Ein irisches Weihnachtsfest - Patrick Taylor - E-Book

Ein irisches Weihnachtsfest E-Book

Patrick Taylor

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Beschreibung

Weihnachten in Ballybucklebo – mit Whiskey, Grog und guten Geschichten Voller Vorfreude sieht der junge Landarzt Barry Laverty seinem ersten Weihnachtsfest im beschaulichen Ballybucklebo entgegen. Schnee und Eis haben die nordirische Landschaft bereits in einen weißen Traum verwandelt. Doch gleichzeitig greift eine Grippewelle um sich. Auch Barrys exzentrischen Chef, Dr. O'Reilly, hat es erwischt. Der Alte kennt für sich und seine Patienten vor allem ein Rezept: Grog mit Whiskey und Zitronensaft. Aber Barry ahnt, dass er zur Weihnachtszeit mehr für die Menschen tun muss, als ihnen nur Hausmittel zu verschreiben ...

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Seitenzahl: 758

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Patrick Taylor

Ein irisches Weihnachtsfest

Aus dem Englischen von Sabine Schulte und Anke Angela Grube

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Weihnachten in Ballybucklebo – mit Whiskey, Grog und guten Geschichten

 

Voller Vorfreude sieht der junge Landarzt Barry Laverty seinem ersten Weihnachtsfest im beschaulichen Ballybucklebo entgegen. Schnee und Eis haben die nordirische Landschaft bereits in einen weißen Traum verwandelt. Doch gleichzeitig greift eine Grippewelle um sich. Auch Barrys exzentrischen Chef, Dr. O’Reilly, hat es erwischt. Der Alte kennt für sich und seine Patienten vor allem ein Rezept: Grog mit Whiskey und Zitronensaft. Aber Barry ahnt, dass er zur Weihnachtszeit mehr für die Menschen tun muss, als ihnen nur Hausmittel zu verschreiben ...

Über Patrick Taylor

Patrick Taylor, 1941 in Nordirland geboren, hat Medizin studiert und lange als Landarzt gearbeitet. Um dem Nordirlandkonflikt zu entfliehen, emigrierte er mit seiner Familie Anfang der 70er Jahre nach Kanada. Dort hat er auch sein Talent zum Schreiben entdeckt. Mittlerweile sind von ihm bereits zahlreiche Romane und Kurzgeschichten erschienen. «Ein irischer Landarzt» war ein internationaler Überraschungserfolg und schaffte es auf die Bestsellerliste der New York Times. Nach «Neues vom irischen Landarzt» legt Patrick Taylor hier seinen dritten Band um Doktor Barry Laverty vor. Patrick Taylor pendelt heute zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat.

Inhaltsübersicht

Widmung1 Hochzeit im «Old Inn»2 Schneeflöckchen, Weißröckchen3 Schusters Kinder tragen die schlechtesten Schuhe4 Darum sorget euch nicht um den morgigen Tag5 Yesterday6 Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler7 Krankenbesuche8 Der Winter ist ein rechter Mann9 Wenn der Topf aber nun ein Loch hat10 Oh, wie so trügerisch …11 Die Sterne auf ihrer Bahn12 Stehn zwei Stern am hohen Himmel …13 Die kleine Kneipe in unserer Straße14 Namen sind Schall und Rauch15 Ein Pfeifchen in Ehren16 Salto Mortale17 Zum Schornstein hinaus18 Fährmann, hol über19 Anpfiff20 Jedem sein Waterloo21 «In Anerkennung Ihrer Verdienste»22 Gut Ding will Weile haben23 Frau am Steuer24 Tanze mit mir in den Morgen25 Abwesende haben immer unrecht26 Weh denen, die sitzen bis in die Nacht27 Mitten im Fluss wechselt man nicht die Pferde28 Verzweigte Unternehmungen29 Bis das Schießpulver aus den Ohren rieselt30 Ein ganz neuer Plan31 Leben im Schatten des Kirchturms32 Ihr Kinderlein, kommet33 Mach dick mein Blut34 Ich bin so gern an der See35 Und geißle mit der Stärke meiner Zunge36 Denn sie sollen getröstet werden37 Ein guter Plan, gute Freunde und beste Aussichten38 Wild wüten die Winde39 Wir hoffen immer …40 Auch ich in Indien!41 Liebe, Leid und Lust42 Ein offenes Herz43 Überraschende Wendung44 Der Aufruhr wächst45 Fröhliche Herren in roten Mänteln46 Freude, schöner Götterfunken47 Stille Nacht, heilige Nacht48 All Morgen ist ganz frisch und neu49 Die Korridore der Macht50 Adel verpflichtet51 «Kleine Geschenke», sage ich oft, «erhalten die …»52 Ein königliches MahlSchlusswort von Mrs KincaidWeihnachtsrezepte aus UlsterSüße Füllung für die Weihnachtspastetchen (Mince Pies)BrandybutterChristmas CakeZuckergussMarzipanGlasur für den Christmas CakeChristmas PuddingBrandysoßeNachbemerkung des AutorsDanksagung[Bildteil]

Für Dorothy

1 Hochzeit im «Old Inn»

Barry Laverty – Doktor Barry Laverty – schlug die Tür seines betagten Käfers Brunhilde zu. Er zog den Kopf ein und lief durch den Schneeregen über den Parkplatz des Old Inn in Crawfordsburn, County Down. Im Dezember wird es in Nordirland früh dunkel, und um halb fünf an diesem Nachmittag waren die kahlen Äste, die im heftigen Wind schwankten, kaum noch zu erkennen. Aber Barry hörte, wie durch das Tal hinter dem alten Gasthof der Sturm tobte.

Er stieß die Doppeltür zum Hotelrestaurant auf und ging die drei Stufen in das hell erleuchtete Foyer hinunter. Im Licht musste er blinzeln, und er zog die Schultern hoch, denn soeben bahnten sich ein paar Wassertropfen einen Weg in seinen Kragen hinein.

«Hallo, John», begrüßte er den Hotelmanager hinter dem Rezeptionstresen.

John, ein Mann mittleren Alters, schaute auf und lächelte. «Guten Tag, Herr Doktor.»

Vor etwas über einem Jahr hätte er noch gesagt: «Na, Barry, wie geht’s?» Das Old Inn befand sich nämlich in Bangor, nur wenige Meilen von Barrys Elternhaus entfernt. Während seiner Zeit als Medizinstudent war er oft auf ein Bier hier eingekehrt, und seit er denken konnte, hatte John an der Rezeption gestanden.

«Was für ein Dreckwetter», bemerkte er jetzt.

«Ich bin halb erfroren.» Barry rieb sich die Hände.

«In der Bar brennt ein Feuer im Kamin, Sir.»

«Ich wollte zu der Hochzeit.»

«Die Feier von Donnelly und MacAteer findet im großen Saal statt, aber Doktor O’Reilly ist gerade in die Bar gegangen. Er hat mich gebeten, Ihnen das auszurichten, wenn Sie kommen.»

Das war mal wieder typisch, dachte Barry, typisch für Fingal Flahertie O’Reilly, seinen älteren Kollegen und Chef der Praxis, in der er arbeitete. O’Reilly entwischte nur allzu gern auf ein schnelles Bier in die Bar. Barry wusste, dass Julie MacAteers Eltern Pioneers waren, Abstinenzler, die keinen Tropfen Alkohol zu sich nahmen. Folglich war die Hochzeit eine Orangensaftparty, wie man hier in Ulster zu sagen pflegte.

«Danke.» Barry schälte sich aus seinem Regenmantel. «Ich hänge eben den hier auf, und dann gehe ich rein und wärme mich am Feuer.»

Er erblickte sich in dem Spiegel, der hinten in der Garderobe hing. Aus einem ovalen Gesicht schauten ihm blaue Augen mit dunklen Schatten darunter entgegen. Mit vierundzwanzig war er für dauerhafte schwarze Ringe unter den Augen noch zu jung, aber er hatte den größten Teil der Nacht eine Geburt begleitet. Und mochte er selbst jetzt auch müde sein, die Wöchnerin, die er von einem gesunden, siebeneinhalb Pfund schweren Jungen entbunden hatte, war bestimmt völlig erschöpft. Barry gähnte. Sein blondes Haar war dunkel vor Nässe und klebte ihm am Kopf. Sogar seine ungebärdige Locke, die sonst hochstand wie der Schopf einer Reiherente, lag platt auf seinem Scheitel.

Barry hängte seinen Mantel auf, strich sich mit den Händen übers Haar und ging durch den kurzen, mit Teppichboden ausgelegten Flur in die Bar. Er überlegte, ob heute Abend wohl Colette, eine rundliche, mütterliche Frau, hinter der Theke stehen würde.

Dieser Teil des Gebäudes war 1614 erbaut worden und hatte ursprünglich als Herberge zu einer Poststation gehört. Über Generationen hinweg hatten die Besitzer sorgsam die weißgetünchten Lehmflechtwerkwände und die schweren, grob behauenen schwarzen Deckenbalken erhalten. 1958 schrieb der Schriftsteller C.S. Lewis, nachdem er mit seiner Frau Joy hier im Old Inn Urlaub gemacht hatte, die vierzehn Tage seien einfach «perfekt» gewesen.

Durch eine Tür zur Linken begab sich Barry in einen niedrigen Raum. In einem breiten Kamin flackerte ein Torffeuer. Nach der bitteren Kälte draußen empfand er die Hitze als drückend, aber der Duft des brennenden Torfs war vertraut und behaglich. Mehrere Männer befanden sich im Raum, die meisten standen an der Theke, nur wenige saßen an den Tischen entlang der Wand. Der Geruch nach feuchtem Tweed und Zigarettenrauch vermischte sich mit dem Duft des Torffeuers. Das Gemurmel der Männerstimmen wurde von einem Graupelschauer übertönt, der hinter den Vorhängen gegen die Fensterscheiben prasselte.

«Du», brüllte Doktor Fingal Flahertie O’Reilly, der an der Theke lehnte, «du siehst ja wie eine ersoffene Ratte aus. Komm her und trink erst mal was.»

«Danke, Fingal.»

«Was nimmst du?»

Barry rieb sich die Hände. Sie kribbelten, denn endlich setzte die Durchblutung wieder ein. «Einen irischen Grog, bitte.»

O’Reilly wandte sich an die Barfrau, die hinter der Marmortheke mit einem Geschirrtuch ein Bierglas trocknete. «Hast du gehört, Colette?»

«Einen Grog mit ’nem Halben, Doktor.»

«Mit ’nem Halben? Blödsinn, gib ihm einen Doppelten.»

«Wie geht’s, Colette?», fragte Barry. Er kehrte O’Reilly den Rücken zu, schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen lautlos «Nur einen Halben». So müde, wie er war, würde ein doppelter Whiskey ihn höchstwahrscheinlich umhauen.

Colette schenkte ihm zur Begrüßung ein breites Lächeln und nickte, als sie seine Bestellung verstand. «Gut, danke. Hab Sie eine ganze Weile nicht gesehen.»

«Ich hatte viel zu tun –»

«Mein Gott, Mädel, würdest du dem jungen Kerl hier jetzt mal bald seinen Grog machen?», unterbrach O’Reilly.

«Kommt sofort.» Colette schaltete den Wasserkocher ein.

«Und jetzt raus mit der Sprache, Laverty», knurrte O’Reilly, «wo hast du dich denn bloß so lange rumgetrieben?»

Barry betrachtete das rötliche, zerfurchte Gesicht des stattlichen Mannes, die buschigen Augenbrauen und die krumme Nase mit der unübersehbaren Schlagseite nach Backbord. O’Reilly war in Hemdsärmeln, und seine Tweedhosen wurden von roten Hosenträgern gehalten. In einer Hand hielt er ein Glas – ein großes Glas – mit irischem Whiskey.

«Hab gearbeitet.»

«Gearbeitet? Als ich vorhin aufgebrochen bin, war die Tür zum Behandlungsraum zwar geschlossen, aber im Wartezimmer saßen doch nur noch ein paar Patienten. Und für Nuala Harkness braucht man nicht viel Zeit.»

«Du vielleicht nicht, Fingal. Du kennst die Frau ja schon fast zwanzig Jahre.»

O’Reilly gab ein Brummen von sich. «Und dann war da noch Harry Hawthorne, der Gestiefelte.»

«Wer?»

«Harry Hawthorne. Er heißt der Gestiefelte, weil seine Frau nach der Hochzeit ihrer besten Freundin erzählt hat, wenn er vom Feld nach Hause kam und ihn der Hafer stach, hat er sich nicht mal die Zeit genommen, seine Stiefel auszuziehen, so scharf wäre er gewesen.»

Barry lachte. «So wie Napoleon mit seiner Josephine, hab ich gelesen.»

«Vielleicht hatte Harry das ja auch gelesen. Jedenfalls hat die beste Freundin es ihrem Mann erzählt, und der hat es …»

Barry nickte. Er hatte schon mitbekommen dürfen, dass sich Neuigkeiten in Ballybucklebo in Windeseile ausbreiteten.

«Und damit das nicht in Vergessenheit gerät, heißt er bis heute der Gestiefelte. Normalerweise kommt er bloß zu einer Stärkungsspritze, und das hat man doch in fünf Minuten erledigt.»

Barry schüttelte den Kopf. «Du vielleicht, Fingal, aber ich bin erst ein paar Monate hier, und wenn ich die Patienten so gut kennenlernen will, wie du sie kennst, dann brauche ich ein bisschen Zeit dazu.»

«Das stimmt wohl.» O’Reilly runzelte die Stirn. «Aber die beiden können dich doch nicht bis jetzt aufgehalten haben. Wir hatten schon zur Trauung mit dir gerechnet.»

«Bei Harry hat es länger gedauert, als ich gedacht hatte. Dann hat Jeannie Jingles angerufen. Sie meinte, ihr kleiner Eddie hätte Krupp, und –»

«Du hast noch einen Hausbesuch gemacht?» O’Reillys Nasenspitze wurde eine Spur blasser, ein sicheres Zeichen dafür, dass er seinen Ärger nicht ganz unter Kontrolle hatte.

«Ich weiß, dass du heute eigentlich für die Notfälle zuständig bist, Fingal, aber –»

«Aber du hast gedacht, du würdest mir einen Gefallen tun?» Die Blässe kroch O’Reillys Nasenrücken hinauf.

«Nein, keinen Gefallen. Aber du warst schon in der Kirche, und da hielt ich es für sinnvoll, lieber selbst vorbeizufahren und mir den Kleinen anzusehen. Ich dachte, es würde bloß zwei Minuten dauern.»

«Hm. Schöne zwei Minuten. Um halb drei war die Trauung vorbei. Du hättest dabei sein sollen.»

«Tut mir leid. Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich eines Vergnügens beraube, dieses ungeheuer befriedigenden Momentes, einen weiteren Fall von Krupp zu sehen, dann hätte ich eine Polizeieskorte geschickt, um dich aus deiner Kirchenbank zu zerren.»

O’Reilly brachte ein leises Lachen hervor. «Na gut. Wie du willst. Meinetwegen kannst du dir gern ein frühes Grab schaufeln. Ist mir piepschnurzegal.» Die Krähenfüßchen in seinen Augenwinkeln wurden tiefer.

«Mensch, Fingal, ich fand es einfach sinnvoll.»

O’Reilly schlug Barry auf die Schulter. «Diesmal hast du ja recht, Barry, aber … aber … Beschluss ist Beschluss.» O’Reilly trank einen Schluck Whiskey. «Im August haben wir abgemacht, dass wir uns die Arbeit teilen, sobald du selbständig genug bist.»

«Und das machen wir doch auch, oder? Einer von uns hält die Sprechstunde ab, für die leichteren Fälle, und der andere macht Hausbesuche und springt nachts aus dem Bett. Ich finde, das hat bisher ganz gut funktioniert.»

«Aber du warst ohnehin die halbe Nacht auf», brummte O’Reilly. «Und heute habe ich Bereitschaftsdienst, Barry. Den Hausbesuch hätte ich machen müssen.»

Eins hatte Barry gelernt. Er durfte O’Reilly niemals nachgeben. Jetzt schaute er seinem Chef in die Augen. «Es war goldrichtig, dass ich gleich hingefahren bin. Der kleine Kerl hatte nämlich eine handfeste Lungenentzündung. Ich musste ihn sofort ins Royal Victoria Hospital bringen.»

«Tatsächlich?» O’Reillys Augenbrauen stießen über seiner Nase zusammen, als er die Stirn runzelte. «Eine ausgewachsene Lobärpneumonie, ja?»

«Soweit ich das ohne Röntgenbild beurteilen konnte …»

O’Reilly trank einen großen Schluck Whiskey und klopfte Barry auf die Schulter. «Vielleicht hast du doch das Richtige getan.»

«Ich denke schon.»

«Ich auch.» O’Reilly nickte. «Aber von dieser Sekunde an bin ich dran, Doktor Barry Laverty.» Wenigstens hatte seine Nasenspitze wieder ihre ursprüngliche pflaumenblaue Färbung angenommen.

«Schön, Fingal.»

«Und Kinky weiß ja, wo ich zu finden bin, wenn irgendwas ist.»

«Ist sie denn nicht auf dem Fest?» Barry war überrascht. Mrs Kinky Kincaid, O’Reillys Haushälterin, nahm normalerweise an allen gesellschaftlichen Ereignissen in Ballybucklebo teil.

«Sie war eingeladen und ist mit mir zur Trauung gegangen, aber dann meinte sie, sie wäre ein bisschen verschnupft und wollte bei diesem schrecklichen Sturm nicht nach draußen. Daher ist sie gleich wieder nach Hause gegangen und hat mich gebeten, sie bei Julie zu entschuldigen.»

«Aber ihr fehlt doch nicht ernstlich was?»

«Kinky? Nein, nein. Die Frau hat eine Konstitution wie ein Pferd.» O’Reilly senkte die Stimme. «Aber ich glaube, heute läuft was im Fernsehen, was sie nicht verpassen will.»

Barry lächelte, als er sich vorstellte, wie Kinky, die sich selbst einmal als «ein bisschen breiter um die Taille herum» beschrieben hatte, es sich mit einer Tasse Tee vor dem Fernseher gemütlich machte. Bestimmt würde Lady Macbeth, O’Reillys weiße Katze, ihr dabei Gesellschaft leisten. Ein «Bitte schön, Doktor», unterbrach ihn in seinen Gedanken. Colette reichte ihm einen dampfenden Becher. «Das macht zwei Shilling und Sixpence.»

«Hier.» O’Reilly warf ein paar Münzen auf die Theke. «Aber soweit ich weiß, hatte ich dir einen Doppelten bestellt.»

«Ein Halber ist genau richtig, Fingal.» Barry kostete den Geschmack von irischem Whiskey, Zucker und Zitronensaft, aufgefüllt mit kochend heißem Wasser. Obendrauf schwammen ein paar Gewürznelken. «Sláinte.»

«Sláinte Mhaith.» O’Reilly trank seinen Whiskey aus und stellte das Glas auf die Theke. «Da ich ja Bereitschaftsdienst habe, sollte ich mich wohl lieber ein bisschen zurückhalten.» Er schlug Barry auf die Schulter. «Aber du bist frei, du kannst das Fest nach Herzenslust genießen.» O’Reilly wandte sich von der Theke ab. «Also, nichts wie hin mit uns beiden. Komm.»

«Geh du schon los, Fingal. Ich komme gleich nach.»

O’Reilly zog die Brauen hoch. «Was hast du denn noch vor?»

«Mein Gott, Fingal. Nicht mal die Polizei würde das fragen.»

O’Reilly lachte. «Du willst ein bisschen die Blümchen begießen?»

«So ungefähr.» Es wäre unhöflich gewesen, einen Whiskeygrog auf ein alkoholfreies Fest mitzubringen, also trank Barry aus. Dann verließ er die Bar, ging über den Flur und betrat eine kleine Toilette.

Das war, sann er vor sich hin, die zweite Hochzeit, die er besuchte, seit er in Ballybucklebo arbeitete. Das Dörfchen lag sieben Meilen westlich von Crawfordsburn. Er erinnerte sich an seine erste Fahrt dorthin und an seine erste Begegnung mit O’Reilly. Beides würde er niemals vergessen. Es war der 1. Juli 1964 gewesen, und dieses Datum war, wie sein Chef einmal bei einem Bericht über ein anderes unvergessliches Ereignis gesagt hatte, «innen in seine Stirn hineintätowiert».

Barry hatte vor O’Reillys Haustür gestanden, als der Arzt plötzlich die Tür aufgerissen und eigenhändig einen Patienten in einen Rosenbusch befördert hatte. Dazu hatte er die Ermahnung gebrüllt: «Wenn du das nächste Mal außerhalb der Sprechzeit hier erscheinst, an meinem freien Nachmittag, weil ich mir deinen Knöchel angucken soll, dann wasch dir gefälligst vorher deine Käsemauken!» Um ein Haar hätte Barry auf der Stelle kehrtgemacht.

Inzwischen war er froh, dass er geblieben war. In den fünf Monaten, in denen er vom Assistenten auf Probe zum Assistenten avanciert war, mit der Aussicht, nach einem Jahr als gleichberechtigter Teilhaber weiterzuarbeiten, hatte er viel über die ärztliche Tätigkeit auf dem Land gelernt. Außerdem hatte er einige von O’Reillys Patienten kennengelernt und liebgewonnen.

Er zog seine Hose wieder hoch. Die vorige Hochzeit hatte im August stattgefunden. Sonny Houston und Maggie MacCorkle, beide über sechzig, beide schräge Vögel, hatten sich das Jawort gegeben. Sonny besaß einen Doktortitel, hatte jedoch bis dahin in einem Autowrack gewohnt. Maggie hatte einmal über Kopfschmerzen geklagt, die eine Handbreit über ihrem Scheitel lokalisiert waren. Anfangs hatte Barry die Patientin für total verrückt gehalten, aber O’Reilly hatte es besser gewusst. Er wusste fast alles besser.

Barry lachte in sich hinein und machte sich auf den Weg zum großen Saal. Das glückliche Paar des heutigen Tages hatte ursprünglich eine Doppelhochzeit mit Sonny und Maggie geplant, aber Julie war im Sommer schon schwanger gewesen und hatte kurz vor dem großen Tag eine Fehlgeburt erlitten, sodass sie ihre Hochzeit hatten aufschieben müssen.

Heute, dachte Barry, als er die Tür zum Saal öffnete, hat Donal in den Augen der Dorfbewohner seine Julie endlich zu einer ehrbaren Frau gemacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Julie jemals einen ehrbaren Mann aus Donal machen würde, war allerdings eher gering.

Soweit Barry wusste, bezahlte Donal das Hochzeitsfest zum Teil mit Geld, das er im Juli durch Wetten auf seinen Windhund Bluebird gewonnen hatte, und zum anderen Teil mit dem Gewinn aus dem Verkauf von Geldmünzen aus der Republik Irland, in die ein Rennpferd eingeprägt war. Donal hatte es fertiggebracht, einem ahnungslosen Engländer weiszumachen, dass diese Geldstücke wertvolle Gedenkmünzen seien, die zu Ehren des großen irischen Steeplers Arkle geprägt worden waren, und er hatte sie für das Achtfache ihres Geldwertes an den Mann gebracht. Barry wäre nicht sonderlich überrascht gewesen, wenn Donal Donnelly versucht hätte, den Maibaum in Ballybucklebo an einen amerikanischen Touristen zu verscheuern. Gewundert hätte er sich nur, wenn dieser Versuch gescheitert wäre.

Leise schloss sich die Tür hinter ihm, und er trat zu O’Reilly, der hinter einer kleinen Gruppe festlich gekleideter Gäste stand. Am anderen Ende des Saals entdeckte er Donal Donnelly. Er hatte seinen Cutaway gegen einen dunkelblauen Kammgarnanzug eingetauscht. Das karottenrote Haar hatte er mit Brillantine gebändigt. Donal grinste breit, sodass seine vorstehenden Zähne im Licht des Kristallkronleuchters schimmerten. In der einen Hand hielt er ein großes Glas Orangensaft, mit der anderen vollführte er ausladende Gesten. Dabei schwankte er deutlich, so als sei er hier in dem warmen Raum, in dem sich kein Lüftchen regte, ganz allein von dem Sturm draußen betroffen.

Barry lachte und flüsterte O’Reilly zu: «Dem Bräutigam scheint es richtig gutzugehen.»

«Kein Wunder, er war vor dem Altar schon angesäuselt, und hier hat er seinen Orangensaft mit Gin aufgefüllt.»

«Ja? Ich weiß, dass Donal gern mal tief ins Glas schaut, aber –»

«Heute können wir ihm doch Narrenfreiheit zugestehen, oder? Schließlich heiratet er nicht jeden Tag.»

«Ach, darüber lasse ich mir keine grauen Haare wachsen.» Barry betrachtete die Hochzeitsgäste im Saal. Alle hatten Gläser mit alkoholfreien Getränken in der Hand und kehrten ihm den Rücken zu. Es duftete nach Pfeifenrauch. Die Trauung hatte im kleinen Kreis stattgefunden, und auch hier auf dem Fest waren nur das glückliche Paar und die geladenen Gäste zugegen.

Julie, die Braut, trug ein gut sitzendes cremefarbenes Kostüm mit einer weinroten Seidenbluse. Von ihrer Fehlgeburt vor drei Monaten hatte sie sich dem Anschein nach gut erholt. Ihr seidiges blondes Haar schimmerte und glänzte wie ihre grünen Augen. Sie sah wunderschön aus, genau so, wie man es von einer Braut erwartete. Sie beachtete Donal nicht, sondern unterhielt sich angeregt mit ihrer Brautjungfer Helen Hewitt. Helen hatte ihr rotes Haar mit einer grünen Schleife zurückgebunden. Sie trug eine Jacke im gleichen Grünton und einen kurzen Rock über verführerisch hohen Stöckelschuhen, die ihre wohlgeformten Beine gut zur Geltung brachten. Barry freute sich, dass von dem Ekzem in ihren Kniekehlen nichts mehr zu sehen war, und er fragte sich kurz, ob sie sich wohl noch mit Jack Mills traf, seinem besten Freund.

O’Reilly beugte sich zu ihm und flüsterte: «‹Im Seidenkimono zwei Mädchenblüten …›»

«‹Beide schön, die eine ganz Gazelle.› William Butler Yeats, aus ‹Zur Erinnerung an Eva Gore-Booth und Con Markiewicz›.» Dieses Zitatenduell lieferte er sich mit O’Reilly schon seit seiner Ankunft im Juli. «Ganz Gazelle», wiederholte er, und einen Augenblick schweiften seine Gedanken zu einer anderen schönen jungen Frau ab. Aber seine Patricia war in Cambridge, wo sie seit September Hoch- und Tiefbau studierte. Barry wünschte, sie wäre nicht weggezogen, aber bald, zu Weihnachten, wollte sie nach Hause kommen. Er zählte schon die Tage.

Seine Träumerei wurde jäh unterbrochen, weil Donals Stimme die anderen, gedämpften Gespräche übertönte. «Jedenfalls, Willy, dieser Mann erklärt also Mrs Murphy, ihr Ehegatte wär’ in einem Fass Guinness ertrunken …»

Donal hatte einen Arm um die Schultern seines Trauzeugen gelegt. Es war Willy Dunleavy, der Wirt des Schwarzen Schwans in Ballybucklebo. Schwer zu sagen, ob Willy von einem Fuß auf den anderen trat, weil er sich in seinem Cut nicht wohlfühlte oder weil Donals feuchtfröhlicher Zustand ihm Unbehagen bereitete. Donal hatte sich ursprünglich Seamus Galvin als Trauzeugen gewünscht, ebenjenen Mann, den O’Reilly in den Rosenbusch geschmissen hatte, aber Seamus war mit seiner Frau Maureen und dem kleinen Söhnchen Barry Fingal, dem ersten Baby, das Barry in Ballybucklebo entbunden hatte, nach Kalifornien ausgewandert.

Barry bemerkte, wie Willy zu einem älteren Paar hinsah, das vorn im Raum saß. Das mussten Julies Eltern aus Rasharkin im County Antrim sein. Als er die Mutter anschaute, war ihm klar, von wem Julie ihr prachtvolles Haar hatte, auch wenn sich bei der älteren Dame schon Grau in das Gold mischte. Julies Vater hatte sich vorgebeugt, er atmete heftig und warf seinem frischgebackenen Schwiegersohn böse Blicke zu. Ja, die Pioneers nahmen es sehr ernst mit ihrer Abstinenz. Willy hatte das offenbar bemerkt. «Pssst, Donal», zischte er und lächelte den MacAteers nervös zu.

Ohne die taktvollen Bemühungen seines Freundes wahrzunehmen, fuhr Donal in einem Dubliner Bühnenakzent fort: «‹Himmeldonnerwetter›, sagt Mrs Murphy, ‹ertrunken, tatsächlich? In Guinness? Hat er sehr gelitten?›»

«Sei still, Donal.»

Doch Donal ließ sich nicht einschüchtern und kam zur Pointe. «‹Ach wo, meine Liebe, gar nicht›, sagt der Mann.» Donal machte eine Kunstpause, bevor er verkündete: «‹Er ist dreimal rausgekrabbelt, um zu pinkeln.›» Der Bräutigam brach in grölendes Gelächter aus.

Barry hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Er sah sich um und bemerkte, dass neben Julies Eltern noch ein weiteres älteres Paar saß. Der Mann hatte die gleichen Hasenzähne wie Donal. Das musste Donals Vater sein, und seinem wiehernden Lachen nach zu urteilen, hatte auch er seinen Orangensaft mit etwas Hochprozentigem verstärkt. Mr MacAteer saß steif neben ihm.

Ohne seinem Schwiegervater Beachtung zu schenken, verbeugte Donal sich vor seinem Publikum. Er genoss es sichtlich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Als er sich wieder aufrichtete, entdeckte er Barry. Er kam zu ihm, unterdrückte einen Schluckauf und sagte: «Wie geht’s, wie steht’s, Doc?»

«Tut mir leid, dass ich die Trauung verpasst habe, Donal.» Barry schüttelte die ausgestreckte Hand.

«Kein Problem. Besser spät als nie. Bestimmt mussten Sie sich um einen Patienten kümmern.» Donal trat zurück. «Aber jetzt kommen Sie mal mit», wieder ein Schluckauf, «und sagen Sie Julie guten Tag.»

«Gerne, Donal.»

Donal lachte leise. «Sie heißt jetzt nämlich Mrs Donnelly, Doc, ja doch.»

Barry schlängelte sich hinter Donal durch die Gäste und erwiderte die Grüße. Schließlich kamen sie zu Julie. «Sie sehen wunderschön aus, Julie», sagte Barry, «es tut mir leid, dass ich die Trauung –»

«Danke, Doktor Laverty. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.» Julie lächelte ihn an.

«Wollen Sie … hicks … wollen Sie denn … hicks … die Braut nicht küssen?» Donal gab Barry einen Schubs, und dieser stellte fest, dass er Julie ein wenig zu nah gekommen war. Lachend trat er einen Schritt zurück. «Immer mit der Ruhe, Donal.»

«Also, wenn du nicht willst, mir ist es ein Vergnügen.» Jetzt stand O’Reilly neben Barry. «Kommen Sie her, mein liebes Kind.» O’Reilly streckte seine große Pranke nach Julies Hand aus und zog sie zu sich heran. Obwohl sie Stöckelschuhe trug, reichte sie dem Hünen kaum bis an die Schulter. Wie ein großer Bär schloss er sie in die Arme und küsste sie ganz zart auf den Scheitel. «Ich wünsche euch beiden», verkündete er feierlich, «ein langes Leben, Gesundheit, Wohlstand, immer eine gefüllte Speisekammer, stets ein Kind in der Wiege, und dass eure Kartoffeln von der Fäule verschont bleiben.»

«Danke, Doktor O’Reilly», sagte Julie und errötete. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

«Donnerwetter», sagte er und warf Donal einen Seitenblick zu. «Dann schauen Sie doch bei mir oder bei Doktor Laverty herein, Mrs Donnelly, sobald Sie aus den Flitterwochen zurück sind.»

«Das werde ich tun.»

«Und jetzt», sagte O’Reilly mit einem Kopfnicken zur Tür, «müssen Doktor Laverty und ich uns verabschieden. Die Arbeit ruft.» Er spazierte aus dem Raum, und Barry folgte ihm. Als sie draußen im Flur waren, sagte O’Reilly: «Julie isst schon wieder für zwei. Das muss man Donal ja lassen. Der fackelt nicht lange.»

Barry runzelte die Stirn. «Fingal, ist das nicht ein bisschen schnell nach ihrer Fehlgeburt?»

«Schwer zu sagen.» O’Reilly zuckte die Achseln. «Aber ich finde, das sind tolle Neuigkeiten, so großartig, dass wir einen darauf trinken können – falls du Lust hast, nochmal mit mir in die Bar zu kommen.»

«Hast du nicht gesagt, weil du Bereitschaftsdienst hast, … würdest du nichts mehr trinken?» Barry konnte es nicht lassen, dem älteren Kollegen seine guten Vorsätze unter die Nase zu reiben.

«Hab ich das tatsächlich gesagt?», fragte O’Reilly. «Junge, Junge, was habe ich mir denn dabei bloß gedacht?» Er hatte gerade die Hand an der Tür zur Bar, da kam John, der Manager, im Laufschritt den Flur entlang.

«Doktor O’Reilly, da ist eine Mrs Kincaid am Telefon. Sie möchte mit Ihnen sprechen.»

«Mist», knurrte O’Reilly.

«Hier entlang, bitte, Sir.»

O’Reilly folgte dem Mann an die Rezeption. Das Gespräch war kurz, und er kehrte eilig zu Barry zurück.

«Ich hole nur schnell drinnen meinen Mantel und fahre dann los.»

«Was ist denn?»

«Das erzähle ich dir, wenn ich wiederkomme.» O’Reilly verschwand und ließ Barry allein. Also, dachte Barry, in einer Hinsicht hatte Fingal ja recht. Julies Schwangerschaft rief wirklich nach einem weiteren Drink. Er würde sich in der Bar noch einen kleinen Whiskey genehmigen und dann noch eine halbe Stunde oder so auf das Fest gehen, der Höflichkeit halber. Und anschließend wollte er zurück nach Ballybucklebo fahren.

Barry öffnete die Tür zur Bar. Noch ein halbes Stündchen hier im Old Inn, dann nach Hause in die Main Street Nummer 1, in das Haus mit den großen Bogenfenstern und dem grauen Kieselrauputz. Nach Hause zu Kinky und ihrer exquisiten Küche. Nach Hause zu Lady Macbeth und sogar zu Arthur Guinness, O’Reillys dämlichem Hund.

Barry ließ die Tür hinter sich zufallen und gähnte. Die letzte Nacht war lang gewesen. Ja, er freute sich noch auf etwas Weiteres, das er zu Hause vorfinden würde: auf sein Bett in der Dachkammer, kuschelig unter der Schräge, warm und geschützt vor dem Sturm, der draußen toste.

«Noch einen, Barry?», fragte Colette.

«Bloß noch einen kleinen Jameson, bitte.»

«Gut.»

Während er auf seinen Whiskey wartete, fragte Barry sich, was für ein Fall seinen Chef wohl in die Nacht hinausgerufen hatte. Doch das war nicht sein Problem. Er hatte keinen Dienst, und, wie O’Reilly selbst gern über andere sagte, Doktor Fingal Flahertie O’Reilly, Praktischer Arzt, Chirurg und Arzt für Geburtshilfe, war groß und hässlich genug, um selbst auf sich aufzupassen.

2 Schneeflöckchen, Weißröckchen

Der Rover wurde durchgeschüttelt, denn eine Windbö brauste durch eine Häuserlücke und verpasste ihm volle Breitseite. O’Reilly packte das Lenkrad fester und schimpfte auf den Sturm. «Dieses Sauwetter!» Mit Anbruch der Nacht waren Schneeregen und Graupel zu Schnee geworden.

O’Reilly überlegte, was auf der Farm der Gillespies wohl passiert sein mochte. Kinky hatte ihm nur sagen können, dass Mrs Gillespie angerufen hatte, dass sie außer sich gewesen war und verlangt hatte, der Doktor solle sofort kommen. Es gehe um ihren Mann.

Er musste langsamer fahren. Die Scheibenwischer seines alten Wagens wurden mit den Schneemassen auf der Windschutzscheibe kaum noch fertig, und er konnte nur wenig sehen. O’Reilly spürte, wie der Rover hinten zur Seite wegrutschte, als er aus einer Kurve kam. Er musste gegenlenken und landete um ein Haar im Graben. «Mistwetter», knurrte er, als er den Wagen wieder unter Kontrolle hatte. Doch um ihn von der Fahrt zu den Gillespies abzuhalten, wäre schon mehr nötig gewesen als ein bisschen Schnee. Molly Gillespie war normalerweise durch nichts aus der Fassung zu bringen, daher war es unwahrscheinlich, dass sie ihn an einem so ungemütlichen Abend wegen nichts und wieder nichts gerufen hatte. Er würde es herausfinden, sobald er da war, aber verdammt nochmal, das dauerte länger, als er vorausgesehen hatte.

Wenigstens waren an einem so scheußlichen Abend wie heute keine Radfahrer unterwegs. Und im Krieg, auf der guten alten Warspite, vor zwanzig Jahren, hatte er natürlich noch schlechteres Wetter erlebt. O’Reilly vermisste die Kameradschaftlichkeit in der Offiziersmesse des Kriegsschiffes und seinen Freund Tom Laverty, den Navigationsoffizier.

Was für ein witziger Zufall, dass der junge Barry Toms Sohn war. Damals, während des Krieges, hatte Barry natürlich noch in den Windeln gelegen, und Tom war zwar ein geselliger Kamerad und ein verdammt guter Navigator gewesen, hatte aber, wie viele Männer seiner Generation, über sein Familienleben nicht gesprochen. Er hatte nie erwähnt, dass er einen Sohn hatte, und nach dem Krieg waren sie beide getrennte Wege gegangen. Der verdammte Rover rutschte wieder auf den Straßengraben zu, und O’Reilly schaffte es nur unter Aufbietung seiner ganzen Kraft, ihn auf den richtigen Kurs zurückzubringen. Tom Laverty war zur Zeit für zwei Jahre in Australien. Barry und sein Vater schrieben sich unregelmäßig. Vielleicht, dachte O’Reilly, sollte er Barry einmal nach Toms Adresse fragen und dem Mann selbst ein paar Zeilen schreiben und ihm erzählen, wie gut der junge Barry sich als Landarzt machte.

Er hoffte, dass Barry heute Abend gut nach Ballybucklebo zurückkommen würde, in seinem komischen kleinen deutschen Auto. Eigentlich musste man sich da wirklich wundern, dachte O’Reilly. Noch vor zwanzig Jahren hatten die Deutschen und die Briten einander bis aufs Messer bekämpft. Und heute, wie auch schon vor einem Jahr, 1963, erzählten ebendiese Deutschen den Briten vergnügt, die Hoffnung, in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen zu werden, könnten sie sich abschminken. Doch ihre Abneigung gegen gemeinsame Handelsunternehmungen hielt sie nicht davon ab, ein Automodell nach Großbritannien zu verkaufen, das Adolf Hitler persönlich als «Wagen für das Volk» vorgesehen hatte.

Das kleine deutsche Auto mochte zwar für das Volk gebaut worden sein, aber es war nicht dafür gedacht, mitten im Winter die schmalen, kurvenreichen Straßen von Ulster zu bewältigen. Dafür brauchte man einen Wagen wie den alten Rover.

O’Reilly bog von der Landstraße zwischen Bangor und Belfast ab, schaltete in den dritten Gang hinunter und begann, sich die Ballybucklebo Hills hinaufzuquälen. Es schneite zwar nicht mehr, aber vor sich sah er nichts als eine weite Schneedecke, unter der auch die Straße begraben lag. Hier war noch niemand gefahren und hatte Spuren hinterlassen. Zu beiden Seiten der Straße standen kahl und kalt, mit schwarzen Zweigen und weißen Hauben, die Hecken. Nur gut, dass es nur etwa eine halbe Stunde geschneit hatte. So konnte der Schnee nicht mehr als zwei Fingerbreit hoch liegen.

Er fuhr über eine Kreuzung. Von dort bis zu dem Fahrweg, der zur Farm der Gillespies führte, war es noch eine Meile. Die Straße führte durch eine Senke und dann auf einen Hügelkamm hinauf, auf dem einige große Bäume standen. Das Tor zu dem Fahrweg war gleich hinter diesen Bäumen auf der linken Seite. Zum letzten Mal war O’Reilly – er versuchte, sich zu erinnern – vor drei, nein, vor vier Jahren dort gewesen.

Die Bäume, die jetzt links von ihm auftauchten, hatten damals, als Molly die Zwillinge zur Welt gebracht hatte, in vollem Laub gestanden. Heute Abend reckten sie sich unheimlich vor den vom Mond beschienenen silbrigen Wolken.

O’Reilly hielt vor dem Tor an und stieg aus, um es zu öffnen. Der frisch gefallene Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, und der Wind seufzte in den Bäumen. Er spürte seine Kälte auf den Wangen. Als er zum Himmel aufsah, erblickte er durch eine Lücke in den Wolken drei helle Sterne. Er war dankbar dafür, dass es nicht mehr schneite, denn er hätte nicht gern über Nacht bei den Gillespies festgesessen. Starke Schneeverwehungen waren in Ulster zwar selten, kamen aber doch gelegentlich vor.

Es war schwer, das Tor gegen den Schnee zu schieben, aber er konnte es doch weit genug aufdrücken. Als er den Rover in den Fahrweg lenkte, war er versucht, das Tor offen zu lassen und sich so die Mühe zu ersparen, es auf dem Heimweg noch einmal zu öffnen. Doch er hielt noch einmal an und ging zurück. Weder Molly Gillespie noch ihr Mann Liam wären erfreut, wenn ihr Vieh in die Landschaft hinauswandern würde. Und er selbst auch nicht, wenn er es richtig bedachte.

Der Rover rumpelte über den zerfurchten Feldweg. Durch das Geruckel löste sich Schnee von der Windschutzscheibe, von dort, wo die Scheibenwischer nicht hingekommen waren. O’Reilly nahm ein Fensterleder und wischte die von innen beschlagene Scheibe ab.

Vor sich konnte er die Lichter des Farmhauses erkennen. Eines schien durch ein Fenster im oberen Stockwerk, dessen Läden offen waren. Über der Haustür brannte eine einzelne Glühbirne in einer Glaslampe. Unten waren alle Fensterläden geschlossen, und nur vereinzelt fanden Lichtstrahlen den Weg durch Ritzen zwischen den Brettern.

O’Reilly parkte vor der Haustür. Er hatte gar nichts dagegen, ins Warme zu gelangen, und je schneller er aus dem Wagen kam, desto eher würde das der Fall sein. Er griff nach seiner schwarzen Tasche und stieg aus.

«Mach, dass du wegkommst», sagte er scharf zu dem Border Collie, der aus der Dunkelheit aufgetaucht war und, den Bauch dicht am Boden, auf ihn zuschlich. Der Hund bleckte die Zähne und knurrte.

«Na los, verschwinde.» O’Reilly ging an dem Tier vorbei und wollte gerade an die Tür klopfen, als sie von einer großen Frau um die dreißig aufgerissen wurde. Mrs Gillespie trug einen Baumwollkittel und flauschige Pantoffeln. Hinter ihr erschien ein kleines Mädchen. Mit dem Daumen im Mund lugte es hinter ihrem Kittel hervor.

«Kommen Sie rein, Doktor O’Reilly.» Sie trat zurück und schob das kleine Mädchen fort. «Und du lauf und spiel mit deinem Bruder.»

Die Kleine, immer noch mit dem Daumen im Mund, zog ab. O’Reilly fiel auf, dass sie beim Gehen den linken Fuß einwärts stellte. Sie blieb stehen und starrte ihn an, mit den größten blauen Augen, die er je gesehen hatte. Er zwinkerte ihr zu und trat über die Schwelle in eine große Küche mit Fliesenboden. «Und was ist nun mit Liam?», fragte er und zog den Mantel aus. Der gusseiserne Herd in der Ecke verbreitete eine drückende Hitze. «Kinky sagte, du hättest ganz fassungslos geklungen.»

«Ich hab mich wieder beruhigt», erklärte Molly. «Aber als ich Liam da draußen in der Scheune liegen sah, bin ich durchgedreht. Ich hab versucht, ihn hochzuheben, aber er ist ja ein großer Kerl, und ich konnte ihn nicht bewegen, also bin ich reingerannt und hab angerufen.» Sie umfasste die rechte Faust mit der linken Hand und stützte das Kinn auf. Nachdenklich schaute sie zu Boden, dann sah sie O’Reilly in die Augen. «Ich hab gedacht, er wäre tot, ja.»

O’Reilly erstarrte, mit den Armen noch halb in den Mantelärmeln. «Liegt er noch in der Scheune?»

«Nein.» Molly schaute zur Decke hinauf. «Er ist jetzt oben im Bett. Als ich aufgelegt hatte und in die Scheune wollte, kam er mir entgegen.»

O’Reilly hängte den Mantel über einen Stuhl. «Kannst du mir genau sagen, was passiert ist?»

«Beim besten Willen nicht, Doktor, ich weiß es nicht. Wir hatten das Vieh aus dem Schnee reingebracht. Liam hat einen Ballen Heu oben aus der Scheune geholt. Ich stand mit dem Rücken zu ihm. Dann habe ich ein Plumpsen gehört, hab mich umgedreht, und da lag er … und rührte sich nicht mehr. Ich hab ihn nicht hochgekriegt, also hab ich Sie angerufen, wie schon gesagt.»

«Ma-maa …» Die Vierjährige kam in die Küche. «Mama, Johnny hat in die Hose gemacht.»

«Warte eben, Jenny. Mama hat gerade keine Zeit.»

«Liam hat es ganz allein nach oben ins Bett geschafft?»

«Ja. Er wollte, dass ich nochmal anrufe und Ihnen sage, Sie sollten sich nicht extra herbemühen.»

Das war so typisch für die Leute auf dem Land – sie wollten niemandem zur Last fallen, dachte O’Reilly. «Das ist schon in Ordnung, Molly. Liam liegt im Schlafzimmer, oder?»

«Ja.»

«Ma-maa … er hat sich vollgeschissen.»

«Heilige Mutter Gottes, dann bring deinen Bruder ins Badezimmer. Ich bin sofort bei euch.»

«Ich finde schon allein hinauf. Kümmere du dich um die Kinder.»

«Danke, Doktor.» Sie nahm die Vierjährige an der Hand und sagte stirnrunzelnd: «Ich hab’s dir schon so oft gesagt, du sollst nicht ‹geschissen› sagen.»

«Aber Daddy sagt das doch auch immer …»

Die Diskussion ging noch weiter, während O’Reilly die Küche verließ und die Treppe hochstieg. Er betrat das Schlafzimmer. Auf der einen Seite des Doppelbettes lag, auf mehrere Kissen gestützt, Liam Gillespie. «Kommen Sie rein, Doc. Tut mir leid, dass wir Sie an so einem Abend rausrufen mussten.»

Liam war in der Tat, wie Molly gesagt hatte, ein großer Kerl. O’Reilly schätzte ihn auf über einen Meter neunzig und an die neunzig Kilo. Er wirkte blass und schwitzte.

«Kein Problem, Liam.» O’Reilly setzte sich auf den Bettrand. «Was ist denn passiert?»

«Ich hab was Blödes gemacht. Hab einen Ballen Heu oben aus der Scheune geholt, und dabei bin ich ausgerutscht und runtergestürzt.»

«Bist du auf den Kopf gefallen?» O’Reilly schaute ihm in die Augen und stellte fest, dass die Pupillen gleich groß waren.

«Nein, gar nicht. Hab mir die Rippen geprellt, hier links …» Er deutete auf die Stelle direkt über dem dicken Ledergürtel, wo das Hemd in den Moleskinhosen verschwand. «Ich muss mit voller Wucht aufgeknallt sein, denn ich bin ohnmächtig geworden. Keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war.»

«Das kann nicht sehr lange gewesen sein. Als Molly mich angerufen hat, warst du schon auf dem Weg ins Haus.»

«Stimmt. Also war ich nur ganz kurz weg?»

«Bist du vor oder nach deinem Sturz bewusstlos geworden?» O’Reilly griff nach Liams Handgelenk und maß seinen Puls. Die Haut war kühl und feucht.

«Danach. Ich weiß noch, dass ich auf der Ecke von der Werkbank aufgeschlagen bin. Da ist mir ein furchtbarer Schmerz in die Rippen gefahren, und als ich wieder zu mir gekommen bin, lag ich unten.»

Liams Puls war schnell und flach. «Tut dir die Seite noch weh?»

«Ja. Aber es ist auszuhalten.»

«Lass mal sehen.» O’Reilly kannte den stoischen Gleichmut der Landbevölkerung seit langem. Wenn ein Mann wie Liam Gillespie meinte, der Schmerz sei auszuhalten, sagte das nicht unbedingt etwas darüber aus, wie heftig er war. Und in diesem Fall war der Schmerz ein wichtiges Symptom. Wenn Liam mit seinen neunzig Kilo auf die Ecke einer Werkbank gestürzt war, hatte er sich wahrscheinlich ein paar Rippen gebrochen. Noch wichtiger aber war, dass links hinter den unteren Rippen die Milz lag.

Als Liam das Hemd aus dem Hosenbund ziehen wollte, zuckte er zusammen. Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein. «Ach, du lieber Gott», keuchte er.

«Tut’s weh?»

«Allerdings.»

«Komm, lass mich das machen.» O’Reilly öffnete den Gürtel, knöpfte das ausgeblichene blaue Hemd auf und zog es hoch. Darunter kam ein blauer Fleck von der Größe eines Suppentellers zum Vorschein. O’Reilly stand auf und sah den Patienten an. «Das kann jetzt ein bisschen wehtun, Liam.» Er legte eine Hand flach auf den Bluterguss und schob die andere unter den Brustkorb des Mannes. Als er mit beiden Händen drückte, spürte er ein Knirschen. Liam wimmerte. «Tut mir leid, Liam, du hast dir ein paar Rippen gebrochen.»

Der Patient nickte, sagte aber nichts. Seine Stirn glänzte im Licht der Glühbirne.

Ja, es war durchaus möglich, dass ein Mann vor Schmerz schwitzte, und O’Reilly konnte mühelos nachempfinden, wie man sich mit gebrochenen Rippen fühlte. Vor Jahren bei einem Rugbyspiel hatte ein verdammt großer Stiefel eines gegnerischen Stürmers bei ihm selbst drei Rippen eingetreten, und er erinnerte sich noch gut an den reibenden Schmerz bei jedem tiefen Atemzug.

Außerdem erinnerte er sich lebhaft an ein weiteres Spiel. Auch dabei hatte ein Spieler einen Tritt abgekriegt. Er hatte sich ein paar Minuten am Rand ausgeruht und dann bis zum Ende weitergespielt. Anschließend war er im Umkleideraum zusammengebrochen. Er hatte eine Milzruptur gehabt.

Konnten die gebrochenen Rippen allein für Liams schnellen, dünnen Puls verantwortlich sein? O’Reilly schüttelte den Kopf. Er schob eine Hand links unter die Rippen des Patienten und versuchte, die Bauchmuskeln einzudrücken. Sie waren bretthart und gaben kein bisschen nach. «Tue ich dir weh, Liam?»

«Allerdings, Doc.» Liam biss die Zähne zusammen, sodass er die Worte kaum herausbrachte.

Behutsam nahm O’Reilly die Hand fort. «Kannst du aufstehen?»

«Ich will’s versuchen.» Er begann, die Beine über den Bettrand zu schieben.

O’Reilly wartete ab. Er hoffte, dass Liam allein aufstehen konnte, denn er war sich gar nicht sicher, ob er den Zwei-Zentner-Mann die Treppe hinuntertragen konnte. Völlig sicher dagegen war er sich inzwischen, dass der Mann eine Milzruptur hatte. Anzeichen dafür waren seine Blässe, der schnelle Puls und die Verhärtung der Bauchmuskeln, die höchstwahrscheinlich durch eine Einblutung in die Bauchhöhle verursacht wurde. Und es gab keine Garantie dafür, dass das verletzte Organ aufhören würde zu bluten. Es bestand die akute Gefahr, dass Liam an einem haemorrhagischen Schock starb.

«Oh Gott, Doktor», stöhnte er, «ich bin so schwach wie ein Baby.» Er machte kurze, keuchende Atemzüge.

«Wir müssen dich nach unten bringen.» O’Reilly nahm Liams rechten Arm und legte ihn sich über die linke Schulter. «Komm, ich stütze dich.»

Eine Milzruptur musste sofort behandelt werden, indem man das betroffene Organ durch Operation entfernte. Das hieß, Liam musste ins nächste Krankenhaus gebracht werden. Ein Krankenwagen mit den nötigen Sanitätern, die den schweren Mann tragen konnten, würde vermutlich mindestens vier Stunden brauchen – falls er es bei den verschneiten Straßen überhaupt schaffte. Wenn O’Reilly mit seiner Diagnose richtiglag, konnte Liam bis dahin verbluten.

Verdammt, der Mann war höllisch schwer, aber er tat sein Bestes, um zu helfen. Sie schafften es gemeinsam bis an die Treppe, doch dann keuchte Liam: «Können wir … uns … ein bisschen … ausruhen?»

O’Reilly keuchte selbst, und bei jedem Einatmen brannten seine Lungen. Er musste husten. Vielleicht lag in dem, was Barry und andere junge Ärzte sagten, doch ein Körnchen Wahrheit – dass Tabakrauch nämlich gesundheitsschädlich war. «Kannst du … wieder ein Stückchen weiter, Liam?»

Der Patient, zum Sprechen offensichtlich zu schwach, nickte.

O’Reilly stützte sich mit einer Hand auf das Geländer, während sie langsam, Stufe um Stufe, die Treppe hinunterstiegen. Er überlegte, ob er Liam hinsetzen sollte, damit sie beide ausruhen konnten, entschied sich aber dagegen, weil er den großen Mann vielleicht nicht wieder auf die Füße bekommen würde.

«Komm Liam … wir haben es fast geschafft», sagte er, als sie den Flur erreichten. Inzwischen trug er den Verletzten mehr, als dass er ihn stützte. Liams Beine waren schlaff, und er ließ die Füße nachschleifen.

Molly stand in der Küche und spülte ein Paar kurze Jungenhosen und Unterhöschen aus. «Heilige Mutter Gottes», sagte sie, als sie aufblickte.

«Schon gut, Molly. Wenn du einfach … die Küchentür öffnen könntest und dann die hintere Tür von meinem Wagen, und dann … Könntest du … ein paar Decken holen …» O’Reilly hörte, wie sein Atem pfiff.

Molly eilte zum Küchenausgang, riss die Tür auf und rannte nach draußen.

O’Reilly spürte den eisigen Luftzug. Schneeflocken wehten herein.

«Ich hole die Decken.» Molly stürzte an ihm vorbei. Sie hinterließ eine nasse Fußspur auf den Fliesen.

O’Reilly atmete noch einmal tief ein, presste die Lippen zusammen und zwang sich, weiterzugehen, durch die Küche, zur Hintertür hinaus und dann durch den Schnee. Es schneite wieder, und die wirbelnden Flocken wurden von der Glühbirne über der Tür angestrahlt. Liams Kopf rollte auf O’Reillys Schulter hin und her.

Zum Glück hatte Molly die hintere Tür des Rovers geöffnet. Es erforderte seine letzte Kraft, aber O’Reilly schaffte es, Liam auf den Rücksitz zu schieben. Dann stellte er sich neben den Wagen, legte, ohne sich um die Kälte des Bleches zu scheren, die Hände auf das Wagendach, senkte den Kopf und sog mit offenem Mund Luft in die Lungen, mehrmals hintereinander. Als Molly mit den Decken erschien, konnte O’Reilly nur nicken, aber als sie Liam dann sorgsam zugedeckt hatte, war er wieder in der Lage zu sprechen.

«Bleib du einen Moment hier bei Liam. Ich muss telefonieren.»

«Das Telefon steht in der Küche.»

O’Reilly antwortete nicht. Er war schon auf dem Weg ins Haus. In der Küche nahm er den Hörer ab und wählte die Nummer der Unfallambulanz im Royal Victoria Hospital.

«Hallo? Wer ist da? Der diensthabende Arzt? Wunderbar. Hören Sie, ich brauche einen Krankenwagen. Schicken Sie ihn nach Holywood Arches, am Stadtrand von Belfast, Sie wissen schon. Ich brauche Blut, sechs Einheiten 0-positiv, und … wie bitte? Was ich glaube, wer ich bin?» O’Reilly spürte, wie das Blut aus seiner Nasenspitze wich. Eigentlich wäre Höflichkeit angebracht gewesen, aber Liam Gillespie konnte sterben, wenn er nicht bald behandelt wurde. «Mein Sohn, ich glaube nicht nur, dass ich jemand bin, sondern ich weiß verdammt gut, wer ich bin. Ich bin Doktor – verstanden, mein Söhnchen? Doktor Fingal Flahertie O’Reilly aus Ballybucklebo. Ich befinde mich gerade auf einer Farm oben in den Ballybucklebo Hills, am Arsch der Welt, und ich hab hier einen Patienten mit einer Milzruptur. Ja, richtig … Nein, ich will den Krankenwagen nicht hier oben haben. Der Patient liegt schon bei mir auf dem Rücksitz, und bis der Krankenwagen Holywood Arches erreicht, bin ich auch da … Sie wissen nicht, ob Sie das organisieren können? Sie haben nicht die Berechtigung, von sich aus einen Wagen anzufordern? Mein Gott – wer ist denn heute Abend Ihr Chef? … Sir Donald Cromie?» Manchmal, dachte O’Reilly, fängt man mit Honig mehr Fliegen als mit Essig. Er senkte die Lautstärke seiner Achterdeck-bei-Sturm-Stimme und sagte sanft: «Hören Sie, mein Sohn, rufen Sie den alten Blödsack … ganz richtig, Blödsack … wir haben vor vielen Jahren zusammen Rugby gespielt … also, hängen Sie sich sofort ans Telefon, sagen Sie ihm, wer angerufen hat, und ich würde mich sehr wundern, wenn der Krankenwagen nicht an den Holywood Arches auf mich wartete … Das werden Sie tun? Guter Junge.»

O’Reilly legte auf und sah sich nach seinem Mantel um. Er wollte noch rasch mit Molly sprechen, ihr erklären, was los war, und sie wieder zu den Kindern schicken. Dann würde er nach Holywood Arches fahren und dafür sorgen, dass Liam sicher in den Krankenwagen umgebettet wurde und nötigenfalls eine Bluttransfusion erhielt.

O’Reilly nahm seinen Mantel vom Stuhl. Wieder wirbelte ein Windstoß Schneeflocken durch die offene Küchentür herein. Er sollte sich lieber beeilen. Falls es auf den Landstraßen Schneeverwehungen gab, konnte selbst der Rover Schwierigkeiten bekommen, und sie durften nicht stecken bleiben, denn niemand konnte wissen, wie lange Laim noch leben würde, wenn er nicht bald behandelt wurde. Der Arzt spannte die Kaumuskeln an. Doch, wenn Fingal O’Reilly ein Wörtchen mitzureden hatte, sollte Liam Gillespie irgendwann eines natürlichen Todes sterben.

Er schlüpfte in den Mantel und eilte zum Rover.

«Geh rein und wärm dich auf, Molly.»

O’Reilly stieg ein, ließ den Motor an und wartete, während Molly Liam einen Kuss auf die Stirn drückte.

«Nun geh schon», sagte O’Reilly. «Der ist bald wieder auf den Beinen. Aber jetzt müssen wir los.»

Kaum hatte Molly die Wagentür geschlossen, legte er den Gang ein. Als die Reifen beim Anfahren auf dem gefrorenen Schlamm des Hofes erst mal durchdrehten, zog er verkrampft die Schultern hoch, entspannte sich aber wieder, als der schwere Wagen sich dann mit einem Ruck in Gang setzte.

Während das Auto über den Feldweg holperte und die Schneeflocken vor den Scheinwerfern tanzten, schalt O’Reilly sich dafür, dass er sich alles so zu Herzen nahm. Er hatte das Menschenmögliche für Liam getan – und jetzt fuhr er ihn auch noch selbst nach Belfast. Wenn das Wetter sich vorgenommen hatte, seine Bemühungen zunichtezumachen, und er seinen Patienten verlor, dann war das wahrhaftig nicht seine Schuld. Eigentlich sollte jeder Arzt das wissen.

O’Reilly bremste vor dem Tor, schob den Riegel zurück und öffnete es mit solcher Gewalt, dass sich die oberste Stange verbog. Liam verlieren? Ein paar Wochen vor Weihnachten? Er schnaubte verächtlich, sodass die Atemwölkchen einen kleinen Rauchvorhang bildeten.

«Halt durch», sagte er nach hinten, während er auf die Straße abbog. Das Tor würde offen bleiben müssen. Liam zum Krankenwagen zu bringen war jetzt eindeutig wichtiger als ein paar entlaufene Rindviecher – und außerdem standen die inzwischen ohnehin im Stall, oder?

Auf der Straße fuhr es sich leichter. Er würde recht gut durchkommen, also konnte er aufhören sich Sorgen zu machen und sich ganz aufs Fahren konzentrieren. Wenn alles nach Plan verlief, würde er in ein paar Stunden wieder in der Main Street Nummer 1 sein. O’Reilly grinste. Ihm knurrte der Magen. Er hoffte, dass Mrs Kincaid ihm etwas Ordentliches zu essen aufheben würde. Doch, selbstverständlich würde sie das tun, es sei denn, der junge Laverty, der inzwischen vermutlich zu Hause war, hatte ihm alles weggefuttert.

3 Schusters Kinder tragen die schlechtesten Schuhe

Die Haustür wurde geöffnet, und es zog bis ins Esszimmer hinein, wo Barry saß. Stiefel stampften in den Flur und blieben stehen. Jetzt hängte O’Reilly offenbar seinen Mantel auf. Barry war neugierig, was ihn in diesen Schneesturm hinausgerufen hatte, und überlegte, wie viel Zeit er wohl verstreichen lassen sollte, bis er seinen Mentor danach fragte. O’Reillys Hauptanliegen würde natürlich sein Magen sein. Schon flog die Esszimmertür auf, und er kam mit schweren Schritten herein. Barry fand, dass O’Reilly einen Raum normalerweise nicht betrat, sondern eher erstürmte, und zwar mit der Begeisterung einer Truppe, die eine Lücke in einer Burgmauer nutzt. O’Reilly schlug die Tür hinter sich zu und rieb sich die Finger.

«Guten Abend, Fingal», sagte Barry. O’Reilly hatte Schneeflocken im Haar. Während er an Barry vorbeistapfte, um sich auf seinem gewohnten Platz niederzulassen, brummte er: «Von wegen guter Abend. Kalt wie ein Hexenarsch, und es schneit wieder, was das Zeug hält. Ich hätte es von Holywood Arches fast nicht zurück geschafft.» Er hustete trocken, zog eine dampfende Schüssel zu sich heran und schöpfte sich Eintopf und einen einsamen Talgkloß auf seinen Teller. «Nett von dir, dass du mir immerhin einen von Kinkys Klößen übergelassen hast», bemerkte er, bereits mit vollem Mund.

«Ich hab mir gedacht, dass dich das freuen würde. Sie waren wirklich ausgezeichnet.» Barry fand sich selbst kindisch, aber er erinnerte sich an einen Abend vor noch gar nicht langer Zeit, als er zu einem Notfall gerufen worden war. Halb verhungert war er wieder nach Hause gekommen und hatte feststellen müssen, dass O’Reilly eine ganze gebratene Ente verputzt hatte. Nun hatte Barry ihm immerhin einen Kloß übrig gelassen.

Die Tür ging auf, und Mrs Kincaid kam mit einer Platte herein. «Ich habe das gehört, Doktor Laverty. Freut mich, dass meine Klöße Ihnen geschmeckt haben», sagte sie sanft. Dann trat sie ans Kopfende des Tisches und hob den Deckel von der Schüssel. «Vom Eintopf ist nur noch ein kleiner Rest übrig, aber als Soße für diese hier wird’s reichen.» Und damit nahm sie die Platte in eine Hand und legte weitere Klöße in die Suppenschüssel.

«Kinky, Sie vollbringen Wunder», sagte O’Reilly, griff nach der Schüssel und schaufelte sich den gesamten Inhalt auf den Teller. Wieder hustete er trocken.

«Und Sie, Doktor O’Reilly …» – Mrs Kincaid warf einen Blick auf seine üppige Leibesmitte – «sollten sich mit den Kohlehydraten ein bisschen zurückhalten, aber heute Abend ist es so fürchterlich da draußen, da muss man ja was Warmes in den Bauch bekommen.»

«Ganz richtig, Kinky, ganz richtig.» O’Reilly spießte den letzten Kloß auf die Gabel und wischte damit die restliche Soße vom Teller. «Mit Ihren Klößen im Bauch kann man nicht mehr frieren.» Er unterdrückte ein Husten.

Kinky kniff die Augen zusammen und bückte sich, um sich O’Reillys normalerweise gerötetes Gesicht aus der Nähe zu betrachten. «Haben Sie sich etwa erkältet, mein lieber Doktor?», fragte sie.

«Ich? Ach was … ich hab ein Stückchen Kloß in die falsche Kehle gekriegt.»

Die Haushälterin schniefte, so kräftig, dass sie eine kleine Katze in den Schornstein hätte hochziehen können, wie sie selbst es ausgedrückt hätte. «Mir klingt das aber ganz nach einer Erkältung.»

O’Reillys Lachen endete wieder in trockenem Husten. «Meine liebe Mrs Kinky Kincaid, wenn ich in Ihre Küche komme und Sie berate, wie Sie einen Schinken backen sollen, dann dürfen Sie mich auch verarzten. Ist das ein Angebot?»

Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Schon im Gehen sagte sie: «Vermutlich möchten die Herren gern eine Tasse Kaffee und ein Stückchen Früchtekuchen?»

«Kinky», sagte Barry, «Sie können Gedanken lesen.»

«Also, dann ziehen Sie beide mal nach oben um, ich bringe Ihnen was in die Wohnstube. Da ist es gemütlicher, ich habe den Kamin angemacht.» An der Tür zögerte sie noch einmal. «Das ist auch für Ihren Husten besser, Doktor O’Reilly, ja.»

«Ich habe keinen Husten, Kinky», sagte O’Reilly in einem Tonfall, der eigentlich keinen Widerspruch duldete, daher war Barry überrascht, als Kinky sagte: «Ich kann das zwar nicht beurteilen, aber ich habe gehört, dass ein Arzt, der sich selbst behandelt, einen amadán als Patienten hat.» Bevor O’Reilly darauf antworten konnte, verließ sie den Raum.

Barry, der kein Gälisch konnte, fragte: «Was ist ein amadán, Fingal?»

«Ein Idiot», sagte O’Reilly. «Wenn mich jemand anders so bezeichnet hätte, würde ich …»

Barry überlief ein Schauder.

«Aber», O’Reilly stand auf, «das ist einfach Kinkys Art, mir zu zeigen, dass sie sich Gedanken macht. Dabei fühle ich mich pudelwohl.» Er ging an Barry vorbei. «Komm mit hoch, dann berichte ich dir über den Fall, von dem ich gerade zurückkomme.»

***

Kinky hatte recht. In der Wohnstube oben war es behaglich warm. Die Vorhänge waren zugezogen und hielten die Wärme im Raum und die Nacht draußen. Ein Vorhang bauschte sich jedesmal ein wenig, wenn eine kräftige Bö das Haus traf, denn die alten Schiebefenster waren nicht mehr ganz dicht, aber das Kohlenfeuer, das im Kamin brannte, hielt die Winterkälte in Schach.

Lady Macbeth, O’Reillys weiße Katze, hatte den Platz auf dem Teppich direkt vor dem Feuer eingenommen. Sie lag, wie O’Reilly es nannte, «verknäuelt» da, das rosa Näschen ins Bauchfell gesteckt, den Schwanz über den Kopf gerollt, und in dieser Haltung war es ihr irgendwie gelungen, sich auf den Rücken zu drehen.

Arthur Guinness, der schwarze Labrador, lag am Rand des Teppichs, mit dem großen Quadratschädel auf den Pfoten. Trübsinnig schaute er von Lady Macbeth zu O’Reilly, so als wollte er sagen: «Das Biest da liegt auf meinem Platz.»

O’Reilly bückte sich und kraulte dem großen Hund den Kopf. Arthur wedelte mit dem Schwanz. «Bei ganz schlechtem Wetter lasse ich ihn ins Haus, aber eigentlich soll er in der Küche bleiben. Stimmt’s, Sir?»

«Raff», sagte Arthur, machte aber nicht die geringsten Anstalten, seinen Platz zu räumen.

O’Reilly ließ sich in einem der Ohrensessel nieder.

Barry setzte sich in den anderen. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Mensch, war das gemütlich. So neugierig er auch auf O’Reillys Fall war – wenn er jetzt nicht aufpasste, würde er einschlafen. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und seine Lider wurden immer schwerer.

Er hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde, und roch O’Reillys Pfeifentabak. Dann wurde er von einem Hustenanfall seines Kollegen aufgeschreckt. Er setzte sich kerzengerade auf und sah O’Reilly an. Der Arzt krümmte sich in seinem Sessel. Er hatte die Arme vor dem Bauch gekreuzt und die Augen fest geschlossen. Aus seinen Augenwinkeln rannen winzige Tränchen.

Der Hustenanfall erschreckte auch Lady Macbeth. Wie ein weißer Blitz schoss sie aus dem Raum und stieß in der Tür beinahe mit Kinky zusammen. Die Haushälterin stellte ihr Tablett auf der Anrichte ab. Sie machte eine Kopfbewegung zu O’Reilly hinüber, schaute dabei aber Barry an. Barry nickte und erhob sich. Er wollte zu seinem Chef hinübergehen und ihn gegebenenfalls untersuchen.

Doch da richtete O’Reilly sich wieder auf, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, holte tief Luft, atmete wieder aus und sagte: «Junge, Junge, vielleicht haben diese englischen Fachleute doch recht.» Er betrachtete seine schwach glimmende Pfeife, die er noch in der Linken hielt. «Dieser Tabak ist nicht besonders gesund. Vor allem, wenn man an einem Abend wie heute draußen war, einen großen schweren Mann durch die Gegend geschleppt hat und dabei seine Lungen überanstrengt hat.»

O’Reillys Bemerkung, dass Tabak nicht besonders gesund sei, war ein Understatement, dachte Barry, als er dem Arzt ins Gesicht sah. Er hoffte nur, dass der große Mann sein besorgtes Stirnrunzeln nicht bemerkt hatte. Schon vor sieben Jahren hatte der British Medical Research Council sich aufgrund von Forschungsergebnissen eindeutig dazu bekannt, dass zwischen Zigarettenrauchen und Lungenkrebs ein kausaler Zusammenhang existierte. Er selbst hatte die Warnung so ernst genommen, dass er vor einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört hatte. Doch was Pfeifentabak anging, schienen die Wissenschaftler sich keine allzu großen Sorgen zu machen, sodass O’Reilly wahrscheinlich nicht ernsthaft gefährdet war. Barrys Sorgenfalten glätteten sich wieder.

Seine Überlegungen wurden von O’Reilly unterbrochen, der erneut laut hustete. Dann holte er tief Luft und schaute erst Barry an und dann Mrs Kincaid. «Ihr beide seht ja so aus, als hättet ihr gerade Lazarus von den Toten auferstehen sehen. Würdest du dich bitte wieder hinsetzen, Barry?»

Mit ruhiger Stimme sagte Barry: «Fingal, das eben klang beinahe wie ein Asthmaanfall. Wir machen uns Sorgen um dich.»

O’Reilly räusperte sich. «Kein Grund zur Aufregung. Setz dich wieder hin.»

«Aber wir machen uns Sorgen –»

«Also, das könnt ihr bleiben lassen. Und zwar sofort. Ich habe dir doch gesagt, meine Bronchien müssen sich ein bisschen entzündet haben. Ich habe einfach so viel kalte Luft eingeatmet, als ich Liam Gillespie in meinen Wagen geschleift habe. Aber ich bin kerngesund. Mit dieser Geschichte werde ich im Nu fertig.» O’Reillys Wangen waren stärker gerötet als sonst, aber seine Nasenspitze schimmerte alabasterweiß.

Barry wurde klar, dass Widerspruch keinen Sinn hatte. Er setzte sich.

«Also.» O’Reilly legte die Pfeife im Aschenbecher ab und rieb sich die Hände. «Ist das der Kaffee und der Früchtekuchen, Kinky?»

«Ja.»

«Dann wollen wir mal. Schenken Sie ein, Kinky?»

Zum zweiten Mal an diesem Abend rümpfte Mrs Kincaid die Nase und zof die Luft ein, und zu seiner Überraschung hörte Barry, wie O’Reilly seiner Aufforderung ein ganz untypisches «Bitte» hinzufügte.

«Ja», sagte Kinky und schenkte den Kaffee ein. «Und soll ich vielleicht Wasser heiß machen, damit Sie mit Friar’s Balsam inhalieren können?»

O’Reilly schien sich dieses Angebot zu überlegen. Dann sagte er: «In Ordnung, aber bringen Sie das kochende Wasser und die braune Flasche einfach nur hoch.»

Wieder war Barry überrascht, dass der Arzt Kinkys Vorschlag so bereitwillig annahm. Es würde ein bemerkenswerter Anblick sein, wie O’Reilly vor einer Schüssel mit kochend heißem Wasser und Kräuterextrakten am Tisch saß, ein Handtuch wie ein primitives Sauerstoffzelt über den Kopf gehängt, und die bekanntermaßen heilsamen Dämpfe einatmete.

«Gut», sagte Mrs Kincaid. Sie brachte das Tablett mit den beiden Tassen Kaffee und dem Kuchenteller zum Couchtisch hinüber. «Ich bin gleich wieder da.» Mit diesen Worten verließ sie den Raum.

Barry nahm seine Kaffeetasse in die Hand.

O’Reilly schnappte sich ein Stück von dem Früchtekuchen und biss einen großen Happen ab. Wieder musste er husten. «Mein Gott, mir kitzelt es so im Hals.» Er zwinkerte Barry zu. «Aber das Heilmittel dagegen ist nicht Kinkys Balsam.» Er betrachtete die Karaffe auf der Anrichte, und Barry dachte an den Whiskeygrog, den er selbst vor noch gar nicht langer Zeit getrunken hatte. Und um den herzustellen, brauchte man heißes Wasser.

Arthur war aufgestanden und saß jetzt genau vor O’Reilly. Er hatte den Kopf zurückgelegt, und seine schwarzen Augen verfolgten jede Bewegung des Früchtekuchens in O’Reillys Hand. Aus dem Maul hingen ihm rechts und links zwei Speichelfäden.

«Man darf einen Jagdhund niemals mit Essen für Menschen füttern», sagte O’Reilly ganz ernst, als er Arthur das letzte Stück von seinem Kuchen ins Maul schob. «Und da wir mein Hüsterchen jetzt ausdiskutiert haben, möchtest du bestimmt gerne von meinem Krankenbesuch hören, oder?»

«Ja, natürlich. Ich wusste gar nicht, dass wir bis ganz nach Holywood Arches Patienten haben.»