büchern: Der Mann hat sich komplett von den Zwängen der Realität gelöst. Noras Gejammer ist so beständig wie das Schnaufen der Dampflokomotive. Sie waren in der Bretagne, um Vorkehrungen für ihre Tochter zu treffen und sie vor weiterem Unheil zu schützen. Fraglich ist nur, ob dies bei Lucia je gelingen kann, die doch selbst so viel Unheil mit sich herumträgt.

Léon macht sich auf die Suche nach einem Träger, und sie gehen Richtung Taxis. Während er dem zankenden Paar folgt, lässt ihn die Erinnerung an die gebrochene, zurückgewiesene Lucia erröten. Die Erinnerung an sein grobes Versagen in der Liebe.

Er und Paul helfen den beiden ins Taxi und gehen durch den Bahnhof zurück Richtung Métro.

»Sie werden die Wohnung auflösen, wusstest du das?«, sagt Paul. »Nora besteht darauf, ins Hotel zu ziehen.«

Paul ist so freundlich, so sanft, doch das hier hat etwas schulbubenhaft Triumphierendes: Ich weiß etwas, das du nicht weißt.

»Und dann wohl in die Schweiz«, fügt er in der Erwartung, den anderen zu ärgern, hinzu.

»Das leuchtet ja auch ein, oder? Da könnten beide, Vater und Tochter, eine anständige medizinische Behandlung bekommen. Insofern hat die Situation für sie vielleicht auch ihr Gutes, sie erzwingt eine Entscheidung.«

Sie erreichen den Métro-Eingang; er wendet sich Pauls milchig glattem Gesicht zu, erkennt die sanfte Intelligenz darin. Dass seine Bewunderung für James Joyce so weit geht … dass ein möglicher Nutzen für die Familie Joyce sogar der Gewitterwolke Krieg etwas Silberglanz verleihen kann. Mit klappernden Stiefeln steigen sie die ausgetretenen Holzstufen hinab. Er sieht, dass Pauls Stiefel vom gleichen Stil sind wie seine, aber noch glänzend und steif; und dass er ein bisschen humpelt, als wollte er nicht zu fest auftreten.

»Neue Schuhe?«, fragt er. »Drücken?«

»Bin noch dabei, sie einzulaufen.«

»Bis ich meine eingelaufen habe, sind sie längst abgelaufen.«

Ihre Stiefel erreichen gleichzeitig die unterste Treppenstufe und dann den Fliesenboden. Allein die Tatsache, dass Joyce darauf schwört, hat diesen Stiefeltyp populär gemacht.

»Oh Gott, meine Füße«, sagt Paul offenherzig.

Nicht jeder ist auf dem Sprung. Mary Reynolds harrt in ihrem Haus in der Rue Hallé aus; sie und Marcel Duchamp halten dort nach wie vor ihre Zusammenkünfte ab. Sie haben ihre Karten und ihre Konversation. Es gibt weiterhin Partys. In einem Zimmer ist eine Wand dunkelblau gestrichen und mit einem Filigranmuster aus Fäden und Reißzwecken bespickt; glatt steht Marys Globus im Halbdunkel. Es gibt Landkarten und Bücher, Gemälde und flackerndes Kaminfeuer, dazu die Gespräche, das Glas fine