Ein Mädchen, Zwei Welten - Livia Sommer - E-Book

Ein Mädchen, Zwei Welten E-Book

Livia Sommer

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Beschreibung

Lina steht am Scheideweg: Gefangen zwischen der vertrauten Liebe zu Jonas und der stürmischen Anziehung zu Finn, verliert sie sich selbst in einem Chaos aus Gefühlen, Schuld und Sehnsucht. Doch als die Schule endet, wagt sie den Sprung ins Unbekannte – eine Reise nach Italien, die alles verändert. In den Gassen von Florenz und den Hügeln der Toskana findet Lina nicht nur ihre Kunst, sondern auch ihre eigene Stimme. Sie liebt, verliert, wächst und entdeckt, dass Freiheit bedeutet, sich selbst genug zu sein. Begleitet von ihrer besten Freundin Anna, ihrer Familie und einer neuen, echten Liebe, navigiert Lina durch die Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens. Mit jedem Pinselstrich und jedem Schritt in Berlin, wo sie an der Kunstakademie ihr Talent entfaltet, wird klar: Das Leben ist chaotisch, schmerzhaft, wunderschön – und Lina ist bereit, es mit offenen Augen zu leben. Ein bewegendes Coming-of-Age-Drama über Selbstfindung, Freundschaft und die Kraft, die eigenen Träume zu verfolgen.

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ein Mädchen, Zwei Welten

Inhaltsverzeichnis:

Kapitel 1: Der Anfang vom Ende

Kapitel 2: Der Neue

Kapitel 3: Der erste Funke

Kapitel 4: Der Alltag

Kapitel 5: Die erste Nachricht

Kapitel 6: Der Zufall

Kapitel 7: Die Zweifel

Kapitel 8: Der erste Kuss

Kapitel 9: Das Geheimnis

Kapitel 10: Der Verdacht

Kapitel 11: Die Versuchung

Kapitel 12: Die Beichte

Kapitel 13: Die Konfrontation

Kapitel 14: Der Rückzieher

Kapitel 15: Die Entscheidung

Kapitel 16: Der Rückfall

Kapitel 17: Die Wahrheit

Kapitel 18: Die Leere

Kapitel 19: Der Brief

Kapitel 20: Die Konfrontation II

Kapitel 21: Die Selbstfindung

Kapitel 22: Die Versöhnung

Kapitel 23: Der Abschied

Kapitel 24: Der Neuanfang

Kapitel 25: Die Erkenntnis

Kapitel 26: Die Abschlussfeier

Kapitel 27: Der Sommer

Kapitel 28: Die Reise

Kapitel 29: Die Trennung

Kapitel 30: Die Freiheit

Kapitel 31: Die Rückkehr

Kapitel 32: Der neue Anfang

Kapitel 33: Die Erinnerung

Kapitel 34: Die Freundschaft

Kapitel 35: Der Zufall

Kapitel 36: Die Liebe

Kapitel 37: Die Familie

Kapitel 38: Die Zukunft

Kapitel 39: Der Abschluss

Kapitel 40: Das Leben

Kapitel 1: Der Anfang vom Ende

Lina saß auf ihrem Bett, die Beine angezogen, ein zerfleddertes Notizbuch auf ihrem Schoß. Das Poster von Billie Eilish an der Wand war leicht vergilbt, die Ecken wellten sich, als wollten sie sich von der Wand lösen. Es war eines der ersten Dinge, die sie in ihrem Zimmer aufgehängt hatte, damals, als sie 15 war und dachte, dass die Welt aus Musik, Träumen und Jonas bestand. Jetzt, mit 18, fühlte sich alles anders an. Nicht falsch, aber... leer. Sicher, aber leer. Sie strich mit dem Finger über die Kanten ihres Notizbuchs, wo sie früher Herzchen mit Jonas’ Initialen gekritzelt hatte. Zwei Jahre. Zwei Jahre mit Jonas, ihrem Klassenkameraden, ihrem ersten richtigen Freund, dem Jungen, der immer für sie da war. Der sie zum Lachen brachte, wenn sie sich über ihre Mathelehrerin Frau Krüger aufregte. Der ihre Hand hielt, wenn sie nervös war, wie vor der letzten mündlichen Prüfung. Aber warum fühlte es sich dann an, als würde etwas fehlen?

Die Morgensonne fiel durch das schmale Fenster ihres Zimmers, malte Streifen auf den Holzboden und ließ die Staubpartikel in der Luft tanzen. Lina schloss die Augen und versuchte, das Gefühl zu greifen, das sie seit Wochen verfolgte. Es war, als ob ihr Leben ein Puzzle war, bei dem ein Teil nicht mehr passte. Jonas war perfekt – zumindest dachte sie das früher. Er war der Junge, der ihr bei ihrem ersten Schultag in der 10. Klasse geholfen hatte, als sie ihren Stundenplan verloren hatte. Er hatte sie angelächelt, mit diesem schiefen Grinsen, das sie sofort mochte, und gesagt: „Keine Panik, ich zeig dir, wo der Chemieraum ist.“ Seitdem waren sie unzertrennlich. Er war ihr Anker, ihr sicherer Hafen. Aber jetzt? Jetzt fühlte sich dieser Hafen manchmal wie ein Käfig an.

Die Schulglocke riss sie aus ihren Gedanken. Das schrille Läuten drang durch die offene Balkontür, und Lina seufzte. Sie warf einen Blick auf ihr Handy – 7:45 Uhr. Noch fünf Minuten, bis sie losmusste. Sie stand auf, zog ihre Jeansjacke über das verwaschene Band-T-Shirt und schnappte sich ihren Rucksack. Der Spiegel an der Innenseite ihrer Schranktür zeigte ihr ein Mädchen mit zerzaustem braunen Haar, das sie schnell zu einem unordentlichen Dutt band. Ihre grünen Augen wirkten müde, obwohl sie gut geschlafen hatte. „Reiß dich zusammen, Lina“, murmelte sie zu sich selbst, während sie ihr Spiegelbild musterte. Heute war nur ein normaler Schultag. Nichts würde sich ändern. Oder?

Der Weg zur Schule war wie immer: vorbei an der Bäckerei, aus der der Duft von frischen Brötchen strömte, über die kleine Brücke, wo die Enten im trüben Wasser des Kanals schwammen, und dann die Straße entlang, die von alten Kastanienbäumen gesäumt war. Lina liebte diesen Weg, auch wenn sie ihn mittlerweile auswendig kannte. Sie steckte ihre Kopfhörer in die Ohren und ließ sich von einer Playlist tragen, die sie letzte Woche noch mit Jonas zusammengestellt hatte. The 1975, Tame Impala, ein bisschen Phoebe Bridgers. Jonas hatte gelacht, als sie „Motion Sickness“ hinzufügte, und gesagt: „Du und deine traurigen Lieder, Lina.“ Sie hatte nur die Augen verdreht, aber insgeheim mochte sie es, wenn er sie aufzog.

Als sie um die Ecke bog, sah sie Jonas schon von Weitem. Er lehnte an der Mauer vor dem Schultor, scrollte auf seinem Handy, die Kapuze seines grauen Hoodies halb über den Kopf gezogen. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm in die Stirn, und er sah aus wie immer: entspannt, ein bisschen zerzaust, wie ein Junge, der gerade aus dem Bett gefallen war. Lina spürte, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte, aber gleichzeitig dieses seltsame Ziehen in der Magengrube. Sie zog die Kopfhörer aus den Ohren und ging auf ihn zu.

„Hey“, sagte sie, und ihre Stimme klang ein bisschen zu fröhlich, als wollte sie sich selbst überzeugen.

Jonas blickte auf und grinste. „Morgen, du Schlafmütze. Dachte schon, du kommst zu spät.“ Er steckte sein Handy weg und legte einen Arm um ihre Schultern, zog sie kurz an sich. Sein Duft nach frischer Wäsche und einem Hauch von Zitronenshampoo war so vertraut, dass es fast wehtat.

„Bin doch hier“, murmelte sie und lehnte sich kurz an ihn, bevor sie sich losmachte. „Was liegt an?“

„Mathe, leider. Frau Krüger hat schon angekündigt, dass sie die Hausaufgaben kontrolliert.“ Jonas verdrehte die Augen, und Lina lachte.

„Du hast sie doch wieder nicht gemacht, oder?“

„Äh, sagen wir, ich hab’s versucht.“ Er zwinkerte ihr zu, und sie schüttelte den Kopf, konnte aber das Lächeln nicht unterdrücken. Das war Jonas: immer ein bisschen chaotisch, aber auf die charmante Art.

Sie gingen zusammen ins Schulgebäude, die Gänge voller Schüler, die sich lachend und redend durch die Flure schoben. Der Geruch nach Kreide, alten Büchern und billigem Parfüm hing in der Luft. Lina fühlte sich wie in einem Film, den sie schon hundertmal gesehen hatte. Alles war vertraut, aber irgendwie auch... langweilig? Sie schob den Gedanken beiseite, als sie sich in den Klassenraum setzten, nebeneinander, wie immer.

Die erste Stunde war Deutsch, und Frau Meier, ihre Lehrerin, hatte beschlossen, dass sie heute über „Coming-of-Age“-Geschichten reden würden. Lina mochte Frau Meier – sie war streng, aber fair, und hatte eine Art, Literatur so zu erklären, dass sie lebendig wurde. Heute stand „Der Fänger im Roggen“ auf dem Programm, und Lina konnte nicht anders, als sich mit Holden Caulfield zu identifizieren. Dieses Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, die Welt zu hinterfragen, alles irgendwie falsch zu finden – das kannte sie. Sie meldete sich und sagte: „Holden ist einfach... verloren. Er will etwas Echtes, aber er weiß nicht, wie er es finden soll.“

Frau Meier nickte anerkennend. „Gute Beobachtung, Lina. Und was denkt ihr, was macht eine Coming-of-Age-Geschichte aus?“

Jonas meldete sich, was selten war. „Na, wenn man rausfindet, wer man ist. Oder was man will. So wie... keine Ahnung, wenn man 18 ist und plötzlich merkt, dass die Welt größer ist, als man dachte.“

Lina sah ihn überrascht an. Jonas war nicht der Typ für tiefgründige Analysen, aber das klang nach etwas, das er wirklich meinte. Sie wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber die Stunde war vorbei, und die Glocke läutete wieder.

In der Pause saß Lina mit Jonas und ihrer besten Freundin Anna auf der Bank im Schulhof. Anna knabberte an einem Apfel und erzählte von ihrem Wochenende, während Jonas mit einem Fußball herumspielte, den er irgendwo aufgetrieben hatte. Lina hörte nur halb zu, ihr Blick schweifte über den Hof. Und dann sah sie ihn.

Er stand am anderen Ende des Schulhofs, lässig an die Mauer gelehnt, ein Typ, den sie noch nie gesehen hatte. Groß, mit dunklem, zerzaustem Haar, das ihm in die Augen fiel, und einem Lächeln, das irgendwie gefährlich wirkte. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine Lederjacke, obwohl es viel zu warm dafür war. Ein paar Mädchen aus der Oberstufe standen in seiner Nähe, kicherten und warfen ihm Blicke zu. Lina konnte nicht wegsehen.

„Wer ist das?“ fragte sie, ohne nachzudenken.

Anna folgte ihrem Blick und grinste. „Oh, das ist Finn. Der Neue aus der Oberstufe. Kam letzte Woche aus München oder so. Ziemlich heiß, oder?“

Lina spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. „Keine Ahnung“, murmelte sie und sah schnell weg. Jonas kickte den Ball zu einem Freund und kam zurück, setzte sich neben sie. „Was glotzt du denn so?“ fragte er scherzhaft.

„Nix“, sagte Lina schnell. „Nur... neuer Typ halt.“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Oberstufler. Die denken immer, sie sind was Besseres.“ Er legte einen Arm um sie, und Lina lehnte sich an ihn, aber ihr Blick wanderte wieder zu Finn. Er hatte sich umgedreht, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Es war nur eine Sekunde, aber es fühlte sich an, als hätte jemand einen Stromschlag durch ihren Körper gejagt. Ihr Herz schlug schneller, und sie wandte den Blick ab, wütend auf sich selbst. Was war los mit ihr?

Der Rest des Tages verging wie im Nebel. Lina konnte sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. In Bio zeichnete sie gedankenverloren Kreise in ihr Heft, während Herr Braun über Zellteilung sprach. In Englisch starrte sie aus dem Fenster, wo die Kastanienbäume im Wind wogten. Und immer wieder tauchte Finns Gesicht in ihren Gedanken auf. Sein Lächeln, die Art, wie er sich bewegte, so selbstsicher, so anders als Jonas. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie die Gedanken abschütteln wie Wassertropfen.

Nach der letzten Stunde wartete Jonas vor dem Klassenraum auf sie. „Kino heute Abend?“ fragte er, während sie durch den Flur gingen.

Lina zögerte. „Äh, ich muss noch was für Kunst fertig machen. Vielleicht morgen?“

Jonas runzelte die Stirn, nickte aber. „Okay, klar. Sag Bescheid.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging zu seinen Freunden, die am Ausgang warteten.

Lina blieb einen Moment stehen, ihr Rucksack schwer auf ihren Schultern. Sie fühlte sich, als stünde sie an einer Kreuzung, ohne zu wissen, welchen Weg sie nehmen sollte. Und dann, als sie aus dem Schulgebäude trat, sah sie ihn wieder. Finn. Er stand allein, eine Zigarette zwischen den Fingern, obwohl Rauchen auf dem Schulgelände verboten war. Er sah sie, und dieses Lächeln erschien wieder. „Hey“, rief er, als wäre es das Normalste der Welt.

Lina blieb stehen, ihr Herz schlug schneller. „Hey“, sagte sie, und ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren. Sie wusste nicht, dass dieser Moment alles verändern würde.

Kapitel 2: Der Neue

Die Pause war wie ein lebendiges Gemälde, das sich jeden Tag auf dem Schulhof entfaltete. Schüler drängten sich in Gruppen, lachten, riefen sich etwas zu, während der Duft von frisch gemähtem Gras und billigem Parfüm in der Luft lag. Lina saß auf ihrer üblichen Bank, die Beine übereinandergeschlagen, ein halb aufgegessenes Käsebrötchen in der Hand. Jonas war ein paar Meter entfernt, kickte einen Fußball mit seinen Freunden herum und lachte über einen Witz, den sie nicht hörte. Neben ihr plapperte Anna über irgendeine Netflix-Serie, die sie am Wochenende durchgesuchtet hatte, aber Lina war nur halb bei der Sache. Ihr Blick schweifte über den Hof, auf der Suche nach etwas – oder jemandem –, ohne dass sie es sich eingestehen wollte.

Und dann sah sie ihn. Finn. Der Neue aus der Oberstufe. Er lehnte lässig an der grauen Betonmauer am Rand des Schulhofs, eine Zigarette zwischen den Fingern, obwohl Rauchen hier streng verboten war. Groß, schlaksig, mit zerzaustem dunklem Haar, das ihm in die Stirn fiel, und einem Lächeln, das irgendwie gefährlich wirkte – nicht bedrohlich, sondern aufregend, wie ein Sturm, der sich am Horizont zusammenbraut. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einem verwaschenen Bandlogo und eine Lederjacke, die trotz der milden Herbstsonne viel zu warm sein musste. Ein paar Mädchen aus der Oberstufe standen in seiner Nähe, warfen ihm verstohlene Blicke zu und kicherten, aber er schien es kaum zu bemerken. Seine Augen – dunkel, fast schwarz – schweiften über den Hof, als würde er die Szene scannen, ohne wirklich Teil davon zu sein.

Lina spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte, als ihre Blicke sich trafen. Es war nur eine Sekunde, aber es fühlte sich an, als hätte jemand die Zeit angehalten. Seine Mundwinkel zuckten leicht, als wüsste er etwas, das sie nicht wusste. Sie wandte den Blick schnell ab, ihre Wangen heiß, und biss in ihr Brötchen, als könnte das die plötzliche Unruhe in ihr vertreiben. Was machst du da, Lina? dachte sie. Du hast Jonas. Sie warf einen Blick zu ihrem Freund, der gerade den Ball in die Luft kickte und laut lachte, als einer seiner Freunde stolperte. Jonas war... Jonas. Verlässlich, charmant, ihr Anker. Aber warum fühlte sich dieser eine Blick von Finn wie ein Stromschlag an?

„Erde an Lina!“ Annas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Ihre beste Freundin wedelte mit der Hand vor Linas Gesicht herum, ein spöttisches Grinsen auf den Lippen. „Was ist los? Du starrst ja Löcher in die Luft.“

„Nichts“, murmelte Lina und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, um Zeit zu schinden. „Bin nur müde.“

Anna folgte ihrem Blick und grinste breiter. „Oh, ich seh schon. Du checkst den Neuen ab, oder?“

„Quatsch“, sagte Lina schnell, vielleicht zu schnell. „Ich hab nur... geguckt.“

„Klar.“ Anna biss in ihren Apfel und kaute genüsslich. „Finn, richtig? Kam letzte Woche aus München oder so. Oberstufe, 12. Klasse. Die Mädels da drüben“ – sie nickte in Richtung der kichernden Gruppe – „sind schon ganz verrückt nach ihm. Aber er scheint nicht so der Typ zu sein, der sich für sowas interessiert.“

Lina zuckte mit den Schultern, als wäre es ihr egal, aber ihre Gedanken rasten. Finn. Der Name passte zu ihm, kurz und irgendwie cool, wie er selbst. Sie riskierte einen weiteren Blick, nur um sicherzugehen, dass er nicht mehr hersah. Tat er nicht. Er war jetzt in ein Gespräch mit einem Typen aus seiner Klasse vertieft, gestikulierte mit der Hand, in der die Zigarette glühte. Lina fragte sich, wie er es schaffte, so entspannt zu wirken, obwohl er neu war. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag in der 10. Klasse, wie nervös sie gewesen war, wie sie ihren Stundenplan verloren hatte und fast in Tränen ausgebrochen war, bis Jonas ihr geholfen hatte. Finn wirkte, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen.

„Was weißt du über ihn?“ fragte sie, bevor sie sich bremsen konnte.

Anna hob eine Augenbraue, ihre Mundwinkel zuckten. „Oh, jetzt wird’s interessant. Na, mal sehen. Er ist aus München, wie gesagt. Angeblich hat er da in irgendeiner Band gespielt, nichts Großes, aber so’n Indie-Ding. Und er hat wohl ’nen Ruf, dass er... sagen wir, nicht gerade ein Musterknabe ist.“ Sie senkte die Stimme, als würde sie ein Geheimnis verraten. „Man munkelt, er wurde von seiner alten Schule geflogen, aber niemand weiß genau, warum.“

Lina runzelte die Stirn. „Geflogen? Wegen was?“

Anna zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Drogen, Prügeleien, wer weiß? Die Gerüchteküche brodelt, aber nichts Konkretes. Macht ihn aber irgendwie spannender, oder?“

Lina wollte etwas erwidern, aber Jonas kam in dem Moment zurück, ließ sich mit einem Ächzen auf die Bank fallen und legte einen Arm um ihre Schultern. „Was labert ihr denn so?“ fragte er, während er sich eine Strähne aus der Stirn strich.

„Nichts los“, sagte Anna schnell, zwinkerte Lina zu. „Nur Mädelskram.“

Jonas lachte. „Oh Gott, verschont mich.“ Er zog Lina näher an sich, und sie lehnte sich automatisch an ihn, obwohl ein Teil von ihr sich plötzlich eingesperrt fühlte. Sein Arm war schwer, vertraut, aber irgendwie auch... zu viel. Sie schob den Gedanken weg und zwang sich zu einem Lächeln.

„Was machst du nach der Schule?“ fragte Jonas, während er mit dem Fuß gegen die Bank tippte.

„Äh, hab noch was für Kunst zu erledigen“, log Lina. Sie wusste selbst nicht, warum sie log. Vielleicht, weil sie sich nicht vorstellen konnte, den Nachmittag mit Jonas zu verbringen, wie sie es sonst immer taten – Netflix, Pizza, kuscheln auf dem Sofa. Es war ihre Routine, aber heute fühlte es sich an wie ein Korsett, das sie nicht mehr tragen wollte.

„Okay, dann morgen?“ Jonas sah sie an, seine blauen Augen suchend, als würde er spüren, dass etwas nicht stimmte.

„Klar“, sagte Lina und nickte, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie es meinte. Sie fühlte sich, als würde sie in zwei Richtungen gezogen werden – eine zu Jonas, ihrem sicheren Hafen, und eine zu etwas Neuem, Unbekanntem, das sie nicht greifen konnte.

Die Glocke läutete, das Signal für das Ende der Pause. Lina stand auf, schüttelte die Krümel von ihrem Brötchen ab und schulterte ihren Rucksack. Jonas gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor er mit seinen Freunden in Richtung Sporthalle verschwand. Anna hakte sich bei Lina ein, während sie zurück ins Gebäude gingen.

„Du bist heute echt neben der Spur“, sagte Anna, halb scherzend, halb ernst. „Alles okay mit dir und Jonas?“

„Ja, klar“, sagte Lina, aber ihre Stimme klang hohl. „Nur... keine Ahnung. Schule halt.“

Anna nickte, sagte aber nichts. Sie kannte Lina zu gut, um weiterzubohren, aber Lina wusste, dass ihre Freundin die Wahrheit spürte.

Der Rest des Vormittags verging wie im Flug. In Chemie starrte Lina auf die Formeln an der Tafel, ohne sie wirklich zu sehen. In Geschichte machte sie sich Notizen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab – zu Finn, zu seinem Lächeln, zu diesem einen Moment, als ihre Blicke sich trafen. Es war lächerlich, sagte sie sich. Sie kannte ihn nicht mal. Er war nur ein Typ, ein neuer Typ, der wahrscheinlich sowieso bald wieder verschwinden würde. Aber warum konnte sie dann nicht aufhören, an ihn zu denken?

In der Mittagspause saß sie wieder mit Anna und Jonas in der Mensa, stocherte in ihrem Nudelsalat herum, während Jonas von einem Videospiel erzählte, das er letzte Nacht noch gespielt hatte. Lina nickte an den richtigen Stellen, lachte, wenn es erwartet wurde, aber ein Teil von ihr war woanders. Sie sah sich um, halb hoffend, halb fürchtend, Finn zu sehen. Er war nicht da, und sie war sich nicht sicher, ob sie erleichtert oder enttäuscht war.

„Hey, Lina, träumst du?“ Jonas’ Stimme holte sie zurück. Er grinste, aber seine Augen hatten diesen suchenden Ausdruck, den sie in letzter Zeit öfter bemerkte.

„Sorry“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Bin nur müde.“

„Du und deine Kunstprojekte“, sagte er und schüttelte den Kopf, aber es lag Zuneigung in seiner Stimme. „Du solltest mal ’ne Pause einlegen.“

„Vielleicht“, murmelte sie und nahm einen Schluck Wasser, um nicht weiterreden zu müssen.

Nach der Mensa hatten sie eine Freistunde, und Lina beschloss, in die Bibliothek zu gehen, um an ihrem Kunstprojekt zu arbeiten. Es war eine Ausrede, das wusste sie selbst, aber sie brauchte einen Moment für sich. Die Bibliothek war ruhig, nur das leise Rascheln von Seiten und das Summen der Neonröhren war zu hören. Sie setzte sich an einen Tisch in der Ecke, zog ihr Skizzenbuch heraus und begann, an einer Zeichnung zu arbeiten – ein Porträt, das sie für den Kunstunterricht vorbereitete. Doch ihre Hand bewegte sich wie von selbst, und plötzlich skizzierte sie ein Gesicht, das sie nicht hätte zeichnen sollen. Dunkles Haar, ein schiefes Lächeln, Augen, die sie durchdringend ansahen. Finn.

Sie klappte das Skizzenbuch zu, ihr Herz raste. „Das ist doch bescheuert“, murmelte sie und rieb sich die Augen. Sie hatte Jonas. Sie liebte Jonas. Oder? Die Frage nagte an ihr, und sie hatte keine Antwort.

Als die Freistunde vorbei war, ging sie zurück zum Klassenraum, wo Jonas schon auf sie wartete. Er lächelte, wie immer, und zog sie in eine Umarmung. „Na, Künstlerin. Fertig mit deinem Meisterwerk?“

„Fast“, sagte sie und zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. Aber in ihrem Kopf war immer noch dieses andere Gesicht, dieses andere Lächeln. Und sie wusste, dass dieser Tag, dieser Moment, der Anfang von etwas war, das sie nicht kontrollieren konnte.

Kapitel 3: Der erste Funke

Der Klassenraum war erfüllt von dem vertrauten Summen gedämpfter Gespräche und dem Scharren von Stühlen, als Frau Meier die Schüler in Gruppen für ein neues Projekt einteilte. Lina saß an ihrem üblichen Platz, in der dritten Reihe neben dem Fenster, und kritzelte gedankenverloren in ihrem Notizbuch. Sie war nicht ganz bei der Sache, ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dem Moment auf dem Schulhof, als Finns Blick ihren getroffen hatte. Es war dumm, sagte sie sich. Nur ein Blick. Aber warum fühlte es sich dann an, als hätte jemand ein Streichholz in ihr angezündet?

„Lina, Finn, Anna und Max, ihr seid Gruppe vier“, rief Frau Meier und riss Lina aus ihren Gedanken. Sie blinzelte, ihr Stift hielt mitten in einer Linie inne. Finn? Sie warf einen Blick quer durch den Raum, wo Finn lässig auf seinem Stuhl lümmelte, die Arme verschränkt, ein leichtes Grinsen auf den Lippen, als hätte er gerade einen Insiderwitz gehört. Er war in der Oberstufe, warum war er überhaupt in diesem Kurs? Wahrscheinlich ein Wahlfach, dachte Lina, während ihr Herz einen unruhigen Schlag machte.

„Cool, das wird lustig“, sagte Anna, die neben ihr saß, und stieß sie leicht mit dem Ellbogen an. „Der Neue in unserer Gruppe. Vielleicht kriegen wir ein paar spannende Geschichten aus München.“

Lina zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, vielleicht.“ Sie warf einen Blick zu Jonas, der am anderen Ende des Raums saß, vertieft in sein Handy. Er scrollte mit diesem typischen, leicht abwesenden Ausdruck, den er immer hatte, wenn er in eine Diskussion in seiner Gaming-Gruppe verwickelt war. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie in eine Gruppe mit Finn eingeteilt worden war. Lina wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht war.

„Kommt, lasst uns da drüben zusammensetzen“, sagte Max, ein ruhiger Typ aus ihrer Klasse, der für seine akribischen Notizen bekannt war. Er deutete auf einen Tisch in der Ecke, wo sie ihre Materialien ausbreiten konnten. Lina sammelte ihre Sachen und folgte ihm, Anna plapperte neben ihr über irgendeine Idee für das Projekt. Es ging um eine Präsentation zu Jugendkultur in der Literatur, und sie sollten einen Roman auswählen, den sie analysieren wollten. Lina hatte kaum zugehört, als Frau Meier die Details erklärt hatte, aber sie nickte, als wüsste sie Bescheid.

Finn war schon am Tisch, hatte seine Lederjacke über die Stuhllehne gehängt und blätterte gelangweilt in einem zerfledderten Exemplar von „Tschick“. Er sah auf, als Lina sich setzte, und seine dunklen Augen funkelten. „Na, Künstlerin“, sagte er, als würden sie sich schon ewig kennen. „Was hast du für ’ne Idee zu dem Ding hier?“

Lina spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. Künstlerin? Woher wusste er, dass sie Kunst machte? Hatte Anna etwas gesagt? „Äh, noch nichts Konkretes“, murmelte sie und schlug ihr Notizbuch auf, um beschäftigt zu wirken. „Vielleicht was mit ‚Tschick‘, wenn du das schon liest?“

Finn grinste, ein schiefes, fast freches Grinsen, das sie nervös machte. „Gute Wahl. Zwei Jungs, die abhauen und alles hinter sich lassen. Passt doch zu uns, oder?“ Er zwinkerte ihr zu, und Lina spürte, wie ihr Magen einen kleinen Salto machte. Sie sollte das nicht lustig finden. Es war nur ein dummer Spruch. Aber sie lachte trotzdem, ein kurzes, nervöses Lachen, das sie sofort bereute.

„Was ist so witzig?“ fragte Anna, die sich gerade setzte und einen Stapel Bücher auf den Tisch knallte. „Hab ich was verpasst?“

„Nix los“, sagte Finn lässig, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Nur, dass Lina hier schon den Ton angibt.“

„Haha, sehr witzig“, sagte Lina und verdrehte die Augen, aber sie konnte das Lächeln nicht ganz unterdrücken. Sie warf einen schnellen Blick zu Jonas, der immer noch auf sein Handy starrte, die Stirn leicht gerunzelt. Er hatte nichts mitbekommen. Gut.

„Okay, lasst uns mal loslegen“, sagte Max, der schon einen Ordner voller Notizen geöffnet hatte. „Ich dachte, wir könnten ‚Tschick‘ nehmen und was über Freundschaft und Rebellion machen. Vielleicht vergleichen mit ’nem anderen Buch, wie ‚Der Fänger im Roggen‘ oder so.“

„Solide“, sagte Finn und nickte, aber sein Blick wanderte wieder zu Lina. „Was meinst du, Künstlerin? Rebellion klingt doch nach deinem Ding.“

Lina runzelte die Stirn. „Warum denkst du das?“

Finn zuckte mit den Schultern, aber sein Lächeln wurde breiter. „Nur so ’n Gefühl. Du wirkst wie jemand, der die Regeln nicht so ernst nimmt.“

Anna lachte laut. „Oh, Finn, du kennst Lina schlecht. Sie ist die brave Künstlerin, die immer ihre Hausaufgaben macht.“

„Hey!“ protestierte Lina, aber sie musste grinsen. „Ich bin nicht so brav.“

„Ach, echt?“ Finn hob eine Augenbraue, und da war wieder dieser Blick, der sie aus der Bahn warf. Es war, als würde er direkt durch sie hindurchsehen, als wüsste er etwas über sie, das sie selbst noch nicht herausgefunden hatte. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und wandte den Blick ab, konzentrierte sich auf ihr Notizbuch.

„Okay, lasst uns bei ‚Tschick‘ bleiben“, sagte sie schnell. „Rebellion, Freundschaft, vielleicht auch was über Identitätssuche. Das passt doch.“

„Klingt gut“, sagte Max und begann, Ideen aufzuschreiben. Anna warf ein paar Vorschläge ein, während Finn sich zurücklehnte und nur gelegentlich etwas sagte, aber jedes Mal, wenn er sprach, richtete er seine Worte an Lina, als wäre sie die Einzige am Tisch. Es war subtil, aber sie bemerkte es – die Art, wie er sie ansah, wie er ihren Namen sagte, als würde er ihn ausprobieren.

„Was denkst du, Lina?“ fragte er, als Max vorschlug, die Präsentation mit einem kurzen Video einzuleiten. „Du bist doch die Kreative hier. Video oder vielleicht was mit Zeichnungen?“

Lina blinzelte, überrascht, dass er ihre Kunst wieder ansprach. „Äh, Zeichnungen könnten cool sein“, sagte sie. „Vielleicht so was wie Skizzen von den Charakteren oder den Schauplätzen. Ich könnte was entwerfen.“

„Nice“, sagte Finn und nickte anerkennend. „Zeig mir mal was von deinen Sachen irgendwann.“

„Vielleicht“, sagte sie, aber ihre Stimme klang unsicher. Sie spürte Jonas’ Blick von der anderen Seite des Raums, obwohl er immer noch auf sein Handy starrte. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie fühlte sich ertappt, als hätte sie etwas Verbotenes getan, obwohl sie nur über ein Schulprojekt redete. Es war lächerlich, sagte sie sich. Es war nur ein Projekt. Nichts weiter.

Die Stunde verging schnell, und die Gruppe machte Fortschritte, teilte Aufgaben auf. Lina sollte die Skizzen machen, Finn und Anna würden den Text für die Präsentation schreiben, und Max kümmerte sich um die Recherche. Als die Glocke läutete, packte Lina ihre Sachen zusammen, ihr Kopf ein Wirrwarr aus Gedanken. Finn stand auf, zog seine Lederjacke über und warf ihr einen letzten Blick zu. „Bis später, Künstlerin“, sagte er und zwinkerte wieder, bevor er den Raum verließ.

Lina starrte ihm nach, ihre Hände zitterten leicht, als sie ihr Notizbuch in den Rucksack stopfte. Anna stieß sie an. „Was war das denn?“ fragte sie mit einem Grinsen.

„Was?“ Lina tat unschuldig, aber ihr Gesicht fühlte sich heiß an.

„Oh, komm schon. Der Typ flirtet mit dir, und du wirst knallrot.“

„Quatsch“, sagte Lina und stand auf. „Er ist nur... nett.“

„Nett, klar“, sagte Anna und lachte. „Pass bloß auf, dass Jonas das nicht mitkriegt.“

Lina wollte protestieren, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie warf einen Blick zu Jonas, der jetzt aufstand und sein Handy wegsteckte. Er kam zu ihr, legte einen Arm um ihre Schultern. „Na, wie war’s mit der Gruppe?“ fragte er, ohne eine Spur von Misstrauen.

„Gut“, sagte Lina und zwang sich zu einem Lächeln. „Nur ein Projekt. Nichts Besonderes.“

Aber als sie mit Jonas den Klassenraum verließ, konnte sie nicht aufhören, an Finn zu denken. An sein Lächeln, seine Witze, die Art, wie er „Künstlerin“ sagte, als wäre es etwas Besonderes. Es war nur ein Funke, ein winziger Moment, aber er brannte sich in ihre Gedanken ein, und sie wusste, dass sie ihn nicht so leicht löschen konnte.

Der Nachmittag zog sich hin. Lina saß in ihrem Zimmer, versuchte, an ihrem Kunstprojekt zu arbeiten, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie hatte Jonas gesagt, dass sie heute keine Zeit hatte, weil sie „an etwas arbeiten musste“, aber in Wahrheit wollte sie einfach allein sein. Sie öffnete ihr Skizzenbuch, blätterte zu der Seite, auf der sie gestern Finns Gesicht skizziert hatte. Es war nur eine grobe Zeichnung, aber sie hatte seine Augen eingefangen, diesen durchdringenden Blick, der sie nicht losließ. Sie klappte das Buch zu, wütend auf sich selbst. Was machte sie da? Sie hatte Jonas. Sie liebte Jonas. Oder?

Sie stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus auf die Straße, wo die Kastanienbäume im Wind rauschten. Ihr Handy vibrierte, und sie sah eine Nachricht von Anna: „Finn hat nach deiner Nummer gefragt. Soll ich sie ihm geben? 😏“

Lina starrte auf die Nachricht, ihr Herz raste. Sie wusste, dass sie „Nein“ sagen sollte. Sie wusste, dass sie Jonas nicht hintergehen durfte. Aber ihre Finger tippten, bevor sie nachdenken konnte: „Weiß nicht. Vielleicht?“

Sie drückte auf Senden und fühlte sich, als hätte sie gerade eine Tür geöffnet, die sie nicht mehr schließen konnte.

Kapitel 4: Der Alltag

Lina saß auf Jonas’ Sofa, die Beine unter sich gezogen, eine Decke über den Knien. Der Fernseher flimmerte mit einer Serie, die sie schon zum dritten Mal durchschauten – irgendeine amerikanische Sitcom, bei der Jonas immer an den gleichen Stellen lachte. Der Duft von Pizza lag in der Luft, eine halb aufgegessene Margherita stand in der offenen Schachtel auf dem Couchtisch. Jonas hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, seine Finger spielten gedankenverloren mit einer Strähne ihres Haars. Es war ein Abend wie hundert andere zuvor, ein Ritual, das sich in den letzten zwei Jahren in ihr Leben eingebrannt hatte. Freitagabend, Pizza, Netflix, kuscheln. Es war gemütlich, vertraut, sicher. Aber heute fühlte es sich für Lina an, als würde sie in einem Film mitspielen, dessen Drehbuch sie nicht mehr mochte.

„Hey, bist du noch da?“ Jonas’ Stimme holte sie zurück. Er grinste, seine blauen Augen funkelten im schwachen Licht des Fernsehers. „Du guckst, als wärst du auf ’nem anderen Planeten.“

Lina zwang sich zu einem Lächeln. „Sorry, bin nur... müde.“ Es war eine lahme Ausrede, aber Jonas schien sie zu akzeptieren. Er zog sie näher an sich, und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, spürte die Wärme seines Körpers, den vertrauten Duft seines Shampoos. Es war so leicht, sich in diesen Moment fallen zu lassen, sich einzureden, dass alles gut war. Aber ihre Gedanken waren woanders.

Ihr Handy lag auf dem Couchtisch, der Bildschirm dunkel, aber sie wusste, dass eine Nachricht darauf wartete. Eine Nachricht von Finn. Sie hatte sie in der Mittagspause gesehen, als sie kurz allein auf der Toilette war, weg von Jonas’ Blick. „Lust, mal zu quatschen?“ hatte er geschrieben, gefolgt von einem Smiley, das irgendwie frech wirkte, genau wie er. Sie hatte nicht geantwortet – noch nicht. Aber die Worte hatten sich in ihren Kopf gebrannt, wie ein Ohrwurm, den sie nicht loswurde. Sie fühlte sich, als würde sie auf einem Drahtseil balancieren, zwischen dem vertrauten Leben mit Jonas und diesem neuen, gefährlichen Kribbeln, das Finn in ihr auslöste.

„Weißt du, was ich mir letzte Nacht überlegt hab?“ sagte Jonas plötzlich, und Lina blinzelte, versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren. Er lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. „Nach dem Abi... ich glaub, ich will echt nach Berlin. Da ist so ’ne richtig krasse Musikszene, weißt du? Ich will’s mit der Band versuchen. Vielleicht kriegen wir ein paar Gigs, und wenn’s gut läuft, wer weiß... vielleicht wird das was Großes.“

Lina sah ihn an, überrascht von der Leidenschaft in seiner Stimme. Jonas sprach selten über seine Träume, nicht so konkret. Meistens war er der Typ für lockere Sprüche und Witze, aber jetzt klang er ernst, fast schon aufgeregt. „Berlin, hm?“ sagte sie und zog die Decke enger um sich. „Das klingt... cool. Was für ’ne Musik willst du machen?“