12,99 €
Grotesk. Brutal. Witzig. Tiefsinnig. Eine grandiose Zumutung voll subtil-düsterem Humor. Tom Mangold hat das Leben auf die Bretter geschickt: Einst gefeierter Mordermittler, dümpelt er heute – ständig auf Koks – als Hundefänger in einer Laubenkolonie vor sich hin. Als ihn eine herrenlose Hündin zu einer Leiche führt, kommt alles noch schlimmer. Er trifft auf eine betörend schöne Frau mit einem nachtschwarzen Geheimnis – und verliert sich in einem Strudel aus brutalem Mord und zerstörerischen Leidenschaften. Problematisch spät erkennt Tom, dass manche Abgründe keine Wiederkehr zulassen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2025
Timo Blunck, geboren 1962, ist Musiker, Komponist, Produzent und Autor. Ab 1981 war er Bassist der international erfolgreichen Avantgarde-Punkband Palais Schaumburg, zur gleichen Zeit gründete er Die Zimmermänner, mit denen er heute noch aktiv ist. Nach Stationen in England und den USA betreibt Blunck seit 2001 in Hamburg und Berlin die Firma BLUT, die Musik für Events, Filme und Werbung produziert. Seinem Romandebüt »Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?«, zu dem Blunck auch ein Solo-Album veröffentlichte, folgte zuletzt der Roman »Die Optimistin« (2021).
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-290-1
Originalausgabe
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR, Papenhuder Straße 49, 22087 Hamburg.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Er stiehlt meine Seelemit Weitwinkel und Tele, am Bettrand, ein lodernder Schatten.
Timo Blunck, »Der Schlaf Fotograf«
»Zartbitter! Hi-ier! Zartbitter!«
»Ihr Hund heißt Zartbitter?«
»Ja, wie die Schokolade. Siebzig Prozent Kakao.«
Der Labrador-Rüde, der jetzt aus dem See auf uns zustürmte, hatte einen tiefen Braunton, sein kurzes Fell glänzte wie eine Tafel Ritter Sport. Mit großer Geschwindigkeit näherte er sich seinem Frauchen, machte keine Anstalten, langsamer zu werden. Im letzten Moment korrigierte er seinen Kurs und hechtete mir gegen den Oberschenkel. Ich rief: »Nein, nicht anspringen!«
Zu spät. Zartbitter hinterließ fleißig matschige Pfotenabdrücke. Seine Halterin lächelte zwar verlegen, griff aber nicht ein.
»Das tut mir so leid. Schoko-Labbies sind besonders schwer zu erziehen. Zartbitter benimmt sich, wie er will.«
Zum Beweis schüttelte sich der Hund das schmutzige Wasser aus dem Pelz, verteilte weiteren Dreck auf meiner Hose. Ich log: »Das macht doch überhaupt nichts. Sind sowieso meine Schmuddelklamotten.«
Als hätte ich Schmuddelklamotten. Meine mintgrünen Leinenpantalons kamen frisch aus der Reinigung. Zum Glück hatte die Schlammdusche vor meinem himmelblauen Wildlederblouson haltgemacht, den hätte ich sonst wegwerfen können. Frau Zartbitter war die Sache wirklich peinlich, sie wurde sogar etwas rot. Entzückend. Sie zeigte auf meine flauschige Begleitung.
»Und wie heißt diese süße Fellnase?«
»Das ist Knef. So wie Hildegard.«
»Hildegard Knef? Die Sängerin?«
»Genau die. Ich bin großer Fan.«
»Mmh. Knef. Ruft sich aber nicht sonderlich.«
»Das könnte man über Zartbitter genauso sagen.«
Touché. Ihr Lächeln verwandelte sich von verlegen zu aufgeschlossen. Sie musterte mich eingehend, nahm zum ersten Mal den Mann jenseits des Hundes wahr. Und ihr gefiel offensichtlich, was sie sah, denn sie verschränkte instinktiv die Arme vor der Brust. Kleines Einmaleins der Körpersprache: Verteidigungshaltung, der Typ könnte mir gefährlich werden.
Ich hatte mir meine Mischlingsdame Knef genau für diesen Zweck zugelegt. Vergesst Tinder, der schnellste Weg zum Herzen einer attraktiven Frau ist über ihren Vierbeiner. In Cafés, Restaurants und Eisdielen, auf Floh- und Wochenmärkten, an Bushaltestellen oder einfach auf der Straße: Hundebesitzer sind alle vom gleichen Stamm und haben immer sofort ein Gesprächsthema. Früher hatte ich viel Zeit damit verbracht, mir den perfekten Anmachspruch auszudenken. Originell musste er sein und der Situation entsprechend, um spontan und nicht auswendig gelernt zu klingen. Vor allem aber durfte er nicht zu aufdringlich wirken. Wobei meine charmante Vortragsweise in Kombination mit meinem ansprechenden Äußeren so einiges zuließ. Manchmal hatte ich gerade mit einem leicht übertriebenen Klischee den größten Erfolg: »Ich wusste nicht, dass Engel so tief fliegen können.« Aber auch Klassiker wie »Ich wette zwanzig Euro, dass du mir nicht deine Nummer gibst« oder ein humorvolles »Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? Sonst geh ich raus und komm noch mal rein« funktionierten immer mal wieder. Jegliches Spruchgold verblasste allerdings im Vergleich zu »Was ist das denn für eine Hunderasse?«, eine in ihrer Unverbindlichkeit unschlagbare Frage, die aber im selben Atemzug eine intime Schnittmenge herstellte und damit die mit Abstand beste Pick-up-Line der Welt war. Allerdings nur, wenn man selbst einen Hund an der Leine führte. Dabei eignete sich Knef noch mal ganz besonders für die mit siebenundneunzigprozentiger Sicherheit kommende Gegenfrage »… und Ihrer?«, denn Knef war keine Rasse. Knef war vier Rassen: ein Mix aus Bobtail und Wolfsspitz, dazu ein Schuss Eurasier, abgerundet mit einem Spritzer Dackelgenen. Wie insbesondere Letzteres technisch funktioniert hatte, war mir schleierhaft, aber Knef hatte definitiv Dackelohren. Außerdem kam sie aus dem Tierheim, und das gab mir zusätzlich den Gutmenschen-Bonus. Und schon befand man sich in einer tiefsinnigen Konversation über das Wesen des Hundes im Allgemeinen, seine Vorzüge gegenüber Katzen und warum wir uns ein Leben ohne unser Ausnahme-Exemplar gar nicht mehr vorstellen konnten.
Der beste Ort für derlei nicht ganz zufällige Begegnungen war natürlich die Hundewiese. Diese typisch deutsche Einrichtung gab es in praktisch jedem Park der Republik. Nur hier in diesem Areal durften die Vierbeiner ausnahmsweise mal von der Leine, aber die Freiheit wurde knallhart kontrolliert, in Hamburg sogar von einer speziellen Einsatztruppe der Polizei. Hundewiesen waren nicht groß, Spazierengehen funktionierte hier nicht. Mensch stand herum und schaute Tier beim Spielen mit seinen Artgenossen zu. Wer jetzt nicht ins Gespräch kam, hatte wahrscheinlich auch beim Abschlussball allein getanzt. Ideale Hangouts also für einen kontaktfreudigen Mittdreißiger wie mich, immer auf der Suche nach menschlicher Inspiration und auch physischer Nähe nicht abgeneigt, selbst wenn sie nur von kurzer Dauer war.
Eine der größten Hundewiesen Hamburgs befand sich in Niendorf. Diesen weitgehend unterschätzten Stadtteil im Nordwesten der Hansestadt verband der durchschnittliche Spaziergänger wohl zunächst mit dem Niendorfer Gehege, einer äußerst gepflegten Kulturlandschaft mit altem Baumbestand und vielen Freizeitattraktionen. Dem ernsthaften Hundehalter aber war dieses Gelände viel zu restriktiv, ja regelrecht hundeunfreundlich. Der echte Niendorfer verortete das Gehege sowieso im »alten« Niendorf, dem Gebiet rund um den Niendorfer Markplatz. Diese Gegend war eine Art »Blankenese light«, in den schmucken Jugendstilvillen wohnten sogar ein paar Promis! Das »neue« und für den Kenner einzig wahre Niendorf aber war der »wilde Norden«, das ehemalige Ohmoor und die Gebiete nordwestlich des Flughafens »Helmut Schmidt«. Diesen um einiges weniger eleganten Flecken dominierten trostlose Betonburgen und die wahrscheinlich schmalsten Reihenhäuser Deutschlands.
In meiner Nachbarschaft befanden sich auch das »Naherholungsgebiet« Rahweg und die Kleingartengemeinschaft Dohlenhorst e. V., beide idyllisch an der Tarpenbek gelegen, einer der unbedeutenderen Wasserstraßen Hamburgs. Eigentlich war diese Anlage ein Ding der Unmöglichkeit, bestes Bauland in relativer City-Nähe, mit der U-Bahn war man in zwanzig Minuten in der Innenstadt. Aber sosehr sich die Immobilienspekulanten auch die Finger danach leckten, das Objekt lag einfach zu dicht am Flughafen.
Zartbitter lief wieder in die trübe Brühe. Meine neue Hundebekanntschaft erklärte: »Labradore sind Apportierhunde, sie sind sehr wasserfreudig. Ihr Fell ist extrem dicht, sie werden nicht nass.«
Ich wischte mir den Matsch von der Hose. »Na, da kann sich die Textilindustrie ja noch so einiges abgucken.«
Sie kicherte. »Ich heiße übrigens Josepha. Und du?«
Das ging aber schnell. Und gleich auf Du! »Ich bin Mar…«
Ein riesiger Airbus im Landeanflug unterbrach mich mit ohrenbetäubendem Lärm. Knef fing an zu winseln, drängte sich an meine Beine. Ich streichelte ihr den Kopf.
»Alles gut, meine Süße.« Der Flieger zog vorbei. »Ich bin Marius.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Marius.«
Ich lächelte mein schönstes Lächeln. »The pleasure is all mine.«
Josepha war mindestens eine Achteinhalb. Groß und sportlich, aber mit genug Kurven, um sich keine blauen Flecken zu holen. Sie trug ihr blondes Haar im Pferdeschwanz, ihre blauen Augen funkelten hinter extralangen Wimpern. Eine schmale Nase und ein fein geschwungener Mund komplettierten ihren hanseatischen Look, der durch eine grüne Barbourjacke mit Cordkragen noch unterstützt wurde. Dazu trug sie beige Jeans und Gummistiefel der Marke Hunter. Ein Outdoor-Girl mit modischem Anspruch, eine Frau nach meinem Geschmack.
»Knef mag das Wasser nicht. Sie geht höchstens bis zum Bauch rein und auch dann nur zum Trinken.«
Wie zum Beweis tippelte meine Hundelady in den See, wo sie von Zartbitter leicht überbegeistert begrüßt wurde. Knef war das sichtlich unangenehm, sie warf mir einen genervten Blick zu. Labradore sind immer so stürmisch! Und leider gleichzeitig so unbeholfen! Josepha machte eine kreisende Bewegung mit dem rechten Zeigefinger.
»Uhrzeigersinn?«
Ja, war denn schon Weihnachten? Hatte die Achteinhalb mich gerade zum gemeinsamen Flanieren aufgefordert? Und zwar im Uhrzeigersinn, also rechts um den See? Der erfahrene Rahweg-Spaziergänger kannte natürlich diesen Begriff, der sich auch auf die gesamte Runde durch den Park erweitern ließ. Ich erwiderte: »Uhrzeigersinn passt mir gut, mein rechtes Bein ist nämlich etwas kürzer als mein linkes.«
Josepha schenkte mir ein perfektes Lächeln, ihre makellosen Zähne strahlten mit dem Weiß ihrer Augäpfel um die Wette. Sie rief: »Hi-ier, Zartbitter, hi-ier!«
Der tapsige Schoko-Labbie sprang wieder aus dem Teich und schüttelte sich ausgiebig. Diesmal war ich gewarnt, hielt gebührenden Abstand.
Es war einer dieser herrlichen Samstagnachmittage im Oktober. Die Sonne war zwar nicht mehr ganz so warm, aber immer noch genauso hell wie im August. Und rein ästhetisch war der Herbst sowieso viel aufregender als der Sommer. Die Blätter glänzten in satten Rot- und Gelbtönen, die schräg stehende Sonne tauchte den Park in ein leuchtendes Gold. Das ideale Wetter, um spazieren zu gehen. Dabei missachteten Josepha und ich die Leinenpflicht, sehr zum Ärger der zahlreichen Angler, die die überall aufgestellten »Angeln verboten«-Schilder offenbar ähnlich ernst nahmen wie Porschefahrer die Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn. Knef war ein Ghetto-Hund, man hätte sie einfach so an der nächsten Bushaltestelle rauslassen können, und sie wäre bestimmt zurechtgekommen. Im Park interessierten sie immer die Mülltonnen am meisten, und sie hatte keine Hemmungen, wildfremde Passanten anzubetteln oder Entenfütterern die Brotkrumen zu klauen. Angler mochte sie besonders, denn die hatten Köder in den Taschen, und Knef traute sich ohne Weiteres, diese zu durchsuchen. So auch heute.
»Knef, no! Come back here!«
»Du redest Englisch mit deinem Hund?«
»Ja, ich möchte, dass sie zweisprachig aufwächst.«
Jetzt musste Josepha laut lachen. »Du bist echt ein lustiger Typ. Aber warum gerade Englisch?«
»Ich habe lange in London gelebt, bin erst letztes Jahr wieder nach Niendorf gezogen.«
»Ah. Was bist du eigentlich von Beruf?«
»Ich bin …«
Ein weiterer Jet störte unsere Konversation. Diesmal hielt sich Josepha die Ohren zu.
»… Investmentbanker.«
Das war natürlich gelogen, aber »Sachbearbeiter in der Kreditabteilung bei der Commerzbank« erschien mir in diesem Zusammenhang einfach zu profan. Außerdem hatte ich tatsächlich mehrere Jahre in England gearbeitet, allerdings nicht in der »City«, dem Finanzcenter Londons, sondern in einer Filiale der Barclays Bank in Putney, einem Vorort der Hauptstadt.
Josepha schaute mir tief in die Augen. Sie hob die perfekt geformten Augenbrauen. »Spannend.«
Flirtete sie mit mir? Mir wurde etwas heiß in meinem Wildlederblouson. Frau Zartbitter war definitiv nicht der Prototyp reservierte Hanseatin, den sie rein äußerlich darstellte. Und sie legte noch einen drauf: »Hast du vielleicht Lust, anschließend einen Kaffee trinken zu gehen?«
Jetzt fing ich tatsächlich an zu schwitzen. Das war normalerweise meine Zeile, und ich hätte sie frühestens am Parkplatz gebracht. Ich stotterte: »Ja, äh, gern.«
»Wie wär’s mit dem Café am Minigolfplatz? Im Burgunderweg?«
Was, sie kannte sogar meinen Lieblingsgeheimtipp? Meine kulinarische Trumpfkarte, Überraschungs-Highlight in der ansonsten gastronomischen Wüste Niendorfs. Verdammt, jetzt wurde ich beinahe etwas sauer. Ich war es nicht gewöhnt, mir die Initiative aus der Hand nehmen zu lassen, musste mich außerhalb meiner Balz-Routine erst einmal zurechtfinden. Aber ich blieb gelassen, hielt es mit meiner Lieblingssängerin, der großen Hildegard Knef: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
Drei Stunden später saß ich bei Josepha zu Hause an ihrem Esstisch. Ihre schicke Wohnung im Gotenweg war Teil einer Neubauanlage, die auf dem Grundstück eines ehemaligen Einfamilienhauses errichtet worden war. Keine architektonische Meisterleistung, aber ein effizienter Weg, aus einer Wohneinheit vier zu machen, ohne dabei den beschaulichen Charakter der Vorstadt zu zerstören. Diese Form von Immobilienspekulation sah man immer häufiger in meinem Viertel, auch in meiner Straße gab es schon ein paar dieser Klinkerkästen.
Ich ließ begeistert die Gabel fallen. »Das schmeckt ja wahnsinnig gut!«
Was als Kompliment gedacht war, klang eher wie ein lustvolles Stöhnen. Josepha war eine begnadete Köchin. Gleich nach dem Kaffee hatte sie mich noch auf einen Snack zu sich gebeten.
»Espresso macht hungrig, stimmt’s?«
Eigentlich das Gegenteil, aber bevor ich antworten konnte, hatte sie nachgesetzt: »Ich hab noch etwas Entenpastete zu Hause, dazu frisches Baguette und einen leckeren Burgunder – ist doch passend, oder?« Sie zeigte auf das Straßenschild neben der Einfahrt zum Minigolfplatz und lachte. »Burgunderweg!«
Das war dann wohl ihr Humor. Frau Zartbitter war definitiv nicht von der Stange, aber ich gewöhnte mich schnell an ihre direkte Art. Ihr Tempo war atemberaubend, aber hey, go with the flow, dann war ich eben mal die Unschuld vom Lande. Und so war das bereits der dritte Gang, den sie mir in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zuhause servierte. Ich fragte: »Wie nennst du dieses wundervolle Gericht?«
Josepha lächelte verschmitzt. »Das ist mein Engelfrikassee.«
»Engelfrikassee? Weil es so himmlisch schmeckt?«
»So ungefähr.«
Sie ging in die Küche. Ich rief ihr hinterher: »Was ist das eigentlich für ein Fleisch? So zart, so saftig. Oder ist das irgendwas aus Soja, vielleicht Seitan, wie heißt das noch, ›Beyond Meat‹?«
Sie erschien mit einer weiteren Flasche Weißburgunder. »Das möchtest du wohl gerne wissen.«
»Ja, denn das ist wirklich überirdisch gut. Womit hast du das gewürzt? So was Köstliches habe ich noch nie gegessen.«
Josepha schwieg. Wieder machte sie diese verführerische Bewegung mit den Augenbrauen, dazu legte sie den Kopf leicht zur Seite. Ich gab nicht auf.
»Ach komm schon, verrat mir das Rezept.«
Sie wackelte mit dem Zeigefinger. »Das ist keine gute Idee. Wenn ich’s dir verraten würde, müsste ich dich nämlich anschließend leider umbringen.«
Wieder verschwand sie in der Küche. Ich nahm mein Weinglas und folgte ihr.
»Wow!«
Ich staunte mit offenem Mund. »Küche« – ein Wort, für das es im Deutschen kein Synonym gab und das für diesen Raum maßlos untertrieben schien. Josephas Arbeitsplatz war eher ein Speise-Atelier, ein Gourmettempel, eine Kathedrale der Kochkunst. Über ihrem sechsflammigen Gasherd hingen diverse Töpfe und Pfannen aus Gusseisen und Kupfer an einem silbernen Pot Rack. Sie hatte nicht nur einen, sondern zwei extrabreite Öfen. Hinter Glastüren standen Gewürze, Öle und exotische Zutaten in sauber aufgereihten Dosen und Flaschen. In der offenen Speisekammer türmten sich Kartons und Gläser mit mir weitgehend unbekanntem Gemüse und eingelegten Früchten. Auf ihrer Kücheninsel stand ein beeindruckender Holzblock mit einer beachtlichen Kollektion japanischer Messer. Ich langte nach einem der Griffe. Sie gab mir einen kleinen Klaps auf den Handrücken.
»Das lass mal lieber. Die werden schon vom Hingucken stumpf.« Sie griff sich einen Küchenbrenner vom Regal und ließ kurz die Flamme aufleuchten. »Lust auf Nachtisch?«
Wir tranken wieder Espresso. Wie zu erwarten war auch die Crème brûlée ein absoluter Hochgenuss gewesen. Überhaupt hatte das Mahl mich in einen seltsamen Trance-Zustand versetzt, der Mix aus Gaumenschmaus und erlesenem Wein zeigte Wirkung. Dabei fühlte ich mich wunderbar leicht, keine Spur von Völlegefühl. Ich schwebte auf einer Schlemmerwolke, hätte ohne Weiteres die ganze Nacht weiteressen können. Josepha war thematisch schon wieder auf der Hundewiese.
»Weißt du eigentlich, dass die sanft rollenden Hügel des Rahweg-Parks in Wirklichkeit die letzten Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs sind? An dieser Stelle wurden noch bis in die frühen fünfziger Jahre die Resttrümmer der von den Engländern zerbombten Hansestadt vergraben.«
»Das wusste ich nicht.«
»Ja, und die haben da nicht nur Schutt verbuddelt, sondern auch diverse Leichen.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Hat mir Marc-Dieter erzählt.«
»Marc-Dieter?«
»Mein Ex-Freund. Der war Geschichtsprofessor.«
»War?«, fragte ich nach.
Josepha grinste. »Ja, war. Aber das tut nichts zur Sache.« Sie verscheuchte eine imaginäre Fliege. »Da redet natürlich keiner drüber, aber nach den Luftangriffen hatten die Verantwortlichen überhaupt keine Zeit, geschweige denn die Leute, alle Toten zu identifizieren oder ihnen ein vernünftiges Begräbnis zu geben. Die haben sie einfach zusammen mit den ganzen Trümmern vergraben. Da unten liegen nicht nur unbekannte Soldaten, sondern auch Frauen und Kinder.«
»Das kann ich kaum glauben. Das ist so barbarisch, so …«
»Ach, das ist einfach nur praktisch. Die Leichen lagen auf der Straße und fingen an zu stinken. Würde man heute genauso wieder machen.«
Ich war etwas schockiert. Ohne Vorwarnung hatte die Unterhaltung eine schon fast morbide Abzweigung genommen, die definitiv kein postkulinarischer Small Talk war. Aber so steil, wie Josepha in die dunkle Kurve gegangen war, so geschmeidig säuselte sie sich wieder ins Licht.
»Na, schöner Mann, dir hat’s offensichtlich geschmeckt.« Sie tätschelte meine Hand. »Ein voller Bauch steht dir übrigens gut. Ich geh mal eine rauchen.« Sie zeigte auf den Balkon.
Ich fragte überrascht: »Du rauchst?«
Sie zwinkerte mir zu. »Ja, aber nur vor dem Sex.«
Moment, eine Zigarette vor dem Sex? Dann fiel der Groschen.
Anschließend sank ich in einen unruhigen Schlaf. Im Traum stand ich am Rand der Hundewiese im Rahweg. Es war früher Morgen, Nebel lag über dem noch feuchten Gras. Vor mir rollten die sanften Hügel des Naherholungsgebiets. Ich atmete tief durch, genoss die frische Luft und die romantische Stille. Plötzlich jagte ein Düsenjäger so tief über mich hinweg, dass ich den Kopf einziehen musste. Kaum richtete ich mich wieder auf, wiederholte sich die Attacke. Und noch ein Jet. Und noch einer. Es war, als würde mich eine ganze Schwadron Jagdflieger angreifen und Sprengbomben abwerfen. Der Lärm war infernalisch, ein hoher Sinuston begann in meinen Ohren zu klingeln. Schwarzer Qualm verdunkelte die aufgehende Sonne, der schwere Geruch von Kerosin biss mir in die Nase. Ich musste heftig husten, kniff die Augen zusammen.
Als ich sie wieder öffnete, hatte sich das Geschwader mit einem leisen Echo hinter dem Horizont verzogen. Langsam verflüchtigten sich auch die Rauchschwaden. Doch die dahinter auftauchenden Hügel hatten jeden Liebreiz verloren. Der Rasen war aufgeplatzt, aus den Rissen quoll blutrote Erde, zerborstene Balken und andere Trümmer ragten wie abgebrochene Zähne in die Nebelschleier. Auch das Licht hatte sich gewandelt, aus der zarten Morgenröte war ein kaltes Neonblau geworden, das die Szene gespenstisch von hinten beleuchtete. Ich hörte mich selbst sprechen: »Jetzt fehlen nur noch die schrägen Geigen, und wir haben einen Horrorfilm.«
Aber statt eines Streichorchesters erklang eine einzelne Posaune am äußersten rechten Ende meines Stereobildes. Und als wäre das nicht genug der akustischen Fehlbesetzung, begann auf der linken Seite ein dezent schwingender Reggae-Beat zu spielen.
»Reggae? In einem Gruselschocker? Dass ich nicht lache!«
Das hätte ich nicht sagen sollen. Mit einem bösen Zischen erschien eine dunkle Gestalt im Nebel vor mir. Ihr langer Schatten legte sich über meine Augen, war so tiefschwarz, dass ich für einen Moment zu erblinden glaubte. Kaum löste sich die Finsternis, bemerkte ich weitere Silhouetten. Sie tauchten aus den klaffenden Wunden, die die Jagdflieger hinterlassen hatten, auf wie Orcas aus der Tiefsee. Und wie die großen Raubwale fletschten sie bedrohlich die Zähne, fingen an, in einem tiefen Bariton zu summen. Ihre Stimmen mischten sich mit Posaune und Beat, erzeugten eine passable Bassbegleitung. Die erste Gestalt war mir mittlerweile so nahe gekommen, dass ich ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Überrascht stellte ich fest, dass es sich um Josepha handelte. Allerdings ähnelte sie der Frau, die neben mir im Bett lag, nur entfernt – sie war eher ihre Zombie-Version. Die Haut hing ihr in Fetzen vom Schädel, entblößte den weißen Knochen darunter. Ihre Augäpfel rollten in leeren Höhlen, die gelben Zähne hingen ohne Zahnfleisch im Kiefer. Trotz ihres offensichtlich schlechten Zustandes war sie in der Lage, sich sanft im Reggae-Rhythmus zu wiegen. Sie hob den Arm, streckte mir eine Hand entgegen, die fast nur noch Skelett war.
Wieder hörte ich meine Stimme. Diesmal sang ich!
»Schatz, wie heißt das Mahl, das ist so unheimlich lecker?«
Zombie-Josepha erwiderte heiser, ihre untoten Stimmbänder erzeugten einen rauchigen Flüsterton: »Engelfrikassee, Engelfrikassee.«
Ich nahm sie bei der Hand, zog sie zu mir heran. Sie roch nach Erde und Moos, gar nicht mal unangenehm.
»Schatz, wie heißt der Snack, den gibt’s bestimmt nicht beim Bäcker?«
»Engelfrikassee, Engelfrikassee.«
Wir tanzten ein paar Schritte. Ich wechselte die Tonart, rutschte ein paar Noten höher.
»Schatz, diese Gewürze harmonier’n miteinander.«
Josepha zuckte mit dem, was ihr an Augenbrauen geblieben war. »Engelfrikassee, Engelfrikassee.«
Sie lag gut im Arm, bis auf die Stellen, wo meine Hand ins Leere griff. Unterhalb ihres Brustkorbs war nichts, ich streifte ihre Rippen von innen.
Wir drehten uns umeinander, dabei stellte ich fest, dass die anderen Zombies mittlerweile im Halbkreis um uns herumstanden, dahinter hatte sich die Band aufgebaut. Neben dem Posaunisten war ein halb verwester Trompeter am Start, auch die restlichen Musiker waren lebende Leichen. Die versammelten Untoten intonierten mit krächzenden Kehlen: »Gruß aus der Küche, Liebe zergeht auf der Zunge, tausend Gerüche, Schnäpse und Bier versagen, Tee emailliert den Magen.«
Jetzt fiel mir auf, dass ich mich offensichtlich in einem Klartraum befand. Mir war bewusst, dass ich träumte, dass dieses absurde Grusical vollständig meiner Phantasie entsprungen war und ich deshalb auch in der Hand hatte, was als Nächstes passierte. Ich entschied mich, endlich Licht ins Dunkel um das mysteriöse Fleisch auf meinem Teller zu bringen.
»Schatz, was ist da drin, das ist doch nicht hier vom Hügel?«
Josepha lächelte ohne Lippen. »Engelfrikassee, Engelfrikassee.«
Ja, ja, aber …
»Schatz, wo gibt’s das Fleisch? Ist das jetzt Lamm, Rind, Geflügel?«
Wieder nur: »Engelfrikassee, Engelfrikassee.«
Ich wurde ungeduldig, aber bevor ich nachhaken konnte, bemerkte ich, dass die lebenden Leichen angefangen hatten, sich synchron zu bewegen, eine einfache Tanzroutine vollführten.
Sie kamen mir immer näher, aus dem Halbkreis wurde ein Kreis, dann ein Ring, schließlich ein Kessel. Ich stand Schulter an Schulter mit den Zombies, deren Zahl exponentiell zuzunehmen schien. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen; so weit ich blicken konnte, blitzten Totenschädel im Neonlicht, drängten modrige Körper in meine Richtung. Ihr Summen war schon lange nicht mehr harmonisch, hatte sich zu einem gefährlichen Geifern aufgeschwungen. Jetzt hörte auch der Geruch auf, angenehm zu sein, giftige Fäulnis machte sich breit. Ich suchte nach Josepha, aber meine Zombie-Freundin war in der Menge verschwunden.
»Aua!«
Eine Leiche hatte mich in den Nacken gebissen.
»Hey, lass das!«
Ein weiterer Untoter versenkte seine Zähne in meiner Wade, ließ nicht mehr los.
»Was soll das? Aufhören!«
Ich spürte Zähne am ganzen Körper, wurde von allen Seiten angeknabbert. Immer mehr Zombies rückten heran, kletterten übereinander, drohten mich zu erdrücken.
»Nicht doch, das tut weh!«
Das war dann wohl zu viel des Guten. Klar oder unklar, wer auch immer entschied, dass ich nun genug geträumt hatte, weckte mich mit einem besonders schmerzhaften Biss in die Schulter.
»Oh Marius, du bist so heiß, ich könnte dich aufessen!«
Ich war zurück in der Realität. Zu meinem Entsetzen erkannte ich, dass auch diesseits der Traumgrenze das Beißen kein Ende nahm. Und dass Josepha die Übeltäterin war. Das erste Morgenlicht erreichte Frau Zartbitter nackt und auf allen vieren. In einer seltsam gekrümmten Position hockte sie über mir und – biss! Immer wieder schnellte ihr Kopf auf mich nieder, schnappte sich mit den Zähnen ein Stück Haut. Wo waren eigentlich mein T-Shirt und meine Boxershorts? Ich war ihr schutzlos ausgeliefert. Brust, Bauch, Beine, Arme, sie zog und zerrte, bis es wirklich wehtat.
»Sag mal, bist du völlig verrückt geworden?«
Sie war offensichtlich schon eine Weile bei der Sache, denn ich trug am ganzen Körper krebsrote Gebissabdrücke.
»Ach, ich knabbre doch nur ein bisschen. Weißt du eigentlich, wie gut du schmeckst? Du machst mich so scharf!«
Das ungewöhnliche Kompliment zeigte trotz der noch ungewöhnlicheren Situation Wirkung. Außerdem war meine Bettgefährtin trotz (oder gerade wegen) ihrer Beißposition ein überaus stimulierender Anblick. Nun wurde auch ich scharf. Sofort fokussierte Josepha auf das Zeichen meiner Erregung. Verzweifelt rief ich: »Nein, bitte nicht in den …«
»Knef, meine Süße, ist ja gut, ich bin wach!«
Meine Hundedame leckte mir das Ohr, drückte ihre feuchte Schnauze gegen meine Wange. Ich guckte auf mein iPhone, schon elf Uhr fünfzehn! Ich war wohl wieder eingeschlafen. Ein Blick zur Seite, Josepha schnarchte noch leise vor sich hin. Mit einem beherzten Ruck sprang ich auf, aber ein gewaltiges Stechen gleich über dem rechten Auge zwang mich wieder auf das Kopfkissen. Das war dann wohl doch ein bisschen viel Burgunder gewesen letzte Nacht. Ich versuchte es noch mal etwas langsamer, hielt mich am Bettrahmen fest. Jetzt ging’s. Leicht schwindelig zog ich mir meine Shorts an, griff mein Handy und torkelte in die Küche. Schwanzwedelnd folgten mir Zartbitter und Knef, die sich auf ein Frühstück freuten.
Mein Hangover war brutal. Der Kopfschmerz war eine fiese Würgeschlange, die sich um meinen rechten Hirnlappen gelegt hatte. Gnadenlos erhöhte sie den Druck. In meinem drangsalierten Schädel formte sich nur ein Gedanke: »EIS!« Ich riss den Kühlschrank auf, aber im Gefrierfach befanden sich keine Eiswürfel. Ein Sortiment von tiefgekühlten Fleischpaketen in Plastikfolie füllte akkurat gestapelt den Freezer. Sei’s drum! Ich griff mir eins der Päckchen und hielt es mir mit beiden Händen an die Stirn. Schon besser. Ich schloss den Kühlschrank und setzte mich auf einen der Barhocker an der Kücheninsel, stützte mich auf die Ellenbogen und checkte meinen Instagram-Feed. Dabei lehnte ich mich in das Fleischpaket, das unter meiner Körperwärme anfing zu tauen. Eiswasser tropfte auf meine Handgelenke, lief mir die Unterarme hinab und sammelte sich auf der Marmoroberfläche der Insel. Schließlich legte ich das Fleisch zur Seite, wollte mir gerade ein neues Päckchen aus dem Eisfach holen, als ich bemerkte, dass ein kleines Stück Papier an meiner Stirn klebte. Ich zog es ab und betrachtete es.
Es war eins dieser selbstklebenden Tiefkühlschilder, auf denen man Inhalt und Einfrierdatum festhielt. Obwohl völlig durchnässt, konnte man die Schrift darauf noch gut erkennen. In fein säuberlich geschwungenen Buchstaben hatte jemand »Detlef, 17.9.23« notiert. Detlef? Ich ging wieder zum Kühlschrank, öffnete das Eisfach. Ich nahm noch ein Paket heraus. Auf diesem stand »Sven, 5.1.24«. Ich legte es zur Seite, forschte weiter. Ich fand einen »Angelo, 7.6.24«, einen »Klaus, 15.10.22« und zwei weitere »Detlef, 17.9.23«. Darunter lagen drei mit der Aufschrift »Marc-Dieter, 13.5.23«. Marc-Dieter? Ein leiser Alarm begann in meinem Kopf zu klingeln. War das nicht der Name von Josephas Ex-Freund gewesen, dem Geschichtsprofessor?
»Was machst du an meinem Kühlschrank?«
Hinter mir hatte Josepha die Küche betreten. Ihr Spiegelbild leuchtete in den Glastüren der Schränke. Sie war barfuß und trug einen seidenen Kimono mit Kirschblütenmuster, der ihr hervorragend stand. Sie sah hinreißend aus. Bis sie anfing zu schreien: »Was fällt dir ein? Durchsuchst du jetzt schon meine Sachen, du mieser Stalker?«
Mit je einem Paket »Marc-Dieter« in den Händen drehte ich mich zu ihr um. »Nein, natürlich nicht, ich hatte nur nach Eis gesucht, wegen meiner Kopfschmerzen. Aber dann …«
Ich hielt Marc-Dieter in die Höhe, fragte mit zitternder Stimme: »Engelfrikassee?«
Mit einem gewaltigen Satz sprang Josepha auf die Kücheninsel, griff sich eins der japanischen Messer aus dem Holzblock. Sie zischte: »Der Kandidat hat fünfzehn Punkte! Allerdings hatte ich dich gewarnt.«
Ich ließ die Bündel fallen. »Gewarnt? Wovor?«
»Dass ich dich umbringen müsste, wenn ich dir das Rezept verraten würde. Was hast du daran nicht verstanden?«
»Das war dein Ernst? Ich dachte, du flirtest mit mir!«
»Ist schon klar, hübsches kleines Ding, das ich bin. Aber so seid ihr Macker eben – beratungsresistent bis zum bitteren Ende.«
Wie eine große Katze stürzte sie sich auf mich. Blitzartig ließ sie die Klinge vorschnellen, landete auf Händen und Füßen. Zunächst dachte ich, sie hätte mich verfehlt, aber dann spürte ich einen brennenden Schmerz auf der Stirn. Fast gleichzeitig färbte sich mein Gesichtsfeld rot. Hinter dem Blutvorhang erschien Josepha, ihre weit aufgerissenen Augen betrachteten mich neugierig.
»Ich sag’s ja immer: Der männliche Blick macht blind.«
Sie wedelte mit dem Messer vor meiner Nase hin und her und begann, heiser zu lachen.
»Das ist übrigens mein Yanagiba. Zu Deutsch ›Das Weidenblatt‹.« Schmatzend leckte sie die blutige Klinge. Sie flüsterte: »Sayonara, Baby.«
Mit einer geübten Bewegung aus dem Handgelenk schnitt sie mir die Kehle durch. Das Messer war so scharf, dass ich die eigentliche Verletzung gar nicht spürte. Aber ich fühlte das Blut aus mir herausströmen, hörte es auf den Küchenboden plätschern. Mir wurde übel, kalter Schweiß tropfte mir den Rücken runter. Dann war mein Körper auch dazu nicht mehr in der Lage. Mir versagten die Knie, ich rutschte in meiner eigenen Blutlache aus. Ich versuchte, mich am Pot Rack festzuhalten, dabei riss ich das Regal aus der Wand. Ungebremst schlug ich der Länge nach hin, um mich herum fielen Töpfe und Pfannen mit einem tosenden Scheppern zu Boden. Knef erschien neben mir. Mit schwindender Kraft streichelte ich meine treue Begleiterin. Ich röchelte: »Das ist dann wohl nicht so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt haben, oder?«
Knef hatte allerdings wenig Interesse an meinen letzten Worten. Sie schnüffelte an dem Blut, das noch immer aus meiner Wunde floss. Dann begann sie gierig, die Flüssigkeit aufzulecken. Jetzt gesellte sich auch Zartbitter zu ihr, mit wachsender Begeisterung schleckten die Hunde meinen Lebenssaft vom Parkett.
»Bist du wahnsinnig, ihn schon hier kaltzumachen?«
Eine hohe Männerstimme tönte aufgeregt durch die Küche. Wer war das? Wo kam der Typ her? Verzweifelt bemühte ich mich, den Kopf in seine Richtung zu drehen, aber ich war schon zu schwach.
»Du blöde Kuh! Du hättest ihn erst nach Hause bringen sollen, so wie wir es sonst immer machen. Hier ist es doch viel zu gefährlich!«
Der Mann quengelte wie ein fünfjähriges Kind. Josepha beruhigte ihn mit sanfter Stimme.
»Ist ja gut, Noah, du hast natürlich recht. Ich hab mich hinreißen lassen, der Typ war einfach zu ätzend. Er hatte wirklich nicht verdient, auch nur eine Sekunde länger zu leben. Außerdem war er uns auf die Schliche gekommen.«
»Okay. Aber so wie der blutet, kannst du ihn nicht am Stück verladen. Du musst ihn wohl leider gleich hier in der Wohnung zerlegen.«
Zerlegen? Zum letzten Mal läuteten meine Alarmglocken. Aber ich stand zu dicht an der Schwelle des Todes, sah schon das Licht auf der anderen Seite. Ich schloss die Augen. Ein leiser Reggae-Beat erklang am linken Rand meines Stereobildes, auf der rechten Seite begann eine einzelne Posaune zu spielen. Über mir hörte ich Josepha singen: »Engelfrikassee, Engelfrikassee.«
Sonntag
Knef hatte Angst. Das war ungewöhnlich, denn Knef hatte eigentlich nie Angst, schließlich kam sie aus Rumänien. Aber diese beiden Monster, die wie von Geisterhand gesteuert durch die Wohnung kreisten und einen mordsmäßigen Lärm machten, waren ihr unheimlich. Keine Ahnung, was das für Viecher waren, solche Tiere hatte sie noch nie gesehen. Außerdem nervte der völlig unterbelichtete Labrador, dem nichts Besseres einfiel, als die schwarzen Ungetüme anzubellen. Als würde das irgendetwas nützen! Im Gegenteil. Schon als Welpe auf den Straßen von Bukarest hatte sie gelernt: Hunde durfte man sehen, aber nicht hören. Ihr freundliches, aber bestimmtes Auftreten mit aufgewecktem Dackelblick (den sie vermutlich von ihrem Vater geerbt hatte) und Pfötchengeben hatte es ihr sogar ermöglicht, ein deutsches Touristenpärchen davon zu überzeugen, sie in ihrem Wohnwagen nach Hamburg zu schmuggeln. Dass sich die beiden nur zwei Wochen nach ihrer Ankunft im Streit getrennt und Knef an einer Bushaltestelle ausgesetzt hatten, war zwar bedauerlich, aber im Endeffekt nur eine weitere Station auf ihrem Weg zur nächsten Mahlzeit. Das Tierheim, Marius, der Gigolo, und jetzt die Frau mit dem leckeren Fleisch: Das Leben war eine Reise, und Hauptsache, es gab etwas zu essen.
Knef hatte bislang einen sehr guten Eindruck von ihrem neuen Frauchen, denn die von ihr bereitgestellte Nahrung war vom Feinsten: erst das frische Blut und anschließend Filetsteak von einer Qualität, wie Knef sie bislang nicht erlebt hatte – ein edler, leicht nussiger Geschmack mit einem Hauch Verwesung und der perfekten Bitterkeit im Abgang. Dazu eine Konsistenz, die sie irgendwo zwischen Huhn und Lamm einordnete. Weich, aber nicht faserig, mit leichten Fettadern durchzogen und deshalb saftig, ohne wässrig zu sein. Knef präferierte sowieso Haptik gegenüber Aroma; wie das Fressbare in der Schnauze lag, war ihr wichtiger als seine Würze. Und anständig riechen musste es natürlich, allein schon, um es zu finden. Marius hatte sie hauptsächlich mit Trockenfutter von DM gefüttert, und das hatte weder Geschmack noch Geruch und erst recht keine ansprechende Struktur.
Ja, Knef gefiel ihr neues Frauchen, und bis zum Auftauchen der lärmenden Ungeheuer war auch ihr aktuelles Zuhause ein angenehmer Ort gewesen. Monster Nummer eins klang so, als würde es ständig Luft einsaugen, ohne jemals auszuatmen. Es war kreisrund und etwa so groß und beinahe so flach wie die heruntergefallene Bratpfanne, die immer noch in der Blutlache klebte, die Marius hinterlassen hatte. Monster Nummer zwei war ein kleines Stück größer und rechteckig. Vor diesem Vieh grauste es Knef noch mal um einiges mehr, erzeugte es doch einen viel unheimlicheren Klang als Nummer eins. Mit einem gespenstischen Wischgeräusch bewegte sich die Kreatur durch die mittlerweile festgetrocknete Pfütze, so als würde sie mit einer gigantischen Zunge den Boden auflecken.
Knefs neues Frauchen hatte zuvor Marius in eine durchsichtige Plastikfolie eingerollt und ihn dann ins Badezimmer gezogen. Dabei hatte sie eine rote Schleifspur hinterlassen, die Monster Nummer zwei bereits restlos weggeputzt hatte. Der nervige Labbie hatte ihm dabei geholfen, aber Knef hielt gebührenden Abstand zu den aufdringlichen Biestern. Sie blickte durch die offene Tür auf ihr Ex-Herrchen, mit dem sie eigentlich nie warm geworden war. Sein Gesicht quetschte sich gegen das Plastik, er trug immer noch dieses clownhafte Grinsen, das er wohl als charmant empfunden hatte. Brrr, Knef schüttelte sich bei dem Gedanken, dass dieser schleimige Aufreißer sie gestreichelt hatte, wie und wann er wollte. Ihr wurde immer noch übel. Ihrem natürlichen Instinkt zu folgen und ihm kräftig in die Hand zu beißen war allerdings keine Option gewesen, der Mann hatte sie ja gefüttert. Deshalb weinte sie ihm jetzt keine Träne nach, im Gegenteil, der süße Duft seines Blutes füllte noch immer ihre Nase und erzeugte ein wohliges Gefühl der Aufregung, ließ sie ihre Wolfswurzeln spüren.
Also alles wunderbar, wenn nicht diese Quälgeister durch die Wohnung spuken würden. Dauernd schnitten sie ihr den Weg ab, drängten sie in eine Ecke, aus der sie sich nur durch einen beherzten Sprung über die Monster hinweg retten konnte. Aber es gab kein Entrinnen, die Viecher blieben ihr auf den Fersen.
Knef war eigentlich nicht sonderlich lärmempfindlich, sie hatte sogar ihr erstes Silvester hier in der Stadt gut vertragen. Doch das Sirren und Summen, Saugen und Wischen der beiden Verfolger raubte ihr den letzten Nerv. Und als wäre das Spektakel ihrer Jäger nicht beunruhigend genug, gesellte sich jetzt eine weitere akustische Attacke zu der allgemeinen Kakofonie. Aus den riesigen Boxen im Esszimmer erklang ein krachendes Bassriff, begleitet von einem scheppernden Schlagzeug. Darüber schrie ein wild gewordener Sänger an der Grenze seiner Stimmkapazität: »She’ll only come out at night. The lean and hungry type …«
Knef geriet in Panik. In der höchsten ihr möglichen Geschwindigkeit nahm sie Reißaus. Ein aussichtsloses Unterfangen, denn der einzige Weg aus ihrem Martyrium war die Tür zum Treppenhaus, und die war fest verschlossen. So blieb ihr nur eine stetige Platzrunde: Flur, Esszimmer, Küche und wieder Flur. Mit heraushängender Zunge rannte sie um ihr Leben. Aber es war vergebens, sie konnte dem Getöse nicht entkommen. Schließlich verließen sie ihre Kräfte, sie brach vor der Wohnungstür zusammen.
Was war das? Knef schöpfte etwas Hoffnung. Auf der anderen Seite der Tür roch sie einen Menschen, jemand drückte auf die Klingel. Aber der Klang der Glocke ging im allgemeinen Lärminferno unter. Nur Zartbitter hatte das Läuten gehört, der übereifrige Labrador kam in den Flur gelaufen und fing an zu bellen. Jetzt nahm auch die Frau mit dem leckeren Fleisch das zusätzliche Geräusch wahr. Sie kam aus dem Badezimmer und überlegte kurz. Dann ließ sie ihren Kimono zu Boden fallen. Sie öffnete die Tür einen Spalt, der Kopf eines älteren Herrn erschien. Er schrie aus vollem Hals: »Hallo, Kramer von gegenüber. Könnten Sie vielleicht die Musik ein bisschen runterdrehen?«
Die Fleischfrau brüllte zurück: »Geht das schon wieder los, du perverser Spanner? So langsam wird es peinlich. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du mir immer hinterherstierst?«
»Ich … äh … was?«
»Nun tu mal nicht so, kleines Freundchen. Ist es vielleicht das, was du sehen willst?«
Sie riss die Wohnungstür ganz auf und stellte sich breitbeinig in den Rahmen. Der ältere Herr schrak sichtlich zusammen. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und kreischte: »Oh Gott, Sie sind ja nackt! Das ist ungeheuerlich, ich weiß gar nicht … bitte bedecken Sie sich, ich … gütiger Himmel!«
Knef witterte ihre Chance. Sie sprang auf und versuchte, zwischen den Füßen ihrer neuen Herrin ins Treppenhaus zu gelangen. Aber die war schneller. Sie drehte sich um und beförderte Knef mit einem Tritt zurück in den Flur. Knef landete jaulend vor der Badezimmertür. Sofort war Zartbitter bei ihr und hielt sie zähnefletschend in Schach. Sie war viel zu erschöpft, um sich zu wehren. Ihr neues Frauchen konzentrierte sich wieder auf den Mann im Treppenhaus.
»So, jetzt mach mal die Fliege. Du hast Glück, dass ich dich nicht wegen sexueller Belästigung anzeige. Die Musik bleibt laut.«
Sie knallte ihm die Tür vor der Nase zu und ging zurück ins Badezimmer. Zartbitter ließ Knef in Ruhe und verschwand in der Küche. Knef war immer noch völlig fertig. Hechelnd steckte sie den Kopf durch die Badezimmertür. In der Mitte des Raumes stand ihre neue Herrin und beugte sich über Marius, den sie mittlerweile aus seiner Plastikplane gewickelt hatte. In der linken Hand hielt sie ein seltsames Gerät, an dem sie mit der rechten zerrte. Immer wieder zog sie an einem gelben Griff, der an einem Seil mit dem Apparat verbunden war. Beim sechsten oder siebten Mal sprang die Maschine an, aber der Krach aus dem Esszimmer war so laut, dass man sie nicht hören konnte.
»Oh, here she comes. Watch out, boy, she’ll chew you up …«
Der wilde Schreihals war mittlerweile nicht mehr allein, ein weiterer Irrer hatte sich ihm angeschlossen.
»Oh, here she comes. She’s a maneater …«
Plötzlich begann die obere Hälfte des Geräts zu schwingen, eine Kette lief um eine Art Sägeblatt, tauchte auf der einen Seite des Apparats auf und verschwand auf der anderen Seite wieder. Langsam und sehr kontrolliert brachte das neue Frauchen diese, nun ja, Kettensäge (Knef fiel kein besserer Begriff ein) auf das alte Herrchen nieder, das mit dem Kopf zum Flur auf der Seite lag. Sie hielt die Säge über seinen Hals. Knef durchzuckte die Erkenntnis, was als Nächstes kommen würde, wie ein Blitz. Entgegen ihren tiefsten Überlebensinstinkten begann sie zu bellen. Aber in dem ohrenbetäubenden Lärm vernahm sie ihre eigene Stimme nicht. Mit einer schnellen Bewegung schnitt die Frau mit dem leckeren Fleisch Marius den Kopf ab. Er fiel ihm von den Schultern, rollte Knef vor die Pfoten.
Das war des Horrors zu viel, selbst für einen rumänischen Straßenhund. Laut jaulend rannte sie auf den Balkon und sprang mit einem gewaltigen Satz über das Geländer. Sie hatte vergessen, in welcher Höhe sie sich befand, aber das war ihr in diesem Moment auch völlig egal. Ihr einziger Gedanke war: Weg, weg, weg!
Zum Glück wohnte ihr neues Frauchen nur im ersten Stock, und Knef landete sanft in einer Hecke. Ohne Verletzungen befreite sie sich aus dem Gestrüpp und lief auf die Straße, wo sie beinahe von einem Auto überfahren wurde. Der Fahrer konnte ihr gerade noch ausweichen, hupte wütend. Aber Knef war schon mindestens zwanzig Meter weiter, hetzte den Gotenweg hinab in Richtung des einzigen Zufluchtsortes, den sie kannte: das Naherholungsgebiet Rahweg.
Dienstag
»Wo bin ich?«
Tom war verwirrt. Er starrte an eine holzverkleidete Decke, von der eine marokkanische Blechlampe hing. Neben sich hörte er eine Stimme.
»Was meinst du, ›Wo bin ich?‹ – du bist bei dir zu Hause. Oder wie auch immer du diese Bruchbude nennst.«
Tom rieb sich die Augen und griff nach seiner Brille. Vorsichtig richtete er sich auf. Ach ja, die Laube. Mit leichter Verspätung kam die Erinnerung zurück. Sein neues Zuhause. Natürlich nur temporär. Aber wieso Bruchbude? Die Laube war brandneu, ein schickes Tiny House im amerikanischen Kolonialstil, das seine Tante Hildi nur zwei Monate vor ihrem Tod auf dieses Grundstück im Kleingartenverein Dohlenhorst gesetzt hatte. Gott sei Dank hinterließ Hildi weder Ehemann noch Kinder oder sonstige Verwandte, und so konnte Tom als Alleinerbe nach seinem Rauswurf hier einziehen. Die Stimme neben ihm meldete sich wieder. Sie klang wie eine Kolbenflöte, rutschte aufgeregt durch die Oktaven: »Was ist das hier eigentlich für ein Ramsch? Bist du Messie?«
Ramsch? Gut, der ungefähr zwanzig Quadratmeter große Raum war bis unter die Decke gefüllt mit Kram. Seinem Kram. Bücher, Schallplatten, Klamotten. Eben all das Zeug, das vorher bequem in der gemeinsamen Drei-Zimmer-Wohnung Platz gehabt hatte. Zum Glück hatte Mischa darauf bestanden, alle Möbel zu behalten, denn die hätten nie im Leben in dieses schon mit seinen wenigen Habseligkeiten überforderte Häuschen gepasst. Allerdings war Messie maßlos übertrieben. Die Platten waren alphabetisch geordnet, die Bücher nach Themen sortiert und seine Klamotten nach Farben organisiert. Schwarz, Blau, Violett, Rot, Orange, Gelb, Grün, Oliv, Braun und wieder Schwarz. Pullover, Hosen und Jacken hingen auf einem alten runden Kleiderständer, den er bei einem Woolworth-Räumungsverkauf abgestaubt hatte.
»Ich muss mal aufs Klo.«
Die Stimme an seiner Seite stand auf und ging in die kleine WC/Dusche-Kombi, die von der Schlafnische abging. Tom riskierte einen Blick. Von hinten erkannte er seinen One-Night-Stand nicht wieder. Obwohl sein Gast nackt war, konnte er nicht mal ausmachen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Sosehr er auch in seiner Erinnerung kramte, er bekam den gestrigen Abend nicht mehr zusammen. Irgendwo in einer Bar in St. Georg war wieder mal der Film gerissen. Die Kolbenflöte nölte: »Hier kann man sich ja kaum umdrehen.«
Ja, das Bad war klein. Aber modern und sauber. Und höchst funktionabel. Eine platzsparende und trotzdem äußerst effizient konstruierte Nasszelle. Toms Gast ging ihm allmählich auf die Nerven. Gleichzeitig musste er lachen, weil er tatsächlich so etwas wie Stolz für sein Tiny House empfand. Die Stimme spülte, kam zurück. Aha, sein One-Night-Stand war offensichtlich ein Mann. Mit der Faust auf der Hüfte stand er vor der kurzen Küchenzeile. Er zeigte auf die Fotos, die auf der Arbeitsplatte standen.
»Und wer soll das sein?«
Der Bettgenosse war eigentlich ein attraktiver Kerl, braune Haare, Rehaugen und volle Lippen, aber sein immer leicht angefressener Tonfall strapazierte Toms akustische Toleranz bis an die Schmerzgrenze.
»Das sind meine Kids.«
»Du hast Kinder? Ich dachte, du bist schwul.«
»Ich wäre ja wohl nicht der erste Homosexuelle mit Kindern, oder? Außerdem bin ich bi.«
Der One-Night-Stand wedelte mit dem Zeigefinger durch die Luft. »Bi gibt es nicht. Bisexuelle sind Homosexuelle, die sich nicht trauen.«
Tom prustete verächtlich. »Sagt wer?«
»Sage ich. Wie heißt du eigentlich?«
»Tom. Tom Mangold. So wie das Gemüse.«
»Welches Gemüse?«
Der nackte Mann in der Laube ging Tom jetzt mächtig auf den Zeiger. Nicht sonderlich interessiert fragte er: »Und wer bist du?«
Sein Gegenüber legte beleidigt die gespreizten Finger auf das Brustbein. »Das hast du schon vergessen? Letzte Nacht war ich noch dein Superstar! Ich bin Marek.«
Marek nahm Elias’ Bild von der Arbeitsplatte. »Hübscher Junge. Wohl eher in meinem Alter, oder?«
»Das ist mein Jüngster. Zweiundzwanzig.«
»Sag ich doch. Ich bin dreiundzwanzig. Das macht dich dann wohl mindestens doppelt so alt wie mich. Aber keine Sorge, ich steh auf alte Männer.«
Jetzt wurde Tom wütend. Aber er verkniff sich die bissigen Kommentare, die er für derart gönnerhafte Beleidigungen normalerweise im Köcher hatte. Das war schließlich nicht sein erstes Rodeo, und er wusste, dass jede Antwort, egal, wie clever, ihn nur noch älter gemacht hätte. Marek strich sich über den flachen Bauch und lächelte schief, eine Kombination, die er wohl als sexy empfand. Jetzt heuchelte er Interesse.
»Und was machst du so, Tom Mangold?«
Tom zuckte mit den Schultern. »Ich mache gar nichts.«
»Hä? Und womit verdienst du dein Geld?«
»Ich bin Erbe.«
Marek runzelte die Stirn. »Erbe? Das ist doch kein Beruf. Hast du nichts gelernt?«
Tom bereute, dass er überhaupt geantwortet hatte. Aber er schätzte, dass jetzt den Informationshahn zuzudrehen mehr Ärger verursachen würde, als einfach weiterzumachen.
»Ich war mal Polizist. Kommissar. Bei der Mordkommission.«
Marek legte beide Hände auf die Schlüsselbeine, stellte ein Bein vor das andere. Die Kolbenflöte wanderte einmal quer durch das Spektrum seiner Stimme.
»Waaaaas? Wie aufregend! Hast du auch schon mal einen richtigen Mörder gefasst?«
»Bei der Mordkommission? Kann gut sein.«
Sarkasmus. Die letzte Verteidigung des intelligenten Menschen. Marek quietschte weiter: »Ich bin soooo beeindruckt. Ich hab noch nie mit einem Polizisten geschlafen!«
»Ex-Polizist.«
»Was auch immer. Hast du auch Handschellen?«
Tom konnte sich schon denken, wohin das führte. Aber ohne die bewusstseinserweiternden Mittel von letzter Nacht fehlte ihm für derlei Eskapaden schlicht die Libido. Zum Glück klingelte sein Handy. Er wühlte durch den Klamottenhaufen neben dem Bett, fand das iPhone in seiner Hosentasche. »Hallo?«
»Mangold?«
»Derselbe.«
»Hier ist Dirk. Wir haben ein Problem. Bist du in der Laube?«
»Ja.«
»Ich komm vorbei.«
»Das ist keine gute Idee, ich …«
Aber Dirk Nerlinger-Unbehagen hatte schon aufgelegt.
»Wie wär’s noch mit einem kleinen Pfiffikus?«
Marek wollte einfach nicht gehen. Immerhin hatte er sich endlich angezogen. Allerdings verbesserte das die Situation nur minimal. Sein unmögliches Outfit passte in den Kleingartenverein wie ein Flamingo in den Ententeich. War Schlagermove nicht immer im Sommer?
»Was meinst du mit Pfiffikus?«
Der Flamingo hielt sich ein Nasenloch zu, schnaufte zweimal rückwärts durch das andere.
»Du willst ’ne Line? Um zehn Uhr morgens?«
»Ach komm schon, one for the road.«
Tom schüttelte nur den Kopf. Sie standen mittlerweile draußen in Tante Hildis Garten. Oder dem, was davon übrig geblieben war. Mangold mochte ein Gemüse sein, aber das machte aus Tom noch lange keinen Gärtner. Grüner Daumen Fehlanzeige, im Gegenteil, in den knapp drei Monaten seit seinem Einzug in die Laube waren fast alle Pflanzen des einst preisgekrönten Gartens einen grausamen Siechtod gestorben. Tom hatte es sogar geschafft, die Kakteenterrasse zu zerstören, das musste ihm erst mal einer nachmachen. Fand auch Dirk Nerlinger-Unbehagen, der ohne Aufforderung durch das Tor im Lattenzaun trat. Mitleidig betrachtete er die Wüstenpflanzen.
»Wie hast du es nur hingekriegt, die Kakteen zu ertränken, während die Rosen vertrocknet sind?«
Tom blinzelte in die milde Herbstsonne. »Hey, Dirk. Herrliches Wetter, oder? Goldener Oktober, schöner geht’s nicht.«
Der Vorsitzende der Kleingartengemeinschaft Dohlenhorst e. V. nickte ihm missmutig zu. »Klar. Moin, Mangold.«
Erst jetzt bemerkte er Marek, den Flamingo. Der tippelte auf ihn zu, streckte die Hand aus.
»Hallo, ich bin Marek. Nett, Sie kennenzulernen.«
Zögerlich erwiderte Dirk den Händedruck. Um sich gleich anschließend die Finger an der Hose abzuwischen. Wenn Welten kollidieren. Schlagermove traf Förstertagung. Im Vergleich zu Marek schien Dirk Nerlinger-Unbehagen direkt aus einer ZDF-Vorabendserie zu stammen. Hellgraue Stoffhosen, die in olivgrünen Gummistiefeln steckten, dunkelblauer Wollpulli, darüber eine beige Funktionsweste. Auf dem Kopf eine verwaschene Schirmmütze mit dem Dohlenhorst-Logo.
Marek zeigte auf die Kopfbedeckung. »Ist das eine Krähe mit Harke?«
Dirk runzelte irritiert die Stirn. »Das ist Dolly, die Dohle. Unser Maskottchen. Und das ist auch keine Harke, sondern ein Rechen.«
Marek legte sich wieder die Hand auf das Brustbein, klimperte mit den Wimpern. »Natürlich.«
Er drehte sich zu Tom um, winkte mit der Linken. »Na gut, ich geh dann mal. War schön mit dir, sollten wir bald mal wieder machen! Küsschen!«
Auf das Küsschen hätte Tom gut verzichten können.
Dirk Nerlinger-Unbehagen blickte dem Paradiesvogel hinterher. »Wer war das denn?«
»Das war Janosz, mein Neffe.«
»Ich dachte, er heißt Marek.«
»Marek ist sein Künstlername.«
Dirk hob eine Augenbraue und lächelte vielsagend. »Aha.«
Das war’s dann aber auch mit der Verbindlichkeit. Sein Gesicht kehrte zurück zu seiner Standardeinstellung: mürrisch. Er grunzte: »Bist du eigentlich noch im Schlafanzug? Es ist zehn Uhr dreißig!«
Tom blickte an sich herab. »Du meinst meine Hosen? Das sind Kyoto-Pants, aus Japan. Die gehören so, im Land der aufgehenden Sonne mögen sie Beinfreiheit. Ich bin angezogen, geduscht, und der Bart ist frisch getrimmt!« Grinsend legte er die flache Hand an die Stirn. »Kommissar a. D. Tom Mangold meldet sich zum Dienst! Womit kann ich helfen?«
»Geheime Kommandosache! Club Dohlenhorst braucht deine Expertise – bissiger Hund auf freiem Fuß, oder besser auf freier Pfote, haha … ha.«
Humor stand Dirk Nerlinger-Unbehagen nicht sonderlich. Ohne größere Schaumkrone brandete der klägliche Lacher an die Klippe seines gewaltigen Doppelkinns. Dirk war zwar ungefähr das gleiche Baujahr wie Tom, aber seine Gene hatten ihm einen deutlich anderen Alterungsprozess beschert. Während der Ex-Polizist immer noch genauso viel wog wie mit zweiundzwanzig, war der Kleingartenverein-Vorsitzende im Lauf der Jahre auf mindestens das doppelte Gewicht angeschwollen. Außerdem waren die grauen Strähnen, die unter seiner Mütze hervorlugten, die einzigen, die er noch hatte; den Rest seines Kopfes zierte eine Glatze. Tom hingegen schien für immer mit vollem Haar gesegnet zu sein. Er strich sich eine dunkelblonde Strähne aus der Stirn.
»Och komm schon, Dirk, das ist doch nicht dein Ernst. Ich soll einen Hund einfangen? Was kommt als Nächstes? Passkontrolle am Behindertenparkplatz?«
Dirk hob die Augenbrauen. »Eigentlich keine schlechte Idee. Aber Spaß beiseite, Tom: Wir haben eine Vereinbarung. Ich muss dich ja wohl nicht noch mal darauf hinweisen, dass in den Lauben nicht permanent gewohnt werden darf, oder?«
»Ja, natürlich. Schnee schippen, Laub harken, Glühbirnen austauschen, kleine Reparaturen. Das Hausmeisterpaket eben, so ist der Deal. Aber Hundefänger?« Tom schnaufte. »Das ist dann schon etwas unterhalb meiner Würde. Und überhaupt, warum lässt du sie nicht einfach? Die netten Wauwaus tun doch niemandem was.«
»Tun sie wohl. Das sind teilweise echte Bestien. Seitdem es den Bezirklichen Ordnungsdienst nicht mehr gibt, geht hier alles drunter und drüber mit den Viechern. Soweit ich weiß, hast du Erfahrung, schließlich warst du mal beim Hundekontrolldienst, oder?«
Zehn Tage. Strafversetzt. Dann hatte Tom gekündigt. »Stimmt, war ich.«
»Na bitte. Dann bist du ja Fachmann. Also, hopp, hopp, Hundekommissar, lauf Galopp. Die Töle wurde zuletzt am See gesehen.«
Eine Stunde später saß Tom auf der Bank am See und rauchte. Seltsamerweise inspirierte ihn nur die freie Natur zum Zigarettenkonsum, in der Stadt oder in geschlossenen Räumen würde er nie auf die Idee kommen. Obwohl, freie Natur …
Als Original-Niendorfer kannte er die Parkanlage Rahweg noch als den »Baggersee«. Das Kernstück der Anlage war ein künstlicher Teich, der sogar einen kleinen Sandstrand hatte. Leider war der See mittlerweile umgekippt, verweste Algen trieben an der Oberfläche, es roch modrig, und an der Böschung sammelte sich braungrauer Schaum. Trotzdem hatte der Ort eine sentimentale Bedeutung für ihn. Hier hatte er als Kind so manchen Sommertag verbracht, mit seinem Vater und seiner kleinen Halbschwester Alexandra. Das waren ausnahmsweise mal schöne Erinnerungen.
Bing! Auf seinem Handy erschien eine WhatsApp-Nachricht von Dirk Nerlinger-Unbehagen: »Na, noch auf der Pirsch? Oder ist der Übeltäter schon in Gewahrsam?«
Auf der Pirsch? Aus seiner kurzen Zeit beim Hundekontrolldienst wusste er, dass es wenig nützte, den Biestern hinterherzulaufen – es war viel sinnvoller, an einem Ort zu warten. Hunde waren Gewohnheitstiere und folgten auch in Freiheit weiterhin ihren Routinen. Tom ging davon aus, dass Durst die von Dirk gesuchte Töle irgendwann ans Ufer des Sees treiben würde. Für alle Fälle hatte er seine alte Hundefänger-Montur angezogen und das dazugehörige Werkzeug eingepackt: dreifach verstärkte Jutehose mit aufgenähten Oberschenkeltaschen, gepolsterte Schutzjacke mit Bissärmeln, Lederhandschuhe mit Stulpen, Führleine aus Tau und Fangstock aus Aluminium.