Ein Lied aus der Vergangenheit - Aminatta Forna - E-Book

Ein Lied aus der Vergangenheit E-Book

Aminatta Forna

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Beschreibung

Ein mitreißendes Afrika-Epos über die Macht der Liebe

Westafrika, Anfang der Nullerjahre: Der Psychologe Adrian Lockheart, soeben aus England eingetroffen, kämpft mit dem Staub und der Hitze Sierra Leones – und mit dem Schweigen eines Volkes, dem er helfen will, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden. Im Krankenhaus in Freetown findet er unerwartete Freundschaft bei Kai, einem jungen Kollegen, und Elias, einem Patienten, der auf dem Sterbebett damit hadert, während des Krieges den Weg des geringsten Widerstandes gegangen zu sein. Als Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verschmelzen beginnen, kristallisiert sich heraus, dass die drei Männer durch mehr verbunden sind, als sie ahnen: durch die Liebe ein und derselben Frau.

Ein bildkräftiges Epos voller Sprachmagie über gewöhnliche Menschen, die mit ungewöhnlichen Umständen kämpfen müssen; ein Roman über Freundschaft, Verständnis, Absolution und die Unauslöschbarkeit der Vergangenheit; über Reisen, Träume und Verluste und über die Macht der Liebe.

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Seitenzahl: 873

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Aminatta Forna

Ein Lied aus der Vergangenheit

Roman

Deutsch von

Giovanni und Ditte Bandini

Deutsche Verlags-Anstalt

Für Simon, in Liebe

1

Auf dem Eisenbett hat sich ein einzelnes dürftiges Laken über die Form des unter ihm liegenden Körpers ergossen. Auf dem Nachtschränkchen liegt ein kleiner Stoß Spiralhefte, daneben steht eine Vase mit Blumen, knallbunt und aus Plastik. Die Hefte sind abgegriffen, die Blätter wellig vor Feuchtigkeit. In der Atmosphäre des Zimmers gleiten die Erinnerungen eines Mannes dahin und nehmen Gestalt an. Der Mann im Bett erzählt gerade eine Geschichte. Sein Name ist Elias Cole.

Adrian wendet sich von dem Foto ab. Er hört zu. Er ist neu hier.

Elias Cole sagt:

Als ich eines Morgens zum College ging, hörte ich ein Lied. Es kam aus einem Radio, das an einem Marktstand spielte. Ein Lied aus einem fernen Land, über eine verlorene Liebe. Zumindest stellte ich mir das so vor – den Text verstand ich nicht, nur die Melodie. Aber in den tiefen Tönen konnte ich den Verlust hören, den dieser Mann erlitten hatte. Und bei den hohen Tönen begriff ich außerdem, dass das Lied von etwas handelte, das niemals sein konnte. Ich hatte seit Jahren nicht geweint. Doch da, in dem Moment, tat ich es, am Rand einer staubigen Straße, umgeben von Fremden. Die Melodie blieb mir jahrelang im Gedächtnis.

Genau so ist es, wenn man eine Frau zum ersten Mal sieht und weiß, dass man sie lieben könnte. Die Menschen täuschen sich, wenn sie von Liebe auf den ersten Blick reden. Es ist nicht Liebe und auch nicht Lust. Nein. Was man empfindet, wenn sie sich von einem entfernt, ist Verlust. Die Vorahnung eines Verlusts.

Ich hatte nie geglaubt, dass ich dieses Lied je wieder hören würde. Dann, vor einem Monat, oder vielleicht ist es auch zwei Monate her, als ich allein in dem Zimmer meines Hauses saß, das als Arbeitszimmer dient, stand das Fenster offen, und da hörte ich, leise, jemanden draußen die Melodie pfeifen und Fetzen des Refrains singen. Eine Frauenstimme. Genau das Lied von vor so vielen Jahren. Ich rief nach Babagaleh, der zur Abwechslung einmal sofort kam. Ich schickte ihn hinunter auf die Straße, damit er die Person fand, die da pfiff. Er blieb eine scheinbare Ewigkeit weg. Und während ich wartete, konnte ich nichts anderes tun, als meinem Herzen zu lauschen, das im Takt meiner Ungeduld schlug.

Die Person, die Babagaleh zu mir brachte, war ein Bauarbeiter, ein Fula, gekleidet in eine zerrissene Hose, mit bloßer Brust und mit Zementstaub bedeckt, der mich an Leichenasche erinnerte. Babagaleh scheuchte ihn von den Teppichen hinunter, aber ich rief ihn wieder zu mir her. Ich bat ihn zu singen, und er sang, irgendein anderes Lied. Ich hätte es Babagaleh ohne Weiteres zugetraut, den Erstbesten gerufen zu haben, den er vom Tor aus gesehen hatte. Ich summte ein paar Töne, so wie ich sie in Erinnerung hatte.

Und da sang der Mann, der vor mir stand, und da waren das Lied und seine Stimme, mädchenhaft und hoch. Nachdem er für mich gesungen hatte, bat ich ihn, mir die Bedeutung der Worte zu erklären. Das Lied handelte tatsächlich vom Verlust, aber nicht von dem einer Frau. Im Lied sehnte sich ein junger Mann nach einer vergangenen Zeit, einer Zeit, die er nur aus den Worten derer kannte, die sie erlebt hatten, einer Zeit der Hoffnung und der Träume. Er sang von dem Leben, das ihm nicht zuteilgeworden war, weil er das Pech gehabt hatte, viel später geboren worden zu sein, als die Welt schon ein anderer Ort war.

An dem Morgen war ich später als gewohnt aufgewacht. Babagaleh war schon seit Stunden auf gewesen. Als Muslim, ein Mann aus dem Norden, ist er jeden Morgen um fünf mit dem Gebetsruf auf den Beinen, was eine seiner guten Eigenschaften ist. Außerdem trinkt er nicht und ist ein ehrlicher Mensch, was mehr ist, als man von vielen sagen kann. Aber ein hitziges Temperament, diese Nordmenschen! Ich rief ihm zu, er solle einen Eimer heißes Wasser ins Bad bringen, damit ich mich rasieren konnte. Zurzeit gibt es kein heißes Wasser, man kann von Glück sagen, wenn es überhaupt Wasser gibt. Aus den Hähnen kommt nichts, und das schon seit mehreren Tagen. Für solche Eventualitäten hatten wir ein Fass hinter dem Haus.

»Ich will heute das Arbeitszimmer in Ordnung bringen«, sagte ich ihm. »Wenn du vom Markt zurückkommst, findest du mich dort.«

»Heute ist Freitag«, erwiderte er, während er das Waschbecken füllte, um sich gleich wieder zurückzuziehen. Ich saß, noch immer im Pyjama, auf dem Rand der Badewanne und bemühte mich, die Kraft aufzubringen, aufzustehen und das Waschbecken zu erreichen. Natürlich, Freitag. Babagaleh würde in der Moschee sein. Den ganzen Tag niemand da, um mir zu helfen.

»Schön, schön«, sagte ich. »Sieh nur zu, dass du gleich zurückkommst. Keine Zeit vergeuden mit dem ganzen congosa hinterher!«

Keine Antwort, was bedeutete, dass er beabsichtigte zu tun, was ihm passte. Er goss das Wasser in das Waschbecken und stellte den Eimer hin, kam und machte an mir herum wie eine Schmeißfliege. Ich scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort. Nachdem er gegangen war, atmete ich tief ein, so tief, wie meine Lungen es gestatteten, und stemmte mich mithilfe des Handtuchhalters hoch. Vier Schritte bis zum Waschtisch. Ich stützte mich mit beiden Händen auf den Rand des Beckens, bis ich sicher auf den Füßen stand, und starrte in den Spiegel. Die bleichen Haare an meinem Kinn verliehen meinem Gesicht einen aschgrauen Schimmer. Ich lehnte mich vor und zog erst das eine, dann das andere Augenlid herunter. Meine Augäpfel waren gelb, mit Rot durchschossen. Herrliche Farben bei einem Sonnenuntergang, vielleicht.

Den Abend davor hatte Babagaleh, wie an anderen Abenden, die Kissen hinter mir geordnet. Mittlerweile war ich gezwungen, praktisch aufrecht zu schlafen. Ich hatte dagelegen, in die Schwärze gestarrt und dem Knarren meiner verhärteten Lungen gelauscht, der Luft, die durch die Röhren pfiff, wie bei einer verrosteten Maschine.

Ich nahm meinen Rasierpinsel, benetzte die Borsten und schäumte mir das Gesicht mit Seife ein. Das Rasiermesser war nicht eben scharf und rupfte an den Haaren, zog sie aus den schlaffen Hautfalten. Wo die Furchen besonders tief waren, glitt das Rasiermesser an den nassen Haaren ab. Ich steckte mir die Zunge in die Backe und zog mit der linken Hand die Haut straff. Als ich fertig war, spritzte ich mir das Wasser aus dem Becken ins Gesicht. Es war noch heiß; ich schwelgte in dem Gefühl. Anschließend blickte ich wieder in den Spiegel. Aus mehreren kleinen Schnitten quoll Blut hervor. Im Lauf der Jahre war meine Haut dünner geworden. Sie hing unter meinen Augen, unter meiner Kinnlade, schob sich über die Knochen meines Gesichts. Ich drückte Zahnpasta auf die Zahnbürste und nahm meine Zähne in Angriff. Blut auf den Borsten. Mein Zahnfleisch war verdorrt, wie eine Nacktschnecke in der Mittagssonne. Als ich fertig war, spülte ich mir den Mund aus und spie ins Waschbecken. Dann zog ich den Stöpsel heraus und sah zu, wie die Zahnpasta, der blutfleckige Schaum, die Barthaare und das Wasser wie ebenso viele verlorene Jahre durch den Abfluss strudelten.

Als Babagaleh vom Markt zurückkehrte, saß ich auf dem ungemachten Bett und mühte mich in meine Kleider hinein. Die Anstrengung, mich anzuziehen, hatte einen Hustenanfall ausgelöst, dessen Geräusch ihn offenbar an meine Zimmertür geführt hatte. Wortlos stellte er das Tablett mit meiner Medizin, einer Kanne Wasser und einem Glas ab, goss mir etwas Wasser ein und half mir, ein paar Schlucke zu trinken. Allmählich ließ der Husten nach. Dann saß ich reglos da und überließ mich seiner Fürsorge, wie ein Kind oder ein Kretin. Er befreite meinen linken Arm, der sich im Ärmel verfangen hatte, und knöpfte mir dann die Manschetten zu. Ich stieß seine Hände fort, bestand darauf, mir die Hemdbrust selbst zuzuknöpfen. Er bückte sich und rollte mir die Socken über die Füße, drückte sie in meine Schuhe hinein und band die Schnürsenkel zu.

Gestärktes weißes Hemd. Schwarze Hose. Anständiges Schuhwerk. Ich könnte unrasiert, in einem fleckigen Pyjama herumschlurfen, wie mein Nachbar von gegenüber. Überall in der Stadt sieht man sie. Auf ihren Balkonen in sich zusammengesackt, inmitten der Autoabgase, die Augen ins Leere gerichtet, von einer immer dickeren Schicht Straßenstaub bedeckt. Die lebenden Toten.

Als ich das Zimmer verließ, sah ich mich flüchtig im Spiegel der Anrichte. Ein Strohmann im Halbdunkel. Hemd und Hose bauschten sich über und unter meinem Gürtel. Jede Woche zog ich ihn um ein Loch enger. Ein verschmierter Blutfleck am Hemdkragen. Nicht zu ändern. Ich konnte die Anstrengung nicht auf mich nehmen, mich noch einmal umzuziehen. Ich erwartete keinen Besuch.

Babagaleh kam, um mir zu sagen, dass er ging. Er war für die Moschee gekleidet, in eine reinweiße Dschellaba, Ledersandalen und einen tiefblauen bestickten runden Hut. Mir kam, nicht zum ersten Mal, der Gedanke, um wie viel leichter das Leben wäre, wenn man sich so anziehen könnte. Jeden Tag erfüllte Babagaleh seine einfachen Pflichten; am Freitag nahm er seinen Platz in der zweiten Reihe in der Moschee ein. Alle zwei Wochen einen freien Tag. Einmal im Monat ging er seine Frau besuchen. Obwohl sie schon seit Langem getrennte Wege gingen, hatte er erst letztes Jahr ein neues Dach und Fensterrahmen bezahlt. Sie tranken Kaffee und unterhielten sich über ihre Enkelkinder.

Bevor er ging, kehrte Babagaleh mit einem Tablett zurück, auf dem sich diesmal eine Thermoskanne Tee, ein Fula-Brot, Margarine, zwei hart gekochte Eier befanden. Er schenkte mir eine Tasse Tee ein und löffelte Zucker hinein. Wie alle seine Stammesleute hält er an dem Glauben fest, Zucker spende Kraft.

Er schritt die Breitseite des Zimmers ab und zog die Vorhänge gegen die kommende Hitze ein Stück zu, ging dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich saß ein, zwei Minuten so da, an meinem Tee nippend, mir meiner plötzlichen Einsamkeit bewusst. Gedanken bohrten sich wie Rüsselkäfer in mein Gehirn. Nichts, was ich unternahm, konnte sie abschütteln; nachts rissen sie mich ebenso oft wie meine Anfälle von Atemnot aus dem Schlaf. Das ist bestimmt nichts Besonderes. Eine Begleiterscheinung des Alters. Die Folge unzureichender Beschäftigung.

Weiß gestrichene Wände. Fußboden aus dunklem Holz. Parkett. Es verlegen zu lassen hatte einiges gekostet. Drüben am Fenster, sichtbar unter der Schicht von Bohnerwachs, ein gebleichtes Parallelogramm im Holz, da wo die Sonne hereindrang. Auf einem mit Fransen besetzten dunkelroten Teppich entsprechende Rauten von sonnenaufgehellter Wolle. Zwei Holzsessel im Kolonialstil, dreißig Jahre zuvor von der Forstverwaltung gekauft. Verzierte rotlederne Puffs, rissig und schimmelfleckig.

Es fiel mir zunehmend schwerer, mich nicht in der Wohnung umzuschauen und dabei im Kopf Berechnungen anzustellen, wie viel das alles bei einer Haushaltsauflösung einbringen würde. Eines Tages sah ich Babagaleh dabei zu, wie er die Vorhänge ausschüttelte, die Armlehnen der Sessel mit einem feuchten Tuch abwischte – und fragte mich, ob er gerade das Gleiche dachte. Der Gedanke rüttelte mich auf, und im Lauf des Tages begann ich zu überlegen, was aus meiner Bibliothek werden sollte. Die Bände in den Regalen gingen in die Hunderte. Ich wollte mir, beschloss ich, die Aufgabe stellen zu entscheiden, welche von ihnen es wert waren, aufbewahrt zu werden. Den Rest konnte die Universitätsbibliothek bekommen. Eine Schenkung. Das war der richtige Weg. Diese neue Perspektive verlieh meinem Projekt einen Zweck.

Wir gleichen Käfigtieren, wir Alten. Wie Mäuse oder Hamster ständig dabei, unsere kleinen Wohnwelten umzuräumen, abwechselnd Runde um Runde im Rad laufend, um nicht verrückt zu werden.

Ein Jahr zuvor hatte ich das ganze Haus innen neu streichen lassen. Zwei Maler kamen mit Abdeckplanen und stellten ihre Leitern auf. Von Zeit zu Zeit ging ich nach oben, um festzustellen, wie sie vorankamen, und mich zu vergewissern, dass sie keine Farbe auf dem Parkettboden verspritzten, aber auch einfach um den beiden dabei zuzuschauen, wie sie, in vollkommenem Gleichgewicht auf einem einzigen, von zwei Trittleitern gestützten Brett balancierend, die Decke strichen. Sie unterhielten sich über alle möglichen Dinge, proletarische Weisheiten, zumeist bloße Reaktionen auf die Nachrichten, die aus ihrem Radio drangen. Sie störten sich nicht an mir, es hätte ihnen auch gar nicht zugestanden, und außerdem wussten sie, dass ich herzlich wenig hatte, womit ich mich beschäftigen konnte.

Damals begannen meine Atemprobleme; die Farbdämpfe, Sie verstehen. Davor ein trockener Husten, der mir gelegentlich zu schaffen gemacht hatte. Ich machte dafür den Harmattan verantwortlich, die Pollen aus dem Garten, die Dunstglocke aus Autoabgasen, die die ganze Stadt bedeckte. Ich war nicht zum Arzt gegangen. Wozu auch? Damit der Mann mir die Brust abklopfen, irgendwelche Antibiotika verschreiben und anschließend eine horrende Rechnung ausstellen konnte?

Eine Spinne hatte in einem Winkel unter der Decke ein Netz gesponnen, seidene trapezförmige Maschen. Und drüben auf dem Teppich Sprenkel von weißem Staub, die Babagaleh übersehen hatte. Zementstaub.

Ich sah einmal eine Frau, deren Verlust ich betrauerte, noch ehe ich ein einziges Wort mit ihr gesprochen hatte.

20. Januar 1969. Das Fakultätsfrauendinner. Wir, die Junggesellen, zusammengeschart am hinteren Ende des Rasens, einer verwahrlosten Fläche Unkrauts. Auf der anderen Seite stand das Empfangsspalier. Ich hörte zu, oder gab mir wenigstens den Anschein, zuzuhören, wie mein Gesprächspartner sich über die Umverteilung der Büroräume im Fakultätsgebäude beklagte. Er war dabei schlecht weggekommen, was ganz ohne Zweifel eine Schande war. Ich sah weg, in Richtung der eintreffenden Gäste. Sie trug ein blaues Kleid, und als sie die steinerne Treppe zum Rasen herunterstieg, zupften ihre Finger leicht am Stoff, der wegen der Hitze an ihr klebte. Ich beobachtete sie und spürte, wie ein Gefühl, diese damals noch namenlose Emotion, in mir aufwallte.

Mein erster Gedanke stellte sich nach einigen Augenblicken ein – und traf mich wie ein Schlag: Der Mann, der einen Schritt hinter ihr die Stufen herunterkam, war ihr Ehemann.

Ein paar Meter vor dem Empfangsspalier entfernte er sich von ihr. Doch nicht ihr Mann. Erleichterung, ein kalter Hauch das Rückgrat hinunter. Dann sah ich sie die Hand ausstrecken und ihn leicht am Ärmel berühren. Und in dieser leichten Berührung, an der nur ihre Fingerspitzen beteiligt waren, hätte ebenso gut die Kraft von zehn Männern liegen können, so rasch fügte er sich und änderte seinen Kurs wieder in Richtung auf die lange Reihe von Menschen. Ich sah, wie er seinen Willen dem ihren unterordnete. Ich sah sie lächeln, ein Aufwärtswölben ihrer Lippen, blass und süß. Und er lächelte zurück, ritterlich in seiner Niederlage. Sekunden waren vergangen, seit ich sie zum ersten Mal erblickt hatte, und zwei Mal schon hatte ich sie verloren.

Ich entschuldigte mich, stellte mein Glas auf das Tablett eines vorüberkommenden Kellners, überquerte den Rasen, begab mich ans Ende des Empfangsspaliers und stellte mich neben den letzten Mann, einen älteren Dozenten meiner Fakultät, den ich vage kannte. Ich nickte, und er nickte zurück, praktisch ohne mich wahrzunehmen, da er schon vor Längerem in jene besondere Starre verfallen war, die derlei gesellschaftliche Anlässe auszulösen pflegen.

Ich schüttelte ein, zwei Hände, murmelte Grußfloskeln. Keiner der Anwesenden merkte etwas oder scherte sich darum, ihre Gedanken kreisten schon um Alkohol und Essen. Und dann war sie da, stand mit ausgestreckter Hand vor mir und lächelte. Ich nahm ihre Hand. Ich nannte meinen Namen. Sah ihr Lächeln, eine Arme-Leute-Version des Lächelns, das sie ihrem Mann geschenkt hatte. Sie ging weiter und wartete dann, ein paar Schritte entfernt, während ich ihren Mann begrüßte. Sie schlenderten nebeneinander über den Rasen, seine Hand wieder an ihrem Ellbogen.

Ich folgte ihnen mit den Augen. Mir wurde bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wie sie hieß, denn ihr Name war im Augenblick unserer Begegnung vom Hämmern in meinen Ohren übertönt worden.

Als ich endlich dazu kam, meinen Tee zu trinken, war er abgekühlt. Ich habe eine Abneigung gegen lauwarme Getränke. Ich ging zur Veranda, stellte die Tasse auf einem niedrigen Tisch ab und stemmte die Glastür auf. Draußen goss ich die Flüssigkeit über das Geländer ins Blumenbeet und sah befriedigt zu, wie sie ein Loch in die trockene Erde bohrte. Der Garten hatte während der Dürrephase gelitten; im Rasen waren kahle Flecken roher Erde erschienen, die Beete sahen eher wie vernachlässigte Grabstätten aus.

Als ich zum Sessel zurückkehrte, war ich schon vor Anstrengung in Schweiß gebadet. Ich schenkte mir eine frische Tasse Tee ein und trank sie achtsam aus. Ich schlug eines der Eier am Rand des Tabletts an und pellte die Schale mit den Fingernägeln ab. Dann schüttete ich ein bisschen Salz auf den Teller und stippte das Ei hinein. Babagaleh hat sich nie der Anschauung angeschlossen, es sei möglich, ein Ei zu hart zu kochen. Ich brachte den ersten Bissen nur mit größter Mühe herunter. Den Rest legte ich wieder aufs Tablett. Immer noch keinen Appetit. Es ist der reine Hohn. Die Abwesenheit eines Verlangens sollte eigentlich befreiend sein. Stattdessen verspürt man eine andere Art von Begierde: nach dem verlorenen Verlangen. Ich sehnte mich danach, wieder nach Speisen zu gieren, Hunger zu spüren und mich dann dem Genuss hinzugeben, ihn zu befriedigen. Ich verspürte eine plötzliche, unsinnige Lust auf eine Zigarette. Was konnte genussvoller sein, als zweckfrei Toxine einzuatmen, tief in die Lungen hinein?

Nach einiger Zeit stemmte ich mich wieder auf die Füße und setzte mich an den Schreibtisch, drehte mich mit dem Stuhl so herum, dass ich auf die Bücherregale schaute. Ich wählte ein Buch und holte es heraus. Bantons West African City, herausgegeben vom International African Institute. Ein Leinenband mit genähten Kanten, das Papier gelb und körnig unter meinen Fingerspitzen. Ich suchte auf den ersten Seiten nach dem Erscheinungsjahr. 1957.

Ich fing an der Stelle an zu lesen, wo das Buch von selbst aufklappte – über die Entwicklung der Stadt: Die dritte Schicht bestand aus Zuwanderern aus den Stammesgebieten, die von den Kreolen als Holzhauer und Wasserträger eingesetzt wurden und sich eine Zeit lang mit ihrem Stand zufriedengaben.

Ich blätterte eine Seite zurück: Sie nannten sie»unto whom«, in Anspielung auf Psalm 95: Unto whom I sware … Sodass ich schwur in meinem Zorn: Sie sollen nicht eingehen zu meiner Ruhe!

An den Rand waren ein paar Worte gekritzelt. Wäre mir die Handschrift nicht so vertraut gewesen, hätte ich Mühe gehabt, sie zu entziffern: Gib mir einen vollen Bauch und eine Hängematte, und ich werde in meine eigene Ruhe eingehen. Julius. Das war eine Angewohnheit von ihm gewesen, typisch für den Mann, geliehene Bücher mit Randbemerkungen zu versehen. Ich klappte das Buch zu, brauchte ein paar Minuten, um meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich lehnte mich über den Schreibtisch und ließ das Buch in den Karton fallen, der neben dem Schreibtisch stand.

Der nächste Band, den ich herausnahm, war Lethbridge Banburys Buch über Sierra Leone. Also, das war tatsächlich einiges wert. Ein schöner dunkelroter Einband. Auf dem Deckel das goldgeprägte Abbild eines Elefanten und einer Palme. Handgeschnittene Seiten. Schwarz-Weiß-Bildtafeln, jeweils von einem Blatt Transparentpapier geschützt.

Die ersten Zeilen kann ich noch immer auswendig aufsagen: Warum ich nach S. ging, ist ohne Belang: Vielleicht unternahm ich diesen Schritt aus jenem unstillbaren Wunsch heraus, »die Welt zu sehen«, der viele Engländer so brennend erfüllt; oder vielleicht war ich vom ehrgeizigen Verlangen angetrieben, in einem Dienst Karriere zu machen, in dem der Erfolg nach landläufiger Vorstellung insbesondere denen zuteilwird, die auf der Suche nach ihm die ausgetretenen Pfade verlassen.

Ein Tutor, der von meiner Liebe zu Büchern wusste, ein Stipendiat einer schottischen Universität, hatte es mir einst geschenkt. Eine Erstausgabe, erschienen 1888. Sie kam mit der Post ein paar Monate, nachdem er seine Forschungen abgeschlossen hatte und wieder abgereist war. Ich weiß noch, wenn er trank, gab er gern einen hinkenden Reim über einen der letzten Kolonialgouverneure zum Besten.

Beresford-Stooke, der lässt mich kübeln,

Und im Protektorat gibt’s nichts als Übeln.

Ich lachte, um ihn bei Laune zu halten. Und später noch einmal, weil er mich zum Trinken drängte, sich so aufführte, als wäre Nüchternheit, gleich ob auf seiner oder meiner Seite, eine Beleidigung.

An jenem Januarabend beobachtete ich sie, sie und ihren Mann. Die beiden bewegten sich zwanglos zwischen den Partygästen, nie länger als ein paar Augenblicke allein. Einmal stand ich bei einer Gruppe, außerhalb des Kreises, nicht im Licht, aber gleichzeitig so nah, dass ich hätte die Hand ausstrecken und sie berühren können. Ihr Mann berichtete von irgendeinem Zwischenfall, alle lachten – alle außer mir. Ich war seinen Worten nicht gefolgt. Stattdessen hatte ich sie angeschaut. Sie angeschaut, während sie ihrerseits ihn anschaute. Einmal trafen sich unsere Augen. Sie lächelte und sah weg.

Später fiel mir ein, wo ich ihn schon gesehen hatte. Einmal mittags in der Aula, auf einer von den Studenten einberufenen Versammlung, deren Zweck, wie ich mich erinnere, es gewesen war, die Exmatrikulation eines Kommilitonen zu diskutieren. Der Dekan hatte mich hingeschickt, und ich setzte mich ganz nach hinten. Meine Anwesenheit blieb unbemerkt, was mir nur recht war. Ein paar Absätze in die Maschine getippt und in das Postfach des Dekans gelegt. Pflicht erfüllt.

In den Minuten bevor die Versammlung offiziell eröffnet wurde, sah ich, wie sie sich um ihn scharten, die Studenten, atemlos und gespannt. Eine Weile nach Beginn rief ihn der Versammlungsleiter auf das Podium. Anfangs sträubte er sich, lächelnd und mit einem Blatt Papier wedelnd, als hielte er die bloße Idee für unsinnig. Als das Plenum murmelnd insistierte, erhob er sich, plötzlich voller Energie, sprang aufs Podium und hielt eine kurze Ansprache. Er stand vorgebeugt, einen Ellbogen auf dem Lesepult, und sah direkt in die Gesichter der Anwesenden. Die Luft zitterte vom Schall seiner Stimme. Ein Schwirren von Aufregung. Händeklatschen, wie von auffliegenden Vögeln.

Was hatte er zu ihnen gesagt? Ich weiß es nicht mehr.

Ich verbrachte den Rest des Vormittags und den größten Teil des Nachmittags damit, zu suchen. Mein Suchen war zwangsläufig ebenso langsam wie mühevoll. Als Babagaleh von der Moschee zurückkam, fragte ich ihn.

»Wo sind meine Notizhefte?«

Seine Antwort war ein ausdrucksloser Blick, wie es denn überhaupt sein Vorgehen, sein erster Instinkt war, jegliches Wissen, jegliches Indiz für das Stattfinden geistiger Aktivität zu verheimlichen, seine Miene in eine glatte Felswand zu verwandeln, an der keine Anklage Halt fand, ehe er nicht genau wusste, worauf meine Frage hinauslief. Er verließ das Zimmer und kehrte mit einem Pappkarton mit dem Aufdruck Milo Milk zurück.

»Wo waren die? Warum hast du sie weggeräumt?«

»Abstellkammer, Herr.« Er sah mich an, ein Blick lauterer Unschuld.

»Auf den Schreibtisch, bitte.« Ich konnte es mir nicht mehr erlauben, in Hitze zu geraten. Das wusste ich. Babagaleh wusste es ebenfalls.

In dieser Nacht blieb ich lange auf und sah meine Hefte durch. Es gab keinen Strom; Babagaleh zündete zwei Kerzen an, und obwohl es meine Augen anstrengte und die Dämpfe des Wachses meiner Brust nicht guttaten, las ich weiter. Die Hefte hatten überlebt, die Gummibänder, die sie zusammenhielten, zerfielen allerdings in meinen Händen. Ein paar Seiten fehlten, andere waren durch das Werk von Silberfischen und Termiten wie mit einem Gittermuster versehen, hier und da ein Säckchen ausgetrockneter Eier, Fäden und Gespinste unbekannter Kerfe. Die Tinte meines Füllfederhalters war auf den Seiten zu einem verhaltenen Grau ausgeblichen. Aber ja, unversehrt. Mehr oder weniger.

Es waren keine Tagebücher. Nur Notizen, die ich mir als Gedächtnisstütze gemacht hatte. Gedanken zu einer anstehenden Vorlesung. Der Titel eines Buches oder Aufsatzes. Listen von zu erledigenden Dingen.

25. November 1968. Zwei Monate vor dem Fakultätsfrauendinner. Die Ereignisse des Tages, in meiner eigenen Handschrift. Stichwortartiges Protokoll der Versammlung, seiner Ansprache an die Studenten. Nichts zu deren Inhalt.

Ich erinnerte mich, in meinem Bericht für den Dekan seine Ansprache erwähnt zu haben.

Julius Kamara. Als ich eines Nachmittags an meiner Vorlesung arbeitete, sah ich ihn zufällig von meinem Fenster aus. Ein charakteristischer Gang: geschmeidige, lange Schritte, eine Hand in der Hosentasche. Ich legte den Füller hin, um ihn besser beobachten zu können. Er kürzte über die Ecke des Rasens ab, bog nach rechts und stieß mit beiden Händen die Doppeltür des Instituts für Maschinenbau auf.

Als ich ihn das nächste Mal sah, war ich auf dem Weg nach Haus. Ein Donnerstag; ich ging über den Campus, als ich ihn ein Stück vor mir sah. Ein, zwei Minuten lang behielt ich den Abstand hinter ihm bei. Ein paar Studenten, die auf den Stufen vor der Aula gesessen hatten, riefen ihm etwas zu und standen auf, klopften sich den Hosenboden ab und sammelten ihre Bücher auf. Er blieb stehen, wartete auf sie. Ich ging unbemerkt an ihnen vorbei.

Direkt außerhalb des Universitätsgeländes parkte ein weißer Volkswagen Variant mit laufendem Motor. Sie saß auf dem Fahrersitz, den Ellbogen auf den Rahmen des offenen Fensters gestützt. Sie trug ein ärmelloses Kleid aus heller Baumwolle, um ihr Haar war ein großes orangefarbenes Kopftuch gewickelt. Von da aus, wo sie saß, hätte sie mich in den Spiegeln sehen können, doch sie tat es nicht. Ich verlangsamte meinen Schritt und näherte mich dem Wagen.

»Guten Abend.«

Sie fuhr, aus ihren Gedanken gerissen, zusammen.

»Hallo«, erwiderte sie unter Aufbietung eines hinreichenden Maßes an Höflichkeit, vom allerknappsten Lächeln begleitet. Was Frauen eben so tun, wenn sie sich einem Mann gegenübersehen, den sie nicht wiedererkennen, und weder ermutigend noch beleidigend wirken möchten.

»Das Fakultätsfrauendinner«, sagte ich. »Elias Cole.«

»Natürlich«, und sie schenkte mir ein blasses Lächeln.

»Ich soll Ihnen von Julius ausrichten, dass er aufgehalten wurde, aber gleich da sein wird.«

»Danke.« Und sie lächelte wieder, diesmal herzlicher.

»Ich fürchte, ich habe Ihren Namen …«

»Oh«, sagte sie, als sie verstand, was ich meinte, und tippte sich auf die Brust. »Saffia.«

Ich ging weiter.

»Danke«, rief sie mir noch einmal nach. Ich quittierte dies mit einer bescheidenen Handbewegung.

Minuten später kamen sie, Julius am Lenkrad, an mir vorbei. Ich weiß nicht, ob sie mich auch nur bemerkten. Jedenfalls fuhr der Wagen ohne zu verlangsamen weiter.

Ich ging die Straße entlang. Die Schatten der Bäume am Wegesrand krochen stetig in die Länge, die Farben um mich herum zerflossen zu Grau. Die weiß gekalkten unteren Enden der Baumstämme hoben sich, von der sinkenden Sonne gerade noch beschienen, wie Wachposten ab. Ich behielt die Hecklichter des Wagens im Auge, bis sie Glühwürmchen in der Ferne waren. Ich blieb stehen und holte mein Notizbuch hervor, drückte es gegen die glatte Rinde eines Baumes und schrieb die Autonummer auf, solange ich sie noch im Kopf hatte. Und dann noch ein einzelnes Wort.

Saffia.

Freitag. Ein paar Tage nach unserer Begegnung auf dem Campus hatte ich eine Verabredung in der Stadt. Anschließend kehrte ich durch eine Seitengasse zur Hauptstraße zurück, wo ich einen Bus zum Campus nehmen wollte. Es war eine ruhige Straße in einer einst wohlhabenden Gegend. Ich kam an einem Kiosk vorbei, wo es Softdrinks und Zigaretten gab; ein Stück weiter stand eine Schneiderpuppe in einer bestickten Robe vor einem Laden. Davor parkte ein weißer Volkswagen Variant.

Als ich die Hand aufs Dach des Wagens legte, verriet mir die Hitze des Metalls, dass er schon seit einiger Zeit in der Sonne stand. Ich schaute mich um. Entweder besuchte Saffia gerade jemanden, oder sie war im Geschäft. Ich entschied mich für die einzige Option, die mir offenstand. Als ich aus der Sonne in den Laden trat, kam mir kurz der Gedanke, dass es auch Julius sein konnte, der mit dem Wagen unterwegs war. Doch mittlerweile hatte ich festgestellt, dass er immer bis spät am Abend auf dem Campus blieb. Und in diesem Punkt lag ich richtig. Denn da stand sie, im hinteren Bereich des Ladens, in einem schlichten bedruckten Kleid, zusammen mit einem der Schneider. Eine Zeitschrift lag offen auf dem Tisch, und sie standen beide vornübergebeugt da, während sie die Seiten umblätterte. Ich schaute zu. Es bereitete mir Vergnügen, da ich wusste, dass sie mich nicht gesehen hatte. Ihre Nackenlinie, die Art, wie sie sich den Daumen leckte, um eine Seite umzublättern, der feierliche Ausdruck, mit dem sie die jeweiligen Vorzüge einzelner Modelle abwägte, das nachsichtige Lächeln, mit dem sie den Schneider bedachte.

»Sir?« Der mir am nächsten sitzende Schneider hatte aufgehört, das Pedal seiner Nähmaschine zu treten, und sah zu mir auf. Ich deutete unbestimmt in Saffias Richtung. Er nickte und beugte sich wieder über seine Arbeit. Gerade in dem Moment wurde sie mit ihrer Angelegenheit fertig und wandte sich zum Gehen. Sie verabschiedete sich, sammelte ihre Zeitschriften zusammen, suchte nach ihren Autoschlüsseln, war dadurch abgelenkt. Erst als sie fast mit mir zusammenstieß, schaute sie auf.

»Tut mir leid. Bitte entschuldigen Sie.« Ich trat zur Seite, als wäre es meine Schuld gewesen.

»O hallo«, sagte sie.

»Hallo«, gab ich zurück. »Mrs Kamara, nicht wahr?«

»Ja, ja.« Sie streckte die rechte Hand aus, und zum zweiten Mal griff ich danach.

»Cole. Elias Cole.«

»Mr Cole. Natürlich. Wie geht’s?«

»Wie Sie sehen, ausgezeichnet.« Ich machte keine Anstalten, das Geschäft zu verlassen, und das ließ sie zögern.

»Wollten Sie …?« Sie neigte den Kopf in Richtung der Nähmaschinen. »Ich möchte Sie nicht aufhalten.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ein Anzug. Er ist noch nicht ganz fertig. Schon gut.« Natürlich war das streng genommen nicht die Wahrheit, ebenso wenig konnte es aber als Lüge gelten. Nicht in einem Gespräch zwischen Mann und Frau. Das liegt in der Natur der Dinge, meinen Sie nicht auch? Und ich fügte hinzu: »Nein, ich wollte gerade zurück zur Arbeit.«

Hier lächelte sie.

»Zum Campus? Nun, da will ich auch hin. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie möchten. Oder sind Sie selbst mit dem Auto hier?«

»Nein, nein«, sagte ich. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen helfe.« Und ich nahm ihr den Stoß Zeitschriften aus den Armen. Saffia schloss den Wagen auf, und ich glitt auf den Beifahrersitz, drehte mich dabei nach hinten, um die Zeitschriften in den Fond zu legen. Ich sah, dass die hintere Rückenlehne umgeklappt und der Gepäckraum mit alten Zeitungen und Erde übersät war. Also behielt ich die Zeitschriften auf dem Schoß.

Wir fuhren durch die Stadt. Die Schulen hatten Mittagspause, die Kinder spielten an den Straßenrändern Fangen. Es war mitten in der windigen Jahreszeit, die Luft befrachtet mit aschfeinem Staub. Saffia fuhr konzentriert, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Straße gerichtet. Während sie fuhr, betrachtete ich ihre Hände. Sie hielt das Lenkrad an beiden Seiten fest, wie Frauen das so tun. Keinerlei Schmuck, abgesehen von einem goldenen Ehering. Die Nägel waren kurz und wohlgeformt, nicht lackiert. An einem oder zwei Nägeln ihrer rechten Hand bemerkte ich einen dunklen Rand. Gelegentlich gestattete ich mir einen Blick auf ihr Gesicht, das sich im Profil vor dem grellen Fenster abzeichnete. Der Aufwärtsschwung ihrer Wimpern entsprach der Wölbung ihrer Oberlippe. Als sie verlangsamte, um einem Burschen mit einem Handkarren auszuweichen, biss sie sich leicht auf die Unterlippe. Und als sie an einer verkehrsreichen Kreuzung nach links und rechts schaute, fuhr sie sich mit der Zunge flüchtig über die Oberlippe. Spuren von Licht hoben die Kurven ihrer Jochbeine, ihrer Stirn, ihres Nasensattels hervor. Der Ausschnitt ihres Kleids gab ihre Kehle frei, unter den Schlüsselbeinen die Schwellung ihrer Brüste. Auf ihren Oberschenkeln war das Kleid leicht zerknittert, darunter spannten sich die Muskeln, wenn sie die Pedale bediente.

Rechts von der Straße dehnte sich ein Feuchtgebiet hin, das unter Naturschutz stand. Das gibt es noch immer. Zu feucht, um bebaut zu werden. Damals konnte man von der Straße aus, über das Feuchtgebiet hinweg, bis zum Meer sehen. Ich wandte den Kopf und schaute.

»Es sollen dort bemerkenswerte Orchideen wachsen«, sagte ich.

»Sie mögen Blumen?«

»Ich bin kein Experte«, antwortete ich. »Ich lebe in einer Wohnung, und der Garten gehört nicht mir. Aber ich erfreue mich an ihrem Anblick, wer tut das nicht?«

»Sumpforchideen. Lissochilus. Die meinen Sie wohl. Sie wachsen dort. Und Sie haben recht, sie sind wirklich bemerkenswert. Sie werden so hoch wie Sie und ich.«

»Haben Sie schon mal welche gesehen?«

»Nicht in letzter Zeit. Aber vor ein paar Jahren, ja. Die Gartenbaugesellschaft, deren Mitglied ich bin, hat eine Exkursion veranstaltet. Wenn man erst mal weiß, wo sie wachsen, ist es leicht, sie wiederzufinden. Anfangs ist es das nicht.« Sie verstummte, als sie beschleunigte, um ein langsames Taxi zu überholen, das nach Fahrgästen Ausschau hielt.

»Ich muss mich bei der Gartenbaugesellschaft erkundigen, ob weitere Exkursionen geplant sind. Vielleicht könnten Sie mir helfen?«

Möglicherweise würde sie mir anbieten, mich dorthin mitzunehmen. Ich spürte, wie sie zögerte, überlegte, ob sich so etwas gehörte.

Vorerst sagte sie: »Ich versuche, bei uns zu Hause Orchideen zu ziehen. Keine Lissochilus. Das wäre wahrscheinlich nicht möglich. Viel Glück habe ich nicht gehabt. Aber ich habe einige schöne Amaryllis – Harmattan-Lilien. Sie blühen während der windigen Jahreszeit. Vielleicht könnten Sie einmal abends mit Julius vorbeikommen.«

»Danke«, sagte ich. Obwohl ihre Worte nicht ganz als Einladung zu werten waren.

Minuten später hielten wir vor der Fakultät. Ich stieg aus dem Wagen aus und lehnte mich durch das offene Fenster, um ihr zu danken. Sie nickte und schenkte mir den Anflug eines Lächelns, das sich plötzlich und unvermittelt in einen Ausdruck reiner Freude verwandelte. Im selben Moment, in dem ich ihn erwidern wollte, bemerkte ich, dass sie gar nicht mehr mich ansah. Ich richtete mich auf und wandte den Kopf. Julius.

In gewisser Weise habe ich Glück. Lange Zeit habe ich das nicht geglaubt. Ich sehnte mich danach, außergewöhnlich zu sein, während ich tatsächlich alles andere als das war. Ich habe eins von diesen Gesichtern, die wie jedes andere aussehen. Mit dem Alter, könnte man sagen, habe ich eine gewisse Individualität erlangt. Das Haar. Aber während des größten Teils meines Lebens hatte ich die Art von Gesicht – ganz ehrlich –, die Art von Gesicht, die man sofort wieder vergisst.

Als ich Julius die Hand gab, sah ich ihm an, dass er sich krampfhaft bemühte, mich einzuordnen. Ebenso wie ich es einst als mein Pech betrachtete, des Erinnerns nicht würdig zu sein, ist es das Pech charismatischerer Menschen, selten vergessen zu werden. Von anderen umgeben, die die Arbeit erledigen, verlieren sie naturgemäß nach und nach die Fähigkeit, sich Namen und Gesichter zu merken. Es war offenkundig, dass Julius diese Situation vertraut war und sie ihn nicht im Mindesten störte. Saffia erklärte, dass wir uns in der Stadt getroffen hatten. Er klopfte mir auf die Schulter; seine Miene verriet wohlwollendes Interesse. Keiner von der eifersüchtigen Sorte, oder vielleicht empfand er mich auch einfach nicht als Bedrohung. Ich schaute zu, wie Julius die Hecktür öffnete, seinen Aktenkoffer auf die Zeitungen legte und zur Fahrerseite herumging, während Saffia auf den Beifahrersitz rutschte. Er stieg ein, betätigte den Hebel und schob den Sitz zurück. Als Saffia Julius gegenüber mein Interesse an Blumen erwähnte, sah ich meine Gelegenheit gekommen.

Beim Wegfahren winkten sie mir zu. Ich stand da, und meine Gedanken folgten ihnen. Einen Moment lang fühlte ich mich seltsam verlassen. Doch das Gefühl verging, denn mittlerweile war ich im Besitz einer Einladung – sie am kommenden Montag zu Haus zu besuchen. Adresse und Uhrzeit waren sorgfältig in meinem Heft notiert.

Samstagmorgen. Ich saß nach dem Frühstück auf der Veranda, blätterte die Zeitungen durch und rauchte eine Zigarette, als Vanessa erschien. Sie trug eine mürrische Miene zur Schau, ihre Lippen so fest aufeinandergepresst, dass ich, als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, einen Strich in ihrem Lippenstift sah, wie einen Spülsaum. In den letzten paar Tagen hatte ich es gänzlich unterlassen, sie anzurufen. Es war klar, dass sie gekommen war, um mir eine Schlacht zu liefern.

Bevor sie ein Wort herausbekommen konnte, sagte ich: »Genau die Person, an die ich gerade dachte.« Was mehr oder weniger stimmte. Ich war von frühmorgendlicher Lust erfüllt aufgewacht. Bevor ich aufgestanden war, um auf die Toilette zu gehen, hatte ich den diffusen Wunsch verspürt, sie bei mir zu haben. Selbst jetzt, trotz ihrer säuerlichen Miene, fühlte ich, dass das Verlangen zurückkehrte.

Sie schob die Lippen zu einem Schmollmund vor. Sie trug einen engen Rock und eine knapp sitzende tamule mit Puffärmeln. Ihr Haar war entkraust und zu extragroßen Locken gebrannt worden. Keine Frisur, die ich sonderlich schätzte. Dennoch verriet sie, wie sehr sich Vanessa an dem Tag um ihr Aussehen bemüht hatte. Sie war mit Sicherheit nicht auf dem Weg in die Kirche.

»Wo warst du die ganze Zeit?« Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Na hier«, sagte ich. »Wo sollte ich sonst gewesen sein? Kaffee?«

In der Küche löffelte ich löslichen Kaffee in eine Tasse, goss heißes Wasser darüber und füllte dann die Tasse bis zum Rand mit Kondensmilch auf. Nur ein bisschen weniger, und sie hätte sich so aufgeführt, als wäre ich knickrig. Vanessa war die Sorte Mädchen, die Geiz missbilligt, ganz besonders bei einem Mann. Als ich wiederkam, hatte sie sich an den Tisch gesetzt. Ich stellte die Tasse behutsam auf den Tisch, dazu eine Schachtel Würfelzucker.

»Bedien dich«, sagte ich. Zucker war für eine Frau wie Vanessa noch immer ein kleiner Luxus.

Nach kurzem Zögern streckte sie die Hand aus und nahm zwei Würfel aus der Pappschachtel, ließ einen in die Tasse fallen, legte den anderen in einen Teelöffel, den sie in die heiße Flüssigkeit senkte, heraushob, senkte, und schaute zu, wie der Zuckerwürfel zerkrümelte und anfing, sich aufzulösen. Weiterhin ohne mich zur Kenntnis zu nehmen, führte sie den Löffel an ihre Lippen.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Es war so viel los. Die Examina stehen vor der Tür, und ich muss meine Studenten vorbereiten. Jeden Abend spät zu Hause. Früh auf. Ich wollte dir keine Umstände machen.«

»Ich hätte kommen und für dich kochen können.« Sie hielt die Augen gesenkt.

»Das wäre zu viel verlangt gewesen.«

»Mir macht das nichts aus.« Eine Pause; sie schob die Lippen zu einem noch übertriebeneren Schmollmund vor und warf mir von unten herauf einen Blick durch die Wimpern zu. »Ich hätte dir was vorbeischicken können.«

»Du bist zu gut zu mir.« Ich stand auf und stellte mich hinter sie. Ich beugte mich hinunter und presste meine Lippen auf ihren Nacken. Sie tat so, als wollte sie sich fortwinden. Ich biss leicht ins Fleisch. Sie kicherte und protestierte, aber ohne rechte Überzeugung. Ich zog sie hoch, drehte sie zu mir herum und küsste sie. Ich schmeckte die Süße des Zuckers auf ihrer Zunge, das Wachs ihres Lippenstifts.

Wir lagen bis zum späten Vormittag miteinander im Bett. Später schaute ich Vanessa dabei zu, wie sie in meiner Wohnung herumwirtschaftete, Zeitungen aufsammelte, den Tisch abräumte, meine Schuhe im Schrank verstaute. In diesen Augenblicken ertappte ich mich dabei, wie ich sie schon mit Saffia verglich. Vanessa war die Jüngere, und doch machte sie das keineswegs frischer oder unschuldiger. Naiv, das ja. Sie bemühte sich, kultivierter zu erscheinen, als sie tatsächlich war. Ich war durchaus froh, sie um mich zu haben, sie war praktisch nicht imstande, mich zu irritieren. Jedes Mal, wenn sich die Tür hinter ihr schloss, füllte sich der Raum augenblicklich wieder, sie hinterließ keinerlei Vakuum. In ihrer Abwesenheit galten meine Gedanken nicht ihr. Saffia dagegen war bereits in meine Träume getreten.

Vanessa träumte davon, die Frau eines Professors zu sein, das war ihr Ziel. Und eines Tages würde sie es vielleicht auch erreichen, obwohl sie sich zu leicht hingab. Ich wünschte ihr alles Gute. Ich lag, die Kissen im Rücken, da und schaute ihr zu, wie sie versuchte, sich einen Platz in meinem Leben zu schaffen. Es war eigentlich schade, sagte ich mir, aber irgendwann, in nicht allzu langer Zeit, würde ich aufhören müssen, mich mit ihr zu treffen.

2

Die Frau saß verkantet auf dem Stuhl, Adrian gegenüber: Knie zusammen, Arme an die Seiten gepresst, Schultern nach vorne, Füße eingezogen. Ein Zickzack auf einem Metallstuhl. An ihren Knochen spärliches Fleisch. Sie trug einen Wickelrock mit verblassten gelb-schwarzen geometrischen Mustern. Ihre Brüste waren von einer weiten Bluse bedeckt. Adrian konnte ihr Alter nicht einschätzen. Die Menschen hier erschienen ihm alterslos. Sie redete ihn mit »Doktor« an, beantwortete seine Fragen mit einer tonlosen Stimme, so leise, dass er sich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Nicht ein einziges Mal sah sie ihm in die Augen, sondern musterte ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Sie klagte über Kopfweh und wollte Medizin gegen die Schmerzen, aber die Ärzte hatten nichts feststellen können. Also hatte man sie zu ihm geschickt.

Adrian erklärte, was er für sie tun konnte, suchte nach Worten, die sie, wie er hoffte, verstehen würde. Auf dem Blatt, das vor ihm lag, stand ihr Name. Er sprach ihn laut aus. Zum ersten Mal schaute sie ihn an. Sie zeigte auf ein Fläschchen Vitaminkapseln, das auf seinem Schreibtisch stand, also gab er es ihr. Das war keine große Sache.

Nachts hatte Adrian Lockheart einen Traum gehabt. Einen der wenigen, seit er in diesem Land war. Er stand am Rand eines Wasserfalls, vornübergebeugt, Oberkörper über dem rauschenden Wasser. Unten konnte er jenseits des Wassersturzes nichts sehen. Im Traum war er wieder ein Kind. Er breitete die Arme aus und machte einen Kopfsprung und wachte gerade in dem Moment auf, da ihn das fallende Wasser verschlungen hätte. Es war kein Traum vom Sterben, denn er wachte leise lachend auf.

Ein Echo des Gefühls kehrt jetzt zu ihm zurück, während er dasitzt und aus dem Fenster starrt und seine Gedanken auf dem Gezeitenstrom der Stimme des alten Mannes treiben, der in dem Bett liegt. Ein Kindergesicht erschien über der Mauerkrone, das grinsende Gesicht eines Kindes. Die Augen begegneten Adrians Augen. Einen Moment später war das Gesicht verschwunden. Dann war ein Lachen zu hören, und eine Erinnerung an den Traum stieg in ihm auf. Das Gefühl zu fallen, der Magen, der sich hebt, die Freude, die aus einem unschuldigen körperlichen Vergnügen erwächst. Er wendet sich zu dem alten Mann, der, die Arme über dem Baumwolllaken ausgestreckt an die Seiten seines Körpers gepresst, daliegt. Der alte Mann hat aufgehört zu sprechen und beobachtet ihn. Seine von Vorhängen aschgrauer Haut umgebenen Augen sind klein, dunkel und wasserblank.

Adrian schweigt noch ein paar Sekunden; er hofft, seine Gedankenabwesenheit wird wie Besonnenheit wirken, ein Augenblick des Nachdenkens.

»Soll ich morgen wiederkommen?«

Der alte Mann neigt den Kopf und fährt fort, ihn zu beobachten.

Adrian, der eigentlich an derlei gewöhnt sein müsste, fühlt sich unbehaglich. Reflexartig fährt er fort: »Brauchen Sie irgendetwas? Bücher? Zeitungen? Ich arrangiere das für Sie.«

»Danke. Ich habe alles.« Die Stimme ist heiser. Die Worte werden vom Anflug eines Lächelns begleitet, einer Anspannung der Gesichtsmuskulatur, einem Strecken der Lippen, dem Anschein nach eher Schmerz als Freude.

»Gut dann.«

Mittag. Adrian steht auf, nimmt seinen Aktenkoffer und sein Jackett und geht hinaus auf den Korridor, wo die Luft um ein, zwei Grad kühler ist. Das Gebäude hat keine Klimaanlage außer auf der Intensivstation, und selbst dort scheint sie einen aussichtslosen Kampf gegen die glühende Luft zu führen, die durch jede Ritze im Mauerwerk eindringt. Er atmet tief ein, zählt bis drei und geht dann den Korridor entlang ins Freie.

Er überquert den Innenhof auf dem Weg zu seinem Sprechzimmer, die Sonne knallt ihm senkrecht auf den Scheitel. Der Innenhof ist nicht mehr als ein Quadrat vergilbten Grases, das von zwei sich kreuzenden Fußwegen in Dreiecke geteilt wird. Jedes Dreieck ist mit Beton gesäumt und enthält eine einzelne Bank aus Beton. Noch nie hat Adrian jemanden dort sitzen sehen. Wer auch immer den Hof entwarf, stellte sich vermutlich vor, dass die Insassen des Gebäudes hier ausspannen oder ihre Mittagsmahlzeit essen würden. Doch die Sonne macht das unmöglich.

Einmal in seinem Sprechzimmer, legt er den Aktenkoffer bündig auf den Schreibtisch, schaltet den Ventilator ein, zieht sein Jackett aus und stellt sich mit dem nass geschwitzten Rücken in den Wind. Er gießt sich aus einer Plastikflasche ein Glas Wasser ein, öffnet den Aktenkoffer und holt seinen Füller sowie Papiere heraus.

Als er zum ersten Mal zu diesem Zimmer, seinem Sprechzimmer, geführt wurde, erkannte er es als das, was es war, auch wenn weder er noch die Verwaltungschefin des Krankenhauses diesbezüglich eine Bemerkung fallen ließen. Hoch aufragende Wände, die bis zur Decke, einer quadratischen ungestrichenen Fläche, hinaufreichten. Eine Metalltür mit Riegel und Vorhängeschloss. Ein einsames schmales Fenster mit sechs stählernen Gitterstäben, die bis über den Außensims reichten. Ein großformatiger Schreibtisch, orange lackiert und zerkratzt, vor dem drei Stühle unterschiedlicher Höhe und unterschiedlichen Alters standen. An einem brüchigen Kabel baumelte eine Vierzig-Watt-Birne und warf unruhige Schatten in die Ecken des Zimmers. Adrian war beim Durchqueren des Zimmers mit dem Kopf daran gestoßen und hatte jetzt eine Verbrennungswunde, blank und gespannt, an der Stirn. Schon zweimal hatte er beantragt, das Fenster zu vergrößern.

In seiner umfunktionierten Abstellkammer sitzt Adrian abseits von den Geräuschen der Außenwelt: dem Quietschen der Rollbahre, dem Scheppern von Metall auf Metall, gerufenen Namen, Schritten: knapp und flink; dem Schlurfen und Stoßen eines Menschen auf Krücken.

Das vor ihm liegende Blatt Papier war bereits mit dem Namen seines Patienten überschrieben. Neben die Worte Grund für die Einweisung hat Adrian eigener Wunsch notiert. In den folgenden Minuten schreibt er alles auf, was ihm in den letzten zwei Stunden erzählt worden ist, so wie er sich erinnert. Er schreibt schnell, ohne zu stocken. Die glatte Feder bewegt sich unhörbar über das Papier und zeichnet mit schwarzen Linien die Geschichte des Mannes im Privatzimmer nach.

Eine Fliege sitzt in der Falle, schlägt in einem Moment hektisch gegen die Fensterscheibe, saust im nächsten über Adrians Kopf durch das Zimmer. Er schlägt nach ihr und verfehlt sie. Jetzt ist es mit seiner Konzentration vorbei, also legt er seinen Füller hin, geht zum Fenster und stemmt es auf. Von jenseits der hohen Wände hört er Wasser laufen, das hohle Scheppern leerer Eimer, Frauenstimmen, streitend, wie er meint. Er ist sich nicht sicher. Er denkt daran, wie leise der Wohlstand doch ist: Menschen, die in abgeschiedenen Räumen leben, Streitigkeiten, mittels Schweigen und geschlossener Türen ausgetragen. Vergleicht dies mit der rüpelhaften Unbefangenheit der Armut. Das losprustende Lachen von Kindern ist allerdings überall auf der Welt gleich.

An diesem Morgen hat er, nachdem er vom Traum erwacht ist, die Laken zurückgeschlagen und dann dagelegen und an die leere Decke gestarrt und auf die Geräusche des Morgens gelauscht. Vielleicht wegen des Traums dachte er an seinen Vater und seine Mutter.

An seinen Vater, der ihm im Wohnzimmer gegenübersaß. Draußen die Bäume, die allmählich schwarz wurden vor einem silbernen Himmel, ein jeder umgeben von seiner eigenen lichten Aura. Adrian beobachtete die Hände seines Vaters: die schwarzen Haare auf der blassen Haut, die grau geäderten knochigen Handgelenke, die aus den Manschetten seines karierten Freizeithemdes hervorsahen. Seines Vaters Finger, die an Teilen eines Airfix-Flugzeugs herumfummelten.

Jahrelang hatte Adrian angenommen, die Idee zu diesem Nachmittagsprojekt sei bestimmt von einem seiner Eltern gekommen, höchstwahrscheinlich von seiner Mutter. Denn er selbst interessierte sich nicht für Flugzeugmodelle, sah nicht ein, was es für einen Sinn haben sollte, Spritzgussteile zusammenzukleben. Doch wenn er jetzt darüber nachdenkt, kann er sich vorstellen, dass es vielleicht doch seine Idee gewesen war: die Fahrt zum Geschäft, um das Flugzeug auszusuchen, die Rückfahrt mit der eingepackten Schachtel in den Händen, das Ausbreiten der Teile auf dem polierten Rosenholztisch, all diese Dinge deuten auf die Fantasielosigkeit und Gefallsucht eines Kindes hin. Seine Mutter, die an ihrem Schreibtisch ihre Korrespondenz erledigte und sie beide mit abgewendeten Augen beobachtete.

Das Modell ist allerdings eine Lancaster B III. Adrians Wahl wäre vorhersagbarer gewesen. Eine Spitfire etwa. Sein Vater erzählt ihm, dass die Lancaster zwei Jahre vor Ende des Krieges Angriffe auf deutsche Talsperren geflogen hatten. Adrian schaut seinem Vater bei dessen Bastelversuchen zu und weiß, dass er nicht helfen darf. Es gibt Gelegenheiten, da sich ein Eingreifen als Sohnespflicht kaschieren lässt: seines Vaters Frühstücksgeschirr abräumen, einen widerspenstigen Manschettenknopf durch das Loch stecken. Aber wenn sein Vater über seine Schnürsenkel gebeugt saß, sah Adrian keine andere Möglichkeit, als zuzuschauen, wie der Knoten ihm immer und immer wieder durch die Finger schlüpfte. Manchmal kam Adrians Mutter zu Hilfe. Adrian bemerkte, dass sein Vater sich, sobald sie fertig war, steif und wortlos aus dem Sessel stemmte und das Zimmer verließ.

Also sitzt er schweigend da und beobachtet seines Vaters Hände. Während der Vater wiederum die Anwesenheit seines Sohnes vergessen zu haben scheint, sich abmüht, die Teile mit Fingern festzuhalten, die wie die Flügel eines Falters zittern und flattern. Eine andere Erinnerung überlagert die erste. Wie er mit seinem Vater auf der Suche nach Ley-Linien – oder waren es unterirdische Wasseradern? – durch den Wald ging. Jeder mit einer gegabelten Rute in den Händen. Sein Entzücken, wenn die Rute in den Händen seines Vaters zu zittern begann.

Bereits in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in dem neuen Land hatte die Zeit, ohne die Ordnung seines bisherigen Lebens, eine gewisse Formlosigkeit angenommen. In den Anfangstagen war er voller Interesse für seine neue Umgebung aufgestanden. Jede Tätigkeit im Verlauf eines Tages, wie klein sie auch sein mochte, besaß ihren Stellenwert. Unter dem dürftigen Getröpfel, das kaum seine Schultern benetzte, zu duschen. Das Geräusch seiner Schritte, die in den Korridoren hallten. Die Zeit, die er damit verbrachte, die schäbigen Möbel in seinem Arbeitszimmer umzuräumen. Jede Aktivität besaß ihre eigene Wertigkeit, Tonhöhe und Resonanz, wie der Ton einer Stimmgabel. Doch während die Tage vergingen, verschwand die Resonanz.

Frühstück in der Kantine, und er beobachtete, wie seine Kollegen, jeder mit einem Nicken, kamen und gingen. Er kannte ihre Namen, Gesichter, ihre Aufgaben. Mit manchen hatte er nach Dienstschluss in einer Bar in der Nähe ein Bier getrunken, wobei unweigerlich jemand zu spät gekommen oder ein Glas ungeleert geblieben war, weil jemand wegen eines weiteren Notfalls schleunigst zurückmusste. Zu den Essenszeiten saß er vor einer Tasse Instantkaffee und sah zu, wie die Ranken aus Dampf immer dünner wurden und sich verflüchtigten, während die anderen im Raum sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten.

Zu anderen Zeiten ging er die langen Krankensäle ab. Sah die Insassen eines überfüllten Minibusses mit einem jungen Mann am Steuer, der eine Sechzehnstundenschicht hinter sich und den Kopf voll Marihuana hatte, begegnete dem blinden Blick eines Mannes, unter dem ein Bambusbaugerüst zusammengebrochen war, sah apathischen Müttern dabei zu, wie sie reglosen Babys Luft zufächelten.

Drei Wochen nach seiner Ankunft sah Adrian seine ersten Patienten. Das, nachdem er die Einwilligung der Krankenhausverwaltung in ein internes Überweisungssystem erhalten hatte. Die Leute, die seine Kollegen ihm schickten, waren größtenteils ambulante Patienten, solche, bei denen die Ärzte nichts feststellen konnten. Sie saßen mit runden Schultern und gesenkten Augen da, die Hände im Schoß eingerollt wie fügsame Haustierchen. Was führt Sie hierher? Der Doktor hat mich zu Ihnen geschickt. Von Adrian sanft ermutigt, sprachen sie von Kopfschmerzen, Schmerzen in den Armen, Beinen, im Unterleib. Hier, hier, hier. Berührten Körperteile. Wann hatten die Schmerzen angefangen? Irgendwann nach der Sache. Ja, davor war ich gesund.

Auf Adrians Nachbohren hin erzählten sie mit gedämpfter Stimme, was sie durchgemacht hatten, so als beträfen die geschilderten Ereignisse jemand anderen. Adrian hatte die Zeitungsartikel gelesen, die nach dem Konflikt veröffentlichten Berichte. Er wusste, wie der Krieg angefangen hatte – mit der kaum zur Kenntnis genommenen Invasion eines kleinen Kontingents von im Ausland ausgebildeten Rebellen, die schon bald ihre Anwesenheit durch die Einnahme mehrerer Städte kundgetan und geschworen hatten, zur Hauptstadt zu marschieren und die aufgeblähte Diktatur zu stürzen, die schon seit zwanzig Jahren regierte. Und er wusste, wie er geendet hatte – wusste, dass die Zivilbevölkerung von Anfang an am meisten unter der Raserei der Rebellen zu leiden gehabt hatte und ihre Qualen ein Jahrzehnt angedauert hatten, bis der Krieg von der Armee eines Nachbarlandes mit einem eigenen ehrgeizigen Despoten beendet worden war.

Adrians Mitgefühl klang selbst in seinen eigenen Ohren oberflächlich, nicht überzeugend. Also stupste er seine Patienten mit Fragen weiter und spürte durchaus, wie viel Energie es ihn kostete, auch nur einen Funken Vertrauen zu gewinnen. Später, in seiner Wohnung, spritzte er sich Wasser ins Gesicht. Einmal füllte er das Waschbecken und tauchte das Gesicht ins Wasser, hielt die Luft an, bis seine Lungen schmerzten. Allein, wartete er darauf, dass seine Gedanken wieder zu sich fanden, dass seine erschütterte Seele zur Ruhe kam.

Und am Ende bat jeder seiner neuen Patienten unweigerlich um Medizin, worauf Adrian erklärte, er sei nicht diese Sorte Arzt. Ein Nicken, ein Hinnehmen eher als ein Begreifen. Sie dankten ihm und gingen. Keiner von ihnen kam je wieder.

Eines Samstagnachmittags ging Adrian an einer Reihe von Marktständen im Viertel hinter dem Krankenhaus entlang. Eine Frau rief nach ihm – er drehte sich um, erkannte sie an ihrem gelb-schwarz bedruckten Wickelrock. Automatisch lächelte Adrian und hob die Hand zum Gruß. Die Frau kam mit dem unsicheren Gang einer Marionette auf ihn zu. Ein feuchter Fleck zog sich vorn über ihre Bluse hin, deren oberste Knöpfe offen standen und einen Teil ihrer dunklen Brustwarze hervorschauen ließen.

»Doktor!«, hatte sie gerufen und ihn am Arm gepackt. Ihr Atem war heiß. Er verstand nicht, was sie sagte, wünschte, er könnte sich an ihren Namen erinnern. Sie verlor kurz den Halt, taumelte und fiel gegen ihn. Ein Passant, ein Mann wohl über fünfzig, schritt ein und packte die Frau am Arm. Die Frau stieß einen Schrei aus, und als sie sich loszureißen versuchte, fiel sie nach hinten und schlug schwer auf dem Boden auf, um dann zwischen den Beinen der Schaulustigen davonzukrabbeln. Der Mann wischte über Adrians Arm, als wollte er die Berührung der Frau entfernen.

»Tut mir leid, tut mir leid! Diese Frau ist eine Verrückte. Keine Familie.« Und tippte sich mit dem Finger leicht an die Schläfe, ein auffliegender Schmetterling.

Adrian schüttelte den Kopf, durcheinander, enttäuscht von seiner eigenen missglückten Reaktion; doch als er sich nach der Frau umschaute, war sie verschwunden.

Er denkt manchmal an sie, denkt jetzt an sie, während er am offenen Fenster steht. Tagelang hatte er auf sie gewartet. Doch sie war nie gekommen.

Es ist fast eins. Mittagszeit. Neuerdings nimmt er die Uhrzeiten von Frühstück, Mittag- und Abendessen sehr bewusst wahr. Die Mahlzeiten sind jetzt mehr als bloße Satzzeichen in seinem Tagesablauf, sie sind zu eigenständigen Ereignissen geworden. Als er ein junger Mann war und seine Ausbildung im Krankenhaus machte, kam es gelegentlich vor, dass er ganz zu essen vergaß. Während er an seiner Dissertation arbeitete, musste er sich gewaltsam von den Büchern losreißen, um rasch über die Straße zu laufen und sich in der Imbissstube gegenüber ein Stück Pizza zu holen; nicht bereit, auch nur die paar Minuten zu opfern, die der griechische Besitzer gebraucht hätte, um sie aufzuwärmen, aß er sie so, wie sie war, während er zu seinem Arbeitszimmer zurückkehrte, kalten geronnenen Käse und gekräuselten Schinken.

Er schließt das Fenster, sperrt die Geräusche aus. An seinen Handflächen ist Staub von der Fensterbank, ein feiner roter allgegenwärtiger Staub, der alles bedeckt. Zu dieser Jahreszeit liegt er ständig in der Luft, ein roter Nebel, der die Hügel hinter der Stadt verdunkelt, über dem Horizont schwebt. Adrian spürt den Staub bei jedem Atemzug in seinem Rachen; Haut und Nase jucken, der Wind saugt alle Feuchtigkeit aus den Poren. Er holt das Taschentuch aus der Tasche, er hat sich wieder angewöhnt, immer eins dabeizuhaben, befeuchtet es mit Wasser aus der Flasche und reibt sich die Handflächen ab. Und obwohl rostfarbene Flecken auf dem weißen Stoff erscheinen, hat er das Gefühl, als arbeite er den Staub lediglich in tiefere Hautschichten ein. Es gibt Tage, an denen er sich ständig schmutzig fühlt, den Staub spürt, der, unter seinem Hemd gefangen, an seiner feuchten Haut haftet.

Die Kantine ist, abgesehen von zwei Männern in Stationshelferuniformen, die über verstreute Lottoscheine und eine Zeitung gebeugt dasitzen, noch leer. Die Frau hinter der Theke häuft Reis auf seinen Teller, dreht sich dann zu den zwei Terrinen, die hinter ihr stehen, hebt den Deckel von der näher stehenden und löffelt Huhn und Sauce auf den Reis. Ungefähr zwei Wochen zuvor war Adrian aufgefallen, dass die Frau die einheimischen Angestellten in der Schlange aus der anderen Terrine bediente. Er hatte die Frau gefragt, was denn in der anderen Schüssel sei.

»Huhn.«

Ihre mangelnde Hilfsbereitschaft hatte seinen Trotz herausgefordert.

»Ich möchte bitte davon haben.« Gehorsam hatte die Frau ihm von dem, wie es aussah, identischen Schmorhuhn aufgetan. An seinem Tisch aß Adrian einen Löffel. Das Essen war höllisch scharf. Froh, allein zu sein, hatte er sich ein Glas Wasser genommen, dann noch eins, und war, ohne aufgegessen zu haben, Mund und Lippen noch immer brennend, in sein Sprechzimmer zurückgekehrt.

Seitdem nickt ihm die Frau hinter der Theke zu und lächelt manchmal auch. Sie wirkt nicht so, als verschaffe der Zwischenfall ihr eine besondere Genugtuung, er scheint eher ihren täglichen Begegnungen eine bescheidene Vertraulichkeit zu verleihen. An diesen Tag erinnert sich Adrian wegen des geschmorten Huhns, aber auch, weil es der Tag war, an dem der neue Patient nach ihm schickte.

Dass der neue Patient ein Mann von einer gewissen Bedeutung war, bewies die Tatsache, dass er ein Privatzimmer hatte. Adrian kam jeden Tag auf dem Weg in sein Arbeitszimmer daran vorbei. Nie hatte er irgendwelche Besucher gesehen, lediglich einen Dienstboten, der manchmal einen zugedeckten Korb trug, manchmal ein geknotetes Bündel von schmutziger Bettwäsche, manchmal einen Stoß frisch gewaschener Kleidungsstücke. Ein anderes Mal hatte er einen Blick durch den Schlitz der nicht ganz geschlossenen Tür geworfen und den Diener gesehen, wie er mit einem Bastfächer die träge Luft aufwedelte, Fliegen verjagte und die Bettlaken zurechtzupfte, genau wie die Mütter auf der Kinderstation es taten.

Am Tag, an dem Adrian mit brennenden Lippen zu seinem Arbeitszimmer zurückgekehrt war, hatte der Dienstbote vor seiner Tür gekauert.

»Kann ich Ihnen helfen?« Adrian schloss die schwere Tür auf, und der Mann erhob sich und folgte ihm hinein. Einmal drinnen, händigte er Adrian ein gefaltetes Blatt Papier aus. Adrian öffnete das Blatt. Darauf standen nicht mehr als ein paar Zeilen, blasse Bleistiftstriche, die sich langsam über die Seite hinschnörkelten und von einer ältlichen Hand zeugten.

Sehr geehrter Herr,

ich möchte Sie um etwas Zeit allein mit Ihnen bitten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Babagaleh, dem Überbringer dieser Zeilen, ein Datum und eine Uhrzeit mitteilen würden, die für Sie genehm wären. Ich kann mich ganz nach Ihnen richten, auch wenn meine Zeit, aufgrund meines Zustands, etwas knapp bemessen ist.

Hochachtungsvoll,

Ihr Elias Cole

*

Aus der Nacht, ein Schrei. Adrian wacht auf, schwitzend und desorientiert. Der Ventilator dreht sich nicht, die Luft im Zimmer ist heiß. Er liegt und lauscht. Das Zirpen von Grillen, ein Lastwagen irgendwo in der Ferne, der Ruf eines Nachtvogels. Das Fenster über seinem Bett ist offen, und die Luft trägt den Geruch von Holzrauch herein, duftend, wie von brennender Zeder. Adrian fragt sich, ob der Schrei nicht möglicherweise in seinen Schlaf gehörte, aber dann hört er ihn wieder, eindeutig. Die Stimme einer Frau.

Er greift unter dem Moskitonetz durch und schaltet die Nachttischlampe ein, lässt seinen Augen Zeit, sich an das Licht zu gewöhnen, nimmt sein T-Shirt vom Stuhl, streift es sich über und öffnet die Tür zum Hof, auf den seine Bungalowwohnung geht. Vor dem Tor des Krankenhauses spielt sich eine dramatische Szene ab. Aus der Dunkelheit taucht eine von zwei Sanitätern geschobene Rollbahre, auf der eine große knollige Gestalt liegt, im grünlichen Licht der Notbeleuchtung auf. Eine Schwester hält einen Tropf in die Höhe. Die Bahre rasselt in Richtung OP-Raum. Adrian tritt ein paar Schritte vor, späht durch das spärliche Licht. Als die Gruppe näher kommt, erkennt er, dass es sich bei der Gestalt auf der Rollbahre in Wirklichkeit um zwei Personen handelt: einen Mann, der rittlings auf einem reglosen Körper sitzt. Der Mann drückt mit den Handballen, stützt sich mit seinem ganzen Gewicht – so sieht es jedenfalls aus – auf den Unterleib des Patienten. Der Patientin: Es ist eine Frau, unförmig schwanger.

Jemand schreit den Befehl, anzuhalten. Vor Adrians Augen fährt der Arzt fort, sich auf die Frau zu stemmen, während er ihr gleichzeitig zuredet zu pressen. Es erscheint Adrian unvorstellbar, dass eine Frau in ihrem Zustand eine derartige Behandlung aushalten können soll. Sein Blick wird zum Kopf des Kindes gelenkt, der gerade eben sichtbar, halb in, halb außerhalb der Welt ist.

Die einzige Geburt, die Adrian miterlebt hat, fand in einem Zimmer mit Blick auf die Themse und die Houses of Parliament statt. Nichts hatte ihn auf das Entsetzen vorbereitet – das er vergeblich zu verbergen versuchte. Er spürte, oder glaubte zu spüren, dass ihn die Vergebung seiner Frau vom Inneren ihrer Höhle aus Schmerz her erreichte. Später entstand in ihm ein nachträgliches Schuldgefühl, wie bei einem Soldaten, der dabei erwischt wurde, wie er vor feindlichem Feuer floh. Trotzdem, ob mit oder ohne seinen Mut, war es passiert. In dem einen Moment standen sie beide auf der einen Seite von etwas Gewaltigem. Im nächsten purzelten sie schon die andere Seite hinunter. Seine Tochter war geboren.