Ein Licht in der Dunkelheit - Bo R. Holmberg - E-Book

Ein Licht in der Dunkelheit E-Book

Bo R. Holmberg

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Beschreibung

Agnes wächst zusammen mit ihrem großen Bruder bei ihrem Vater auf. Sie erinnert sich kaum an ihre Mutter, die gestorben ist, als sie noch ganz klein war, vermisst sie jedoch trotzdem. Ihr Vater und ihr Bruder Martin wollen nicht über sie reden, obwohl Agnes genau weiß, dass die beiden sie auch vermissen. Wer erneuert immer wieder das Grablicht auf Mutters Grab? Als Agnes beginnt, Fragen zu stellen, erlischt das Licht. Biografische Anmerkung Bo R. Holmberg wurde am 5. Februar 1945 in Schweden geboren. Er studierte Literaturwissenschaft, Skandinavistik und Anglistik und arbeitete viele Jahre als Lehrer. Seit seinem Debut als Schriftsteller hat er insgesamt 30 Bücher herausgegeben, die meisten davon Kinderbücher. Alle Bücher spielen in seinem Heimatland Schweden. Holmberg wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Astrid-Lindgren-Preis im Jahr 1998 und der Kulla-Gulla-Preis im Jahr 2003.

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Bo R. Holmberg

Ein Licht in der Dunkelheit

Aus dem Schwedischenvon Angelika Kutsch

Saga

Agnes und Martin

Ich will nicht“, schrie sie. „Ich will nicht!“ Martin hielt sie am Arm fest und zog und zerrte sie zu ihrem Zimmer.

Agnes stemmte sich dagegen, sosehr sie konnte, sie hängte sich an seinen Arm, trat nach ihm, machte sich schwer wie ein Stein, aber Martin war stärker.

„Ich will noch nicht schlafen!“, schrie sie. „Ich will mit dir aufbleiben.“

Martin blieb bei dem roten Sessel in der Diele stehen, in dem sie so gern saß. Aber nicht jetzt. Jetzt wollte sie auf dem Sofa neben ihm sitzen, mit Popcorn und Cola und es sich gut gehen lassen.

Er warf sie in den Sessel, als ob sie eine kleine Puppe wäre. Als ob sie nicht größer als Gullan wäre.

„Du gehst jetzt schlafen“, sagte er. „Es ist schon spät. Du bist schon eine Stunde länger auf als sonst. Ich will mir ein Video ansehen. Und du musst schlafen.“

„Ich will auch einen Videofilm gucken!“, heulte Agnes. „Der ist für Kinder verboten“, sagte ihr Bruder.

Er keuchte ein bisschen von der Anstrengung, strich sich übers Haar und kratzte sich dann am Hals.

„Der Film ist so schrecklich“, sagte er. „Wenn du den siehst, kannst du zwei Monate lang nicht schlafen.“

„Ich will aber bei dir sein!“, schrie sie.

Sie trug ein Nachthemd mit kleinen blauen Glockenblumen. Sie versuchte ihre Füße zu bedecken und machte ihr bockiges Gesicht. Es sah so verkniffen aus, als ob es von einer riesigen Hand zusammengepresst würde. Sie schielte zu ihrem Bruder hinauf.

„Marsch ins Bett“, sagte Martin.

„Ich will den Film zusammen mit dir sehen“, bettelte sie. „Bitte!“

Sie guckte wieder lieb und legte den Kopf schief. Sie zog ein bisschen am Nachthemd, um ihre Füße zu wärmen.

„Gib’s auf“, sagte Martin. „Du sollst schlafen. Der Film ist total verboten für Kinder. Er handelt von einem Serienmörder.“

„Eine Serie“, sagte sie. „Die kann ich doch sehen.“

„Ein Massenmörder“, sagte Martin. „Keine Serie. Gehst du jetzt freiwillig oder soll ich dich tragen?“

„Du bist der blödeste Bruder, den es gibt!“, schrie Agnes und drückte sich in den Sessel.

„Na gut“, sagte Martin. „Ich hab dir eine Chance gegeben. Jetzt trag ich dich.“

„Warte mal“, sagte Agnes. „Ich muss noch Zähne putzen.“

„Ja, tu das“, sagte Martin. „Aber bitte hopp.“

Agnes streckte die Füße aus dem warmen Nest ihres Nachthemdes und sprang vom Sessel.

„Ich geb dir fünf Minuten. Wenn du dann nicht im Bett bist, kriegst du Prügel“, sagte Martin.

Es war so hell im Haus, und da war das Wohnzimmer mit den Decken, die nur auf sie und Martin warteten, und da stand die blaue Schüssel mit dem Popcorn. Nur die ungepopten waren noch übrig. Aber an denen konnte man eine Weile saugen, und vielleicht bat Martin sie, ihn am Rücken zu kratzen, und dann würde da ein unheimlicher Film laufen. Nicht zu unheimlich, nur gerade so richtig unheimlich.

„Beeil dich!“, schrie Martin.

Sie putzte ihre Zähne, dass der Schaum nur so spritzte. „Wann kommt Papa?“, fragte sie.

Es war ein gutes Gefühl, mit der Zahnbürste im Mund zu reden.

„Ich weiß nicht“, sagte Martin. „In zwei Minuten sitz ich vorm Fernseher.“

Papa war bei Göran und Britta. Agnes dachte an sie, während sie ihre neuen Zähne besonders sorgfältig putzte.

Göran war viel größer als Papa und ganz kahl auf dem Kopf, und auf der Stirn hatte er einen roten Streifen von der Mütze, die er fast immer trug. Britta war rund wie ein Ball. Sie hatte große Brüste, die überall anstießen. Einmal hatten ihre riesigen Brüste zwei Weingläser vom Tisch gefegt. Besonders feine Gläser, die Papa geerbt hatte, und er war furchtbar böse geworden und hatte gesagt, dass Britta ihre Brüste entfetten sollte. Nicht zu ihr hatte er das gesagt, erst hinterher, als sie gegangen war.

Agnes war mit Zähneputzen fertig.

„Du bist der blödeste große Bruder, den es gibt“, sagte sie. Der scheißigste, dachte sie. Ein schreckliches Gefühl, das Wort zu denken. Es war so ein richtig hässliches Wort. Scheißigste. Sie versuchte es auszusprechen. Immer wieder sagte sie es leise vor sich hin.

Sie fand noch mehr Wörter. Sie suchte und fand sie alle und sagte sie vor sich hin. Alle Flüche, die ihr einfielen. Martin stand in der Tür.

„Bist du endlich fertig, du kleine Daumenlutscherin“, sagte er. „Einen guten Wortschatz hast du übrigens. Soll ich deinem Papa davon erzählen?“

„Dann erzähl ich ihm, dass du schnupfst und Pornos liest“, sagte sie.

Sie ging mit hoch erhobener Nase an ihm vorbei, hinunter in ihr Zimmer, riss den Bettüberwurf ab, schleuderte alle Kuscheltiere auf den Fußboden und kroch ins Bett. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Plötzlich war sie hellwach. Sie stürmte die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer. Martin saß vorm Fernseher. Er hatte die Schüssel neu mit Popcorn gefüllt.

„Entschuldige“, heulte Agnes. „Entschuldige, dass ich so dumme Sachen zu dir gesagt habe.“

Martin steckte sich ein Popcorn in den Mund.

„Schon vergeben“, sagte er. „Komm, leg dich hierher.“ Er klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Dort lag die rote Decke mit den Fransen, die sie zwischen den Fingern drehen konnte.

„Krieg ich ein paar Popcorn“, flüsterte sie und versuchte zu sehen, was auf der Mattscheibe los war.

Martin nickte.

Agnes nahm sich eine Hand voll und schielte zum Fernseher.

„Nicht gucken“, sagte Martin.

„Ich dreh dem Fernseher den Rücken zu“, sagte sie, rückte nah an Martin heran und streckte die Beine hinter ihm aus. Sie lauschte auf die Geräusche vom Film und auf das gleichmäßige Kauen ihres Bruders.

„Entschuldige“, sagte sie in die Decke. Sie wurde feucht von ihrem Atem. „Ich war wohl ziemlich kindisch.“

„Pscht“, machte Martin.

„Echt doof.“

Martin streichelte eins ihrer Beine.

„Doch, aber manchmal darf man das sein. Kindisch. Auch wenn man schon groß ist.“

„Bist du das auch manchmal? Kindisch?“

„Ja“, sagte er.

„Und wann?“

„Sei jetzt still und schlaf. Ich will den Film sehen.“

Er hielt ihren linken Fuß fest.

„Kindisch“, sagte sie noch einmal in die Decke.

Und endlich schlief Agnes ein.

Agnes und Mirjam

Agnes schwitzte über der Klassenarbeit. Oje, die war schwer. Zwei Blätter voller Fragen waren es, und sie hatte erst zwei beantwortet.

Die Lehrerin fragte nach Planeten. Zwei Planeten hatte Agnes hingeschrieben: Jupiter und Pluto.

Aber da waren noch viel mehr Fragen.

In Jeopardy antwortet man nicht, da fragt man, dachte Agnes.

Was sind Jupiter und Pluto? Wie heißt die Lehre vom Weltraum?

Agnes biss auf dem Bleistift herum, sie knabberte ein großes gelbes Stück ab und schielte zu Mirjam. Aber die legte eine Hand über ihr Blatt und versteckte, was sie geschrieben hatte.

Agnes biss wieder auf dem Bleistift herum, dann schrieb sie: „Die Stärne.“

Da fiel ihr der Komet ein. Papa hatte ihn ihr im Frühling gezeigt. Der Komet hatte einen Schwanz und man konnte ihn jeden Abend sehen.

Unter eine der Fragen schrieb sie das als Antwort. Sie erzählte vom Kometen. Sie wusste sogar, wie er hieß. Bopp-Hale hieß er, und es würde tausende von Jahren dauern, ehe man ihn wieder sehen konnte.

Das schrieb sie hin und dass die Sonne der Haut schaden kann und Leute auf dem Mond Golf gespielt hatten.

Mirjam war fertig. Sie hatte ihre Blätter zusammengelegt und guckte gerade vor sich hin in die Klasse. Ihre Haare waren sehr schwarz, wie Asphalt. Aber weich. Einmal hat Agnes ihr Haar anfassen dürfen. Es war sehr dick und glänzte.

Agnes schrieb nichts mehr, nur ihren Namen oben drüber.

Agnes Amanda Lövstrand schrieb sie, und dann zeichnete sie eine kleine Sonne und ein Herz daneben. Amanda war sehr schwer zu schreiben.

„Jetzt machen wir Pause“, sagte die Lehrerin.

„Konntest du alles?“, fragte Agnes Mirjam.

Mirjam saß vorm Computer. Sie hatte sich ein Nachschlagebuch über CD-Rom vorgenommen. Auf dem Bildschirm erschien eine Überschrift.

„Astronomie“, stand da.

„Na klar“, sagte Mirjam.

Die Bibliothekarin kam vorbei. Sie hatte eine tiefe Falte auf der Stirn und trug ihre Brille an einem Band.

„Musst du nicht nach Hause?“, fragte Agnes.

Mirjam stand auf. Sie hatte ihre schwarze Jacke mit den großen Knöpfen an, die aussahen wie Schneckengehäuse. Ihre Jeans warfen über den Schuhen Falten.

„Komm, wir gehen“, sagte sie und versetzte Agnes einen Puff.

Sie wohnten auf einem Hügel, auf dem viele rote und gelbe Häuser standen. Von einem Berg in der Nähe konnte man den ganzen Ort übersehen. Er lag wie in einem Topf im Tal, als ob jemand die Häuser und Straßen von oben verstreut hätte.

Der Hügel zog sich lang hin und der Weg hinauf war anstrengend. Agnes schnaufte und fand, dass Mirjam viel zu schnell ging.

Im ersten Haus, wo die Straße nach links weiter den Hügel hinaufführte, wohnten Mirjam, Juan und Maria. Und Carlos. Das war Mirjams Bruder.

„Kommst du mit rein?“, fragte Mirjam und drehte an einem ihrer Schneckengehäuseknöpfe.

„Ich muss nach Hause“, sagte Agnes.

Eigentlich musste sie das nicht. Zu Hause wartete niemand auf sie. Papa würde erst gegen fünf kommen. Vielleicht war nur Martin da. Manchmal fand Agnes es kompliziert, Mirjams Familie zu besuchen.

Oder nur Maria.

Maria wollte sie nicht treffen. Nicht heute.

Außerdem war das Haus so hell erleuchtet. Dort war immer jemand daheim.

Maria war immer da, wenn Mirjam nach Hause kam.

Mirjam konnte nicht nur alles, sie hatte auch noch Maria.

„Die war doch gar nicht so schwer, die Astronomiearbeit“, sagte Agnes, bevor sie den Hügel weiter hinaufging.

Das Wort „Astronomie“ fühlte sich schön im Mund an.

Die Hanteln

Carlos und Martin saßen im Wohnzimmer und guckten sich ein Video an, als Agnes hereinkam.

„Wieso seid ihr zu Hause?“, fragte sie.

„Der Wolf ist krank“, sagte Martin. „Hau ab.“

„Unser Lehrer also“, sagte Carlos.

„Ihr habt geschwänzt“, sagte Agnes. „Ihr bleibt bestimmt sitzen.“

„Hau jetzt ab“, sagte Martin und richtete sich halb auf.

„War der Tag schön?“, fragte Carlos.

„Hau ab“, wiederholte Martin.

Agnes setzte sich in den roten Sessel. Er war mit Samt bezogen, ganz weich, wie ein Katzenjunges. Aber eine Katze konnten sie nicht haben. Martin war allergisch. Wenn er Katzen nahe kam, kriegte er rote Augen.

Sie streichelte den Stoff, dann stand sie auf.

Neben dem Sessel auf dem Tisch lagen die Hanteln. Schwarz und schwer sahen sie aus. Vielleicht könnte man sie als Buchstützen benutzen.

Agnes holte zwei Bücher und stellte sie zwischen die Hanteln. Es sah gut aus.

Dann probierte sie es. Sie nahm eine Hantel in die rechte Hand. Eine Weile stand sie still da mit der Hantel