Ein Job für Delpha - Lisa Sandlin - E-Book
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Ein Job für Delpha E-Book

Lisa Sandlin

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Beschreibung

Beaumont, Texas, Golfküste, 1973. Delpha Wade kommt nach vierzehn Jahren Knast anscheinend zufällig in die Kleinstadt und versucht, wieder Fuß im bürgerlichen Leben zu fassen. Mit viel Chuzpe und kreativer Energie ergattert sie sich die Stelle als Sekretärin bei dem jungen Privatdetektiv Tom Phelan, der nicht unbedingt die hellste Leuchte ist, aber hartnäckig und sympathisch.
Das Duo stolpert bald über ein Komplott in der Ölindustrie, von der die Gegend wirtschaftlich dominiert wird, und bekommt es mit einem üblen Killer zu tun. Außerdem begegnet Delpha dem Mann wieder, der sie einst ins Gefängnis gebracht hatte. Wird sie sich rächen? Ja, aber auf keinen Fall so, wie man denken mag …

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Beaumont, Texas, Golfküste, 1973. Delpha Wade kommt nach vierzehn Jahren Knast anscheinend zufällig in die Kleinstadt und versucht, wieder Fuß im bürgerlichen Leben zu fassen. Mit viel Chuzpe und kreativer Energie ergattert sie sich die Stelle als Sekretärin bei dem jungen Privatdetektiv Tom Phelan, der nicht unbedingt die hellste Leuchte ist, aber hartnäckig und sympathisch.

Das Duo stolpert bald über ein Komplott in der Ölindustrie, von der die Gegend wirtschaftlich dominiert wird, und bekommt es mit einem üblen Killer zu tun. Außerdem begegnet Delpha dem Mann wieder, der sie einst ins Gefängnis gebracht hatte. Wird sie sich rächen? Ja, aber auf keinen Fall, so wie man denken mag …

Lisa Sandlin, geboren in Beaumont, Texas, lehrte lange Zeit in Omaha, Nebraska, lebt und arbeitet heute in Santa Fe, New Mexico. Für ihre Kurzgeschichten genießt sie höchstes literarisches Renommee und wurde vielfach ausgezeichnet. Für ihren ersten Roman, Ein Job für Delpha, erhielt sie 2015 den Dashiell Hammett Prize für den besten Krimi des Jahres und 2016 den Shamus Award für »Best First Private Eye Novel«.

Lisa Sandlin

Ein Job für Delpha

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englischvon Andrea Stumpf

Herausgegeben vonThomas Wörtche

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelThe Do-Rightbei Cinco Puntos Press, El Paso.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4779

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Copyright © 2015 by Lisa Sandlin

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildung: FinePic®, München; Ruby del Angel/Arcangel Umschlaggestaltung: zero-media.net

eISBN 978-3-518-75134-3

www.suhrkamp.de

In Erinnerung an Nancy Rice. 1950 – 2015.

Du warst eine phänomenale Frau.

Ich weiß noch, wie ich mir gesagt habe, den Hass nicht mit mir herumzutragen, obwohl ich weiß, wo er ist.Ich verwahre ihn in einem Koffer.

Salman Rushdie

1

Sie erkundigte sich nach der Stelle aus der Anzeige.

Der Möbeltischler mittleren Alters, der vor dem Händedruck seine Hände an der staubigen Schürze abgewischt, »Tut mir leid, Miss« gesagt und ihr dabei in die Augen gesehen hatte – er war in Ordnung, er war mehr als erträglich. Genau genommen hatte Delpha nicht auf mehr gehofft.

Die Büroleiterin mit dem verkniffenen Mund, die den Kopf nur ein einziges Mal schüttelte, die Junge, die herumstammelte, der Wirtschaftsprüfer, der ihr Bürofachkraft-Zeugnis aus Gatesville keines Blickes würdigte und »Danke, verzichte« sagte, der Schuhladenbesitzer, der nervös und hilflos kicherte, als er sie ablehnte – solche Nackenschläge hatte sie erwartet, aber das hieß nicht, dass sie sie nicht spürte. Sie spürte sie.

Aber an die Nieren ging ihr der heutige Kandidat. Weißes Hemd, Speckrolle über dem gestärkten Kragen. Nannte sie schon beim Eintreten »Schätzchen«. Dieser misstrauische Blick, der sich in seine Augen stahl, nachdem er ihr Zeugnis überflogen und ihr zurückgegeben hatte. »Das nenn ich dreist«, hatte er gesagt. »Setzt sich da auf meinen schönen Stuhl. Wenn du deinen nackten Hintern auf meinen Schreibtisch schieben würdest, dann würde ich dir vielleicht einen Fünfer rüberschieben.« Er beugte sich vor. »Schätzchen, geschäftlich lass ich mich auf solche wie dich nicht ein.«

Ihr Bewährungshelfer Joe Ford, ein 1,95 m großes sprechendes Handbuch des Texas Board of Pardons and Paroles, hatte ihr gesagt, wie sie sich in solchen Situationen verhalten sollte. Joe Ford hatte ihr gesagt, wie sie sich in jeder Situation verhalten sollte.

Der auf Bewährung Entlassene muss sich jederzeit höflich und nicht bedrohlich betragen.

Der auf Bewährung Entlassene muss die Anweisungen seines Bewährungshelfers befolgen.

Der auf Bewährung Entlassene muss ALLE Gesetze einhalten.

Der auf Bewährung Entlassene hat jederzeit eine Durchsuchung seiner Person, seiner Wohnung, seines Autos zu dulden.

Keine Waffen.

Keine Munition oder etwas, was Waffen oder Munition ähnelt.

Der auf Bewährung Entlassene darf kein Messer mit einer mehr als fünf Zentimeter langen Klinge besitzen, außer einem Küchenmesser und nur, wenn der Bewährungshelfer es gestattet.

Nichtbefolgung einer dieser Auflagen hat die Rücküberstellung ins Gefängnis zur Folge.

»Ehrlich, Delpha, ich greif nicht gern zum Äußersten, aber Hemmungen hätte ich auch nicht. Sie wollen nicht zurück in den Bau, oder?«

»Nein, nie mehr, Mr Ford.«

»Dann ist gut, hier meine zwei 1-a-Ratschläge, Delpha. Nummer 1: So tun als ob.«

»Was meinen Sie?«

»Frisch Entlassene wenden sich oft wieder an ihre alten Freunde und machen genau da weiter, wo sie mal aufgehört haben, weil’s bequemer ist. Machen Sie das nicht. Verhalten Sie sich ruhig und entspannt, dann sind Sie irgendwann ruhig und entspannt. Bis dahin müssen Sie eben schauspielern und so tun als ob.« Joe Ford hielt inne. »Und zweitens: Fragen und bitten.«

»Fragen und bitten«, wiederholte Delpha. Darin war sie nicht besonders geübt. Sie rutschte auf dem Holzstuhl hin und her.

»Fragen Sie nach einer Wohnung oder einem Zimmer, damit Sie aus dem Übergangswohnheim rauskommen. Bitten Sie um eine Stelle. Um Dinge, die Sie brauchen. Hier draußen kriegen Sie keins über die Rübe, wenn Sie um was bitten. Wenn Sie sich nicht selbst helfen, wird Ihnen keiner helfen. Bleiben Sie höflich, auch wenn man Ihnen die Tür zeigt. Reißen Sie keine Brücken hinter sich ein, denn wer weiß, ob Sie den Leuten nicht mal wiederbegegnen. Wenn Sie eine Abfuhr kriegen, sagen Sie einfach: ›Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Einen schönen Tag noch.‹ Dann lächeln Sie und gehen.«

Wie Mr Ford ihr geraten hatte, riss sie die Brücke zu dem Mann mit dem Specknacken nicht ein. Sie sagte aber auch nicht wie schon ein paar Mal vorher: »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Einen schönen Tag noch.« Sie fuhr im Aufzug nach unten und hielt dabei den Atem an, bis sie wieder an der frischen Luft war.

Sie ging einen Block weiter und bog in eine Nebenstraße, um durchzuatmen, und wäre beinahe über eine wettergegerbte weiße Person mit strähnigen grauen Haaren gestolpert, die neben einem Einkaufswagen kauerte, in der einen Hand einen Azaleen-, in der anderen einen Hartriegelzweig. Delpha erschrak, dann erstarrte sie, das Kinn gesenkt, die Arme unten, Hände sichtbar, auch die mit der Handtasche.

Die Person musterte sie aus dem Augenwinkel, dann sah sie wieder nachdenklich auf die Zweige. »Was meinen Sie, welcher?«

Auftreten, Stimme, Puffärmelbluse gehörten zu einer Frau, aber die grauen Stoppeln am Kinn, die Bundfaltenhose und die fleckige Anzugjacke waren die eines Mannes. Die Tennisschuhe waren sowohl als auch. Delpha war sich trotzdem ziemlich sicher.

Sie deutete auf die Azalee. Wäre es nicht schön, lieber Gott, in eine sonnenuntergangsrosa Blüte wie in ein Abendkleid zu steigen und sie hochzuziehen, so dass sie um die Schulter flattert? Wäre es nicht schön, in diese wohlriechende leuchtende Haut gewickelt zu sein?

Die alte Frau nickte, steckte die Azalee in die Brusttasche der Jacke und sah mit hochgezogenen Augenbrauen erwartungsvoll auf.

»Sehr hübsch.«

»Danke schön. Ich bin Miss Doris.« Sie hielt den Hartriegel hoch. »Für Sie. Willkommen zurück.«

Delpha berührte die pudrig zarten weißen, weißen Blütenblätter.

»Woher wissen Sie das … seh ich so fertig aus? Ich trage das wie ein Schild vor mir her, was?«

»Ne, das nicht.« Miss Doris deutete mit ihrem stoppeligen Kinn auf Delphas’ rechte Hand. »Aber Sie haben eine von den Handarbeiten von da.«

Delpha sah auf ihre Lederhandtasche, zugeschnitten, genäht, mit einem einfachen Flechtmuster geprägt, weder mit Rose noch Lilie verziert. Man konnte sie mit einer oder mit beiden Blüten oder mit Cowboy oder Cowgirl und scharrendem Pferd im Gefängnis-Geschenkladen bestellen.

»Die erste hab ich vermasselt.«

»Sie mögen’s nicht, wenn man ihr Leder verschwendet, was.«

»Ich heiße Delpha.« Sie streckte die Hand aus.

Miss Doris wischte ihre Hand an der Gabardinehose ab und schüttelte die von Delpha. Sie musste über sechzig sein, aber sie hockte entspannt da wie ein Frosch. »Schauen Sie mal im Einkaufswagen nach, da liegt eine blaue Decke, auf die können Sie sich setzen. Sie hat eine gute und eine schlechte Seite.«

»Ich muss leider weiter, Ma’am.«

»Nee, bleiben Sie noch.« Die Gräben zwischen ihren Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Aber ich muss –«

»Nur kurz. Tun Sie ner alten Frau die Liebe.«

Delpha wurde weicher. »Das hat meine Mutter auch immer gesagt.« Sie drehte den Daumen weg von sich. »Gibt’s da drüben Kaffee?« Auf dem Schild an dem Gebäude auf der anderen Straßenseite stand THE NEW ROSEMONT HOTEL AB $1. Die Glastür am Kopf der Treppe musste mal wieder geputzt werden.

Ein Leuchten trat in Miss Doris’ Augen. »Ja, klar. Gehen Sie zu Calinda, da kriegen Sie welchen. Ich will einen Malzkaffee und sie soll etwas Sahne und Zucker reintun.«

»Wollen Sie sich reinsetzen?«

Miss Doris kräuselte Nase und gespitzte Lippen. »Ich muss auf mein Zeug aufpassen, Schätzchen.«

Delpha ging über die Straße, stieg die Treppe hinauf und dachte Schätzchen – wie alles entscheidend der Tonfall sein konnte.

In der Lobby standen Sitzgruppen, die mit angejahrtem blauem Samt oder blumenübersätem Stoff bezogen waren. Ältere Herrschaften saßen paarweise oder allein herum. Ein wild entschlossener Mann stand hüftsteif vor einem Mahagonibüffet und zielte mit der Hand nach einem Wasserglas. Dann machte er sich an die schwierige Aufgabe, Wasser aus einem Krug einzugießen.

»’tschuldigung, aber wo kriegt man hier Kaffee?«

Zitternd senkte sich der Krug, bis er wieder Halt auf dem Büffet fand. Der Vorgang wurde mit dem Wasserglas wiederholt, dann drehte sich der Mann Schrittchen für Schrittchen zu Delpha um. »Na. Sie sind aber mal ein süßes Dingelchen. Calinda ist in der Küche und macht das Mittagessen.« Schrittchenweise drehte er sich wieder zu dem Wasserglas.

In der Mitte einer großen Küche standen sich zwei Frauen an einem hölzernen Arbeitstisch gegenüber. Eine Weiße mit grauem Haarhelm, Schürze und Strenge in dem gewöhnlichen Gesicht beugte sich über einen Berg gerupfter Hühner. Das musste Calinda sein. Sie war ein paar Jahre älter als Miss Doris und fuchtelte mit einem Hackebeil herum, während sie einer dreißig Jahre jüngeren Frau, die aussah wie ein Cockerspaniel, etwas erklärte. Der Cockerspaniel blickte finster zwischen zwei dicken blonden Haarsträhnen hervor, die dauerwellengekräuselt über seine Schultern wallten. Im nächsten Moment drang von dorther eine Duftwolke zu Delpha. Gin.

» … ist nicht wahr. Ich kümmere mich fast jede Nacht um sie«, sagte sie.

»Wenn’s dir in den Kram passt. Sobald du was Besseres vorhast, tust du’s, und dann liegt sie allein rum, die arme alte Frau.«

»Das geht jetzt schon seit Jahren so! Bitte, sie muss ins Shady Lanes. Die haben Krankenschwestern dort.«

»Jessie kennt Moselle. Willst du ihr Moselle wegnehmen? Moselle und das Haus ist alles, was sie noch erkennt. Außer dir und mir. Und manchmal hab ich den Eindruck, ich könnte genauso gut Eleanor Roosevelt sein.«

»Siehst ja auch aus wie Eleanor Roosevelt.«

»Wenn du mich damit beleidigen willst, Ida, dann hast du Pech gehabt. Mrs Roosevelt war eine wunderbare Frau.«

»Aber im Shady Lanes gibt’s eine Softeismaschine.« Als die Softeismaschine auch keine Wirkung zeigte, knurrte der Cockerspaniel: »Ein Makler will das Haus kaufen. Ich will es verkaufen.«

»Du hast doch schon alles daraus verkauft, was nicht niet- und nagelfest ist.«

»Ja, verflixt noch mal, es ist doch auch meins!« Die kleinere Frau stürzte vor, die Strähnen wehten zurück und legten gebleckte Zähne frei. Die Ältere schoss ihr unter schweren Lidern einen warnenden Blick zu und hob das Beil.

Die Szene war allzu vertraut. Delpha trat näher an den Tisch heran, blieb aber zwei Armlängen davon entfernt, so dass sie in jede Richtung ausweichen konnte. »’tschuldigung. Ein Herr draußen hat gesagt, ich soll in die Küche gehen. Kann ich zwei Tassen Kaffee bei Ihnen kaufen, eine davon Malzkaffee?«

Cockerspaniel riss ein Hühnchen an den Flügeln hoch und donnerte es mit dem Bürzel voraus auf den Tisch. »Leck mich doch, Calinda.«

Delpha machte einen Schritt zur Seite, als die Frau an ihr vorbeistampfte.

»Das macht zwanzig Cent.« Die Alte namens Calinda legte das Beil hin und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Sahne und Zucker?«

Ein junger Schwarzer in weißer Kochmontur erschien aus einem Nebenraum, wahrscheinlich der Speisekammer, nahm das Beil und fing mit raschen Bewegungen an, Hühner zu zerlegen.

Delpha gab der Frau zwei Zehncentstücke und nahm einen Pappbecher mit schwarzem Kaffee und einen mit Sahne und Zucker für Miss Doris. Sie überlegte, ob sie zurückkommen und mit der Frau reden sollte, wenn sie in der Gasse den Kaffee getrunken hatte. Danach. In einer halben Stunde oder so. Dann würde sie es tun. Ganz bestimmt.

Dann erinnerte sie sich an Joe Fords Ermahnung, und angestachelt durch den heißen Kaffee in den Händen straffte sie sich und fragte: »Haben Sie zufällig ein Zimmer zu vermieten, Ma’am? Und wär’s möglich, als Gegenleistung für das Zimmer zu arbeiten?«

Der junge Koch warf ihr einen Blick zu.

»Buchhaltung«, ergänzte sie, weil sie ihm nicht zu nahe treten wollte, auch wenn sie einmal Hilfsküchenhelferin in einer Kantine für neunhundert Leute gewesen war. Allerdings gab es da nichts, was man essen konnte.

»Das Hotel hat schon einen Buchhalter.«

Delpha ging zu einer Anrichte, ohne sich von der Frau abzuwenden, und stellte die beiden Becher ab, um ihre Hände abzukühlen. »Ich putz auch, völlig egal. Auf Dauer suche ich nach einer Bürostelle, Vollzeit, aber ich mach erst mal auch Teilzeit. Bis elf kann ich die Badezimmer putzen, dann sind sie am Vormittag schön sauber.«

Die unbewegte Miene der Alten wurde bei dem Gedanken an die Badezimmer säuerlich. »Ein paar von denen sind die halbe Nacht auf dem Flur unterwegs und dann treffen sie mit ihren verschrumpelten kleinen Pimmeln die Kloschüssel nicht.«

Der junge Mann schnaubte.

»Ich konnte vorhin nicht anders und hab das Gespräch von Ihnen und der anderen Dame hier mitangehört. Wenn Sie Hilfe bei der Versorgung einer kranken Verwandten brauchen, kann ich das übernehmen, ich hab schon mal im Krankenhaus gearbeitet. Überlegen Sie es sich bitte, Ma’am, ich komm nachher noch mal vorbei, dann können Sie es mir sagen. Jetzt hab ich erst mal einen Termin. Danke für den Kaffee. Schönen Tag noch.« Sie nickte, nahm die beiden Becher und ging durch die müde Samtlobby hinaus.

So tun als ob, du musst so tun als ob.

2

Tom Phelan hielt seine linke Hand in die Höhe und betrachtete seinen Mittelfinger. Ein schmerzender Stumpen, an dem zwei Zentimeter fehlten. Hätte schlimmer kommen können. Auf einer Bohrinsel wog alles so viel wie ein ölverschmierter VW, fünfzig Milliarden Maschinenteile, die rammen oder schlagen, quetschen, drehen, wegfliegen oder zusammenkrachen und fallen. Schlafmangel, ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit an den Winden, und schon hatte er einen Phantomfinger, der sich an seinen Zeigefinger drängte.

Er stützte die Ellbogen auf die Ausgabe des Beaumont Enterprise vom 21. Mai 1973. Sie hatten die Anzeige, in der die Eröffnung seines Büros bekanntgegeben wurde, mittig gesetzt und schwarz umrandet und seinen Namen richtig geschrieben. Die andere Anzeige, die bei den Stellenangeboten – Gesucht: Sekretärin –, hatte gestern zwei Frauen angelockt. Er hatte vor, die mit den korallenroten Nägeln und der rauchigen Dusty-Springfield-Stimme zu nehmen. Aber dann rief sein alter Schulfreund Joe Ford an, mittlerweile Bewährungshelfer, und Joe war hartnäckig.

»Schreibmaschine, Steno, was du willst, mein Freund. Hat sie alles im Bau gelernt. Hat ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft abgebüßt. Wie wär’s, wenn du mal mit ihr redest?«

»Such dir einen anderen Deppen. Wundert mich, dass du dich da so reinhängst. Seit wann bist du das Arbeitsamt?«

»Seit wann bist du Privatdetektiv?«

»Seit mir die Unfallversicherung genug Kohle gezahlt hat, um die Miete zu zahlen.«

»Ich dachte, dir gefällt’s auf der Bohrinsel.«

»Ich hab noch neun Finger. Die will ich behalten.«

»Schau dir die Frau einfach mal an, Tommy. Sie ist gut.«

»Warum bist du so dahinter her?«

»Telefone nehmen sich nicht selbst ab, oder?«

»Ich hab gehört, es gibt jetzt eine Maschine, die –«

Joe schnaubte laut. »Kommunistenlüge. Ich schick sie dir rüber. Sie kann in null Komma nichts bei dir sein.«

»Nein.«

»Ich sag’s ja nur ungern. Aber wer hat dir Rückendeckung gegeben, als du mit Narlan Pugh vor die Tür bist, seine vertrottelten Cousins im Kielwasser?«

»Ungern? Das erzählst du mir jetzt zum dritten Mal. Dir sollte langsam klar werden, dass auch Dankbarkeit ein natürliches Ende hat, genau wie eine Tüte Donuts.«

Joe wartete.

Phelan brütete.

»Okay, aber ich versprech nichts.«

»Nein, nein! Natürlich nicht. Die Entscheidung bleibt ganz dir überlassen. Aber danke, dass du mit ihr redest, das wird ihre Laune heben.«

Phelan fragte, weswegen sie gesessen hatte, bekam aber nur ein Tuten als Antwort.

8:32. Schritte auf der Treppe, die zu seinem Büro im ersten Stock führte.

Bedächtige Schritte. Eilig schien sie es nicht zu haben. Das Klopfen an der Tür, auf der seit kurzem Phelan Investigations stand, war nicht schnell, nicht langsam. Nicht laut, nicht leise.

Phelan trat aus seinem Büro, ging durch das künftige Empfangszimmer und öffnete die Tür. Gut. Kein Mädchen. An den Augenwinkeln hatten zwei Krähen zarte Spuren hinterlassen. Eine leichte Verbitterung hatte sich am linken Mundwinkel ihrer leicht geschminkten Lippen eingegraben. Hellbraune Haare, kinnlang, weite weiße Bluse, dunkelblauer Rock. Dunkler Teint, über dem Gefängnisblässe lag. Augen graublau, ein wenig umwölkt, abwesend, wie ein Sturm, der vom Golf herkommt. Die würde nicht am Schreibtisch sitzen und ihre frisch lackierten Nägel anpusten. Die Nägel an der Hand, die er schüttelte, waren blank und kurz geschnitten.

»Tom Phelan.«

»Delpha Wade.« Sie hatte eine kühle, tiefe Stimme.

Delpha Wade. Aus seinem Hirn ratterte ein Bild, aber nur bruchstückhaft, so wie ein Lohnstreifen, der halb in der Maschine stecken bleibt.

Sie setzten sich in sein Büro, er auf den wackligen Drehstuhl hinter dem großen Metallschreibtisch, die beide zum Inventar gehörten. Sie in einen der beiden schicken neuen Mandantenstühle, ledergepolstert mit thronsesselhohen Rückenlehnen.

»Ich will ehrlich sein, Miss Wade. Ich glaube, ich habe schon eine Sekretärin gefunden.«

Keine Enttäuschung in den graublauen Augen, aber auch keine Hoffnung. Sie schob ihm nur ein Zeugnis mit Goldprägung über den Schreibtisch. Darauf stand, dass sie siebzig Wörter pro Minute tippte, Steno schrieb, doppelte Buchführung beherrschte. Die Brünette mit der Dusty-Springfield-Stimme hatte dasselbe von sich behauptet, aber sie hatte es mit einem Kichern untermauert, nicht mit einem Zeugnis von Gatesville.

»Sie würden also gerne für eine Detektei arbeiten?«

»Ich würde gerne arbeiten.«

Touché. »Ihr wievieltes Bewerbungsgespräch ist das?«

»Das erste.«

»Ich fühle mich geschmeichelt. Kaum draußen, tauchen Sie schon bei mir auf.«

Ein kurzer Strahl fiel in die graublauen Augen. »Da zähl ich nicht die elf Stellen mit, auf die ich mich beworben hab und wo man mir gleich die Tür vor der Nase zugemacht hat. Und die eine, wo etwas stattfand, was man nicht gerade als Bewerbungsgespräch bezeichnen kann.«

Kein Wunder, dass Joe sie empfahl. »Wenn Sie es sich aussuchen dürften, wo würden Sie arbeiten, Miss Wade?«

»In einer Bücherei. Ich mag Büchereien. Das hab ich drinnen gemacht.«

Drinnen war das Frauengefängnis in Gatesville. Weil sie selbst die Sprache darauf brachte: »Wie viele Jahre haben Sie gesessen?«

»Vierzehn.«

Phelan unterdrückte ein Pfeifen. Das schloss Scheckfälschung, Betrug, den Griff in die Kasse und Drogenbesitz aus. Er wollte ihr schon die heikle Frage stellen, als sie ihm die Antwort auf einem Alutablett servierte. »Vorsätzliche Tötung.«

»Und dafür haben Sie vierzehn Jahre bekommen?«

»Er war sehr tot, Mr Phelan.«

Sein Hirn spuckte das ganze Bild aus. Phelan war damals noch ein Teenager gewesen, fasziniert von der blutrünstigen Geschichte, auf die die Presse sich gestürzt hatte. Minderjährige Kellnerin in einer Bayou-Kneipe, die auf den Wirt gewartet hat, damit er die Einnahmen abholt. Allein. Zwei Männer, die kurz vorher hinausgeworfen worden waren, kamen zurück. Vater und Sohn, das war der Witz an der Sache. Der Sohn hat sie geschlagen, vergewaltigt, mit dem Messer angegriffen. Und dann: Überraschung, hat das Messer die Hände gewechselt. Der Vater hat einen Schnitt und der Sohn mehrere tiefe Stichwunden abbekommen. Als die Autoscheinwerfer des Wirts auftauchten, ließ der Vater seinen Sohn zurück und machte sich in ihrem Auto aus dem Staub. Delpha Wade hatte der Natur nicht ihren Lauf gelassen. Sie hatte dem Junior auf dem Tanzboden den Rest gegeben.

Das Gatesville-Zeugnis war in eine geprägte Lesemappe eingepasst, Made in Prison, stabil und garantiert nicht schön. Sie stellte beide Füße auf den Boden. Aber stand nicht auf. Er konnte den Blick nicht von diesen Augen lösen. Keine Hoffnung, keine Verzweiflung. Nur eine Sturmwolke am fernen blauen Horizont.

Klopfen an der äußeren Tür. Ein zögerliches Klopfen, so als stünde eine Maus draußen. »’tschuldigung«, sagte Phelan und stand auf. Die hölzerne Sitzfläche seines Stuhls klappte nach oben, als würde der nächste Benutzer durch die Decke kommen. Er drückte darauf. Die Sitzfläche klappte wieder nach unten. »Muss ich reparieren«, murmelte er.

Als er aufblickte, sah er den geraden Rücken von Delpha Wade, die hinausging. Komisch, er hätte gedacht, dass sie nicht so schnell aufgeben würde.

»Sie haben Ihre Tasche vergessen, Miss Wade.«

»Nein.« Leise schloss sie die Tür zwischen den beiden Zimmern – genauer gesagt, die Tür zwischen seinem Büro und dem Empfangszimmer der künftigen Sekretärin. Er hörte: »Guten Morgen, Ma’am. Haben Sie einen Termin mit Mr Phelan?« Die kühle Stimme war geschmeidig wie ein Yale-Schloss.

Ich glaub’s nicht. Phelan brachte die Sitzfläche in Stellung und nahm Platz wie ein anständiger Chef.

Murmeln. »Darf ich fragen, worum es geht?«

Weiteres, ausgedehntes Murmeln. Dann – Phelan hasste dieses Geräusch – Schluchzen. Nicht, dass er nicht darauf vorbereitet wäre. Er hatte für verlassene Ehefrauen eine Schachtel Kleenex im Sonderangebot besorgt. Sie steckte in der untersten Schreibtischschublade neben dem Rachenputzer für die Gatten. Seine .38er hatte er in einer anderen Schublade, den Waffenschein in der Brieftasche, die Privatdetektivlizenz an der Wand, frisch gedruckte Visitenkarten. Eine Ex-Gefängnisinsassin, die die Sekretärin gab.

Delpha Wade kam herein, schloss die Tür hinter sich. »Haben Sie Zeit für eine Mandantin, Mr Phelan?«

»Bringen Sie sie rein.« Trotz des Schluchzens hoffte er auf die Personalchefin einer der großen Raffinerien, Goodyear zum Beispiel, die ein Problem mit einem betrügerischen oder diebischen leitenden Angestellten hatte, und wenn sie schon mal da war, würde ihr klar werden, dass neue Angestellte vor der Vertragsunterzeichnung auf Herz und Nieren gecheckt werden sollten. Die alten vielleicht auch, mehrere tausend möglicherweise.

»Sie können jetzt hineingehen, Mrs Toups.«

Eine klapperdürre Frau mit dem Make-up von gestern und zerknitterter Bluse trat durch die Tür. Kunstledertasche, kleines goldenes Namensschildchen wie von einer Kassenkraft über der linken Brust. Die beiden Falten zwischen ihren Augenbrauen wurden tiefer. »Sie sind ziemlich jung. Ich hab einen –«

»– alten, pensionierten Bullen erwartet?«, sagte Delpha Wade. Das »Bulle« presste sie hervor. »Mr Phelan hat einen frischen Blick auf die Dinge.«

Was Mr Phelan hatte, war ein frischer Notizblock. Er hielt einen Kugelschreiber darüber. »Setzen Sie sich bitte, Mrs Toups. Was kann ich für Sie tun?«

Delpha Wade nahm sie am Ellbogen und schob sie auf den Mandantenstuhl, während sie sagte: »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen? Sahne und Zucker?«

Phelan zog seine Augenbrauen zusammen, um ein paar Falten zu kriegen. Kaffee, dachte er. Welcher Kaffee?

»Ich nehm eine Cola, wenn Sie haben.«

Die Innentür schloss sich hinter Delpha Wade. Dann hörte er, wie sich auch die Außentür schloss. Seine erste Mandantin stotterte durch ihre Probleme, und Phelans Kugelschreiber entjungferte den Notizblock. Die Kleenex-Schachtel blieb in der Schublade. Caroleen Toups hatte ein Taschentuch dabei.

Als seine angebliche Sekretärin mit einer beschlagenen Cola-Flasche zurückkehrte, war Phelan informiert. Die Toups lebten im Norden der Stadt, nicht weit von der Concord Street, nichts, was man Viertel nennen konnte, eher eine Ansammlung alter Holzhäuser, die einzeln aus dem Wald rausgehackt worden waren. Ihr Sohn Ricky war in etwas verwickelt, was ihr nicht gefiel. Er schwänzte die Schule. Trieb sich ständig rum. Gestern Nacht war Ricky dann gar nicht nach Hause gekommen.

Vorsichtig fragte Phelan: »Haben Sie das der Polizei gemeldet?«

»Gleich heute früh um sechs. Die haben gesagt, dass Jungs das eben manchmal machen.«

Phelan gab der Polizei im Stillen recht, nachdem er einmal selbst auf einem Bürgersteig in New Orleans aufgewacht war, völlig verdreckt, noch sturzbesoffen und mit einem Mordsschädel, so als hätte ihm einer ein Armierungseisen in die Stirn gerammt. »Was sagt denn Ihr Mann?«

»Er ist letzten Herbst gestorben. Herzentzündung.« Ihre geröteten Augen wollten die Trauer mit ihm teilen, aber Phelan senkte den Kopf und redete weiter.

»Hat Ricky ein Lieblingskleidungsstück?«

»Irgendwelche albernen Schuhe, die ihn größer machen. Und ein ZZ-Top-T-Shirt, auf dem Rio Grande Mud steht.«

»Wissen Sie zufällig, ob die Sachen noch da sind?«

»Zufällig … Mr Phelan.« Nachdem Mrs Toups es erst einmal geschafft hatte, diesen Grünschnabel als Erwachsenen anzuerkennen, sah sie ihn hoffnungsvoll an. »Sind sie nicht.«

»Hat er ein Sparschwein?«

Sie klappte die Handtasche auf und nahm eine Rolle Scheine heraus, obenauf ein Zwanziger. »Bis um Mitternacht rum«, sagte sie, »hab ich den Enterprise gelesen. Da habe ich Ihre Anzeige gesehen. Dann hab ich das Zimmer von meinem Sohn auf den Kopf gestellt. Das hier hab ich in einer Zigarrenkiste unter seinem Bett gefunden. Zusammen mit ein paar Baseballkarten und krummen Zigaretten. Das sind dreihundertzehn Dollar. Ricky ist in der zehnten Klasse, Mr Phelan. Er arbeitet nicht nebenher.«

Im Empfangszimmer klingelte das Telefon, gefolgt von dem leisen Klappern der instandgesetzten Selectric. »Haben Sie ein Foto von ihm dabei?«

Mrs Toups kramte in der Handtasche, reichte ihm ein Schulfoto. Hellhäutig, kindliche Züge, lange Haare wie heutzutage viele Teenager. Ein Grinsen, als hätte er zu Weihnachten ein Pony gekriegt. Ricky Toups, als er noch einen Daddy hatte.

In den müden Augen der Mutter stieg der Pegel. »Ich hatte gehofft, dass Sie alt und hartgesotten aussehen, damit Sie, wenn Sie Ricky finden, ihm einen Schrecken einjagen. Ich halt das nicht mehr aus.«

Phelan hatte das Gefühl, mit dieser abgehärmten Frau einen Pakt geschlossen zu haben. Das hatte er nicht erwartet. War das immer so? Vielleicht.

»Okay«, sagte er schnell. Während Mrs Toups an ihrer Cola nippte, schrieb er ihre Adresse und Telefonnummer auf, dann bat er sie um die Namen von Rickys Freunden. Bekam den einer Freundin, Georgia Watson. Er notierte den Namen des Nachbarsmädchens. Schule? French High School, die Phelan auch besucht hatte, eine Ansammlung von hellroten Backsteinbauten mit einem kaputtgetretenen Footballplatz. Der Notizblock war jetzt schon eingearbeitet.

Er schrieb ihren Namen auf einen Normvertrag und schob ihn ihr hin. Das Nächste hatte er geübt, so dass er es ohne zu blinzeln aufsagen konnte. »Das Honorar beträgt fünfundsiebzig am Tag. Plus Spesen.«

Kein Blinzeln zur Antwort. Mrs Toups zählte fünf Scheine ab. »Können Sie gleich anfangen?«

»Bei Vermisstenfällen ist der erste Tag entscheidend«, sagte Phelan, als wäre er ein alter Hase. »Ihr Sohn steht ganz oben auf meiner Liste.«

Er begleitete Mrs Toups durch das Empfangszimmer zur Tür. Rechts von ihm saß Delpha Wade hinter dem Schreibtisch, den Kopfhörer in den Nacken geschoben, und tippte. Was tippte sie da? Und woher hatte sie das Papier?

»Eine Mrs Lloyd Elliott möchte in einer vertraulichen Angelegenheit mit Ihnen sprechen. Sie sagt, ihr Mann ist Anwalt.« Delpha Wade sprach mit kühler Stimme und rieb in dem universellen Zeichen für Geld Daumen und Zeigefinger aneinander.

Mrs Toups steckte ihr gerötetes Gesicht noch einmal durch die Tür, eine letzte Bitte. Aber beim Anblick von Phelan, der den Telefonhörer nahm, zog sie den Kopf zurück und ging.

»Tom Phelan«, sagte er.

Hiesiger Akzent, ein leichtes Schnarren in der Stimme, seltsam. Kam gleich zur Sache. Die Frau am Telefon sagte, er solle ihren Mann beschatten und warum. Sie würde einen Vorschuss zahlen. Bar.

»Das müsste klappen. Ich werde mich in Kürze bei Ihnen melden, Ma’am. Bitte hinterlassen Sie bei meiner … bei Miss Wade alle nötigen Informationen. Sie können ihr vertrauen.«

Wollen wir mal hoffen dachte er und stieg die Treppe hinunter.

Als Phelan an der French High School vorfuhr, spielte gerade die Band. Gott, wie gut er sich an den Parkplatz erinnerte: Jugendtreff, Theater und Raucherzimmer. Aus Nostalgie zündete er sich eine an.

Einer der kleinen Scheißer hockte auf dem Kofferraum eines Mustang und schob seinen Cowboyhut in den Nacken. Seine Stiefel standen auf der Stoßstange, ein Knie wippte energisch genug, um das ganze Auto zum Wackeln zu bringen. Phelan bot ihm eine Zigarette an.

Hochnäsig zog der Knabe seinen Bull raus und drehte sich eine. »Feuer würd ich nehmen.«

Phelan beugte sich vor. »Kennst du Georgia Watson?«

»Die ist da drüben. Sie ist bei den Belles.« Der Knabe deutete mit dem Kinn Richtung Wiese, die neben dem Parkplatz lag.

»Und Ricky Toups?«

Der Knabe zog sich den Hut in die Stirn, stieß den Rauch aus. »Sind Sie nicht schon ein bisschen alt für Gras?«

»Ist es das, was die Leute von Ricky wollen?«

Der Nachwuchs-Marlboro-Mann drückte die Selbstgedrehte aus und schob sie sich hinters Ohr. Glitt vom Kofferraum und schwirrte ab.

Phelan drehte sich zu der Wiese, wo die Band eine langsame Version von »Grazing in the Grass« spielte. Schulter an Schulter warfen die Buffalo Belles die Beine in die Luft. Eine Reihe lächelnder Gesichter, weiß, schwarz und Milchkaffee, hüpfende Haare und Brüste, hundertzwanzig Teenagerbeine, die in die Luft geworfen wurden. Mit der angenehmen Erinnerung an ein Paar solcher weißen Stiefel, die nach einem Spiel über seinen Schultern lagen, spazierte er auf den mitreißenden Anblick zu.

Nach ihrer Einlage verzogen sich die Mädchen an die Seitenlinie, während die Band in Formation vorbeimarschierte. Phelan fragte nach Georgia, fand sie und sagte, er wolle mit ihr reden.

Von der dachte Ricky Toups also, sie wäre die Krone der Schöpfung? Gut, Georgia Watson sprengte fast ihren BH, und ihre Shorts waren so kurz, dass der Saum ihrer weißen Hosentaschen wie Unterwäsche rausstand. Aber sie hatte ein Pfannkuchengesicht und strohige Haare und verschlagene braune Augen. Eine geflochtene Goldkette steckte in dem Halsausschnitt ihres verwaschenen weißen T-Shirts.

Sie schob ihn weg von den Grüppchen schwatzender Mädchen. Ihr Lächeln brachte ein trübes Licht in ihre braunen Augen, unter ihren verklebten Wimpern waren schwarze Schmierer.

Er stellte sich ihr mit seiner Visitenkarte vor. »Ricky Toups’ Mutter hat mich gebeten, mich um ihn zu kümmern. Weißt du von irgendwelchen neuen Freunden von ihm?«

Sie ließ das Lächeln sein, zuckte mit den Achseln.

»Komm schon, Georgia. Ricky hält dich für eine Freundin.«

Sie brachte ein Flüstern hervor. »Ricky hat nem Typen bei irgendwas geholfen, aber ich glaube, das ist vorbei.«

»Bei was denn?«

»Irgendwas eben«, zischte sie. Sie sah zu ein paar Mädchen, die sie und Phelan anstarrten, und winkte mit den Fingern. Keine winkte zurück.

»Der Typ. Warum hilft Ricky ihm nicht mehr?«

Georgia schüttelte den Kopf, warf einen abweisenden Blick über Phelans Schulter, so als wäre da jemand, der nicht da war. »Zuerst war’s lustig, dann wurde er nervig. Ricky hat aufgehört mit ihm abzuhängen, auch wenn das bedeutet –« Ihr Mund klappte zu.

»– auf die Kohle zu verzichten«, beendete Phelan den Satz. Mit seinem kleinen Finger zog er das Kettchen um ihren Hals hervor. Nicht übel, 24-karätiges Gold. »Wie lange hattet ihr denn diesen nervigen Freund?«

Das Kopfschütteln hörte nicht auf, fast wie ein Tick.

Phelan trat bedrohlich nah an sie heran. »Einen Namen. Und die Adresse von dem Typen.«

Das Mädchen wich einen Schritt zurück. »Keine Ahnung, irgendwas mit D, Don oder Darrell oder so. Ich muss jetzt gehen.«

Phelan packte sie am Arm. »Ricky ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

Um ihre braunen Augen zeigte sich Weiß. Sie spuckte einen Satz aus, gab ihm noch ihre Telefonnummer, dann riss sie ihren Arm los und lief zu den anderen Mädchen an der Seitenlinie. Sie übten in kleinen Grüppchen Tanzschritte, lachten, alberten herum. Georgia stand daneben, nagte an ihrer Unterlippe, am kleinen weißen Rechteck zwischen ihren Fingern.

11:22. Er fuhr zum Büro zurück, sprang die Stufen hinauf. Delpha reichte ihm die Informationen zu Mrs Lloyd Elliott, die feinsäuberlich auf die Rückseite eines Blattes getippt waren. Er drehte das Blatt um. Delpha Wades Entlassungsschein aus Gatesville. 13. April 1973. Eins achtundsechzig, fünfundfünfzig Kilo. Haare braun, Augen blau. Zweiunddreißig. Vorsätzlicher Totschlag.

»Anderes Papier hatte ich nicht«, sagte sie.

Phelan legte einen Zehner auf den Schreibtisch. »Kaufen Sie welches. Dann schauen Sie, was Sie, sagen wir mal, über die letzten drei Monate in der Gegend, in der die Toups wohnen, finden. Ich dachte erst, dass der Junge nur ein bisschen Gras verkauft, um sein Taschengeld aufzubessern, aber vielleicht steckt noch mehr dahinter.« Er sagte ihr, was Georgia Watson ihm verraten hatte: den Namen mit D, Don oder Darrell, und dass Ricky andere Jungs zum Feiern zu dem Mann mitnahm. »Ich schätze, dass Georgia da auch mitgemischt hat.«

Einen Moment lang sah Delpha ihm in die Augen. Dann blätterte sie wortlos durch das Telefonbuch, während er in sein Büro ging, die .38er aus der Schublade holte und sie lud. Er sah aus dem Fenster. Calinda Blanchard, die Eigentümerin vom New Rosemont, hatte einen Lappen in der Hand und sprühte Glasreiniger auf das Türglas.

Als er hinausging, hatte Delpha das Telefonbuch an der Stelle mit dem Stadtplan geöffnet. »Haben Sie ein Adressverzeichnis?«, fragte sie.

Phelan ging zurück und holte es aus seinem Büro. »Gehen Sie –«

»– die Polizeiberichte in der Zeitung durch.«

»Genau. In der –«

»Bücherei.« Sie ging, die beiden Bücher an die Brust gedrückt.

Wie ein Schulmädchen.

Das Büro des Bewährungshelfers lag gegenüber dem Polizeirevier. Sein Kumpel Joe Ford war zwar da, hatte aber zu tun. Phelan nahm sich zwei glasierte Donuts aus einer offenen Schachtel. Frühes Mittagessen. Joe las einem Mann, mit dem Phelan verwandt war, und einem, den er vom Sehen kannte, aus einer Akte vor. Letzterer machte sich in einem kleinen Spiralblock Notizen. Phelan, der seinen großen Block mit sich herumschleppte, dachte, dass er einen von diesen kleinen brauchte. Geschickter, passten in die Jackentasche. Wirkte professioneller. Joe klappte den Aktendeckel zu und redete weiter. Einer der beiden pfiff leise, der andere lachte.

Joe stand auf, stutzte. »Wenn man vom Teufel spricht. Komm rein, Tommy.«

Phelan schüttelte Detective Fred Abels die Hand. Streckte sie dem anderen hin, aber der Mann umarmte ihn. »Hey, Onkel E.E.«, sagte Phelan.

E.E. polterte: »Bougre, t’es fou ouais toi! T’as engage un prisonnier.« Was bedeutete, dass Phelan verrückt war, weil er eine entlassene Strafgefangene angestellt hatte. Abels, der mit seinem Schnurrbart und den Koteletten wie Burt Reynolds aussah, nur nicht sexy, musterte Phelan, als wäre er ein verdreckter Reifenabdruck von einem Tatort.

Wer sagte, dass er die Frau angestellt hatte?

Phelan starrte Joe an, der, um die Reinheit seines Gewissens zu bezeugen, die Augenbrauen hob, die Lippen nach unten zog, den Kopf schüttelte.

»Okay.« Phelan stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich breitbeinig vor ihnen auf. »Wenn ihr’s genau wissen wollt. Mein Freund hier hat sich an mich und mein bekanntermaßen weiches Herz gewandt. Ich hab mit der Frau gesprochen. Die es mal einem Arschloch gegeben hat. Na und?«

»Eher verhackstückt, ja. Ich hab an dem Fall gearbeitet.« E.E. wackelte mit dem Finger. »Ich geb dir einen Tipp, mein lieber Neffe, sperr den Brieföffner weg.« Er knuffte Phelan in den Arm, nickte Joe zu, und er und Abels schlenderten glucksend davon.

»Dass du deine Klappe nicht halten kannst«, sagte Phelan zu Joe. »Dafür sagst du mir jetzt was über die Fixer und Perversen aus dem Norden der Stadt.« Er schnappte sich Joes Stuhl und ratterte ein paar Straßennamen runter.

»Das ist vertraulich.«

»Ich könnte auch meine Sekretärin bei dir anrufen lassen.«

»Typisch – viel wollen und wenig geben.« Verärgert kniff Joe die Augen zusammen. »Fällt nicht in meinen Bereich, und Parker ist gerade im Kittchen.« Joe trat an den verwaisten Tisch seines Kollegen Parker, den chaotischen neben seinem aufgeräumten, und ging die Ablage durch.

Phelan rief in der Tyrrell Public Library an. Er bat die Bibliothekarin, Miss Wade ans Telefon zu holen, sie sei wahrscheinlich im Zeitschriftenlesesaal.

»Wir sind hier nicht der Busbahnhof. Wir rufen keine Leute aus.«

War wohl die einzige Schreckschraube in dem ganzen Laden, an die er da geraten war, dachte Phelan, während er seine höflichste und schmerzvollste Stimme hervorkramte. »Es tut mir fürchterlich leid, Ma’am. Aber vielleicht könnten Sie meine Schwester suchen? Wir sind hier im Beerdigungsinstitut und unser Daddy kriegt sich überhaupt nicht mehr ein.«

Klack. Hörer auf den Tisch. Joe kramte immer noch in Akten herum.

Schritte, dann meldete sich Delpha. »Hallo, Bruderherz«, sagte sie.

Phelan grinste.

Sie sagte ihm, sie würde ihn von einem Münzfernsprecher aus zurückrufen. »Ich bin bei Joe«, sagte er.

Nach drei Minuten klingelte Joes Telefon, und Delpha las ihm vor, was sie bislang herausgefunden hatte. »Hören Sie sich das von gestern Abend an.« Ein Marvin Carter, 18, auf der Delaware Street unterwegs, wurde ins Krankenhaus gebracht, nachdem er offenbar überfallen worden war. Abgesehen von Fällen häuslicher Gewalt, Diebstählen, einer Klage wegen Herumtanzens auf dem Dach eines Dodge Duster hatte sie sieben Festnahmen wegen Drogenbesitzes und die Meldung wegen eines vermissten Kindes gefunden. Sie gab ihm Namen, Adressen und Telefonnummern durch.

Joe legte die Akten auf den Tisch, rückte sie zurecht, sagte: »Verzieh dich von meinem Stuhl, Kumpel.« Phelan ignorierte ihn, musterte die Verbrecherfotos, während er Namen auf seinen amateurhaften Notizblock kritzelte.

Einer davon war Don Henry. Kam vor zwei Monaten aus Huntsville.

Irgendein Name mit D, Don oder Darrell.

Na also. War doch ganz einfach.

Kein Dreck, keine Ölschmiere, keine Fünf-Zentner-Rohre, keine eingebüßten Körperteile. Mann, er hätte der Bohrplattform auf Wiedersehen sagen sollen, als er noch alle zehn Finger hatte.

14:01. Er fuhr zum Büro zurück und klemmte sich hinters Telefon. Unter Henrys Nummer nahm ein Kind ab, er fragte nach der Mutter.

»Sie ist zum Laden. Geh weg, Dwight, ich telefoniere.« Aus dem Hintergrund Heulen.

»Und wie steht es mit deinem Daddy, Kleine?«

Das Mädchen schimpfte Dwight aus. Dwight solle die Klappe halten, sie wolle telefonieren. Aber Dwight gab nicht auf. Er bekam einen Anfall.

»Kleine? He, du!« Phelan brüllte ins Telefon.

»Halt die Klappe, Dwight! Ich kann überhaupt nichts verstehen. Die haben Daddy Samstertag wieder mitgenommen.«

»Samstertag? Wohin haben sie ihn mitgenommen?«

»Wo er vorher war. Bist du Onkel Merle?« Das Mädchen jaulte auf. Jetzt gab es ein Heul-Duett am anderen Ende.

Die harsche Stimme einer Frau brüllte ins Telefon. »Hör bloß auf, die Kinder auszuquetschen, Merle. Sie haben Don wieder einkassiert. Okay? Bist du jetzt zufrieden? Das hättest du mir gleich sagen können, was? Du und Ma, ihr könnt mich mal.« Der Hörer wurde auf die Gabel geworfen.

Samstag war vor sechs Tagen. Stirnrunzelnd strich Phelan Don Henry von der Liste. Als Nächstes erkundigte er sich besorgt nach seinem Cousin Marvin Carter, die sanftmütigen Ehrenamtlichen in rosa Kitteln am anderen Ende der Leitung vor Augen. Baptist Hospital, nichts. St. Elizabeth, ewige Warterei, durchgestellt, nichts. Hotel Dieu, Volltreffer.

Er stellte sein Auto auf dem für einen Arzt reservierten Platz vor dem Krankenhaus ab, einem roten Backsteinbau in der Nähe vom Hafen. Eau de Jod und geschrubbte Fliesen. Eine Nonne nannte ihm die Zimmernummer.

Das Gesicht auf dem Kissen hatte weiße Barthaare, keine Zähne und schnarchte. Ein Berg von Frau in einem rot geblümten Mu’umu’u saß neben dem Bett. Phelan sah noch mal auf die Zimmernummer. »Marvin Carter?«

Die Frau seufzte. »Er heißt Mar-tin. Ist denn das so schwer?«

Phelan kehrte zum Empfang zurück und stellte sich hinter einer stämmigen Schwarzen und einem Teenager mit einem Transistorradio an, aus dem die Zahl der Kriegstoten des heutigen Tages schepperte. Das Gesicht des Jungen war verkehrt herum, die untere Hälfte breiter, darüber eine schmale Stirn. Er drehte am Senderknopf und ein Song plärrte los. »Superfly.« Die Frau klappte ein Scheckheft zu, schnappte sich das Transistorradio und stellte wieder den ersten Sender ein, wo die blecherne Sprecherstimme Zahlen und asiatische Ortsnamen runterleierte.

»Hör gut zu. Weil wenn du’s so weitertreibst, wirste nämlich da enden, in dem Krieg, der nie endet, kapiert, Marvin? Was gibt’s da zu glotzen?« Sie funkelte Phelan an.

Der Junge drehte sich um, und Phelan sah, dass das Verkehrte eigentlich eine Schwellung war. Aufs Geratewohl fragte er: »Marvin Carter?«

Die Frau schob den Jungen hinter ihren Rücken und fragte Phelan, wer er sei. Er sagte es ihr, betonte, dass er nicht von der Polizei war. Er sagte, dass er nach Ricky Toups suche, und behielt dabei den Jungen im Auge.

Die Augenbrauen des Jungen sprangen in die Höhe. Bingo.

»Gehen wir.« Die Frau schob den Teenager zu den Glastüren.

Phelan blieb hartnäckig. »Hat er dir das angetan, Marvin, was er Ricky antun wird, hm? Möchtest du daran schuld sein? Das könnte viel schlimmer sein als die paar Drogen.«

Der Junge versuchte, Phelans Blick standzuhalten. Scheiterte.

»Ach, jetzt geht’s plötzlich um Drogen?« Die Stimme der Frau sank unter den Gefrierpunkt. »Soll das heißen, dass du mich angelogen hast, Marvin Carter?« Ihre Hand bremste knapp vor der geschwollenen Wange ab.

Marvin grunzte etwas, das vermutlich »Nicht, Mama« heißen sollte, und Phelan wurde klar, dass sein Kiefer verdrahtet war.

»Ricky hat dich dort mit gutem Dope versorgt«, sagte Phelan, »aber das war nicht alles, was du gekriegt hast, oder?«

Der Junge kniff die Augen zusammen.

»Das waren keine weißen Kinder, die dir das angetan haben, oder? Sondern ein Erwachsener?« Marvins Mutter umfasste seine schmale Taille.

»Hör mal«, mischte Phelan sich ein, »wenn er gesagt hat, dass er deiner Mama wehtut, dann werd ich mich darum kümmern. Das ist hohles Geschwätz. Aber das mit Ricky ist was anderes. Du kennst ihn und er ist dort, wo du gestern Abend warst. Hilf mir, ihn zu finden, Marvin.«

»Eniss«, sagte der Junge.

»Ennis? Die Straße beim Schwimmbad?«

Marvin schüttelte den Kopf.

»Heißt er so? Ennis?«

Kopfschütteln, die Hände an seinem breiten Kiefer.

»Dennis?«

Ein Schauer lief durch den Teenager. »At das Seug da. Is ’n üler Hyp, Ann.«

Phelan verlangte keine Übersetzung, er ging seine Liste der frisch Entlassenen durch. Ein Dennis Deeterman. Ein D. Harold Holdrege. Er musterte seine Notizen. Er hatte ein besonderes Kennzeichen von Deeterman aufgeschrieben. »Tätowierung von einem Messer auf dem Arm?«

Marvin hob die Schultern, ließ sie wieder fallen.

»Okay, okay. Concord Street? Lucas?«

Ein harter knackender Laut ließ auf Concord schließen. Marvin stieß eine Wegbeschreibung hervor, abzüglich einiger Konsonanten. Die Mutter starrte Phelan in die Flucht. Marvin beugte den Kopf und vergrub das bebende Kinn an ihrem Hals.

Phelan verschwand zu den zwei Münzfernsprechern des Krankenhauses, rief Delpha Wade an, sagte ihr, wohin er wollte. Wenn sie innerhalb der nächsten Stunde nichts von ihm hörte, sollte sie E.E. Guidry im Revier anrufen. »Ich buchstabiere: G-U-I-«

»Ich weiß, wie man ihn buchstabiert«, sagte sie. »Können Sie mir noch schnell eine Frage beantworten, Mr Phelan?«

»Heraus damit.«

Räuspern. »Können Sie sich vorstellen, mich anzustellen?«

»Miss Wade, Sie waren in dem Moment angestellt, als Sie mich Bruderherz genannt haben.« Er legte den Hörer auf, aus dem kein Ton mehr kam, und lief zu den Türen.

15:15. Das Haus mit dem orangefarbenen Briefkasten, das Marvin unter Schmerzen beschrieben hatte, war eine schäbige weiße Ranch. Sie lag weit hinten auf einem großen Grundstück, dahinter standen hohe Kiefern und Eichen und Magnolien, Gebüsch. Rostbraune Kiefernnadeln und große braune Zungen trockenen Magnolienlaubs bedeckten den Boden. Nachdem der Ölpreis auf satte zwölf Dollar pro Barrel gestiegen war, würde bald jemand hier draußen Fertighäuser aufstellen, aber noch hatte sich die wilde Natur auf diesem vergessenen Flecken des Big Thicket eingenistet.

Kein Auto, aber Abdrücke im Gras, wo eines gestanden hatte.

Phelan klopfte an die Tür. Wartete. Drehte am Türknauf, nichts. Er ging ums Haus zu einem Wintergarten, der aussah, als wäre er nachträglich angebaut worden. Oder es war ursprünglich ein Wintergarten, bevor Spanplatten vor die riesigen Fenster genagelt worden waren. Ein Brett hing quer über der Tür; im Dreck lag ein Hammer, was darauf schließen ließ, dass Dennis Deeterman erst vor kurzem die Fliege gemacht hatte. Vielleicht. Phelan hörte etwas. Er schlug gegen die Tür. »Ricky. Ricky Toups, bist du da drin?«

Er legte das Ohr an die Tür. Da war was. Phelan schlug noch mal gegen die Tür, lauter. »Ich suche nach Ricky Toups.«

Ein leises, regelmäßiges Schnaufen. Dazwischen Knarzen. Was war das für ein Geräusch? Wie von einem alten Schaukelstuhl.

Er lief zurück zu seinem Auto, schob eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach in seine Hosentasche und schnappte sich eine Brechstange. Riss das Brett weg. Öffnete die Tür. Gegenüber lag die Tür, die vom Wintergarten ins Haus führte. Phelan trat darauf zu, die .38er gezogen, und rüttelte am Knauf: versperrt. Er konnte die Pisse in der heißen, toten Luft riechen. Dazu irgendein Kraut und Zigaretten und dann den Bayou-Gestank nach verfaultem Fisch. Das Knarren kam von links hinten, oben. Er fand einen Lichtschalter an der geschlossenen Tür und drückte ihn. Nichts.

Er steckte die Waffe in den Gürtel und trat in den dunklen Raum. Mit dem Schienbein stieß er gegen etwas, das schnell von ihm wegwuselte. Das Ding versetzte seiner Wade einen leichten Hieb, so wie ein wütendes Mädchen das Auto ihres Freundes verkratzt, und rannte über seinen Fuß. Phelan sprang zurück, beugte sich hinunter, um über sein Bein zu streichen, und ertastete einen Riss in seiner Hose. Er hob den Kopf und sah den geringelten Schwanz seines Angreifers durch die Tür verschwinden.

Ein Waschbär.

Nervig würde Dennis Deeterman nicht ganz beschreiben. »Ricky Toups, bist du da?«

Er leuchtete mit dem weißen Lichtkegel nach links und rechts, wo das Knarren herkam.

Himmel Herrgott.

Phelans Mund klappte auf. Auf dem obersten Brett eines Metallregals kauerte ein halbnackter Gargoyle. Nein, er klammerte sich dort fest. Schenkel in Bluejeans, darüber zusammengeklappt ein glatter, glänzender Rücken. Finger, die sich an dem Metall festhielten, der Kopf zu Phelan gereckt. Blinzelnde Augen, die aus tiefen Höhlen glotzten. Der aufgerissene Mund keuchte.

»Du hast Asthma, oder?«

Ricky Toups’ Kopf wackelte auf und ab, die schweißdunklen Haare, die auf dem Schulfoto des letzten Jahres schmutzig blond gewesen waren, wippten mit.

»Was ist hier los, Ricky?«

»Er ist s-s-sauer geworden, weil –« Der Junge hob eine Hand mit ausgestrecktem Finger.

Phelan hörte das Fauchen einer Katze.

Eine Katze, aha.

Er strich mit dem Lichtkegel über verfilzten orangefarbenen Teppich, darauf Marihuana-Krümel, über die Armlehne einer Bambus-Couch, zerdrückte Bierdosen.

»Hinter Ihnen«, keuchte Ricky schwach.

Phelan drehte sich um. Das Licht fiel auf ein Gebiss, das zu einem erneuten Fauchen aufgerissen war. Das verdammte Vieh war nicht mehr als einen halben Meter lang, aber es war aggressiv.

Er warf die Taschenlampe in die Linke, und als er die Hand um den Stab schloss, schickte der Fingerstumpf einen tiefblauen Blitz bis hoch zu seinem Ellbogen. Der kleine Alligator schoss nach vorne und verbiss sich in seinen Schuh. Phelan packte den schuppigen Schwanz. Der schlug aus, riss seine Hand hin und her. Der Alligator zerrte an ihm, das Gebiss wie eine Falle zugeschnappt. Phelan humpelte zur Tür, zog den Alligator an seinem Fuß mit. Draußen riss er den Knoten des Schnürsenkels auf und trat den Schuh weg. Schuh und Alligator flogen ins Gebüsch.

Fluchend rannte Phelan zurück durch die Tür in die schwarze Höhle und packte Ricky, seinen Oberarm, wie sich zeigte. Der Junge rutschte von dem Regal in seine Arme. Phelan legte Rickys Arm um seinen Hals. Sie waren gerade auf dem Weg zur Tür, als Rickys Keuchen zu einem Schrei wurde.

Das durch die Tür fallende Licht fiel auf einen schwarzen Haufen, der nur teilweise zur generellen Dunkelheit gehörte. Phelan starrte darauf. Was –? Er wusste es nicht. Aber sein vegetatives Nervensystem wusste es – ein Schauer kroch ihm über den Bauch, presste seine Eier zusammen.

Der Haufen bewegte sich, bis nur noch ein dünnes Ende davon zu sehen war. Dann verschwand auch das Ende in der Dunkelheit. Dass der Haufen sich auf ihn zu bewegte, sagte Phelan genug. Die meisten Schlangen machten sich davon. Wassermokassinschlangen griffen an. Phelan bewegte die Taschenlampe, bis der Strahl auf die Couch traf, und legte den Jungen darauf ab. »Behalt die Füße oben.« Er ließ den Lichtkegel durch das Zimmer streichen. Wo zum Teufel war sie? Teppich. Kaputter Aschenbecher. Noch mehr Teppich.

Dann traf der Lichtstrahl auf ein gewundenes Stück Schwarz. Er bewegte die Lampe noch ein Stück. Da war sie. Sie wand sich auf ihn zu, den dreieckigen Kopf vorgereckt.

Phelan schoss.

Die schwarze Schlange zuckte, wand sich weiter auf ihn zu, züngelnd.

Er schoss ein zweites Mal. Noch immer krümmte sich die schwarze Gestalt auf dem orangefarbenen Teppich. Mit der dritten Kugel schoss er ihr den Kopf weg. Phelan machte einen großen Schritt von der zitternden Schlange weg, noch war sie nicht tot genug, um nicht zuzubeißen. In seinen Ohren klingelte es, er ließ die Taschenlampe fallen, legte den Arm des Jungen wieder um seinen Nacken und schleppte ihn ans Tageslicht.