Ein Kräutergarten zum Verlieben - Jule Böhm - E-Book

Ein Kräutergarten zum Verlieben E-Book

Jule Böhm

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Beschreibung

Die ungleichen Schwestern Liv und Maike erben das alte Gehöft vor den Toren der Römerstadt Xanten, auf dem sie aufgewachsen sind. Sie beschließen, das Bauernhaus zu renovieren, um es danach gewinnbringend weiterzuverkaufen. Unerwartete Hilfe erhalten sie dabei von Jasper, einem Tischler auf der Walz, der Livs Herz mit seinem Lächeln jedes Mal schneller schlagen lässt.

Während sie durch die verwilderten Wiesen ihrer Heimat streift, erinnert sich Liv an ihren fast vergessenen Traum, sich in der Natur mit ihrem Wissen über heilende Wildkräuter selbstständig zu machen. Könnte dies der richtige Ort dafür sein? Doch dafür müssten die Schwestern sich zusammenraufen und das Gehöft behalten. Und was ist mit Jasper, der seine Walz schon bald fortsetzen wird?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch:

Kaum jemand kennt sich so gut mit Wildkräutern aus wie Liv. Sie weiß genau, welch heilende Wirkung in manch unscheinbarem Pflänzchen steckt, und vermag jedes Kraut zu Tee, Pastille oder Arznei zu verwandeln. Doch in ihrem Alltag als Apothekerin in der Großstadt kann sie ihr Wissen kaum anwenden. Als Liv in ihr Heimatdorf zurückkehrt, um dort das elterliche Gehöft zu renovieren, keimt in ihr der Wunsch auf, in der heimischen Natur Kräuter anzubauen und zu verarbeiten. Doch kann man davon leben? Und hat Liv wirklich genug Mut, um den Schritt in die Ungewissheit zu wagen? Zum Glück findet die junge Frau alte und neue Vertraute, die an sie und ihren Traum glauben.

Zur Autorin:

Jule Böhm ist ein richtiges Naturkind und hat es als kleines Mädchen geliebt, die Felder und Wälder ihrer Heimat zu durchstreifen. Sie studierte Germanistik und Musik und arbeitete als Kauffrau im Gesundheitswesen. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und drei wunderbare Enkel. So richtig auftanken kann sie am besten bei ausgedehnten Spaziergängen mit ihrer Labradorhündin Tilla, sei es in der Eifel, am Rhein oder im wunderschönen Ostfriesland.

Lieferbare Titel:

Das Herz im Wald, die Füße im Sand

Das Weingut im Tal der Loreley

Jule Böhm

Ein Kräutergarten zum Verlieben

Roman

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von bürosüd, München

unter Verwendung von Shutterstock

E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749908769

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Autorin und des Verlags bleiben davon unberührt.

Für meine Schwiegersöhne von ganzem Herzen

Kapitel 1

Narzissenzeit. Livs Mund verzog sich unwillkürlich zu einem breiten Lächeln, als ihr Blick auf das lang gestreckte Band gelber Blüten fiel, die rechts und links entlang der Griether Straße wuchsen. Trotz des trüben Märzwetters vermittelte dieser Anblick schon einen Hauch von Frühling.

Sie spürte, wie sich unwillkürlich ihre Schultern entspannten. Nur noch ein paar Minuten, dann war sie zu Hause. Sie freute sich schon sehr darauf, die nächsten paar Tage noch einmal in ihrem Elternhaus zu verbringen. Selbst darauf, Maike zu treffen, schließlich war sie ihre Schwester, die einzige Familie, die sie noch hatte. Außerdem war sie froh, sämtliche Entscheidungen, die ihre persönliche Zukunft betrafen, weiterhin ein wenig vor sich herschieben zu können.

Sie bog ab auf die Rheinuferstraße, ließ das Dörfchen Grieth rechter Hand liegen und fuhr ein paar Hundert Meter hinter dem Ort nach links in die breite Einfahrt des Derksenhofs, der sich am Rande des dünn besiedelten Poldergebiets Bylerward befand. Nachdem sie den Motor abgestellt hatte, blieb sie noch einen Moment im Wagen sitzen und betrachtete das alte Bauernhaus, einen lang gestreckten, kantigen Bau aus dem 19. Jahrhundert. Mit seinen grauen Bruchsteinmauern und dem wuchtigen schwarzen Walmdach, das sich über dem ersten Stockwerk erhob, trutzte er seit knapp 150 Jahren jeglichem Wetter.

Liv stieg aus und schlüpfte in ihren warmen Wollmantel, um sich wenigstens ein bisschen vor dem stetig fallenden Regen zu schützen. Vor der Haustür hielt sie abrupt inne und betrachtete nachdenklich den geschwungenen Türgriff aus Messing, mit dem sie die grün gestrichene Doppelflügeltür bereits unzählige Male geöffnet hatte. Doch heute empfand sie plötzlich ein Gefühl der Endgültigkeit, das sie schaudern ließ. Sie atmete noch einmal tief durch, drückte die Klinke hinunter und betrat das Haus. Sofort wurde sie vom Geruch ihrer Kindheit umhüllt. Tränen schossen ihr in die Augen. Trotz aller Probleme, denen ihre Familie im Laufe der Jahrzehnte ausgesetzt gewesen war, hatte sie sich hier niemals allein, sondern stets behütet gefühlt. Doch nun lag die alte Diele still und verlassen vor ihr, der Glanz früherer Tage längst verblasst.

Hoffentlich finden wir rasch einen Käufer, dachte sie, während sie um Fassung rang. Um sich abzulenken, betrachtete sie eingehend die Bodenfliesen aus dem 19. Jahrhundert, das Muster der stilisierten Blüten in Ocker-, Braun- und Grautönen, die von hellblauen Streifen umrahmt wurden. Sie waren immer der Stolz ihrer Mutter gewesen und lagen nun ungepflegt und ungeachtet unter einer dicken Staubschicht. Auch das dämmrige Licht dieses verregneten Tages trug nicht gerade dazu bei, diesem Moment etwas Anheimelndes zu geben. Alles wirkte dunkel und trüb, in die Jahre gekommen. Vom fein gedrechselten, weiß gestrichenen Treppengeländer blätterte die Farbe ab, und die weiß lackierten Kassettentüren, die von der Diele abgingen, zierten teils tiefe, dunkle Kratzer.

Sicher, in den letzten zwanzig Jahren war hier im Haus nichts mehr renoviert worden, aber die letzten zwei Jahre, seitdem das Haus unbewohnt dastand, hatten dem Zahn der Zeit besonderen Tribut gezollt.

Der neue Besitzer bräuchte nicht nur einiges an Geld, dachte sie bei dem traurigen Anblick, er bräuchte vor allem auch einiges an Fantasie, um die Möglichkeiten zu sehen, die sich ihm mit dem Kauf dieses Hofs erschlossen.

Obwohl sie selbst hier drin gar nicht so viel verändern würde. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. Die Wände frisch streichen, Türen und Treppe aufarbeiten und vor allem den Fliesen zu neuem Glanz verhelfen. Schon sähe es hier komplett anders aus.

Aber dazu würde es nicht kommen. Zumindest nicht unter ihrer Regie. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Maike hatte Liv beschlossen, das Wohnhaus samt Nebengebäuden, Weiden und Ackerland zu verkaufen. Das daraus resultierende Geld sollte ihr einen Neuanfang ermöglichen. Ihr Flugticket nach Stockholm lag schon im Warenkorb eines Internetportals und wartete auf einen letzten Klick. Von Stockholm aus wollte sie auf eine Schäreninsel weiterreisen. Am besten in ein Ferienhaus mit Kamin und Blick aufs Wasser. Dort könnte sie sich dann gemütlich einigeln und bis zum Sommer darüber nachdenken, wie es in ihrem Leben eigentlich weitergehen sollte.

»Hallo?«, erklang es plötzlich dumpf aus der Küche.

Die Tür öffnete sich, und Livs frühere Nachbarin steckte den Kopf hindurch.

»Ach, du bist das, Liv«, sagte Anni Evers erleichtert. »Hattest du eine gute Fahrt?«

»Ja, alles bestens, danke«, antwortete Liv.

»Ich habe euch gerade eine Lasagne in den Ofen geschoben, müsste in einer halben Stunde fertig sein. Vegetarisch mit einem Hauch Bitterschokolade. Ich hoffe, das ist okay?«, fragte Anni, während sie immer noch im Türrahmen stand.

»Klar, das klingt prima«, antwortete Liv, obwohl ihr gerade überhaupt nicht der Sinn nach Essen stand.

Anni betrachtete Liv eingehend. »Du siehst nicht gut aus, Mädchen. Zu viel Arbeit?« Doch ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie gleich weiter: »Nun komm schon durch. Hier in der Diele ist es zu kalt. In der Küche, oben im Bad und in euren Schlafzimmern habe ich euch die Heizung angestellt, da ist es bereits muckelig warm.«

Liv musste schmunzeln. Wie früher redete Anni ohne Punkt und Komma und war besorgt um sie wie die Glucke um ihre Küken. Schön, dass sich manche Dinge niemals änderten.

Liv zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Merkwürdig, nicht mehr als ein Kleidungsstück dort hängen zu sehen. Früher herrschte hier, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, immer ein Gewusel an Jacken und Mänteln, da sich weder Maike noch sie selbst je die Mühe machen wollte, überflüssige Kleidung zurück in ihre Schränke zu hängen.

Bevor weitere traurig machende Gedanken aufkommen konnten, bemühte sie sich, den Blick auf die Gegenwart zu richten, und folgte Anni in die Küche. Die stellte gerade zwei Teller auf den Tisch.

»Ich habe euch auch frische Bettwäsche von mir hingelegt«, sagte sie und nahm zwei Gläser aus dem wuchtigen Vitrinenschrank. »Die Wäsche im Haus riecht sicher stockig nach all der Zeit und muss erst gewaschen werden, bevor sie wieder benutzt werden kann. Ansonsten habe ich hier und in euren Zimmern kurz durchgesaugt und den gröbsten Staub weggewischt. Für die Feinarbeiten und den Rest des Hauses seid ihr dann zuständig. Ich nehme doch an, dass ihr noch ein wenig Ordnung machen wollt, ehe ihr den Termin mit dem Makler habt?«

»Du bist wirklich ein Schatz«, bedankte sich Liv und kramte Besteck aus der Schublade. »Maike und ich werden dieses Wochenende zumindest hier im Haus alles auf Hochglanz bringen. Montagvormittag wird dann der Makler kommen und sich alles ansehen.«

»Ihr werdet doch dafür sorgen, dass wir nette Nachbarn bekommen, oder?«

Annis Ton bekam einen fordernden Klang, was Liv in die Defensive drängte. Natürlich konnte sie Annis Sorge gut verstehen. Da der Derksenhof der einzige Nachbar zu Annis Samenhandlung war, gab es seit Jahrzehnten ein enges Band zwischen den beiden Parteien. So war ihre Mutter bereits von Kindesbeinen an mit Anni befreundet gewesen und hatte sie später zu Livs Patentante gemacht. Dennoch wollte Liv keine leeren Versprechungen machen.

»Maike und ich werden unser Bestes geben«, erklärte sie daher ausweichend. »Wie geht es Opa Hein?«, fragte sie nach Annis Vater, in der Hoffnung das Thema zu wechseln.

Sofort erhellte sich Annis Gesicht. »Dem geht es besser. Das neue Medikament scheint gut anzuschlagen. Beide Nieren arbeiten wieder vernünftig. Von Dialyse ist zumindest erst einmal keine Rede mehr.«

»Wie schön!« Liv nahm Anni erfreut in den Arm und drückte sie. Dass der alte Herr auf dem Weg der Besserung war, erleichterte sie sehr. Auch wenn Opa Hein natürlich nicht ihr richtiger Opa war, liebte sie ihn doch von ganzem Herzen. Er war ein gutmütiger Kerl, der immer ein offenes Ohr für ihre Kindersorgen gehabt hatte. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er ihr das Fahrradfahren beigebracht und ihr nur wenige Jahre später ebenso geduldig gezeigt, wie man einen Rasenmäher reparierte. Allein der Gedanke an den Duft seines Pfeifentabaks vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit.

»Also gut, dann sind wir hier so weit fertig«, kam Anni zum Wesentlichen zurück. »Ich gehe jetzt wieder rüber. Fürs Frühstück habe ich euch einiges in den Kühlschrank gestellt, und wenn ihr sonst noch etwas braucht, könnt ihr einfach klingeln.«

Sie nahm Liv noch einmal herzlich in den Arm, und diese versank in dieser liebevollen Geste, die sie an die Umarmungen ihrer Mutter erinnerte.

»Ich danke dir für alles«, murmelte Liv. »Wir werden auf dich anstoßen, wenn wir zu Abend essen.«

»Tut das«, antwortete Anni in ihrer energischen Art und löste sich von ihr. »Jetzt muss ich aber wieder los, damit bei uns auch bald das Essen auf den Tisch kommt. Cornel hat mich zwar im Laden vertreten, aber du weißt, wie er ist, wenn er Hunger hat.«

Liv lachte. Cornel war wirklich ein spezieller Typ und nicht aus Annis Laden für Pflanzensamen und Gartenbedarf wegzudenken. Er arbeitete schon seit mehr als zwanzig Jahren mit im Betrieb und wohnte inzwischen hinter dem Haupthaus in einer der beiden Wohnungen der ehemaligen Remise. Cornel und Essen, diese beiden Worte gehörten schlicht und einfach zusammen. Niemals traf man ihn ohne etwas Essbares an, selbst wenn es sich nur um eine Tüte mit Erdnüssen handelte.

»Dann grüß ihn schön«, gab Liv Anni mit auf den Weg. »Ich komme morgen vorbei, um Opa Hein und Cornel Hallo zu sagen.«

Anni nahm ihre Jacke von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. »Werde ich weitergeben. Und du grüßt Maike von mir. Ich hoffe, sie wird dir eine gute Hilfe sein.«

Der Blick, den Anni ihr jetzt zuwarf, drückte alles aus, was Liv durch den Kopf ging. Ihre jüngere Schwester hielt nicht viel von Zusagen und schon gar nichts von körperlicher Arbeit, da brauchte Liv sich wirklich nichts schönzureden. Ein Großteil der Aufgaben, die sie in den nächsten Tagen erledigen müssten, würde wohl an ihr hängen bleiben.

Da Anni das genauso klar war wie ihr selbst, zuckte Liv nur resigniert mit den Schultern und schob ein »Wird schon« hinterher.

Als sie schließlich allein in der Küche war, setzte sie sich auf einen der Stühle und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Wehmut begleitete den Gedanken, das alte Gehöft für einen Verkauf vorzubereiten. Aber sie hatte sich die Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht. Sie hatte monatelang hin und her überlegt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, den Hof in der Familie zu halten. Doch nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren hatten sie mehrere Anzeigen geschaltet, um einen Pächter für das Anwesen zu finden, ohne Erfolg. Und weder ihr selbst noch Maike stand der Sinn danach, die Landwirtschaft wiederaufleben zu lassen. Auch wenn sie ihre Mutter früher bei all ihren Arbeiten unterstützt hatten, genauso gut mit der Melkmaschine umgehen konnten wie mit Traktor und 5-Schar-Pflug, hatten sie beide bereits als Jugendliche ihre Entscheidung gegen den Beruf der Landwirtin getroffen. Das aufopferungsvolle Leben ihrer Mutter wollten sie nicht führen. Ständige Existenzängste hatten diese um den Schlaf gebracht, und die viele Arbeit auf dem Hof gab ihr kaum Luft zum Durchatmen. Nein, schon früh war Liv klar gewesen, dass sie niemals selbstständig sein wollte. Ein Leben als Angestellte war genau das Richtige für sie, mit festen Arbeitszeiten und einem sicheren Gehaltsscheck am Ende des Monats. Ganz im Unterschied zu ihrer kleinen Schwester. Maike hatte sich zwar auch nie vorstellen können, selbstständig zu arbeiten wie ihre Mutter, aber ihr Leben glich bisher einer Berg- und Talfahrt. Nie hatte sie es lange an einem Ort, geschweige denn in einem Job ausgehalten. Da fiel Liv auf, dass sie noch nicht einmal wusste, womit Maike gerade ihr Geld verdiente.

Liv ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen. Zum alten Kuhstall, der sich im rechten Winkel an das Haus anschloss, und zur großen Scheune, die ihm leicht versetzt gegenüberlag. Bis auf Annis Grundstück lagen die nächsten Höfe einige Hundert Meter entfernt, verstreut inmitten der ausgedehnten Weiden und Felder des Polders. Mit gemischten Gefühlen bemerkte sie, dass die Natur sich bereits zunehmend auch die breiten Fugen des ausgetretenen Kopfsteinpflasters im Hof zurückerobert hatte. Überall sprießte es frühlingsgrün, und neben leuchtendem Löwenzahn entdeckte sie auch gelb blühenden Huflattich und Scharbockskraut. Ein sehnsuchtsvolles Gefühl durchströmte sie, setzte erneut das Gedankenkarussell in Gang, ob es nicht doch eine Möglichkeit … Allein wenn Liv daran dachte, wie viel Platz es hier gab … Weiter hinten, in Richtung Wiese, könnte sie in der windgeschützten Ecke des alten Kuhstalls hervorragend Kornrade einsäen …

Nein. Auch wenn der Job in der großen Münsteraner Apotheke letztlich nicht das Richtige für sie gewesen war: Sie würde sich eine andere Anstellung suchen … Nun, sie wusste noch nicht genau, was, aber sie wollte ganz sicher nicht in die Landwirtschaft. Und den Hof einfach nur zu bewohnen, dafür hing einfach zu viel Aufwand daran. Das Haus war für eine Großfamilie samt Personal errichtet worden, dazu noch die große Scheune und der Stall. Das müsste alles unterhalten und gepflegt werden. Für eine Person allein kaum zu schaffen.

Liv seufzte schwer, als sie aufstand und nach der Lasagne sah, deren Käsebelag sich schon sanft bräunte. Hoffentlich kommt Maike pünktlich, dachte sie, als ihr Magen lautstark knurrte.

»Bin da!«, erklang es in diesem Moment aus dem Flur.

Liv öffnete die Küchentür und sah ihre Schwester, die sich gewohnt grazil aus einem hellbraunen Teddymantel schälte.

»Hallo«, begrüßte sie Maike, die sie kurz an sich drückte. »Hattest du eine gute Fahrt?«

»Aus Düsseldorf raus war ätzend. Feierabendverkehr. Hier riecht es gut, hast du etwa gekocht?«

»Nein, ich bin auch noch nicht lange hier. Anni hat uns eine Lasagne gebracht. Komm schnell rein, in der Küche ist es warm.« Liv ging zurück in den Raum, dicht gefolgt von ihrer Schwester.

»Oh, sogar schon den Tisch gedeckt.«

Liv überhörte Maikes süffisanten Unterton. Sie wollte sich nicht direkt wieder streiten. »Setz dich«, sagte sie daher nur. »Ich hole die Lasagne aus dem Ofen.« Sie nahm sich ein Geschirrhandtuch, öffnete die Ofentür und nahm die große Auflaufform heraus.

»Davon können wir sicher auch morgen noch essen«, stellte Maike mit einem Blick darauf fest und ließ sich immerhin dazu herab, ihre beiden Gläser mit Wasser zu füllen, während Liv ihnen jeweils eine gute Portion auf die Teller gab.

»Guten Appetit«, murmelte sie, als sie sich auf ihren Stuhl setzte.

»Gleichfalls.« Maike hatte bereits ihr Besteck in der Hand und schnitt sich ein großzügiges Stück der Lasagne ab. »Mann, habe ich einen Hunger.«

Maike hatte schon immer einen gesegneten Appetit, der sich in keiner Weise negativ auf ihre Figur auswirkte.

Ein wenig neidisch betrachtete Liv ihre kleine Schwester aus dem Augenwinkel, die ihr auf den ersten Blick so ähnlich sah und doch so völlig anders war als sie selbst. Sie teilten die gleichen braunen Augen, die vollen Lippen und selbst das Grübchen im linken Mundwinkel. Auch die hellbraunen Locken hatten sie beide von ihrer Mutter geerbt, wobei Maikes Haare offen bis über die Schultern schwangen und Liv ihre kinnlang geschnittenen immer hinter die Ohren strich. Im Gegensatz zu Liv, die auch die kleine, ein wenig rundliche Statur ihrer Mutter geerbt hatte, kam Maike in dieser Beziehung ganz nach ihrem Vater. Sie überragte ihre große Schwester beinahe um einen halben Kopf und war dabei schlank und biegsam wie eine Ballerina.

»Habe ich einen Fleck auf der Bluse?« Irritiert schaute Maike an sich hinunter.

Ertappt fühlte Liv, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Rasch senkte sie den Blick und nuschelte: »Nein, nein. Ich, äh, dachte nur, ähm, dass du heute besonders gut aussiehst. Ist die Bluse neu?«

»Nein, die habe ich schon länger.«

Unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Obwohl die Lasagne hervorragend schmeckte, kaute Liv lustlos darauf herum. Sie lag ihr bereits jetzt schwer im Magen, wenn sie daran dachte, die nächsten Tage so eng mit ihrer Schwester zusammen zu sein.

Dann sprach sie aus, was ihr durch den Kopf ging. »Wir werden die nächsten beiden Tage ordentlich ranklotzen müssen, damit das Haus am Montag vorzeigbar ist.«

»Wir können uns ruhig Zeit lassen.«

Liv legte ihr Besteck ab und schaute ihre Schwester verärgert an. Das ging ja gut los. »Wir können uns nicht ruhig Zeit lassen. Montag ist der Termin mit dem Makler, und wir waren uns einig, dass wir das Haus zu einem besseren Preis verkaufen können, wenn es einen vorzeigbaren Eindruck macht.«

»Darüber habe ich mir Gedanken gemacht.« Seelenruhig trank Maike einen Schluck aus ihrem Wasserglas.

»Und?«, fragte Liv, die spürte, wie die Anspannung in ihr wuchs. Sie hasste die dramatischen Auftritte ihrer kleinen Schwester.

»Und? Wir werden vorläufig nicht verkaufen.«

Liv war wie vom Donner gerührt. »Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage. Wir werden nicht verkaufen«, wiederholte Maike langsam, als sei Liv geistig nicht in der Lage, sie zu verstehen.

»Natürlich werden wir verkaufen, so war es abgesprochen!«

»Zuerst werden wir das Haus auf Vordermann bringen.«

Wie so oft begann Liv an den spärlichen Aussagen ihrer Schwester zu verzweifeln. Warum musste sie ihr bloß immer alles aus der Nase ziehen? Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte den Raum verlassen, nur um Maikes Arroganz etwas entgegenzusetzen. Aber dieses Gespräch war zu wichtig, um es einfach zu beenden. »Maike.« Liv bewunderte sich selbst für ihren geduldigen Tonfall. »Wir haben das lange diskutiert. Auf die Suchannoncen nach einem Pächter hat sich niemand gemeldet, und wir sind beide nicht bereit, den Hof weiterzuführen. Jetzt habe ich meinen Job gekündigt, weil ich mich auf den Verkauf des Hofs verlassen habe. Ich brauche das Geld für einen Neustart.« Zum Ende des Satzes hatte sie doch nicht verhindern können, dass ihre Stimme lauter geworden war.

»Wir werden ja auch verkaufen.«

Liv konnte ihrer Schwester ansehen, wie sehr sie diese Hängepartie genoss.

»Wir werden aber zuerst den Hof renovieren. So können wir deutlich mehr Gewinn machen.«

Liv fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »Den Hof renovieren? Wie stellst du dir das vor?«

Maike nahm sich seelenruhig ein weiteres Stück von der Lasagne und legte es sich auf den Teller. »Nun, wir werden wohl zuerst ein wenig Geld in die Hand nehmen müssen. Aber das wird sich im Endeffekt auszahlen, du wirst sehen.«

»Wir werden Geld in die Hand nehmen müssen?«, fragte Liv, wobei sie das Wörtchen wir deutlich hervorhob.

»Nun, so wie ich dich kenne, wirst du doch sicher einiges gespart haben.«

Und du eher nicht, dachte Liv, sprach es aber nicht aus. »Das Geld ist aber nicht für die Renovierung des alten Hofs bestimmt«, erwiderte sie stattdessen.

Jetzt legte Maike ihr Besteck zur Seite und schaute Liv eindringlich an. »Ach komm, du weißt doch selbst, dass wir kaum etwas für den Hof bekommen werden, wenn wir nur die Böden putzen. Aber was meinst du, wie begeistert die Leute sein werden, wenn sie hier reinkommen, und wir haben alles instand gesetzt? Vintage ist absolut in! Die Leute werden ordentlich was dafür bieten, hier leben zu dürfen.«

Liv wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Was hatte bloß ihre Schwester geritten?

»Du nimmst mich wieder mal nicht ernst«, beschwerte diese sich prompt. »Aber ich habe mir das wirklich gut überlegt. Es gibt inzwischen viele Sendungen im Fernsehen, in denen gezeigt wird, wie die so was in den USA machen. Und nein, du brauchst jetzt gar nicht mit den Augen zu rollen, denn ich habe mich auch mit jemandem aus der Immobilienbranche darüber unterhalten, und der hat mir recht gegeben. Vielen Leuten fehlt einfach die Vorstellungskraft. Wenn sie ein renovierungsbedürftiges Haus sehen, achten sie nur auf bröckelnden Putz, zerkratztes Parkett oder hässliche Fliesen in den Badezimmern. Ihnen fehlt schlicht die Fantasie, zu erkennen, was man alles daraus machen kann.«

Maike war so begeistert von ihren eigenen Überlegungen, dass ein Fünkchen davon auf Liv übersprang. Hatte ihre kleine Schwester recht? War es wirklich sinnvoll, zuerst Geld in die Hand zu nehmen, um später eine deutlich höhere Rendite zu bekommen?

»Hast du eine Vorstellung davon, was es kostet, hier alles auf Vordermann zu bringen? Das fängt mit den zugigen Fenstern an und hört mit einer Sanierung der Elektrik noch lange nicht auf!«, gab sie dennoch zu bedenken.

Mit einer entsprechenden Geste wischte Maike diese Argumente vom Tisch. »Natürlich können wir das Haus nicht komplett sanieren, aber wir könnten einiges mit kleinen Mitteln renovieren, sodass das ganze Objekt gekonnt in Szene gesetzt wird. Das Treppenhaus zum Beispiel«, fügte sie konkret hinzu. »Wenn wir die Treppe wieder in Schuss bringen, die Türen neu lackieren und den Fliesenboden gründlich schrubben, hätten wir schon gut was vorzuweisen. ›Der erste Eindruck zählt und der letzte!‹, sagte der Makler, mit dem ich gesprochen habe. Und darauf müssen wir hinarbeiten.«

Liv schaute völlig perplex zu ihrer kleinen Schwester hinüber, die sich nun abwartend zurückgelehnt hatte. Maike schien das Projekt Hofsanierung bereits gut durchdacht zu haben, so kannte sie sie gar nicht. Sie musste sich erst einen Moment sammeln, ehe sie sich wieder auf das Gesagte konzentrieren konnte. Hatte Maike nicht genau das ausgesprochen, was sie selbst beim Betreten des Hauses gedacht hatte? Vielleicht wäre es wirklich eine gute Idee, das Haus ein wenig herzurichten und danach einen höheren Preis dafür zu verlangen, schließlich könnte sie das zusätzliche Geld gut gebrauchen. Wenn der Plan denn aufging.

»Also«, sagte sie schließlich, »die Idee klingt erst einmal ganz gut. Allerdings würde ich gern eine Nacht darüber schlafen.« Und zu dem Thema gründlich im Internet recherchieren, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Super!« Maike klatschte in die Hände. »Schlaf drüber, und wir reden morgen früh noch mal. Ich habe jetzt sowieso noch etwas vor.«

Sie stand auf, warf Liv überschwänglich eine Kusshand zu und verließ die Küche.

Fassungslos schaute Liv ihr hinterher. Das war wieder die kleine Schwester, die sie kannte. Sorglos und unbekümmert, sich gern vor anfallenden Arbeiten drückend. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war Maike gerade einmal zwei Jahre jünger als sie selbst, dennoch weigerte sie sich nach wie vor, auch nur ein Quäntchen Verantwortung zu übernehmen.

Nun denn. Liv stand auf, stellte die Teller aufeinander und legte das Besteck dazu. Das bisschen Geschirr konnte sie heute Abend auch selbst abwaschen. Aber falls sie sich wirklich für eine Renovierung des Hauses entschließen sollte, würde sie bald andere Saiten aufziehen.

Zumindest hoffte sie das.

Kapitel 2

Als Liv am nächsten Morgen mit ihrer ersten Tasse Tee am Frühstückstisch saß, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte gestern Abend noch einige Stunden vor ihrem Laptop gehockt und in Immobilienportalen gestöbert, über Quadratmeterpreise und Ausstattungsmerkmale nachgelesen und anschließend hin und her überlegt, ob sie tatsächlich bereit war, hier im Haus noch Hand anzulegen und ihren Schwedenaufenthalt fürs Erste abzuhaken. Letztlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie ihr Elternhaus nicht einfach so verscherbeln wollte. Es hatte wahrlich Besseres verdient. Sie wünschte sich, Käufer zu finden, die es auch zu schätzen wüssten, hier auf dem Hof zu leben. Niemanden, der vielleicht alles plattmachen und einen schmucklosen Neubau errichten wollte.

Liv nippte an ihrem Tee und sah hinaus. Alles lag noch im Dämmerlicht, doch die Vögel waren schon lautstark dabei, den neuen Tag zu begrüßen.

Sie liebte den Frühling, wenn die Natur nach einem langen Schlaf zu erwachen schien. Die Pflaumenbäume zeigten bereits ihre Blüten, und das erste zarte Grün an den Zweigen reflektierte das kühle Sonnenlicht. Es schien, als habe ein Maler seinen Pinsel in Farbe getaucht und begänne nun damit, sein skizziertes Werk Stück für Stück auszumalen.

Liv lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie mit dem Haus ähnlich verfahren würden. Stück für Stück würde es einen Teil seines alten Glanzes wiederbekommen. Sie spürte, wie die Vorfreude darauf durch ihren Körper schoss und die Müdigkeit sich verflüchtigte. Sie reckte und streckte sich noch einmal und stand dann auf. Wer wusste schon, bis wann Maike noch schlafen würde? Sie selbst wollte jedenfalls nicht länger untätig herumsitzen. Da sie nun eine Entscheidung gefällt hatte, konnte sie auch damit beginnen, sie umzusetzen.

Im Stehen trank sie noch ihren letzten Schluck Tee, ehe sie im Flur in ihren Mantel schlüpfte und nach ihrer Shopping-Bag griff. Sie brauchte gar nicht darüber nachzudenken, womit sie beginnen wollte – mit den Fliesen, das war klar, denn das Treppenhaus wollte sie auf jeden Fall renovieren. Maike hatte gestern vom »ersten Eindruck« gesprochen, und den hätten die potenziellen Käufer nun mal im Eingangsbereich. Sicher war es prinzipiell nicht sinnvoll, vor einer Renovierung gründlich zu putzen, und ganz bestimmt könnte sie Maike von der Sinnhaftigkeit nicht überzeugen, aber ihr persönlich würde es dabei helfen, sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Im Moment lag alles unter einer dicken Staubschicht und machte einen trostlosen Eindruck. Wäre es hier erst einmal sauber, sähe sie sicher deutlich klarer, wo es sich lohnte, noch Hand anzulegen.

Und Geld zu investieren, dachte sie, als sie vom Hof fuhr.

Im Baumarkt angekommen, musste Liv sich erst einmal orientieren. Wenn sie ehrlich war, konnte sie an zwei Händen abzählen, wie oft sie bisher ein solches Geschäft von innen gesehen hatte. Was leider auch deutlich machte, wie viel Erfahrung sie in puncto Renovierung vorweisen konnte. Aber sie hatte schon immer gern mit ihren Händen gearbeitet, und bisher hatte sie sich noch jeder Aufgabe gestellt. Hier würde sie keine Ausnahme machen. Heute wollte sie sich erst einmal informieren, was sie überhaupt dazu benötigte, Fliesen und Holz neues Leben einzuhauchen. Und falls sie irgendwelche Maschinen brauchen sollte, gab es dazu eine reichliche Auswahl in der ehemaligen Werkstatt ihres Großvaters.

Sie schlenderte durch die verschiedenen Abteilungen und war schier erschlagen von der Vielfalt des Angebots. Ohne fachliche Unterstützung kam sie nicht weiter, so viel war sicher. Sie schaute sich suchend nach einem Mitarbeiter um und erspähte einen jungen Mann im Gespräch mit einem Kunden.

In respektvollem Abstand zu den beiden stellte sie sich abwartend daneben. Ein Typ ihres Alters wollte von dem Mitarbeiter wissen, wie er am besten eine Tischplatte aus massivem Eichenholz bearbeiten solle. Liv hörte nur mit halbem Ohr zu und beobachtete stattdessen einen weiteren Mann, der am anderen Ende des Ganges mit einem nahezu entrückten Lächeln über einen massiven Hobel strich.

Was ist das bloß mit Männern und Werkzeug?, sinnierte sie, während ihr Blick auf einen älteren Herrn fiel, der aus einer großen Anzahl von Holzdübeln offenbar die richtige Ausführung suchte.

Lauter Männer, fiel ihr plötzlich auf. Das wäre doch der ideale Ort, um jemanden kennenzulernen. Da machten sich viele Frauen die digitale Welt zunutze, um einen Partner zu finden, obwohl dies in einem Baumarkt doch sicher viel unkomplizierter wäre. Hier hätte man auch gleich ein Gesprächsthema, das die Männer interessierte.

Liv schmunzelte. Ohne die sozialen Medien war das Leben doch eigentlich viel leichter.

Eine Dreiviertelstunde später, nach einem sehr informativen Gespräch mit dem Mitarbeiter und einem ausgiebigen Einkauf in der Putzmittelabteilung, war sie wieder auf dem Heimweg. So einfach, wie Maike sich das mit dem Renovieren vorgestellt hatte, schien es nicht zu werden. Es sei denn, ihre Schwester hatte in den letzten Jahren Erfahrungen gesammelt, von denen Liv nichts wusste. Aber gemeinsam würden sie das Kind schon schaukeln, und vielleicht lohnte es sich tatsächlich, für einige Arbeiten einen Fachmann hinzuzuziehen. Oder eine Fachfrau, dachte sie, während sie den Wagen auf dem Hof abstellte. Außerdem gab es ja auch noch Hein und Cornel, die sie sicher zumindest mit guten Ratschlägen unterstützen würden.

Nachdenklich blieb sie noch einen Moment im Wagen sitzen und betrachtete die Frontseite des Hauses. Auf der linken Seite lag das große Wohnzimmer, während die Fenster rechts von der Eingangstür zum ehemaligen Büro ihrer Mutter und dem Zimmer ihres Vaters gehörten. Sie selbst hatte ihr Zimmer ebenfalls im Erdgeschoss, auf der Rückseite des Hauses, und die anderen Schlafräume der Familie sowie das Wohnzimmer ihrer Großeltern waren im ersten Stockwerk untergebracht. Es juckte ihr in den Fingern, mit dem Putzen zu beginnen und so das Haus aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken. Wie gern wäre sie diejenige, die die notwendigen Renovierungen leisten würde, um anschließend in dem Haus zu wohnen. Aber auf diesem Gedanken hatte sie lange genug herumgekaut, und das Ergebnis war immer wieder dasselbe gewesen: Ein solch großes Anwesen zu renovieren und zu erhalten, bedurfte einer Menge Geld und mindestens ebenso viel Zeit. Für sie allein war das einfach nicht zu stemmen, das hatte sie an ihrer Mutter gesehen. Und Maike …

Nun ja, sie kannte ihre kleine Schwester und wusste, dass man sich bei ihr nicht auf regelmäßige Einnahmen verlassen konnte. Geschweige denn, dass Maike jemals geäußert hätte, auf dem elterlichen Hof leben zu wollen.

Egal, dachte Liv, als sie aus dem Wagen stieg. Das waren sowieso bloß Hirngespinste, die sie inzwischen begraben hatte.

Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und nahm die zwei großen Einkaufsbeutel aus dem Kofferraum ihres Golfs, bevor sie die Heckklappe wieder verschloss und zum Haus hinüberging. Sie freute sich darauf, gleich loszulegen. Obwohl, vielleicht war Maike ja inzwischen aufgestanden und hätte Lust, mit ihr zu frühstücken?

Als sie die Haustür öffnete, umfing sie bereits der Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Begierig sog sie die Aromen in sich auf. Wenn sie auch eine leidenschaftliche Teetrinkerin war, ging ihr nichts über eine gute Tasse Kaffee zwischendurch.

»Bin zurück!«, rief sie, schloss die Haustür und schälte sich aus ihrem Mantel. »Ich habe frische Brötchen mitgebracht!«

Sie nahm die Brötchentüte aus der einen Tasche und ging in die Küche. Maike saß in Leggings und Hoodie am Küchentisch, einen Becher Kaffee vor sich.

»Guten Morgen«, begrüßte Liv sie gut gelaunt.

»Morgen«, antwortete Maike brummig.

»Nicht gut geschlafen?« Liv betrachtete ihre Schwester skeptisch.

»Ich habe Bauchschmerzen.«

»Deine Regel?«

Maike nickte.

»Soll ich dir einen Kräutertee machen? Frauenmantel, Gänsefingerkraut und Schafgarbe wirken manchmal Wunder. Mache ich mir auch selbst bei Regelschmerzen.«

»Hast du das Zeug denn dabei?«

»Immer. Mit Honig gesüßt kann man sich mit dem Gänsefingerkraut nämlich auch eine leckere Kräutermilch kochen. Gerade bei kaltem Wetter abends im Bett die reine Wohltat.«

»Klingt gut. Also ich meine das Teegemisch. Würde ich gern ausprobieren.«

Liv lief den Flur entlang zu ihrem Zimmer. So wie andere Leute ihre Reiseapotheke hatte sie immer einiges an Kräutermischungen dabei, damit sie genau für solche Fälle gerüstet war. Nicht dass sie etwas gegen Schulmedizin hatte, die hatte absolut ihre Berechtigung. Aber bei leichteren Beschwerden oder zur Unterstützung waren Kräutertees und ätherische Öle ein wahrer Schatz der Natur. Sie griff nach der Baumwolltasche, die sie extra für ihre Kräutersammlung genäht hatte, und ging zurück in die Küche.

Maike hatte bereits den Frühstückstisch gedeckt und schaute gerade im Kühlschrank nach, was Anni ihnen hineingestellt hatte.

»Selbst gemachte Erdbeermarmelade, Butter, Camembert und Gouda.« Sie stellte die Sachen auf den Tisch und setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

»Am besten fahre ich gleich erst einmal einkaufen«, stellte Liv fest, als sie den Wasserkocher aufsetzte. »Dann kannst du dich mit einer Wärmflasche wieder ins Bett legen.« Sie wandte sich zu Maike um und betrachtete ihr Outfit. »Oder wolltest du jetzt Sport machen?«

Irritiert schaute Maike an sich hinunter. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ist nur am bequemsten so.«

Während der Tee zog, setzte sich Liv ebenfalls an den Tisch, schmierte sich ein Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade und biss herzhaft hinein.

»Mmh, lecker.« Voller Genuss schloss sie kurz die Augen. Bis eben hatte sie gar nicht gemerkt, wie hungrig sie war.

»Du solltest auch etwas essen«, forderte sie ihre Schwester auf. »Ein bisschen Zucker wird dir guttun. Nachher bringe ich Honig mit und mache dir noch eine Kräutermilch. Du wirst sehen, dann geht es dir gleich viel besser.«

»Danke«, sagte Maike und griff ebenfalls nach einem Brötchen. »Bist du denn zu einem Ergebnis gekommen, was unser Gespräch von gestern anging?«

»Bin ich.« Liv lächelte Maike an. »Ich habe ein wenig im Internet gesurft und denke, dass die Hausrenovierung eine gute Idee von dir ist. Ich möchte, dass der zukünftige Besitzer zu schätzen weiß, was er mit unserem Hof erwirbt.«

»Und dass er vor allem einen guten Preis macht«, fügte Maike hinzu.

»Sicher, wir sollten nicht unter Wert verkaufen. Wir müssen aber auf jeden Fall vorher einen Rahmen festlegen: Was muss alles gemacht werden, und wie viel wird das kosten.«

»War ja klar, dass du jetzt gleich wieder mit irgendwelchen Listen kommst«, meinte Maike abschätzig.

»In vielen Lebenssituationen ist das sinnvoll, vor allem, wenn es darum geht, Zeit zu investieren und Geld auszugeben. Ich nehme doch an, dass auch du Interesse daran hast, das alles hier in einem vernünftigen Zeitrahmen zu halten.«

»Was du so für vernünftig hältst, nehme ich an«, ätzte Maike.

Liv bemühte sich um Ruhe. Es nutzte überhaupt nichts, jetzt laut zu werden.

»Wie stellst du dir das in den nächsten Wochen vor?«, fragte sie stattdessen in ruhigem Ton. »Wirst du Urlaub nehmen?«

Maike wich ihrem Blick aus und zerbröselte ein Stück des trockenen Brötchens. »Ich bin gerade zwischen zwei Jobs, also kein Problem«, erklärte sie Liv ausweichend.

»Maike …«, setzte Liv an, wurde jedoch von ihrer Schwester unterbrochen.

»Nein! Wir müssen nicht darüber reden, was ich aus meinem Leben machen will! Und nein, ich will weder eine weitere Ausbildung machen, noch will ich studieren!«

»Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Das brauchst du nicht.« Nun sah Maike Liv eindringlich an. »Wirklich nicht. Ich komme bestens klar. Ich bin total zufrieden, wie es zurzeit bei mir läuft.«

Liv konnte einen zweifelnden Ausdruck nicht unterdrücken.

Jetzt lachte Maike auf. »Hey, es stimmt wirklich, mir geht es gut. Kannst du dasselbe auch von dir behaupten?«

Nun war es an Liv, betreten zu schauen. »Nun ja. Ich habe festgestellt, dass mir der Job in solch einer großen Apotheke nicht so viel Spaß macht, wie ich dachte, und habe gekündigt«, antwortete sie vage.

Doch ihrer Schwester reichte das als Info. »Na, dann ist doch alles bestens.« Sie nippte an dem Tee, den Liv inzwischen vor sie hingestellt hatte. »Schmeckt gar nicht so schlecht.«

»Warum sollte der schlecht schmecken?«

»Weil’s Kräuter sind?«

Nun musste Liv lachen. »Ich denke, es wird schon Gelegenheiten gegeben haben, in denen du Kräuter sehr genossen hast.«

»Nicht dass ich wüsste. Eigentlich mag ich dieses Grünzeugs nicht.«

»Ach, tatsächlich? Und was ist mit Mamas Bärlauchbutter?«, fragte Liv mit einem süffisanten Unterton.

Perplex sah Maike sie an. »Ist das auch ein Kraut?«

»Klar. Und ich freu mich schon drauf, wenn ich ihn in ein paar Wochen wieder sammeln kann.«

»Ich auch. Gegen frische Bärlauchbutter habe ich nichts einzuwenden.«

Wenn Maikes Tonfall auch ein wenig nüchtern ausfiel, war Liv doch froh, dass die Stimmung am Tisch sich wieder normalisiert hatte.

»Ich war schon im Baumarkt und habe einiges an Putzmitteln gekauft.«

»Putzmittel? Brauchen wir nicht eher Schleifpapier und Wandfarbe?«

»Ich möchte erst einmal alles gründlich sauber machen, damit man besser entscheiden kann, was alles gemacht werden muss.«

»Du willst das ganze Haus putzen?«, fragte Maike entsetzt. »Nur damit wir es anschließend wieder dreckig machen? Ohne mich!«

Aber Liv störte sich nicht daran, da sie mit genau dieser Antwort gerechnet hatte. »Dann ruh du dich heute aus. Ich freue mich schon darauf, mit der Arbeit anzufangen und dem Haus wieder ein bisschen Leben einzuhauchen.«

Gute drei Stunden später stand sie auf dem Treppenabsatz und betrachtete ihr Werk. Die Fliesen in der Diele waren kaum wiederzuerkennen. Sie hatte sie, nachdem der Einkauf erledigt war, hingebungsvoll mit der Wurzelbürste und einem speziellen Reinigungsmittel bearbeitet, sodass nun die Farben wieder leuchtend hervortraten und eindrucksvoll die Fliesenkunst des 19. Jahrhunderts bekundeten.

Liv spürte, wie sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. War es nicht ein wundervolles Gefühl, wenn man nach getaner Arbeit ein solches Ergebnis sah? Sie spürte der körperlichen Herausforderung nach, bewegte locker die Schultern und kam zu dem Ergebnis, dass es sich gut mit ihrem Zustand nach einem 7-km-Lauf vergleichen ließ: Sie fühlte sich lebendig, voller Endorphine und mehr als bereit für eine heiße Dusche.

»Liv?«, erklang in diesem Moment Maikes Stimme aus dem Obergeschoss.

Sie hob den Kopf, als auch schon ihre Schwester am Treppengeländer auftauchte.

»Geht es dir besser?«, wollte Liv von ihr wissen.

»Ja, danke. Ui, das sieht schön aus!«, entfuhr es Maike nach einem Blick nach unten.

Liv betrachtete ebenfalls noch einmal ihr Werk. »Ja, die Arbeit hat sich wirklich gelohnt.«

»Apropos Arbeit.« Nun schaute ihr Maike ernst ins Gesicht. »Ich möchte nicht, dass du irgendwas in meinem Zimmer machst. Das ist für dich absolut tabu. Außerdem werde ich mir für die Zeit hier das Wohnzimmer von Oma und Opa herrichten. Die Tür bleibt ebenfalls geschlossen. Alles klar?«

»Warum sollte ich in dein Zimmer gehen? Das ist doch selbstverständlich. Und klar, wenn du dir das obere Wohnzimmer als zweiten Raum dazunehmen willst, nur zu. Es sind schließlich genug Räume da.«

»Muss ich abschließen, oder wirst du meine Privatsphäre respektieren?«, hakte Maike nach.

Langsam wurde Liv ärgerlich. »Natürlich respektiere ich deine Privatsphäre. Ich werde die Türen schon nicht öffnen. Ich wüsste ehrlich gesagt auch nicht, was mich an deinen Sachen interessieren sollte«, konnte sie sich nicht verkneifen, hinzuzufügen.

Als wenn irgendwas an Maikes Klamotten so außergewöhnlich sei, dass sie nur darauf brannte, sie zu Gesicht zu bekommen. Aber so war es immer schon gewesen: Maike machte ihr eigenes Ding, und wehe, jemand kam ihr dabei in die Quere.

Es war so schade, dass es Liv nach wie vor nicht gelang, die Mauern, die ihre Schwester um sich herum errichtet hatte, zu durchbrechen. Kaum hatte sie den Eindruck, sie habe einen Zugang zu ihrer Schwester gefunden, schob diese sie wieder von sich weg.

Liv seufzte, als Maike sich ohne ein weiteres Wort umdrehte und zurück in ihr Zimmer ging. Da kamen ein paar anstrengende Wochen auf sie zu.

Kapitel 3

Liv schob sich mit der rechten Hand eine Haarsträhne hinter das Ohr und betrachtete kritisch die Decke des ehemaligen Wohnzimmers ihrer Mutter. Durch die beiden großen Doppelflügelfenster fiel heute nur trübes Licht in den großen Raum und machte dadurch mehr als deutlich, dass hier seit etlichen Jahren nicht mehr gestrichen worden war. Eigentlich eine Schande, denn dadurch kamen die Stuckornamente an den Zierleisten und vor allem an der Deckenmitte kaum zur Geltung.

Mit ein wenig weißer Farbe könnte ich hier wahre Wunder vollbringen, dachte sie, während ihr Blick bereits prüfend auf den Dielenboden und die Fensterrahmen fiel. Jetzt, wo sie alles gründlich geputzt hatte, machte der Raum einen ganz passablen Eindruck, wenn auch die Fensterrahmen in keinem guten Zustand waren und der Boden einmal abgeschliffen werden müsste. Aber sie sah das Zimmer bereits umfassend renoviert vor sich und konnte sich gut vorstellen, dass es dann künftigen Interessenten deutlich machte, welch ein Potenzial in dem alten Haus steckte.

Ihr Blick fiel auf die beiden Nussbaumschränke, die noch aus der Zeit des Jugendstils stammten. Sie hatte sie mit einer speziellen Reinigungsmilch gesäubert und musste zugeben, dass sie sehr zufrieden mit ihrer Arbeit war. Die guten Stücke glänzten wieder, und der unverwechselbare Rotton des Holzes kam wunderbar zur Geltung. Dazu kam noch die cremefarbene Sitzecke, die sich ihre Mutter erst kurz vor ihrem Tod gekauft hatte. Sie rundete die Einrichtung ab und machte den Raum so richtig gemütlich.

»Also gut«, sagte Liv zu sich selbst und griff nach den restlichen Putzutensilien. »Wieder ein Stück weiter. Jetzt ist erst einmal Pause.«

Sie verließ das Wohnzimmer, brachte die Putzmittel zurück in die Besenkammer und schaute auf die große Standuhr neben dem Treppenaufgang. Gleich elf Uhr. Eine gute Zeit, um ihren Nachbarn den versprochenen Besuch abzustatten.

Wie erwartet, war die Hintertür von Annis Haus nicht verschlossen. Trotzdem drückte Liv auf den Klingelknopf, ehe sie eintrat und laut hineinrief: »Ich bin’s!«

Während sie schon die Treppe hinaufstieg, hörte sie, wie oben eine Tür geöffnet wurde.

»Liv?« Cornels grauer Haarschopf erschien über dem Geländer. »Hallo«, brummte er, als er sie erkannte.

»Ebenfalls ein freundliches Hallo. Geht es euch gut?«

»Klar. Komm rein.«

Liv huschte an ihm vorbei ins gut geheizte Wohnzimmer, ehe er die Tür zum kalten Treppenhaus hinter ihr schloss.

»Guten Morgen!«, begrüßte sie Opa Hein und dessen Tochter. »Wird Zeit, dass endlich der Frühling kommt. Mann, ist das heute wieder ungemütlich.«

Die kleine, rundliche Anni saß auf der braunen Ledercouch und strickte. »Das liegt am Regen. Die Feuchtigkeit zieht dir bis in die Knochen. Cornel hat uns gerade einen Tee gemacht – Anis, Fenchel und Orangenschalen. Möchtest du auch einen?«

Sollte Liv sich darüber wundern, dass Cornel hier den Tee kochte? Ganz sicher nicht. Obwohl weder verwandt noch verschwägert, gehörte er nach all den Jahren quasi zur Familie und ging hier im Haus ein und aus, als habe er Wohnrecht.

»Ja, bitte«, sagte sie deshalb nur knapp an Cornel gewandt, ehe sie zu Hein hinüberging, der in einem Sessel am Fenster saß, das Wochenblatt Niederrhein Nachrichten aufgeschlagen auf dem Schoß.

Sie nahm ihn herzlich in den Arm und drückte ihn. »Es ist so schön, dich zu sehen«, sagte sie leise und inhalierte verstohlen den an ihm haftenden Duft seines Pfeifentabaks. Hier oben in der Wohnung hatte Anni ihm das Rauchen streng verboten, aber im Sommer schmökte er sein Pfeifchen am liebsten auf der Bank vor dem Laden, während er im Winter Cornels Werkstatt vorzog. So wie er roch, hatte er heute Morgen dort bereits Zeit verbracht.

Hein tätschelte ihr den Arm. »Ich freue mich auch, dass du gekommen bist.«

»Und? Was gibt es Neues?«, wollte sie wissen, als sie sich von ihm löste.

Hein tippte mit dem Zeigefinger auf einen Artikel in der Zeitung. »In Kellen gibt es zum Muttertag ein Konzert in der Kirche. Für Kinder. Peter und der Wolf. Ohne Orchester, eine Version für die Orgel. Da möchte ich gern hin.«

Anni schaute von ihrem Strickzeug auf. »Das ist ein Kinderkonzert, ich fürchte, aus dem Alter bist du inzwischen raus.«

»Hier steht extra, dass Leute jeglichen Alters eingeladen sind«, beharrte Hein auf seinem Wunsch. »Peter und der Wolf ist eine wunderbare Geschichte. Das erinnert mich an früher, als …«

»Jetzt lass Liv doch mal in Ruhe ankommen«, fiel seine Tochter ihm ins Wort. »Ich möchte zuerst einmal hören, wie es ihr in der letzten Zeit so ergangen ist.« Sie klopfte neben sich aufs Sofa, und Liv ging zu ihr hinüber.

Cornel hatte ihr bereits Tee eingeschenkt, sich in einen Sessel ihnen gegenüber gesetzt, und schaute sie nun ebenfalls erwartungsvoll an.

Sie nahm die Teetasse vom Tisch, hielt sie sich unter die Nase und roch an dem aufsteigenden Duft. »Mhm, riecht gut.«

»Schmeckt auch so«, bestätigte Anni, ohne von ihrem Strickzeug aufzusehen. »Und? Was gibt es Neues in deiner Apotheke?«

Liv nippte an ihrem Tee, um noch ein wenig Zeit zu gewinnen. Anni würde sich nicht so schnell mit einfachen Antworten abspeisen lassen wie Maike.

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie schließlich. »Ich habe dort seit einer guten Woche nicht mehr gearbeitet.«

Nun hob Anni doch den Kopf. »Hast du Urlaub?«

»Ich habe gekündigt«, gab Liv zu und stellte ihre Teetasse zurück auf den Tisch.

»Hm«, war alles, was Cornel von sich gab, während er auf einem von Annis Karamellkeksen herumkaute.

Anni dagegen legte ihr Strickzeug beiseite und schaute Liv prüfend an. »Was ist passiert?«

»Es passte einfach nicht mehr. Ich habe mich dort nicht mehr wohlgefühlt.«

Anni verdrehte die Augen. »Mein Gott, heute bist du aber störrisch. Muss ich dir denn jedes Wort aus der Nase ziehen? Was ist passiert? Warum hast du dich plötzlich nicht mehr wohlgefühlt? Du hast doch immer gerne da gearbeitet.«

Liv schaute in die drei Gesichter, die sich ihr erwartungsvoll zugewandt hatten, und erinnerte sich daran, dass diese drei Menschen hier neben Maike dem Begriff Familie für sie am nächsten kamen. Warum also blieb sie so wortkarg, anstatt einfach Klartext zu reden? Sie musste sich doch für nichts schämen. Nun, vielleicht, ein bisschen unangenehm war es ihr schon. Schließlich war sie bisher immer gradlinig ihren Weg gegangen, ohne irgendwelche Umwege oder Auszeiten zu nehmen.

Immer ein braves Kind, dachte sie voller Ironie.

»Es ist gar nichts Dramatisches vorgefallen«, erklärte sie schließlich. »Ich habe gekündigt, weil mir meine Arbeit schon seit Längerem keinen richtigen Spaß mehr macht.« Dann atmete sie kurz durch und fuhr fort: »Und außerdem hatte ich eine Beziehung mit einem Kollegen, Paul, die unschön auseinandergegangen ist.«

So, jetzt war es raus.

Sie schaute Anni, Hein und Cornel nacheinander an und musste schmunzeln, als niemand etwas darauf erwiderte. Schließlich gluckste sie auf. »Hat es euch jetzt die Sprache verschlagen?«

Beide Männer schauten synchron zu Anni hinüber.

Diese räusperte sich. »Die Arbeit hat dir keinen Spaß mehr gemacht?«, fragte sie und widmete sich erst einmal dem unverfänglichen Thema.

»Es war einfach immer dasselbe, und ich habe mich zunehmend gefragt, ob ich das wirklich mein ganzes Leben lang machen will. Mitten in der Stadt, in solch einer großen Apotheke hatte ich nicht so eine enge Kundenbindung, wie ich gewollt hätte. Zudem habe ich den größten Teil des Tages damit verbracht, abgepackte Medikamente über die Theke zu reichen. Dazu kam ein wenig Beratung, aber selbst darauf legten die meisten Kunden keinen Wert. Meine Vorstellung aus der Zeit des Studiums, Rezepturen anzurühren und Medikamente herzustellen, nimmt nur einen unbedeutenden Anteil in meiner Arbeit ein.«

»Vielleicht solltest du dir besser eine kleine Apotheke hier in der Region suchen«, warf Hein ein. »Ich bin jedenfalls froh über den Kontakt zu meinem Apotheker. Tom kennt mich nun schon seit über zehn Jahren und weiß genau, welche Medikamente ich brauche und wie ich sie einnehmen muss.« Er nickte mit dem Kopf, um seine Aussage zu unterstützen.

»Danke, das ist sicher eine Alternative, über die ich nachdenken werde.«

»Und wie war das nun mit dem jungen Mann?«, hakte Anni nach.

Liv schob sich die Haare hinter die Ohren und richtete sich auf. »Es war ein Fehler«, stellte sie kurz und bündig fest. »Eine Liebelei am Arbeitsplatz kann nur in einer Katastrophe enden, was ich eindrucksvoll bewiesen habe.«

Anni legte ihr mitfühlend die Hand aufs Bein. »Und wie geht es dir damit?«

»Inzwischen sehr gut«, konnte sie ehrlich antworten. »Es war nicht die große Liebe. Zumindest nicht von meiner Seite«, fügte sie hinzu.

Annis Blick wandte sich an Cornel. »Darauf sollten wir etwas Stärkeres trinken als Tee. Was meinst du?«

»Vier Mal Johannisbeerschnaps?« Cornel schaute fragend in die Runde.

Als alle zustimmend nickten, stand er auf, holte den Schnaps aus dem Kühlschrank der dem Wohnzimmer anliegenden offenen Küche und füllte vier Gläschen damit, die auf einem Beistelltisch standen.

Liv musste schmunzeln. Die drei waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die nicht nur gut zusammenarbeitete, sondern auch ihre Sonntage zelebrierte. Da wurde nichts fürs Geschäft getan, keine Reparaturaufträge abgearbeitet und auch nicht gekocht. Sie schliefen aus und frühstückten gemütlich, ehe sie sich im Wohnzimmer niederließen. Wenn sie keinen Ausflug geplant hatten. Nachmittags kehrten sie dann irgendwo ein und ließen sich ein Stück Kuchen schmecken, weshalb es stets nur ein kleines Abendessen mit Butterbroten gab.

Auf Neudeutsch hieß das »Pflege der Work-Life-Balance«. In diesem Haus wurde das aber schon zelebriert, seit Liv zurückdenken konnte. Schade, dass ihre Mutter das niemals übernommen hatte.

»Denn man Prost«, sagte Anni und kippte ihren Schnaps mit einem Schluck hinunter.

»Prost!«, stimmte Liv ihr zu und nippte an dem süßlichen Getränk.

Hein nickte ihr auffordernd zu. »Nun zier dich nicht, der Tag ist noch jung!«

Was das miteinander zu tun haben sollte, erschloss sich Liv nicht so ganz, aber sie folgte der Aufforderung und trank den Rest des Gläschens leer. Nun musste sie sich doch ein wenig räuspern, als sie es zurück auf den Tisch stellte. Der aufgesetzte Schnaps war ein echter Nachbrenner.

»So«, meinte Anni und stellte ihr Glas ebenfalls zurück auf den Tisch. »Jetzt erzähl uns mal von diesem jungen Mann. Was hat er dir angetan?«

Liv grinste schief. »Angetan hat er mir überhaupt nichts. Wir waren ein paar Monate zusammen, als Paul meinte, er wolle mit mir zu seinen Eltern fahren. Da habe ich gemerkt, dass mir das alles zu eng wurde und diese Beziehung die falsche Richtung nahm. Deshalb habe ich mit ihm Schluss gemacht. Das hat er mir krummgenommen und mich anschließend in der Apotheke geschnitten. Das Arbeitsklima war einfach unangenehm geworden, und dem wollte ich mich nicht länger aussetzen.«

»Mhm.« Anni schaute sie nachdenklich an.