Ein Jahr entfernt vom Glück - Shari Low - E-Book
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Ein Jahr entfernt vom Glück E-Book

Shari Low

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Beschreibung

Als ihre beste Freundin plötzlich stirbt, bricht für Jenny eine Welt zusammen. Wie soll sie ihr Leben ohne die energiegeladene Dee in den Griff bekommen? Durch einen Zufall entdeckt sie Dees Terminkalender und sieht, dass diese das komplette nächste Jahr bereits verplant hatte. Mit Ereignissen, zu denen Jenny normalerweise der Mut gefehlt hätte. Im Gedenken an ihre Freundin trifft Jenny eine Entscheidung: Sie wird die Termine in Dees Kalender selbst wahrnehmen - und eine Reise antreten, die ihr Leben für immer verändern soll ...


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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Kapitel – Jen

2. Kapitel – Jen

3. Kapitel – Jen

4. Kapitel – Val

5. Kapitel – Jen

6. Kapitel – Jen

7. Kapitel – Jen

8. Kapitel – Jen

9. Kapitel – Val

10. Kapitel – Mark

11. Kapitel – Luke

12. Kapitel – Jen

13. Kapitel – Val

14. Kapitel – Jen

15. Kapitel – Val

16. Kapitel – Jen

17. Kapitel – Luke

18. Kapitel – Jen

19. Kapitel – Luke

20. Kapitel – Jen

21. Kapitel – Val

22. Kapitel – Jen

23. Kapitel – Val

24. Kapitel – Jen

25. Kapitel – Luke

26. Kapitel – Val

27. Kapitel – Jen

28. Kapitel – Val

29. Kapitel – Jen

30. Kapitel – Luke

31. Kapitel – Jen

32. Kapitel – Val

33. Kapitel – Jen

34. Kapitel – Luke

35. Kapitel – Jen

36. Kapitel – Val

37. Kapitel – Jen

38. Kapitel – Luke

39. Kapitel – Jen

40. Kapitel – Val

41. Kapitel – Jen

42. Kapitel – Val

43. Kapitel – Jen

44. Kapitel – Luke

45. Kapitel – Jen

46. Kapitel – Val

Epilog

45. Kapitel – Jen

46. Kapitel – Val

Epilog

Über das Buch

Als ihre beste Freundin plötzlich stirbt, bricht für Jenny eine Welt zusammen. Wie soll sie ihr Leben ohne die energiegeladene Dee in den Griff bekommen? Durch einen Zufall entdeckt sie Dees Terminkalender und sieht, dass diese das komplette nächste Jahr bereits verplant hatte. Mit Ereignissen, zu denen Jenny normalerweise der Mut gefehlt hätte. Im Gedenken an ihre Freundin trifft Jenny eine Entscheidung: Sie wird die Termine in Dees Kalender selbst wahrnehmen – und eine Reise antreten, die ihr Leben für immer verändern soll …

Über die Autorin

Shari Low blickt auf eine abwechslungsreiche Karriere zurück. Nachdem sie als Nachtclub-Managerin in Großbritannien, Holland, Schanghai und Hongkong Station gemacht hatte, kehrte Shari Low in ihre Heimatstadt Glasgow zurück. Dort lebt sie mit ihrem Ehemann John und ihren beiden Söhnen. Sie ist heute als freie Schriftstellerin tätig. Besuchen Sie auch die Homepage der Autorin: www.sharilow.com

SHARI LOW

Ein Jahr entfernt vom Glück

ROMAN

Aus dem Englischen von Barbara Ritterbach

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Shari LowTitel der englischen Originalausgabe: »A Life Without You«Originalverlag: Aria, an imprint of Head of Zeus, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Margit von Cossart, Bergisch GladbachTitelillustration: © getty-images/aleksandarvelasevic; © www.buerosued.deUmschlaggestaltung: www.buerosued.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5005-0

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

1. Kapitel

Jen

Im Nachhinein war es das Schlimmste, dass es so ein gewöhnlicher Tag war. Ein Tag wie alle anderen. Nicht besonders genug. Ganz und gar nicht besonders genug.

Ein Sonntagmorgen im Januar. Ein trüber Tag. Die grauen Wolken hingen wie eine düstere Vorahnung am Himmel. Es war ein Tag, an dem man am besten im Haus blieb und sich unter einer warmen Decke verkroch. Wir brauchten dazu nicht lange überredet zu werden.

Dee lag auf der einen Couch und stöhnte, weil ihr alle Knochen wehtaten. Ich lag verkatert auf der anderen. Perfekt wurde unser Faulenzertag mit heißem Tee, den Überresten von Weihnachtskeksen und einer DVD-Box: Der Pate 1, 2, 3.

Die hatte ich ausgesucht.

Es gab kein Übel auf der Welt, das der junge Al Pacino nicht heilen konnte. Die Lautstärke war ein paar Phon höher gedreht als sonst, um den dröhnenden Technobeat zu übertönen, der von der Nonstop-Party aus dem Haus nebenan zu uns herüberdrang. Die Nachbarn waren erst vor Kurzem eingezogen. Nach dem Besucherstrom zu urteilen, der sich unablässig durch ihren Vorgarten schob, musste es sich entweder um besonders gesellige Zeitgenossen handeln, oder sie verkauften irgendwas, das sich ungeheurer Nachfrage erfreute. Ich hoffte, dass es sich nur um Kosmetikprodukte handelte …

Stöhnend wälzte Dee sich auf die andere Seite. »Gott, meine Schulter tut sooo weh.«

»Erwarte bloß kein Mitleid von mir«, antwortete ich ungerührt.

»Du bist eine miese Freundin.« Sie lächelte, als sie das sagte. Dees Lächeln was das Erste, was man von ihr wahrnahm. Julia-Roberts-mäßig. Breit und strahlend. Eine natürliche Gute-Laune-Quelle, die keinerlei weitere Verstärkung benötigte. Ihr Lächeln hielt immer etwas länger an als nötig, als wollte sie dem Empfänger eine kleine Extraportion für den restlichen Tag mitgeben. Auch wenn es klischeemäßig klang – ihre wilde rote Mähne passte perfekt zu ihrer Persönlichkeit: wild, leidenschaftlich, ungezähmt. »Ich dachte halt, es wäre eine gute Idee.«

»Wann genau? Als du dich angemeldet hast? Als du in den Anzug gestiegen bist? Oder als du dich in tausend Metern Höhe aus dem Flugzeug gestürzt hast, voll und ganz darauf vertrauend, dass dich ein Stofffetzen davor bewahrt, zermatscht auf einem Tulpenfeld zu landen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine damals, Weihnachten, als wir alle zusammen im Pub waren und ich drei Gläser Wein und eine Tüte Käsecracker intus hatte. Außerdem war es für einen guten Zweck. Und das ist doch was Positives, oder?«

Wieder dieses Lächeln. Niemand konnte ihm widerstehen, nicht mal ich. Es brachte sie in die größten Schwierigkeiten und im Nu wieder aus ihnen heraus. Immer schon. Wir waren seit unserem ersten Tag in der Grundschule von Weirbridge Freundinnen, das waren jetzt also … autsch, mein Kopf schmerzte, weil ich mich so konzentrieren musste. Seit fast fünfundzwanzig Jahren rettete uns ihr Strahlen nunmehr aus blöden Situationen.

Wobei man ehrlicherweise ergänzen musste, dass die meisten dieser Situationen eigentlich nur wegen Dee entstanden waren. Ich, das vernünftige, wohlerzogene, zurückhaltende, brave Mädchen, war ausnahmslos zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Zum Beispiel damals, als wir zwei Karamellwaffeln aus dem Schulkiosk gestohlen hatten, weil wir das Geld fürs Mittagessen vergessen hatten. Sie hatte sich mit ihrem charmanten Lächeln aus der Affäre gezogen, während ich mit der Verpackung erwischt worden war und nachsitzen musste. Oder als sie mich zum Schwänzen überredet und der Lehrer mich beim Schmierestehen gesehen hatte, während Dee mit ihrem Freund hinter der Turnhalle knutschte. Ich war anschließend zum Direktor kommandiert worden, Dee hatte sich in die Hauswirtschaftsstunde geschlichen und auch noch eine gute Note für ihre Muffins bekommen.

Zum Glück bin ich nicht nachtragend. Ich führe das zurück auf Liebe, Konfliktunfähigkeit und eine außergewöhnlich hohe Toleranzschwelle.

Die Tür ging auf, und mein Freund Pete erschien mit einem Sixpack unter dem Arm. Er schaute kurz zu uns rüber, wie wir da lagen, kokonartig in Wolldecken eingekuschelt.

»So stelle ich mir gestrandete Wale vor«, bemerkte er grinsend.

»Ich würde dir gern irgendwas an den Kopf werfen, aber meine Schulter tut so weh«, murmelte Dee. Dann sah sie mich an. »Hatte ich schon erwähnt, dass meine Schulter wehtut?«

Ich verdrehte die Augen. »Mehrfach.«

Pete war fast wieder aus der Tür. Nur wer ganz genau hinschaute, konnte bemerken, dass er mich kaum ansah. »Ich geh rüber zu Luke«, erklärte er und verkündete damit nichts Überraschendes.

Dee und ich arbeiteten von montags bis samstags in unserem kleinen Laden in Glasgow, und trotzdem kam sie jeden Sonntag bei Pete und mir vorbei. Wir schauten dann zusammen fern, während Pete zu Dees Mann Luke und dessen superhightech-mäßigen, optimum-sportwatching, obszön großen Flatscreen rüberging. Ich fand, das war wie ein Swingerclub-Arrangement. Nur ohne Sex.

Dee und Luke waren seit ein paar Jahren verheiratet. Pete und mir stand die »Bis der Tod euch scheidet«-Nummer noch bevor. Dabei waren wir einige Jahre länger zusammen als die beiden. Unsere Beziehung hatte auf einer folgenschweren Weihnachtsparty an der Highschool begonnen, mit einer Mischung aus Billigwein und Mistelzweigen. Bisher war es uns nie wichtig gewesen, sie offiziell zu machen. Ich fand, dass alles perfekt war. Jedenfalls meistens.

Bevor Pete verschwand, rief er mir zu: »Bis später. Ich besorge was zu essen, du musst dich um nichts kümmern.«

In dem Satz lag eine kleine Spitze. Meine Kochkünste beschränkten sich auf Salat und alles, was man bei zweihundertzwanzig Grad für zwanzig Minuten in den Backofen schieben konnte – und selbst das galt nur für gute, katerfreie Tage. Dee hingegen schaute in den Kühlschrank, holte ein paar Zutaten zweifelhaften Ursprungs heraus und zauberte daraus ein köstliches Mahl. Sie war ein Supertalent. In jeder Beziehung.

Die Tür fiel hinter Pete ins Schloss. Nach kurzer Stille sah meine hypersensible Freundin mich an. »Es ist also nicht besser geworden?« Das klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage.

Ich zuckte mit den Schultern.

Nein.

Ich trank einen Schluck Tee, um von der Feststellung/Frage abzulenken, aber Dees hochgezogene Augenbrauen ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht so einfach abwimmeln ließ.

Ich gab auf. Ich wäre eine miserable Agentin.

»Na ja, er ist noch immer so … distanziert. So gleichgültig. Aber ich bin sicher, das ist nur eine Phase, die bald vorbeigeht. Er ist halt so beschäftigt, du kennst ihn ja.«

Klar. Pete war genau wie Dee. Er brauchte ständig Abwechslung, Action, Unterhaltung. Luke und ich hingegen waren glücklich, wenn wir einen Drink hatten und unsere Ruhe. Im letzten Urlaub auf Bali hatten wir im Liegestuhl gelegen und den beiden beim Surfen zugeschaut. Auf einer Dachterrassenbar in Las Vegas hatten wir sie beim Achterbahnfahren beobachtet. Wir hatten am Rand gestanden und ihnen zugejubelt, als sie beim Marathon über die Ziellinie gerannt waren. Der Spruch Gegensätze ziehen sich an schien zu stimmen. Wäre Pete so wie ich, hätten wir ein langweiliges Leben. Wäre ich wie er, befänden wir uns vermutlich gerade auf irgendeinem Berggipfel, und ich hätte Ausschlag von dem ganzen Lycrazeug, das ich am Körper tragen musste.

Da war mir die Couchvariante wesentlich lieber.

»Soll ich mal mit ihm reden?«, fragte Dee. Offenbar machte sie sich echt Gedanken.

»Nein, nein, nicht nötig. Er behauptet steif und fest, ich würde mir nur was einbilden, und schwört, dass alles okay ist. Vielleicht bin ich einfach nur ein bisschen überempfindlich. Er meint, wir sollten mal in Urlaub fahren. In letzter Zeit hab ich ihn ein paarmal dabei erwischt, wie er sehnsüchtig in den Malediven-Prospekten geblättert hat, die ich aus dem Laden mit nach Hause gebracht habe.«

Der Laden, unser Laden, SONNE, SEE, SKI, war eine Art Rundum-sorglos-Ferienshop, in dem man vom Bikini über Sonnencreme und Skiklamotten bis zu Taucheranzügen und Unterwasserkameras alles kaufen konnte, was man für einen perfekten Urlaub brauchte. Natürlich organisierten wir auch Hotelübernachtungen, Ausflüge, Wochenendtrips, Incentive- Reisen, Abenteuerurlaube und ab und zu sogar Hochzeiten. Wir hatten den Laden gleich nach unserem College-Abschluss eröffnet, mit nichts auf dem Konto, und es hatte funktioniert. Im Laufe der Zeit hatten wir Millionen Fehler gemacht, aber wir hatten uns über Wasser halten können, einen großen Stammkundenkreis aufgebaut und zusätzlich ein gut funktionierendes Onlinegeschäft auf die Beine gestellt. Unsere Partnerschaft funktionierte perfekt. Ich kümmerte mich um die Finanzen, Dee war verantwortlich für Werbung und Marketing. Sie unterhielt einen Reise-Blog, probierte neue Produkte aus, besuchte Messen und hielt Kontakt zu Hotels und Veranstaltern der beliebtesten Reiseziele. Wir würden damit nie richtig reich werden, doch wir kamen ganz gut zurecht.

»Aber du hast keine Lust?«, fragte sie.

Ich biss in eine Karamellwaffel. Die Schulkioskepisode hatte mich davon nicht abgebracht. Karamellwaffeln hatten bei mir eine nachweislich katerkurierende medizinische Wirkung.

»Nein, nein, das ist es gar nicht …«, antwortete ich in einem Tonfall, dem unschwer zu entnehmen war, dass ich keine Lust hatte. Mist! »Nur … es ist … na ja so teuer. Und total dekadent.«

»Und traumhaft«, fügte sie hinzu. Unnötigerweise. Ich hatte soeben die beiden wesentlichen Kriterien jeder Reise beschrieben, die Dee unternahm. Aber ich war so nicht. Ich war gern zu Hause. Vielleicht mal eine Woche in einem Cottage im Norden. Oder vierzehn Tage auf einer Finca in Spanien, wenn es unbedingt sein musste. Aber zwei Wochen Malediven bedeuteten mindestens zehn Riesen, selbst wenn ich sie als Geschäftsreise verbuchte und die Steuern einsparte. Wir wären nach zwei Wochen wieder zu Hause, und alles, was übrig bliebe, wären verblassende Sonnenbräune und ein riesiges Loch auf dem Bankkonto. Das war es mir einfach nicht wert. »Du musst das machen!«, beharrte Dee. »Glaub mir, es wird die Reise deines Lebens!«

Ich hätte mich fast an meinem Tee verschluckt. »Bei dir ist doch jede Reise die Reise deines Lebens. Wie oft warst du allein im letzten Jahr unterwegs?«

Das war ein Insider zwischen uns. Dee redete sich immer damit heraus, dass sie schließlich unsere Produkte testen und ihren Reise-Blog aktuell halten müsse. Die Wahrheit war, dass ein Spritzer Sonnencreme auf sie wirkte wie Crack. Und diese Sucht konnte nur gestillt werden, indem sie sich ein halbes Dutzend Melissa-Odabash-Bikinis, unsere Topseller, in die Reisetasche stopfte und sich auf den Weg zum Glasgower Flughafen machte. Wann immer er konnte, fuhr Luke mit ihr, aber leider hinderten ihn oft so überflüssige Dinge wie Arbeit, Verantwortung und finanzielle Verpflichtungen daran. Letztes Jahr hatte sie sich eine Woche L. A. geleistet, vierzehn Tage Hawaii, fünf Tage Fidschi, zwei Trips nach Spanien und diverse verlängerte Wochenenden, unter anderem in Monaco, Rom und Venedig. Ich hingegen hatte nur ein paar Wochenenden im Norden verbracht und eine Woche Fahrradtour durch Frankreich – was hieß, ich war keuchend hinter Pete hergeradelt.

Ein lautes Poltern von nebenan unterbrach unsere Unterhaltung. Gott, was trieben die da bloß?

Laute Stimmen. Noch mehr Gepolter.

Schwer zu sagen, ob der Lärm auf besonders gute Laune zurückzuführen war oder auf Gewalt. Vielleicht hätte ich mich beim Ordnungsamt wegen Ruhestörung beschweren sollen, aber ich versuchte, tolerant zu sein. Notfalls mussten die Ohrwärmer herhalten, die ich letzten Winter von meinem Skiausflug nach Glencoe mitgebracht hatte.

Wieder Lärm und lautes Geschrei. Wir wohnten in einem Block aus vier Reihenhäusern, ich hoffte nur, dass die arme Mrs. Kinross auf der anderen Seite ihr Hörgerät ausgeschaltet hatte.

Dee stöhnte. »Mist, ich hab mein Handy im Auto vergessen.«

»Das brauchst du doch nicht heute«, antwortete ich. »Es ist Sonntag. Da muss dich niemand sprechen, und wenn Luke was von dir will, kann er auf meinem Handy anrufen oder kurz rüberkommen.«

»Ich kann einfach nicht anders, ich bin handysüchtig. Das ist eine anerkannte Krankheit. In öffentlichen Verkehrsmitteln steht mir sogar ein Sitzplatz zu. Ich hol’s mal schnell.« Der erste Teil stimmte. Dee überkam eine irrationale, übermächtige Angst, wenn ihr Handy nicht in Reichweite war. Sie litt massiv darunter. Ihr Handy vibrierte unaufhörlich, ich dagegen bekam maximal einen Anruf pro Woche, und der kam meist von unserer Reinigungskraft Josie, die sich meldete, weil Dee mal wieder nicht pünktlich erschienen war, um den Laden aufzuschließen. Meine Freundin/Geschäftspartnerin erhob sich stöhnend, als draußen vor dem Fenster etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. »Da steht die Polizei! Wow, das ist ja wie eine Szene aus Criminal Intent. Ich bin nicht sicher, ob ich an einem Sonntag so viel Aufregung vertragen kann.«

Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Ein SEK-Kommando könnte mein Wohnzimmer stürmen, und sie würde fasziniert zuschauen. Nicht dass das je passieren würde. Weirbridge war eine Kleinstadt, ungefähr fünfzehn Kilometer von Glasgow entfernt. Hier hatten die Ordnungshüter es höchstens mal mit einem Rasenmäherdiebstahl oder einer Schlägerei im Pub zu tun.

Ich reckte den Hals, um ebenfalls hinaussehen zu können. Puh, keine bis an den Hals bewaffnete Beamten mit schusssicheren Westen und Einsatzschilden, nur zwei ziemlich entspannt wirkende Typen in gelben Sicherheitswesten, die in aller Ruhe aus dem Wagen stiegen und auf das Nachbarhaus zugingen. Wahrscheinlich hatte sich doch jemand darüber beschwert, dass in unserer ruhigen Straße ein Lärm herrschte wie bei einem Rave auf Ibiza.

Ich sah, wie Dee auf ihr Auto zuging, um ihr Handy zu holen. Sie lächelte den Beamten kurz zu. Jede Wette, dass es sie alle Selbstbeherrschung kostete, nicht nachzufragen, was los war.

Jetzt hämmerte einer der Polizisten an die Nachbarhaustür. Keine Reaktion. Der andere spähte durch die Fenster und klopfte dann noch einmal.

Dee hatte ihr Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt, vor einer Grünfläche, die für die Ronaldos aus Weirbridge eine Art Stadionersatz war. Ich zählte aktuell vier Jungs zwischen acht und zehn, die zwei von Steinmauern umgebene Blumenbeete als ein Tor und einen Haufen Pullis und eine leere Plastikflasche als zweites Tor nutzten. Sie waren so vertieft in ihr Gekicke, dass sie das Eintreffen der Polizisten noch gar nicht bemerkt hatten. Ich kannte sie alle. Ein Brüderpaar von gegenüber. Der Junge, der die Wochenenden immer bei seinem Dad zwei Häuser weiter verbrachte. Und Archie, der kleine blonde Enkel von Mrs. Kinross.

Dee kramte in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel, während sie die Straße überquerte. Als sie ihr Auto erreicht hatte, öffnete sie die Fahrertür, dann verschwand ihr Oberkörper im Fahrzeuginneren.

Bang. Bang. Bang.

Das Hämmern nebenan wurde lauter, eindringlicher, ungeduldiger.

Dee entfaltete sich aus dem Fahrzeuginnenraum und richtete ihren lädierten Körper vorsichtig auf. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Polizei!«, hörte ich eine autoritär klingende Stimme. Und wieder Türgehämmer.

Dee ging um ihr Auto herum und öffnete den Kofferraum.

Ich vernahm das Klicken eines Schlosses, als nebenan endlich die Tür geöffnet wurde.

Dee zog ihren Rucksack aus dem Kofferraum, öffnete den Reißverschluss. Schaute hinein.

Aus den Augenwinkeln sah ich etwas Schwarzes aufblitzen, dann etwas Gelbes. Ich brauchte einen Moment. Ein Typ, Anfang zwanzig, Jeans, schwarzer Kapuzenpulli, registrierte Miss Marple in mir. Er rannte den Gartenweg entlang, verfolgt von den beiden Polizeibeamten. Einer von ihnen rief etwas in das Funkgerät, das an seiner Weste befestigt war.

Dee warf den Rucksack zurück in den Kofferraum, zog als Nächstes ihre Sporttasche heraus und begann darin zu wühlen.

Der Typ aus dem Nachbarhaus war ein Stück die Straße runtergerannt. An einem getunten Corsa blieb er stehen. Ich wusste, dass der Wagen einem der Stammgäste unserer feierwütigen Nachbarn gehörte. Im Stillen gratulierte ich mir zu meiner sensationellen Beobachtungsgabe und kam zu dem Schluss, dass ich eine ausgezeichnete Detektivin sein würde.

Als der Typ die Wagentür öffnete, drehte Dee sich um. Sie riss erstaunt die Augen auf, der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen. Gott, wir würden noch den ganzen Tag darüber lachen, dass ausgerechnet vor unserer Haustür eine so aufregende Actionszene stattgefunden hatte. Was für eine Story! Die Jungs hinter ihr auf der Wiese hatten ihr Spiel ebenfalls unterbrochen und schauten fasziniert zu.

Mit röhrendem Motor sprang der Corsa an, exakt in dem Moment, als einer der beiden Polizisten ihn erreichte. Er versuchte, den Türgriff zu fassen, aber der Wagen schoss aus der Parklücke heraus auf die Straße.

Dee hatte inzwischen ihr Handy gefunden und hielt es bereits ans Ohr. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Sie lächelte. Vertieft in ihr Telefonat achtete sie nicht mehr auf das Drama, das sich vor ihr abspielte.

Dröhnend beschleunigte der Corsa und raste in unsere Richtung, die Polizisten rannten hinterher. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn sie uns als Zugabe eine kleine Stuntnummer liefern würden, eine dieser spektakulären Rollen über die Motorhaube, ehe sie in ihr Dienstfahrzeug sprangen und die Verfolgung aufnahmen.

Der Lärm ließ Dee auf dem gegenüberliegenden Gehweg aufschauen.

Fast and Furious war so gut wie entkommen, als von rechts plötzlich ein weiterer Einsatzwagen auftauchte und ihm den Weg versperrte.

Die beiden Polizisten zu Fuß gaben die Verfolgung auf, in der Gewissheit, dass ihr Opfer nun in der Falle saß. Ich schaute zu. Dee schaute zu. Die Fußballjungs schauten zu.

Der Corsa musste anhalten. Bremsen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es auch so aus, als würde genau das passieren, als plötzlich … Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen. Der Wagen schoss plötzlich auf die Grünfläche zu. Mit aufheulendem Motor krachte er die Bordsteinkante hoch.

Die Jungs rannten davon.

Bis auf einen.

Der Kleinste, Archie Kinross, blieb wie angewurzelt stehen, trotz der verzweifelten Gesten und Schreie seiner Kumpels.

Dee stürmte los. Das Auto kam von der einen Seite auf den Kleinen zugerast, Dee von der anderen.

Ich begann ebenfalls zu laufen. Durch den Flur, aus der Haustür, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Dee Archie erreichte und zur Seite stieß. Ja! Sie hatte es geschafft! Sie hatte ihn gerettet! Sie …

Der Zusammenprall war unbeschreiblich.

Grauenvoll. Entsetzlich. Brutal.

Dee wurde hoch in die Luft katapultiert und dann … in Zeitlupentempo …

Irgendwo aus meinem tiefsten Innern drang ein primitiver, verzweifelter Schrei, während Dee noch flog, die Haare um den Kopf ausgebreitet wie ein roter Heiligenschein. Archie saß auf der Wiese, die Augen weit aufgerissen. Seine Freunde waren wie erstarrt stehen geblieben, die Gesichter vor Entsetzen verzerrt.

Der Motor heulte, während das Auto weiterraste und Dee sich drehte wie ein Turmspringer. Dann begann sie zu fallen.

»Deeeeeeee!« Das war meine Stimme.

Ich bin gleich da. Warte auf mich. Ich fange dich auf. Ich schaffe das. Dee, bitte …

Der Aufprall war kaum hörbar und zugleich das Lauteste, was ich je vernommen hatte. Sie stürzte hinunter, mit dem Kopf voran auf die Steinmauer, die eines der Blumenbeete begrenzte. Dann lag sie regungslos da.

Schreie. Nur meine.

Die Polizisten waren noch vor mir bei ihr, aber ich drängte mich zwischen sie, fiel auf die Knie, warf mich über sie, versuchte, sie zu beschützen. Zu spät.

Erneute Schreie. Vielleicht meine.

»Dee! O Gott, Dee! Dee!«

Die wundervolle, abenteuerlustige, wilde, unwiderstehliche, impulsive, immer laute Dee Harper antwortete nicht. Eine feine Blutspur rann seitlich aus ihrem Mund.

An diesem so gewöhnlichen, grauenvollen Tag starb meine beste Freundin in meinen Armen.

2. Kapitel

Jen

Eine Trauerhalle, bespannt mit schwarzen Tüchern, die ich kaum sah durch meine von Tränen verschleierten Augen.

Ich griff nach Petes Hand, meine zitternden Finger umklammerten seine. Neben mir auf der anderen Seite stand Dees Mummy Val. Stumm starrte sie auf die Urne vor uns, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Tröstend legte ich die Hand auf ihren Arm, spürte ihre Hand auf meiner, dann glitt sie wieder hinunter, als hätte die Bewegung ihr das letzte Fünkchen Kraft geraubt. Mir brach es fast das Herz, so leid tat sie mir. Genau wie Dees Vater Don, ein Baum von einem Mann, groß und kräftig, der neben ihr stand. Neben Don Dees Bruder Mark. Er war sechs Jahre älter als wir. Als wir zwölf waren, hatte er eine Rucksacktour nach Australien gemacht und sich so in das Land verliebt, dass er dort geblieben war. Er war am Morgen in aller Frühe gelandet. Seine gebräunte Haut und das lange, lässig nach hinten gekämmte Haar wirkten in dieser tristen Umgebung seltsam fehl am Platz.

Neben Mark saß … Luke. Ein Schluchzer drang aus meiner Kehle. Der Luke, den ich kannte, war fröhlich. Er lachte. Er sang, wenn er ein oder zwei Gläser getrunken hatte. Er genoss das Leben und war über beide Ohren verliebt in meine wundervolle Freundin. Aber diese wundervolle Freundin war nicht mehr bei uns. Sie war von einem bekifften, betrunkenen Autofahrer wie eine Puppe in die Luft geschleudert worden und hatte beim Zusammenprall mit dem Auto oder beim Aufschlagen auf die Steinmauer tödliche Kopfverletzungen erlitten. Das Obduktionsergebnis war nicht eindeutig, es spielte ja auch keine Rolle.

Dee lebte nicht mehr.

Und dieser gebrochene Mann hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, der sie so sehr geliebt hatte.

Auf ein kurzes Zeichen des Geistlichen ging Luke mit tranceähnlichen Bewegungen nach vorn. Was für ein entsetzlicher Albtraum.

Er ging langsam die zwei Stufen zum Altar hinauf … Nein, es war kein Altar, denn man konnte zu keinem Gott beten, der so etwas zuließ. Es war mehr ein Podium mit einem Rednerpult. Luke wandte sich an die Trauergemeinde. Der Gegensatz zwischen seinen pechschwarzen Locken und seinem blassen Gesicht hätte nicht krasser sein können. Die Anzugjacke hing von seinen breiten Schultern. Vor ein paar Wochen hatte sie noch perfekt gepasst, bevor …

»Dee würde das hier gefallen. Ihre liebsten Menschen alle an einem Ort versammelt«, begann er. Ein herzzerreißendes Lächeln zuckte über die Gesichter. »Es ist nun das zweite Mal, dass ich zu euch allen spreche. Das erste Mal tat ich es bei unserer Hochzeit. Damals habe ich euch gesagt, wie unendlich glücklich ich darüber war, dass wir bis zu unserem Lebensende zusammen sein würden. Ich weiß nicht, ob ich die Worte finde, zu beschreiben, wie erschüttert ich bin, dass dieses Ende so schnell gekommen ist.« Er brachte die letzten Worte nur mühsam über die Lippen, holte tief Luft und sprach dann weiter. »Vor meiner Hochzeitsrede«, sagte er mit einem Lächeln, das so gequält war, dass es mir noch einmal das geschundene Herz brach, »hatte Dee mich gewarnt. Meine Rede sollte romantisch sein, aber nur nicht zu kitschig. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtige Balance gefunden habe, denn damals sagte ich, was für ein ganz unglaublicher Mensch meine Frau sei. Dass sie mich zum Lachen brächte wie niemand sonst. Außer Stan und Ollie.« Wir lachten, weil Dee das von uns erwartet hätte, dabei hatten wir alle das Gefühl, nie wieder lachen zu können. »Ich sagte, sie sei die schönste Frau auf der ganzen Welt«, fuhr Luke fort. »Cameron Diaz ausgenommen.« In Gedanken hörte ich Dee am lautesten lachen, was meinen Kummer nur noch verschlimmerte. »Ich sagte, dass sie das allergrößte Herz habe und ihre Familie liebe, ihre Freunde und vor allem mich. Mehr als jeden anderen. Ausgenommen Gary Barlow.« Er stockte, presste die Zähne zusammen, entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten. Es dauerte einen Moment, ehe er die Stimme wiederfand. Sie war jetzt lauter als vorher. »Und ich sagte, dass sie mich zum glücklichsten Mann auf der ganzen Welt machen würde. Ausgenommen … niemanden.« Tiefes Atmen. »Es gab keinen, der so war wie meine Frau. Und sie würde jetzt mit uns schimpfen, weil wir so traurig sind. Also bitte seid es nicht. Denn jeder Einzelne hier durfte sie kennenlernen, durfte sie lieben lernen, durfte mit ihr lachen. Und darüber können wir uns glücklich schätzen.« Er schaute zum Himmel und schloss Dee in seine Rede ein. »Ich weiß, das war zu kitschig«, sagte er. Sein Blick kehrte zurück zu den Trauernden. »Danke, dass ihr alle gekommen seid, um euch zu verabschieden. Von Vals und Dons Tochter, von Jens bester Freundin …« Meine Kehle schnürte sich zusammen, als er meinen Namen nannte. »Und von meiner Frau. Dee Harper, wir lieben dich, mein Schatz. Wir werden dich immer lieben.«

Er kam zu uns zurück, mit hoch erhobenem Kopf, umarmte Val und drückte sie fest. Dann ging er zu seinem Platz. In genau diesem Augenblick brach mein Herz endgültig. Ich wollte nicht in einer Welt leben, in der es keine Dee gab. Der Schmerz verfing sich in meiner Brust. Das alles konnte nicht wahr sein.

Irgendwer übernahm irgendwo, und Musik setzte ein. Es war Dees Lieblingssong. Sitting On the Dock Of the Bay. Der Soundtrack unseres gemeinsamen Lebens. Als sonnengebräunte verkaterte Achtzehnjährige hatten wir ihn in unserem ersten Urlaub ohne Eltern auf dem Balkon eines Hotels auf Zypern gehört. Wir hatten lautstark mitgegrölt, als wir auf Dees Junggesellinnenabschied in einem roten Cabrio über den Santa Monica Boulevard gebraust waren. Es war ihr Hochzeitstanz gewesen. Es war der Song gewesen, den sie gehört hatte, um sich aufzuheitern oder um besondere Ereignisse zu feiern.

Es konnte einfach nicht sein, dass sie ihn nie wieder hören würde.

3. Kapitel

Jen

Der anschließende Empfang fand im Tulip Inn statt, dem einzigen Hotel in Weirbridge. Der Name war eine Hommage an Charles Rennie Mackintosh, einen Architekten, der aus Glasgow stammte und dessen Bauten einen großen Teil der Stadt prägten. Das Tulip Inn war die Location für Hochzeiten, Taufen, Geburtstagsfeiern und Beerdigungen – als hätte es die Lizenz sowohl für Freude als auch für Trauer in seine Grundmauern geprägt.

Pete und ich fuhren zusammen mit Dees Eltern, ihrem Bruder Mark, Luke und ihrer Tante Ida. Sie trug einen Pelzmantel und schluchzte in ihr Spitzentaschentuch. Ida war nie zurückhaltend, wenn es um Emotionen ging. Auf Dees Hochzeit hatte sie sich das Mikrofon genommen, ein Medley aus Hits von Cilla Black gesungen und sich erst wieder von der Bühne locken lassen, als ihr jemand sagte, dass die Mitternachtssuppe auf dem Büffet stehe.

»Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich weiß nicht, wie ich je damit fertig werden soll. Wie soll das gehen?«, wehklagte Ida.

Val und meine Blicke trafen sich, es bedurfte keiner Worte. Ich wusste, was sie dachte. Val war diejenige, die ihre Tochter verloren hatte, aber Ida drehte sich nur um sich selbst.

Dees Dad verdrehte die Augen über seine Schwester, Mark ignorierte sie einfach. Schweigend starrte er aus dem Fenster in die Landschaft, die er vor so vielen Jahren verlassen hatte. Die Anspannung legte sich ganz kurz, als der Fahrer sich verfuhr und dreimal denselben Kreisverkehr umrundete.

»Unsere Kleine hatte schon immer Orientierungsprobleme«, meinte Don.

Ein tröstlicher Gedanke. Sicher schaute Dee uns von irgendwoher zu und forderte uns mit ihrem mitreißenden Lachen auf, stark zu sein.

Ida verstand das nicht. Ihr Schluchzen begleitete uns bis zum Hotel.

Das Personal stand in der Lobby bereit, mit ernsten Gesichtern. Uns wurde Wein, Whiskey und Orangensaft angeboten. Ida nahm ein Glas Whiskey in jede Hand und ging durch in den großen Saal.

Val zog mich beiseite. Sie hielt sich aufrecht, die Tränen waren getrocknet, sie war fest entschlossen, stark zu bleiben. »Jen, tust du mir einen Gefallen?«

»Jeden.«

Es gab wirklich nichts, was ich nicht für Dees Mutter tun würde. Meine eigene Mutter war an Krebs gestorben, als ich zwölf war, und Val hatte die Lücke gefüllt, die ihre beste Freundin hinterlassen hatte. Sie hatte meinem Dad das Leben leichter gemacht und ihm ermöglicht, einen Job auf einer Bohrinsel anzunehmen. Seither war er abwechselnd einen Monat auf See, einen Monat an Land gewesen – und dann leider auch an der Bierflasche.

Ich würde Dee niemals ersetzen können, aber ich würde alles tun, um es dieser Frau leichter zu machen, die mich als verzweifelten Teenie getröstet hatte, die mich in ihre Familie aufgenommen und mich stets wie einer Tochter behandelt hatte.

Ich hoffte nur, dass sie mich nicht bitten würde, gleich ein paar Worte zu sagen. Über meine Erinnerungen an meine Freundin zu sprechen. Oder noch einmal minutiös zu schildern, was genau an jenem verhängnisvollen Tag geschehen war. Das schlechte Gewissen fraß mich ohnehin fast auf. Warum hatte ich nicht ans Fenster getrommelt, hatte nicht versucht, Dee zu warnen? Warum war ich beim Auftauchen dieses Mistkerls von nebenan nicht sofort hinausgestürmt und hatte sie reingeholt? Warum hatte ich nicht erkennen können, was geschehen würde, nicht reagiert, nicht geschrien, warum hatte ich nur dagestanden und zugeschaut, als ein Irrer sein Auto in meine beste Freundin gerammt hatte?

»Absolut jeden«, bekräftigte ich noch einmal.

Val zeigte auf die Doppeltüren, die in den Saal führten. »Such Josie«, bat sie. Als Dee und ich damals unser Geschäft eröffnet hatten, hatte Val Josie kennengelernt und sich mit ihr angefreundet. Die beiden waren wie Dee und ich, nur zwanzig Jahre älter. Ich musste die Zähne fest zusammenbeißen, damit sie nicht laut aufeinanderschlugen, als mir klar wurde, dass wir nie so werden würden. Wir würden nicht zusammen alt werden und immer noch beste Freundinnen sein, die sich gegenseitig das Leben schön machten. Ich war jetzt allein. Val drückte meine Hand. »Bitte, such Josie«, wiederholte sie. »Ich möchte, dass ihr beide Ida im Auge behaltet. Ihr müsst verhindern, dass sie versucht, sich lächerlich zu machen.«

Ich begriff, dass ihr Humor ein verzweifelter Versuch war klarzukommen. Er hätte mich auch zum Lachen bringen sollen, aber ich musste gerade so sehr an Dee denken, dass ich nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken konnte.

»Ja«, hauchte ich.

Ich nahm ein Glas Wein von einem der Tabletts und durchquerte die Lobby. Auf einer Staffelei neben der Tür stand ein Porträt von Dee, als bräuchte irgendjemand hier eine Erinnerung daran, wie sie aussah. So wollte ich sie gern in Erinnerung behalten – nicht die zerstörte, blutüberströmte Dee, die im kalten, nassen Gras lag. Ich kannte das Foto gut. Es war bei ihrer Hochzeit entstanden, als sie und Luke aus der Kirche kamen und buntes Konfetti auf sie herabgeregnet war. Dee schaute zum Himmel, mit ausgestreckten Armen, strahlend.

Ich musste wegsehen. Meine wichtigste Aufgabe war es nun, für Val, Dan und Luke da zu sein. Es würde später noch genug Gelegenheiten geben, mir die Seele aus dem Leib zu heulen.

»Hey, wie geht es dir?«, fragte Pete, der auf einmal neben mir stand.

»Val hat mich zur Überwachung von Ida eingeteilt«, erklärte ich und zeigte auf die Spitzen von Idas Federkopfschmuck. Er ragte zwischen den Köpfen einiger Freundinnen hervor, die um sie herum standen, während sie ihnen ihr Leid klagte. Dee würde spätestens jetzt die Augen verdrehen und betonen, dass ihre Beziehung zu Ida sich auf die Begegnung bei Hochzeiten und Beerdigungen und Weihnachtskarten beschränkte.

»Viel Glück«, meinte Pete. »Ich fürchte, du wirst Unterstützung brauchen«, fügte er hinzu, als ein lautes Schluchzen aus Richtung der Federn zu hören war.

»Ja, ich weiß. Ich muss unbedingt Josie finden. Weißt du zufällig, wo sie ist?«

»Als ich sie zuletzt gesehen habe, hat sie sich gerade mit dem Pfarrer unterhalten.«

Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und zum ersten Mal bemerkte ich die tiefen Furchen auf seiner Stirn. Er sah erschöpft aus. Die ganze Zeit war er ein Fels in der Brandung gewesen, nicht nur für mich, sondern auch für Luke.

An jenem schrecklichen Sonntagabend waren wir bei Luke geblieben, und auch in den zwei Wochen danach hatten wir sein Haus kaum verlassen. Keiner von uns hatte in dieser Zeit mehr als ein paar Stunden Schlaf pro Nacht bekommen. Wir hatten abends lange zusammengesessen, redend, schweigend, auf jeden Fall immer den Moment hinauszögernd, in dem wir allein in der Dunkelheit liegen mussten, schlaflos, voller dunkler Gedanken an Tod und Verlust. Es war das Beste für uns alle gewesen. Ich hatte bei Luke sein, für ihn da sein wollen, in der Umgebung, in der jeder Gegenstand an Dee erinnerte. Jedes Dekostück, jede CD. Ihre Gegenwart war so lebendig, dass man sich einreden konnte, sie wäre nur mal rasch in den Supermarkt gefahren oder befände sich auf einer ihrer zahlreichen Geschäftsreisen. Zu Hause hätte ich es gar nicht ausgehalten, mit dem Blick auf den Tatort, auf die Markierungen im Gras, die neugierigen Passanten, die immer wieder vorbeikamen und stehen blieben, auf die Spuren an der Mauer des Nachbarhauses, in die das Fluchtauto schließlich gekracht war. Ich wollte keine Erinnerung daran, dass der Dreckskerl, der Dee dies angetan hatte, unverletzt davongekommen war.

Ich hatte mitbekommen, dass der Hausbesitzer seine Mieter am nächsten Tag vor die Tür gesetzt hatte, aber ich hatte ihren Auszug gar nicht selbst sehen wollen. Ich hatte bei Luke bleiben wollen, für ihn, aber auch für mich und Pete. Ich hatte gekocht, aufgeräumt, geweint … Pete hatte sich um alles andere gekümmert. Auch er litt. Er kannte Dee fast genauso lange wie ich. Sie war für ihn immer wie eine Schwester gewesen, seine Laufpartnerin, seine Verbündete, wenn Luke und ich wieder mal darauf beharrten, dass Lycraklamotten eine grässliche Erfindung waren.

Nachdem Dee Pete und Luke miteinander bekannt gemacht hatte, hatten sie ihr gemeinsames Interesse an allen nur möglichen Sportarten entdeckt. Die beiden verband viel, auch wenn ich nicht sicher war, ob sie je über etwas anderes sprachen als die Halbzeitergebnisse der Ligaspiele.

Wir waren ein gutes Vierergespann gewesen. Zwei Paare, die geplant hatten, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Die gemeinsam Urlaub machen, sich beim Umzug helfen, Weihnachten feiern, gegenseitig die Kinder hüten wollten und die irgendwann, wenn die Kinder aus dem Haus sein würden, Kreuzfahrten unternehmen, sich an Deck in der Sonne aalen und – sofern es die Arthritis zulassen würde – abends der Jugend zeigen würden, dass sie auch in der Disco noch eine gute Figur machten.

So hatten wir vier uns unser Leben vorgestellt. Aber dieser Plan war nun hinfällig. Jetzt waren wir nur noch zu dritt.

»Wie geht es dir?«, fragte ich Pete. »Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Wir machen das nun schon so lange durch, und ich frage dich jetzt zum ersten Mal, wie du dich fühlst. Ich bin eine miese Partnerin«, fügte ich mit zerknirschtem Lächeln hinzu und rechnete damit, dass er mir widersprechen würde.

Das tat er nicht.

Der Saal füllte sich allmählich. Ich musste mich nun wirklich auf die Suche nach Josie machen. Danach wollte ich mich um die vielen Verwandten und Freunde von Dee kümmern, ihnen zeigen, wo sich das Büffet mit den leckeren belegten Sandwiches und dem Streuselkuchen befand, und dafür sorgen, dass jeder etwas zu trinken hatte. Aber als ich die winzige Regung auf Petes Gesicht sah, war ich zu keiner Bewegung fähig. Wir waren seit fünfzehn Jahren zusammen, unser halbes Leben. Es gab nichts an diesem Mann, keine Geste, keine Regung, die ich nicht kannte.

Außer dieser.

Ich legte meine Hand auf seine Brust und überlegte mir, ob das normal war. Wahrscheinlich. Schließlich hatten wir noch nie mit dem Tod zu tun gehabt. Zumindest nicht gemeinsam. Meine Mutter war gestorben, ehe wir uns kennengelernt hatten. Diese Situation war also neu für uns.

»Baby, es tut mir leid«, wiederholte ich. »Lass uns den Tag heute irgendwie hinter uns bringen, dann fahren wir nach Hause und reden in Ruhe.« Widerstrebend hatte ich beschlossen, am Abend in unser eigenes Heim zu fahren. Lukes Brüder Matt und Callum lebten beide in London, aber sie waren zur Beerdigung ihrer Schwägerin gekommen. Ich war froh, dass die beiden ein paar Tage bei Luke bleiben würden. Die Harper-Brüder waren ein starkes Trio, das eng zusammenhielt.

Meine Angst vor dem Nachhausekommen wurde nur gemildert durch meine egoistische Freude darauf, die Tür hinter mir zu schließen und einfach mal Ruhe zu haben, zum ersten Mal seit jenem Tag, als ich kichernd mit meiner besten Freundin auf der Couch gelegen hatte.

Pete zögerte, und ich verstand sofort, warum. Auch wenn Lukes Brüder bei ihm sein würden, wollte er ihn nicht allein lassen. Gott, wie süß er war! Er war vielleicht nicht der Kommunikativste, wenn es um seine Gefühle ging, aber er war ein Mann, der da war, wenn es darauf ankam.

»Oder möchtest du lieber bei Luke bleiben? Das ist natürlich auch okay.« Ich wollte es ihm etwas leichter machen, falls er Angst hatte, meine Gefühle zu verletzen.

»Nein. Matt und Callum sind ja jetzt bei ihm.«

Ehe er noch etwas sagen konnte, erblickte ich Josie. Sie war wie immer von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, nur in ihren Haaren blitzten ein paar silberne Strähnen. Josie half uns bei der Reinigung unseres Ladens und war irgendwie Teil der Familie. Ich wollte rasch zu ihr, ehe sie wieder verschwand, und wandte mich noch einmal kurz an Pete.

»Lass uns nach Hause fahren, sobald das alles hier vorüber ist, ja?«

Ich hörte seine Antwort nicht mehr, denn in diesem Moment verlangte eine vertraute Stimme am Rednerpult alle Aufmerksamkeit. »Ihr Lieben, wir sind heute hier versammelt, um den Tod meiner geliebten Nichte Dee zu betrauern.« Ida unterbrach sich, um sich die Nase in ihrem rosa Taschentuch zu schnäuzen, das sie aus dem Ärmel ihrer schwarzen Strickjacke gezogen hatte. Oje! Ich geriet in Panik. Ich hatte sie einen Moment aus den Augen gelassen, und nun war es geschehen. Ich sah, dass auch Josie sich entsetzt umschaute. Ida fuhr fort. »Ich weiß, dass unsere Süße sich wünschen würde, dass wir ein Lied für sie singen. Und da ich ihr immer so nah war, bin ich diejenige, die das für sie tun wird.« Ein erneutes lautes Schneuzen in das pinkfarbene Taschentuch.

Du lieber Himmel, wie ließ sich das noch stoppen? Val würde mich umbringen.

Ida machte wieder eine Pause, räusperte sich theatralisch, schloss die Augen und begann mit der ersten Strophe eines Songs, der mir bekannt vorkam, den ich jedoch auf Anhieb nicht einordnen konnte. Dann wurde mir klar, dass es sich um eine langsame, beinahe melancholische Version des Temptations-Songs My Girl handelte. Der schön ist und melodisch und sentimental. Es sei denn, er wird mit der Stimme einer Frau nach zehn Wodka-Cola gesungen. Mit passenden Bewegungen.

Ich erwog kurz, den Feueralarm auszulösen, aber dann würde sie den Song nach der Evakuierung vermutlich auf dem Parkplatz zu Ende bringen. Vielleicht war sie ja fertig, ehe Val kam und …

»Ich habe dir genau eine Aufgabe gegeben.« Val. Direkt hinter mir.

Entsetzt drehte ich mich um. »Es tut mir so leid. Ich habe sie unterschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir so leicht entwischt«, flüsterte ich schuldbewusst. »Ich werde sie irgendwie aufhalten«, fügte ich hinzu. Ich wollte alles tun, um es wiedergutzumachen, hatte allerdings keine Ahnung, wie.

Tränen kullerten aus Vals Augen, und sie lachte spöttisch auf. »Lass sie. Sie war damals im Krankenhaus, als unsere Dee zur Welt kam. Als sie gerade geboren war, begann Ida, My Girl zu singen. Stell dir vor! Ich war entsetzt. Aber sie hat sie in diese Welt hereingesungen, also kann sie sie auch hinaussingen.«

Und dann standen wir da und sahen zu, wie Ida ihr Lied zu Ende sang und sich anschließend verneigte.

Das Ironische daran war nur, dass die einzige Person, die sich darüber köstlich amüsiert hätte, nun nicht mehr unter uns war.

4. Kapitel

Val

»Jen, Liebes, in der Obstschale liegen noch ganz viele Bananen. Nimm dir doch ein paar für morgen mit nach Hause, wenn du magst.«

Dee verdrehte die Augen. »Mum, du bist ja völlig besessen von der Angst, wir könnten zu wenig Obst essen. Jen, bitte nimm sie alle mit, dann dürfen wir vielleicht endlich die Orangenkekse aus dem Schrank anbrechen.«

Ich biss mir auf die Lippen – um nicht laut zu lachen und nicht etwa, weil ich sauer war auf die freche Bemerkung einer Zwölfjährigen. So war Dee nun mal. Mein wilder Rotschopf. Immer hatte sie das letzte Wort. Ganz das Gegenteil von ihrer Freundin, die neben ihr saß.

»Danke, Val«, antwortete Jen schüchtern und steckte sich ein paar Bananen in die Plastiktüte, mit der sie hergekommen war.

Der Anblick brach mir fast das Herz. Armes Ding. Weiß Gott, wir hatten alle nicht viel Geld, aber das Mädchen benutzte eine Plastiktüte als Schultasche. Was zum Teufel fiel Bob Collins nur ein, sie so aus dem Haus gehen zu lassen? Kümmerte es ihn denn gar nicht, dass das den anderen Kids aus der Schule nur wieder Munition lieferte, um sie zu verspotten und auszugrenzen?

Aber diese Frage beantwortete sich von selbst: Bob Collins kümmerte im Allgemeinen nichts. Er dachte auch nicht. Stattdessen trank er. Und prügelte sich. Er war ein Nichtsnutz.

Die arme Janice würde sich im Grabe herumdrehen, wenn sie das wüsste. Ich richtete den Blick zum Himmel, sicher schaute sie auf uns herab. Sie fehlte mir so.

Janice war mir immer eine wunderbare Freundin gewesen, auch noch nachdem sie diesen Tunichtgut geheiratet hatte. Bob Collins sah gut aus, und er war schlagfertig, aber er besaß keinen Hauch von Verantwortungsgefühl. Er ertrank alles in Alkohol, ganz gleich was ihm in die Hände fiel. Spielte den großen Zampano. Er plusterte sich auf, als wäre er der Größte, dabei war er ein armer Wicht und zu nichts zu gebrauchen. Als Janice damals den Knoten in ihrem Hals entdeckte, winkte er bloß ab und riet ihr, ihn einfach zu ignorieren. Das tat sie nicht, aber es war bereits zu spät. Der Krebs hatte schon gestreut. Er war überall. Sie hatte keine Chance. Nur wenige Monate später war sie tot – viel zu früh.

In ihren letzten Lebenstagen hatte ich ihr versprochen, mich um Jen zu kümmern. Und das tat ich. Diese Aufgabe fiel mir insofern leicht, als sie und Dee ohnehin seit Jahren unzertrennlich waren. In den Wochen nach der Beerdigung sorgte ich dafür, dass sie jeden Tag eine anständige warme Mahlzeit bekam. Schaute auf ihre Hausaufgaben.

Ich beschloss, ihr von meinem Haushaltsgeld eine neue Tasche zu kaufen. Nicht dass wir in Geld schwammen, aber wir hatten etwas mehr Luft, seit Mark zu seiner Rucksacktour durch Australien aufgebrochen war. Das musste man sich mal vorstellen! Er war auf der anderen Seite der Welt! Aber das wollten die jungen Leute heutzutage, und er hatte sich das Geld für den Flug mit seinem Wochenendjob an der Imbissbude selbst zusammengespart.

Don kam von der Arbeit nach Hause. Sein Gesicht war wettergegerbt, wie so oft hatte er den Tag auf einer Baustelle im Freien verbracht. Das Fundament zu gießen war immer das Schlimmste. Keinerlei Schutz, endloser Regen und viel zu viel Dreck. Er sah aus, als hätte er sich im Schlamm gewälzt, und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht über die Fußspuren zu schimpfen, die er auf meinem frisch geputzten Boden hinterließ. Wenn das alles war, was ich meinem Ehemann vorwerfen konnte, durfte ich mich nun wirklich nicht beklagen.

Als er sich an der Spüle die Hände wusch, sah ich, dass Jen auf die Uhr schaute. Ich bemerkte ihren angestrengten Gesichtsausdruck, die zusammengebissenen Zähne. Diesen Ausdruck hatte ich auch bei Janice so oft gesehen, wenn sie nach Hause musste. Sie hatte Angst vor dem gehabt, was sie dort erwartete. Würde er nüchtern sein? Betrunken? Herumpöbeln? Schrecklich, dass Jen nun dasselbe erleiden musste, aber was sollte ich tun? Bob Collins war nun mal ihr Vater.

Ich umarmte sie noch einmal fest. »Falls es Probleme gibt, kommst du sofort wieder zu uns zurück, verstanden?«

Zum Glück war Bob bisher nie aggressiv oder gewalttätig. Er war einfach nur eine Nervensäge, wenn er einen über den Durst getrunken hatte.

Don unterhielt sich mit Dee über seinen Tag, als Jen sich auch von den beiden verabschiedet hatte und gegangen war. Ich brachte ihm seinen Tee.

»Okay, Süße, ab nach oben! Schulranzen packen, waschen, ins Bett«, sagte Don zu Dee, und ich wartete auf ihren Widerspruch. Er folgte prompt.

»Aber nur, wenn ich vorher zwei Orangenkekse bekomme.«

»Ab ins Bett mir dir, oder du setzt das ganze Wochenende keinen Fuß vor die Tür«, antwortete ich und sah sie streng an.

Schulterzuckend stand sie auf und küsste mich kurz auf die Wange. »Ich kann es ja wenigstens mal versuchen«, zwitscherte sie. Dann umarmte sie Don und verschwand aus dem Zimmer.

Diesmal konnte ich mir das Lachen wirklich nicht verkneifen. Dieses Mädchen! Ich hatte sie zu Optimismus, Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit erzogen, und das Ergebnis war ein Beinahe-Teenager, dem ich manchmal kaum noch gewachsen war.

Don und ich aßen zu Abend, schauten ein wenig fern und gingen früh ins Bett. Ich sah noch einmal nach Dee und vergewisserte mich, dass sie unter ihrem Backstreet-Boys-Plumeau tief und fest schlief.

Als ich endlich selbst unter die Bettdecke schlüpfte, zog Don mich in seine starken Arme. »Alles okay mit dir?«, fragte er. »Du bist heute Abend so still.«

Ich seufzte. »Ich mache mir Sorgen um Jen. So ein Leben ist einfach nicht gut für ein junges Mädchen.«

»Dann hol sie doch zu uns«, antwortete er mit der einfachen Logik, mit der er das Leben betrachtete.

Natürlich hatte ich schon selbst daran gedacht. Aber Bob Collins war Jens Vater, ein Mann, der gerade seine Frau verloren hatte. Er hatte es verdient, dass man ihm eine Chance gab, sich zu verändern und seine Tochter selbst zu erziehen. Die Plastiktüte und der angespannte Gesichtsausdruck der Kleinen ließen mir dennoch keine Ruhe. Ich würde nicht zulassen, dass dieses Mädchen auch nur eine Sekunde litt. Ich hoffte inständig, dass meine Befürchtungen sich als falsch erwiesen.

Ein Geräusch unterbrach meine Gedanken. Es kam von draußen, und ich konnte es nicht sofort einordnen. Dann ein Scharren. Schritte auf dem Kies. Ein Knirschen. An jedem anderen Abend hätte ich mich nicht weiter darum gekümmert, aber ich war noch ganz wach, und Don war bereits eingeschlafen.

Ich schlüpfte aus dem Bett, zog meinen Bademantel über und spähte durch die Jalousien. Nichts zu sehen. Niemand. Nur eine Gestalt, die am Ende der Straße um die Ecke bog, ein Jugendlicher, vermutete ich. Dann kam mir plötzlich ein Verdacht.

Ich rannte in Dees Zimmer, und mein Verdacht bestätigte sich. Ihr Bett war leer.

»Don! Don! Wach auf! Dee ist weg!«

»Was meinst du damit, sie ist weg?«

Jetzt konnte ich das Geräusch, das ich als Erstes gehört hatte, einordnen. Füße, die an einer Betonmauer entlangrutschen.

»Sie ist aus dem Fenster geklettert. Herrje, dieses Mädchen!«

Ich zog mich bereits an, und auch Don war schon auf den Beinen und schlüpfte in seine Jeans.

»Wo zum Teufel ist sie hin?«

Ich warf einen kurzen Blick auf die Anzeige meines Digitalweckers. Kurz nach zehn. Die Jugendclubs waren geschlossen. Das Café auf der High Street ebenfalls. Hing sie auf der Straße rum? Traf sie sich dort mit jemandem? Einem Jungen womöglich? Du lieber Himmel, ich würde sie umbringen!

Ich hatte absolut keine Ahnung, wo Dee sein könnte. Aber es gab eine Person, die es wissen würde.

Wir sprangen ins Auto und hielten kurze Zeit später vor dem Haus der Collins. Es lag in völliger Dunkelheit, nur hinter dem Wohnzimmerfenster flackerte der Lichtschein des Fernsehers. Don hatte die Haustür als Erster erreicht und trommelte mit der Faust dagegen. Er vergötterte seine Tochter und war außer sich vor Sorge.

Es kam mir vor wie zehn Minuten, dabei waren es vermutlich höchstens zwei, bis die Tür zaghaft geöffnet wurde. Jen sah genauso ängstlich aus wie Don.

»Es tut mir leid, wenn wir dich geweckt haben, Liebes«, stieß ich hervor, ehe mir auffiel, dass sie immer noch ihre Schuluniform anhatte. »Weißt du zufällig, wo Dee ist? Sie ist heimlich aus dem Fenster geklettert, und wir haben keine Ahnung, wo sie hin sein könnte.«

»Nein, Val, ich habe auch keine Ahnung.«

Mein innerer Lügendetektor kreischte auf. Ich war Mutter von zwei Kindern. Geschwindel witterte ich auf hundert Meilen Entfernung, und dieses hier stammte von einer Person, die darin ganz und gar nicht geübt war. Ich dachte hektisch nach. Dee hatte leichten Vorsprung, und sie war zu Fuß unterwegs, da konnte man eine Abkürzung nehmen. Wenn sie den ganzen Weg gerannt war, hatte sie höchstens fünf Minuten gebraucht.

»Jen, ist sie hier bei dir?«

»N… nein.«

»Jen, lügst du mich an?«

»N…«

Auf einmal flog die Tür ganz auf. Vor uns stand Dee. »Schon gut, Jen«, sagte sie und seufzte. »Es macht keinen Sinn. Mum hätte dich so lange in die Mangel genommen, bis du gestanden hättest.«

Wie bitte? Auch noch frech werden? Oh, dieses Mädchen würde Hausarrest kriegen, bis es alt genug war, um mit dem Rucksack durch Australien zu reisen.

»Es tut mir leid, Mum, echt, aber es gab besondere Umstände«. Aus der Art, wie sie sprach, schloss ich, dass sie zu oft New York Cops gesehen hatte.

»Hoffentlich sind sie überzeugend«, antwortete Don mit viel mehr Ruhe, als ich aufbringen konnte.

Jen öffnete die Tür einen Spalt weiter, damit wir eintreten konnten.

»Sag es ihnen.« Dee sah Jen auffordernd an.

Jen blickte zu Boden, und mein Magen begann sich plötzlich zu drehen.

»Jen, Liebes, was ist passiert?«

Nichts. Schweigen. Eine einzelne Träne tropfte von ihrem gesenkten Kopf zu Boden.

Dee konnte es nicht mehr aushalten. »Ihr Dad ist seit zwei Wochen nicht nach Hause gekommen, und sie weiß nicht, wo er ist. Sie hat Angst, allein hier zu sein, weil es hier so unheimlich ist und so kalt. Deshalb bin ich abends immer hergekommen und bei ihr geblieben, und morgens, bevor ihr aufgewacht seid, bin ich wieder zurück in unser Haus geschlichen.«

Ich war fassungslos. »Aber warum bist du denn nicht einfach zu uns gekommen?«, fragte ich Jen.

»Weil sie nicht wollte, dass ihr Dad Schwierigkeiten kriegt«, antwortete Dee an ihrer Stelle.

Bei der Vorstellung, dass meine zwölfjährige Tochter um diese Zeit draußen herumgelaufen war, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte, wurde mir speiübel. Einen Moment lang war ich nicht sicher, ob ich als Mutter nicht ebenso versagt hatte wie Bob Collins als Vater.

Innerhalb der nächsten Sekunde verwandelte sich dieser Zweifel in puren Zorn. Zum Glück ergriff Don das Wort, ehe ich es tat.

»Jen, pack ein paar Sachen ein, dann kommst du erst mal mit zu uns.«

Eine Mischung aus Erleichterung und Angst überzog ihr Gesicht. »Aber mein Dad …«

»Ich werde ein ernstes Wörtchen mit deinem Dad reden, mach dir keine Sorgen. Er wird keine Schwierigkeiten bekommen.«

»Wirklich? Kann ich wirklich mit zu euch kommen?« Die Worte klangen erstickt, und es brach mir fast das Herz.

»Geh jetzt, Liebes«, sagte ich leise und sah zu, wie sie die Treppe hinaufrannte. Ich wandte mich an Dee. »Und du, Dee Ida Murray …«, wenn ich wütend war, sprach ich sie immer mit ihrem vollständigen Namen an, »steigst jetzt sofort ins Auto und wartest dort auf uns. Ich rate dir, denk dir bloß eine gute Entschuldigung aus, wenn du nicht für den Rest deines Lebens Hausarrest haben willst.«

Meine Stimme klang streng, obwohl mein ganzer Ärger längst verflogen war. Sie hatte es falsch angepackt, aber im Grunde hatte sie es nur gut gemeint. Sie hatte sich um ihre Freundin gekümmert. Wie konnte ich ihr da böse sein? Das würde ich ihr allerdings nicht sagen.

Dee verzog das Gesicht und stapfte trotzig an mir vorbei. »Ich wette, Mutter Teresas Mutter hat ihr keinen Hausarrest gegeben, als sie damals den Menschen geholfen hat.«

Ich wartete, bis sie aus der Tür war, ehe ich mich an Don wandte.

»Mutter Teresa? Mit dem Mädchen werden wir noch viel Spaß haben«, sagte ich.

»Ja, aber …«

Ich merkte, dass er ihr wie immer den Rücken stärken würde. Rasch legte ich die Hand auf seinen Arm. »Sei still, Don. Wir haben jetzt Wichtigeres, worum wir uns kümmern müssen.«

Ich hörte Schritte auf der Treppe, sah Jen hinunterkommen, mit drei Plastiktüten in den Armen. Ich konnte ihren Anblick kaum ertragen.

Ich lächelte ihr aufmunternd zu. »Alles wird gut, Liebes«, versuchte ich, sie zu trösten.

Don fuhr, und wir waren nach wenigen Minuten zu Hause. Seit wir von hier losgefahren waren, war nur eine halbe Stunde vergangen, und in dieser kurzen Zeit hatte sich so viel verändert!

»Geht ihr schon mal rein«, sagte Don. »Ich sehe mal, ob ich Bob finde.«

Ich widersprach nicht, zumal ich Jen nicht weiter aufregen wollte. Ich ging mit den Mädchen rein, machte ihnen Toast und heißen Tee, steckte Jens Schuluniform in die Waschmaschine und gab ihr einen frischen Schlafanzug von Dee. Am kommenden Morgen konnte sie erst einmal Dees Ersatzschuluniform anziehen, der Rest würde sich finden.

Es dauerte ein bisschen, aber wir schafften es. Innerhalb weniger Tage hatte Jen ihr eigenes Bett in Dees Zimmer, ihre Kleidung im Schrank verstaut, eine schöne neue Schultasche und die absolute Gewissheit, dass sie bei uns erwünscht war und geliebt wurde.