Ein Märchen von Gut und Böse - Kim Leopold - E-Book

Ein Märchen von Gut und Böse E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Hexen, Gestaltwandler und Magie? Das sind doch nur Märchen. Jedenfalls dachte Louisa das, bis an ihrem 18. Geburtstag ihre Welt auf einmal Kopf steht und sie Gestalten begegnet, die auf keinen Fall real sein können. Zum Glück steht ihr der Wächter Alex mit Rat zur Seite, doch kann sie ihm vertrauen? Und auch die vielfältigen Bedrohungen machen ihr Leben nicht einfacher: Hexenjäger, Gestaltwandler und Gegner des Magischen Rates ziehen immer engere Kreise, bis auch der Palast der Träume nicht mehr sicher zu sein scheint. Ein Krieg ist im Anmarsch, der nicht nur Schuldige zum Opfer haben wird… Kim Leopold hat eine magische Welt mit düsteren Geheimnissen, nahenden Gefahren und einem Hauch prickelnder Romantik erschaffen, bei dem Fantasy-Lover voll auf ihre Kosten kommen. Ein Märchen von Gut und Böse - Der Auftakt zur Urban Fantasy Serie Black Heart!

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Black Heart 01

Ein Märchen von Gut und Böse

 

 

Kim Leopold

 

Für alle, die noch auf ihren Hogwartsbrief warten.

 

 

Auch eine weiße Rose hat einen dunklen Schatten.

 

 

 

 

 

 

 

[ein magisches vorwort]

 

Liebe Schülerinnen und Schüler,

 

Als Direktorin am Palast der Träume - dem Internat für Magie, Hexen und Wächter in Österreich - ist es mir eine Ehre, dich an unserer Schule begrüßen zu dürfen und dir somit die Möglichkeit zu geben, in die Welt der Magie einzutauchen. Über verschiedene Ecken haben wir erfahren, dass auch in dir eine Prise Magie schlummert und du in unserem Unterricht bestens aufgehoben bist.

 

Aber Achtung - ich muss dich warnen. Auch wenn unsere Wächter sehr liebenswert sind, ist die Liebe zwischen Hexen und Wächtern strengstens verboten. Solltest du also auf den Fluren etwas Unerlaubtes beobachten, bitten wir dich, sofort Bericht zu erstatten. Genauso solltest du uns sofort Bescheid geben, wenn du Hinweise auf Gestaltwandler oder Hexenjäger findest - nur so können wir dich vor ihnen beschützen!

 

In diesem Sinne freue ich mich sehr, dich an unserer Schule begrüßen zu dürfen und verbleibe mit den besten Grüßen,

 

Kim Leopold

Direktorin am Palast der Träume

[1]

 

Ein Mann

München, 2018

 

»Sie müssen das nicht tun.« Vorsichtig hebe ich die Hände in die Luft und fokussiere den Blick der verängstigten Frau. Ein paar Strähnen haben sich aus ihrer ordentlichen Frisur gelöst und fallen ihr in das verzweifelte Gesicht. Ihre blauen Augen schauen gehetzt von meinem Freund zu mir und wieder zurück und imitieren damit die Bewegung der Waffe in ihrer Hand.

»Ich weiß, dass Sie Angst haben«, spreche ich weiter und gehe auf sie zu. Die hohen Hauswände werfen unsere Stimmen zurück. »Aber ich weiß auch, dass Sie ein guter Mensch sind. Stecken Sie die Waffe weg.«

»Nein«, stößt sie hervor und weicht einen Schritt zurück. »Ich werd’ Sie erschießen. Sie beide. Ich kann nicht zulassen, dass Sie … dass Sie …«

Ich spüre, wie mein Freund neben mir unruhig von einem Fuß auf den anderen wechselt. Je länger wir in dieser Gasse festsitzen, umso wahrscheinlicher ist es, dass uns jemand entdeckt, der uns auf keinen Fall aufspüren soll. Uns und die Frau, die nichts verbrochen hat. Die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist.

»Wir könnten doch …«, setzt mein Freund an, aber ich schüttle den Kopf und bringe ihn damit zum Schweigen. Noch habe ich alles unter Kontrolle. Die Frau hat schon zu viel gesehen, da müssen wir uns nicht auch noch vor ihren Augen in Luft auflösen.

»Wenn Sie jetzt auf uns schießen, werden Sie sich das niemals verzeihen können«, rede ich auf sie ein und gehe noch einen Schritt auf sie zu. Dann noch einen und noch einen, bis sie die Wand im Rücken hat und sich der Lauf ihrer Pistole nur noch wenige Zentimeter vor meiner Brust befindet.

Die Angst vor Schusswaffen habe ich schon vor langer Zeit verloren.

Ich lächle sie mitfühlend an. »Sie sind ein guter Mensch«, wiederhole ich mit sanfter Stimme. »Das kann ich in Ihren Augen sehen. Schauen Sie mich an. Schauen Sie mir in die Augen. Bin ich wirklich einer von den Bösen?«

Sie begegnet meinem Blick und sucht nach der Antwort auf ihre Fragen. Einige Momente später werden ihre Gesichtszüge weich, sie lässt die Hände sinken und steckt die Pistole zurück in den Holster.

»Aber …«, flüstert sie und schaut an mir vorbei in die Gasse. In die Dunkelheit, in der eine ihrer Kolleginnen liegt. Womöglich sogar eine Freundin. Kein Wunder, dass sie uns am liebsten erschießen wollte.

»Wir haben sie nicht getötet«, verspreche ich ihr leise. »Sie lag schon dort, als wir vor ein paar Minuten hier entlanggekommen sind.«

Sie atmet laut aus und streicht sich die Haare hinter die Ohren, bevor die Angst in ihren Augen einer Entschlossenheit weicht, für die ich sie bewundere. Das muss an ihrer Arbeit liegen. So schnell könnte ich nicht umschalten, wenn die Tote meine Freundin gewesen wäre. »Haben Sie etwas Verdächtiges gesehen?«

Ich schüttle den Kopf. Die Leiche an sich ist schon verdächtig genug, aber die Polizistin ist ein Mensch und hat nichts mit all dem zu tun, also werde ich sie ganz sicher nicht auf die richtige Fährte setzen. Mein Freund räuspert sich und tritt neben mich.

»Ich glaube, ich habe einen Schatten verschwinden sehen«, fügt er hinzu und deutet in Richtung der belebteren Straße. »Er ist dort entlang.«

Die Frau nickt entschlossen und zückt ihre Waffe wieder. »Sie beide bleiben hier, bis meine Kollegen eintreffen«, erklärt sie mit fester Stimme, bevor sie sich an uns vorbeischiebt und die Gasse entlangläuft. Dabei fordert sie über ihr Funkgerät Verstärkung an.

Wir warten, bis sie um die Ecke verschwunden ist, bevor wir zur Leiche zurückkehren, um noch einen letzten Blick auf die Frau zu werfen. Sie liegt auf dem Boden, alle Viere von sich gestreckt, die langen, hellblonden Haare haben sich aus ihrem Zopf gelöst und sind wie ein Kissen unter ihren Kopf gebettet. Sie trägt noch ihre Uniform, was mich nicht wundert. Ihre Kollegin muss kurz nach ihr in die Gasse gekommen sein. Dem Angreifer blieb also nicht viel Zeit.

Ich hocke mich neben sie und taste nach ihrem Handgelenk. Ihre Haut ist noch warm.

Nichts davon wäre ungewöhnlich, wenn man ihr nicht mit Kohle Male auf die Haut gezeichnet hätte. Die Frau kommt mir bekannt vor.

»War das eine von ihnen?«, fragt mein Freund und zieht sein Handy aus der Tasche, um Fotos vom Gesicht der Frau zu machen. Ich beobachte ihn dabei und frage mich, wieso jemand eine Polizistin ermordet und ihr Gesicht mit Kohlezeichnungen versieht.

»Möglich.« Ich zucke vage mit den Schultern und stehe auf. Nachdem er mit den Fotos fertig ist, steckt er das Handy weg. Wir schauen uns um, bevor wir unauffällig mit der Dunkelheit verschmelzen.

 

 

»Ich werd' nicht schlau daraus.« Mein Freund wirft sein Handy mit etwas zu viel Schwung auf den Tisch und lehnt sich frustriert zurück. Wir sitzen im Schankraum des kleinen Hotels, in das wir vor drei Tagen eingezogen sind. Das Abendessen ist grauenvoll, aber immerhin stellt hier niemand Fragen. Was vielleicht auch daran liegt, dass wir nicht die einzigen zwielichtigen Gestalten sind, die in dem Halbdunkel des Raumes ein Bier trinken. »Ich dachte, ich hätte mittlerweile schon alles gesehen, aber das hier ergibt keinen Sinn.«

Ich nehme das Gerät in die Hand und aktiviere das Display, um das Gesicht der Frau zu betrachten. Was aussieht wie die Zeichen eines Rituals, vermischt mit einer Handvoll Zahlen, ergibt auch auf den zweiten Blick keinen Sinn. Ich habe zwar keine magischen Kräfte, aber genug Erfahrung mit diesen Dingen, um sagen zu können, dass diese Frau nicht für einen Zauberspruch gestorben ist.

Noch dazu kommt mir diese Frau so bekannt vor, dass es schon fast gruselig ist. Vage Erinnerungen nisten sich in meinem Hinterkopf ein. Solche Zeichnungen habe ich auch schon mal gesehen … nur wo? Und wann?

»Meinst du, das ist eine Botschaft?«, fragt mein Freund und winkt dem Wirt zu, um noch eine Runde Getränke zu bestellen. Der Mann erhebt sich murrend von seinem Hocker, um zwei neue Gläser für uns fertigzumachen. Der Typ an der Bar schiebt ihm sein Schnapsglas entgegen und fordert ebenfalls eine weitere Runde.

»Für uns?« Ich zucke mit den Schultern und widme mich erneut dem Foto. Das Ganze ist ein Kauderwelsch aus Kohle, nichts, was irgendwie zusammenpasst.

Aber das muss es.

Niemand tötet eine Frau und malt ihr ohne Grund sinnlose Zeichen ins Gesicht.

»Wenn es eine Hexe war, wieso benutzt sie dann Kohle und kein Blut?«

Mein Freund runzelt die Stirn. »Ganz schön … unschuldig für eine Hexe.«

»Vielleicht war die Frau schon tot, bevor unsere Hexe sie gefunden hat«, überlege ich und denke darüber nach, wie die Frau in die dunkle Gasse gekommen ist. »Die wenigsten Hexen würden jemanden umbringen, um eine Nachricht zu übermitteln.«

»Sie hätte auch einfach eine SMS schreiben können.«

Der Wirt stellt unser Bier auf den Tisch. Ich sperre den Bildschirm, bevor er die Fotos von der Leiche sehen kann. Sobald er zurück hinter seiner Theke ist, stecken wir die Köpfe zusammen und reden weiter.

»Vielleicht ist sie nicht der Typ für ein Handy«, gebe ich zu bedenken. »Nicht alle sind so vernarrt in diese Dinger wie du.«

Mein Freund lacht schnaubend auf und nimmt mir das Gerät ab. »Dieses Ding hat uns jetzt schon so oft geholfen. Du solltest dir auch eins zulegen.«

Das stimmt allerdings. Wenn er nicht so verdammt geschickt mit der neuen Technik wäre, würden wir vermutlich noch immer in Bulgarien hocken und darauf warten, dass die Lösung für unser größtes Problem vom Himmel fällt.

Ich denke an mein Zuhause, an die alten Teppiche, die Bilder, die Geschichten erzählen, und die Wände, die mir zuletzt immer mehr wie ein Gefängnis vorgekommen sind. Gerade in den letzten Monaten, da die Zeit zum Greifen nah war, und die Lösung so fern wie noch nie.

Wenn ich doch bloß wüsste, wo …

»Das ist es!«, stoße ich hervor. »Gib noch mal her.«

Mein Freund reicht mir das Handy. Dieses Mal konzentriere ich mich nicht auf die Zeichen, sondern auf die Frau selbst. Auf die langen, getuschten Wimpern und die weißblonden Haare, die feinen Gesichtszüge, die unter den Kohlezeichnungen beinahe untergehen. Wenn sie jetzt die Augen öffnen würde, …

Wie kann es sein, dass jemand ihr so ähnlich ist?

»Ich glaube, ich weiß, worum es hier geht.« Ich lege das Handy auf den Tisch. »Die Frau erinnert mich an jemanden. An eine Hexe, um genau zu sein. Ihr Name ist Freya.«

Ich kann nicht glauben, dass sie noch leben soll. Ich dachte, sie wäre lange tot.

Mein Freund runzelt die Stirn. »Die Freya?«

Ich nicke mit einem mulmigen Gefühl im Magen und werfe noch einen Blick auf die Kohlezeichnungen, die plötzlich einen Sinn ergeben. »Und das hier, mein Freund, ist eine Karte zu ihrem Aufenthaltsort.«

 

[2]

Freya

Norwegen, 1768

 

Das Gefühl von rauem Backstein unter meinen Fingerspitzen wiegt mich in Sicherheit. Ich lasse meine Finger an der Hauswand entlanggleiten, bis ich schließlich den kleinen Vorsprung spüre und die Wand loslasse, um vierunddreißig Schritte geradeaus zu gehen. Mein Weg führt mich vom Schatten in die Sonne, und ich verharre einen Augenblick bei dreiundzwanzig Schritten, um das warme Gefühl auf meinem Gesicht zu genießen. Anschließend setze ich meinen Weg fort, elf Schritt vor, zehn nach links, dann zwanzig nach rechts, bis ich nur noch die Hand ausstrecken muss, um die gewohnten Steine des Brunnens unter meinen Händen zu-

Ein Ruck reißt mich zu Boden. Dumpfe Schmerzen jagen durch meinen Oberarm, und mein Eimer fällt mit einem lauten Poltern zu Boden.

»Oh nein, entschuldige bitte.« Eine angenehme Stimme füllt mein Ohr, während ich mich aufrichte. »Habe ich dir wehgetan?«

Ich schüttle den Kopf und reibe meinen Oberarm. Die Stimme ist tief und männlich, und ich würde gerne das Gesicht dazu sehen. Jemand, der klingt wie er, muss einfach hübsch sein.

»Es geht schon«, murmle ich verlegen.

»Ich«, setzt der Mann an und scharrt mit den Füßen. Mir wird bewusst, dass mein Anblick ihn nervös machen muss, also schließe ich die Augen.

»Ich bin Mikael«, stellt er sich plötzlich vor.

Verwundert öffne ich die Augen wieder, obwohl ich ihn sowieso nicht sehen kann. Wieso läuft er nicht weg? Wieso bleibt er hier und stellt sich vor? Hat er keine Angst vor einem Krüppel wie mir?

»Freya«, erwidere ich schüchtern und erstarre, als er nach meiner Hand greift. Seine Finger sind schlank und lang, die Haut weich und trocken. Sein Griff verleiht mir ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit, und als ich dann noch seine zarten Lippen auf meinem Handrücken spüre, ist es um mich geschehen. Noch nie hat sich ein Mann die Mühe gemacht, sich mir vernünftig vorzustellen, geschweige denn mir einen Handkuss zu geben. Für alle anderen bin ich nicht viel besser als Garall, der mit seinem fehlenden Bein ein noch größerer Krüppel ist.

»Du bist nicht von hier«, stelle ich fest, während er sich wieder von mir löst. »Ich … ich erkenne deine Stimme nicht.«

»Du hast gute Ohren. Ich bin aus Christiania«, antwortet er. Seine Stimme entfernt sich kurz. Er hebt den Eimer auf, bemerke ich verblüfft. Ohne seine Hilfe hätte ich mich auf den Boden hocken und jeden Zentimeter absuchen müssen, bis ich den Eimer wiedergefunden hätte. Und dann hätte ich vielleicht die Orientierung verloren und wäre noch weiter umhergeirrt.

Plötzlich spüre ich seine Hand an meinem Ellbogen. Zögernd wartet er darauf, dass ich ihm die Erlaubnis gebe, mich zu begleiten. Mein Herz klopft schneller, während ich die Kontrolle in seine Hände übergebe und mich von ihm zum Brunnen leiten lasse.

»Was verschlägt dich hierher?«, frage ich ihn, um mich von meiner Aufregung abzulenken.

»Der Dienst am königlichen Hof.« Seine Stimme ist genau die richtige Mischung aus sanft und männlich. Wenn ich mir den Menschen dazu vorstelle, sehe ich einen hochgewachsenen, schlanken Mann, ein paar Jahre älter als ich vielleicht. Mit blondem Haar und blauen Augen, wie das hier im Norden so üblich ist. Wie blondes Haar aussieht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie es sich anfühlt, wenn ich meine eigenen Haare bürste und flechte.

»Du kennst den König?«, frage ich aufgeregt. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der dem Hof so nah war. »Ist es wahr, was man über ihn sagt?«

Er lässt meinen Ellbogen kurz los, um den Eimer mit Wasser zu füllen, bevor er mir wieder seine Führung anbietet, um mich zurück zum Haus zu bringen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich nicht die erste Blinde bin, die er führt. Er wirkt erfahren, was das angeht.

»Hm«, macht Mikael belustigt. »Was sagt man denn über ihn?«

»Du weißt schon.« Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. Hätte ich doch bloß nicht von dem Thema angefangen. Jetzt denkt er, ich bin eins von diesen Klatschweibern. »Man sagt, er wäre … geistig nicht ganz beisammen.«

»Ich wusste nicht, dass sein Zustand sich schon so weit herumgesprochen hat.« Mikael spricht in gedämpftem Ton weiter: »Seine Verwalter haben mich hergeschickt, um nach jemandem zu suchen, der ihm vielleicht helfen kann.«

»Bei uns?« Erstaunt horche ich auf und gehe die Menschen des Dorfes in Gedanken durch. Die Einzige, die Krankheiten heilen kann, würde diese Grenze niemals überschreiten. Es ist unmöglich, dass er am Hof von ihr gehört hat.

»Vielleicht fällt dir jemand ein.« Er bleibt stehen. »Mir ist gerade klargeworden, dass ich keine Ahnung habe, wo ich dich hinführen soll.«

»Es ist das rote Haus«, erwidere ich und unterdrücke ein Lächeln. Meinetwegen hätte er mich gerne noch ein bisschen länger durchs Dorf führen können. »Mutter hat es rot gestrichen, damit ich immer weiß, wie ich unser Haus beschreiben soll.«

»Das hört sich nach einer sehr lieben Mutter an«, antwortet er ernst und führt mich zur Haustür. Er stellt den Eimer ab, bevor er nach meiner Hand greift. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Freya.«

Freude durchströmt meinen Körper, weil ich spüre, dass er seine Worte ehrlich meint. Auf meinen Lippen breitet sich ein Lächeln aus. »Die Freude ist ganz meinerseits, Mikael.«

 

 

Drinnen lege ich Holz nach und bringe anschließend etwas altes Brot hinters Haus, um es für die Hühner zu verteilen, die nie genug davon kriegen können. Danach räume ich die Kräuter und Tücher auf dem Esstisch weg, die Mutter dort liegen lassen hat, weil sie heute Morgen zur Geburt gerufen wurde. Ich weiß genau, dass sie sich über ein aufgeräumtes Haus und eine heiße Tasse Tee freuen wird, um ihre angestrengten Glieder aufzuwärmen.

Während ich schließlich ein einfaches Abendessen zubereite, wandern meine Gedanken wieder zurück zu Mikael und seinen sanften Händen. Der melodische Klang seiner Stimme geht mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, ob er nach meiner Mutter sucht. Wenn es eine Frau in diesem Dorf gibt, die Krankheiten heilen kann, dann ist es meine Mutter. Aber sie wird ihm nicht helfen. Sie hat ja nicht einmal Vater geholfen, als er vor ein paar Jahren krank geworden ist und schließlich starb.

Krankheiten und der Tod gehören zum Leben dazu, hat sie gesagt. Mit dem Schicksal soll man nicht spielen, um das Leben von Menschen zu verändern.

Bauchschmerzen kurieren, Schwangere untersuchen und sie bei der Geburt begleiten – das sind die Dinge, für die sie im Dorf bekannt ist. Ich frage mich, was ich tun würde, wenn ich so viel wüsste wie sie. Würde ich dem König helfen? Hätte ich meinen Vater gerettet? Was hätte das geändert? Wäre mein Leben dann grundsätzlich anders verlaufen?

Ein Rumpeln an der vorderen Tür lässt mich aufhorchen. Kurz darauf stößt jemand die Haustür auf und stolpert ins Haus. »Freya? Freya!«

»Mutter?« Überrascht über den panischen Ausruf stehe ich auf und gehe meiner Mutter entgegen. Sie fällt mir um den Hals und drückt mich fest an sich. Sie riecht nach dem Schweiß anderer und ihren eigenen Sorgen.

»Den Göttern sei Dank, dir geht es gut.«

»Was ist passiert?«, frage ich beunruhigt. Mutter lässt mich los und eilt durch den Raum, um einige Sachen zusammenzusammeln.

»Wir müssen verschwinden.«

»Was? Wieso?«

»Jetzt ist nicht die Zeit für Fragen. Nimm, was du tragen kannst. Na los!«, feuert sie mich an. Mir liegen tausend Fragen auf der Zunge, doch ich befolge ihre Anweisung und eile zum Alkoven, um meinen Geldbeutel und das Märchenbuch einzupacken, aus dem sie mir immer vorgelesen hat. Der Geldbeutel fällt klimpernd zu Boden. Ich gehe auf die Knie, um danach zu tasten. In dem Augenblick höre ich die ersten Stimmen vor dem Haus. Aufgeregtes Getuschel, das sich schnell zu einem Singsang aus Anklagen erhebt.

Mörderin.

Hexe.

»Mutter, was ist passiert?«, frage ich. Meine Hände schließen sich um den Geldbeutel. Schnell springe ich auf.

»Jetzt nicht, mein Schatz«, erwidert Mutter, deren Schritte immer noch durch den Raum trippeln, während sie weitere Sachen einpackt. Sie drückt mir ein weiteres Buch in die Hand.

»Hedda, wir wissen, dass du da drin bist!« Jemand pocht mit der Faust gegen die Haustür. Einmal, dann noch einmal, immer lauter. Schon bald verschwimmen die Geräusche zu einer undurchdringlichen Wand aus Lärm. Ich kneife die Brauen zusammen, überfordert damit, die Stimmen den Personen zuzuordnen, und versuche mich auf meine anderen Sinne zu verlassen, während Mutter mich zur Hintertür führt.

Anders als erwartet laufen wir nicht sofort los, sondern bleiben stehen. Mutter umarmt mich und drückt mir einen hektischen Kuss auf die Stirn, der sich zu sehr nach Abschied anfühlt. »Das Buch, das ich dir gegeben habe. Verlier es nicht.«

»Aber …«, setze ich an. Die Stimmen werden immer lauter.

»Und vergiss nicht, was ich dir über das Schicksal beigebracht habe.«

Die vordere Tür fliegt mit einem lauten Knall auf. Die schweren Schritte auf dem Holz lassen mich zusammenzucken. So viele Menschen.

»Ich liebe dich, mein Schatz«, flüstert sie noch, bevor man meine Mutter von mir reißt. Ich kann die Geräusche nicht mehr zuordnen, das Klatschen, das Reißen und Zerren, die Schreie, all die Wut und die Angst … Alles, was ich weiß, ist, dass meine Mutter in Gefahr ist. Sie werden ihr wehtun.

»Du hast sie getötet«, erhebt sich schließlich eine Stimme aus dem Pulk. Ich erkenne sie sofort. Isak. Der Vater, dessen Kind heute das Licht der Welt erblicken sollte. »Du hast sie mit deinen Kräutern umgebracht.«

»Ich war das nicht.« Mutter weint, was mir nur noch mehr Angst einjagt. Sonst ist sie immer die Stärkere von uns beiden. »Bitte, Isak. Du kennst mich. Ich habe Thea wie eine Schwester geliebt.«

Mir wird klar, dass die Geburt nicht gut gelaufen ist. Das Kind und seine Mutter haben es nicht überstanden, und ihr Vater gibt meiner Mutter die Schuld daran.

---ENDE DER LESEPROBE---