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Gerade als Kleos Mehlos und Joanna Santow im Londoner Purcell Club beim High Tea sitzen und das Geheimnis von Santows Herkunft ergründen möchten, wird im Kaminzimmer nebenan Lord Alverstone ermordet. Doch wer hat einen Grund, den netten, alten Mann zu beseitigen? Und nun wird der Fall persönlich: Der Lord ist der Vater eines der besten Freunde von Mehlos aus seiner Zeit in Oxford. Mehlos und Santow ermitteln für ihn. Sie ahnen aber nicht, dass sich in Hintergrund etwas Ungeheuerliches entwickelt, das sie beide in den Abgrund reißen soll. Lord Alverstones Tod ist nur der Anfang. Die Einschläge kommen näher. Denn jemand aus Mehlos und Santows Vergangenheit möchte nicht noch einmal verlieren.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Hauke Schlüter
Ein Netz für die Spinne
ein Mehlos & Santow Krimi aus London
Ein London-Krimi
Inhalt
Prolog
Teil I
Purcell Club
King Arthur Room
Diana’s Room
Music for a while
Distressed Innocence
Indian Room
M40
The Gargoyle’s Goblet
Huntingdon Court
Alfie
Deirdre
Christ Church College
Alfies Büro, Oxford
Sir Percival
Harley Street
Soho Square
Northumberland Avenue
New Scotland Yard
Forensische Erkenntnisse
Teil II
Speakers’
Notfall
Hyde Park Agency
Datenraum
Datenspuren
Jamie …
Polizeieskorte
Einfahrt verboten
Voyxx Office, Soho
Belgrave Square
Westminster Bridge
Split Screen
Belgrave Square
Gefunden!
Teil III
Hush-Hush Haven
Laut!
Der Einsatz
Zugriff
Im Zimmer
Van
Der Ort
S
Skydeck
11:45 pm
WiFi
Mitternachtskonferenz
Pling!
Ground Floor
Nachwort
Prolog
Irgendwo in London, irgendwann
»Nehmen Sie die Brühe wieder mit«, sagte die Person, »sie steht schon viel zu lange hier.«
»Thank you!«, sagte der Kellner mit einer angedeuteten Verbeugung, nahm die Tasse aus altem Sèvre-Porzellan und brachte sie in die Küche zurück, aus der er sie vor etwa fünf Minuten geholt und an den Tisch gebracht hatte. Genau wie die zwei Tassen davor. Bei einem Tassenpreis von £80 pro Tasse Kopi Luwak waren jetzt weitere £240 auf der Rechnung. Zusammen mit den drei Flaschen Champagner, die er ebenfalls in einem Kühler gebracht, geöffnet und wieder abgeräumt hatte, war das eine Summe, die schon jetzt seinen Monatsverdienst überstieg. Er stellte die Tasse auf eine Anrichte in der Küche und sah seine Kollegin mit herunterhängenden Mundwinkeln und einem Achselzucken an. Diese nahm die Tasse und kippt sie ein paar Meter weiter in die Spüle. Es gab ein schleimiges Glucksen, als die braune Flüssigkeit schlangengleich im Abfluss verschwand. Niemand in der Küche durfte oder wollte diesen Kaffee trinken oder probieren, obwohl er nicht angerührt worden war. Für alle Angestellten im Restaurant war es einfach nur der Katzenkaffee. Spannungsloser Filterkaffee, gebrüht aus von Eingeborenen aufgesammelten Hinterlassenschaften irgendwelcher Dschungelkatzen, die Beeren fraßen, die sie nur halb verdauen konnten. Geschmacklos. Da halfen auch kein Bergamotte, Honig oder Waldbeeren. Aber diese Person schien besonders zu sein. Niemand, der auch nur einen Funken Stilgefühl hatte, kombinierte Schokolade mit Senf. Und sie mussten vorhin auch noch aufwendige französische Patisserie mit einem Glas Moutard servieren. Und schon wenige Minuten später wieder abräumen.
Die Person am Tisch kniff ihren Mund zusammen und klapperte mit den Zähnen. Nein, auch diese Idee war nichts. Viel zu einfach zu durchschauen. Vielleicht half ja eine Zigarre. Eine echte Havanna. Es war zumindest einen Versuch wert. Der Kellner wurde gerufen und bekam den Wunsch mitgeteilt. Er kam einen Moment später mit einem alten Humidor und einer Selektion aus den besten Anbaugebieten der Welt zurück. Die Person wählte eine Zigarre aus, deren Etikett ihr gefiel, und überließ dem Kellner das Anbrennritual.
Der Rauch würde niemanden stören. Die Person hatte dieses Zimmer in diesem sehr teuren, der Öffentlichkeit sehr unbekannten Restaurant für sich gemietet. Mit einem Blick aus zugekniffenen Augen, der besser und gefährlicher war als der, den Fidel Castro einem Verräter zugeworfen hätte, schickte sie den Kellner wieder weg. Sie warf sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann schob die Person die Zigarre mit ihrer Zunge in den Mundwinkel, biss fest darauf und paffte. Eine Wolke, zwei Wolken, drei Wolken. Bei der siebten kam ihr eine Idee. Nachdenklich nahm sie die Zigarre, drehte sie herum, sodass sie sich die Glut direkt ansehen konnte, und starrte wie hypnotisiert hinein. Sie presste die Zigarre leicht zusammen und rollte sie in ihren Fingern. Die Idee verdichtete sich. Gedankenverloren warf sie die Zigarre auf den Tisch, die langsam ausrollte und eine schwarze Aschenspur auf der weißen Leinendecke hinterließ. Die Person verschränkte erneut die Arme. Ja, so könnte das funktionieren. Nach ein paar Minuten war das, was sie tun musste, klar festgelegt. Sie griff ihre eigene Idee mit allen Waffen an, die ihr einfielen, und versuchte, sie zu vernichten. Aber sie hielt allen Schüssen Stand. Also schien sie richtig zu sein. Ziemlich richtig sogar. Gegenmaßnahmen fielen ihr ein. Und dann die Lösung, wie man ihnen begegnen konnte. Ein bisschen Schleifen, ein bisschen Polieren und die Idee wurde noch besser. Ja, das war es. Es schien nicht nur richtig zu sein, es war richtig. Die Person sah die Zigarre vor sich an und lächelte. Danke, Groucho. Es hatte sich gelohnt, sich hierher zurückzuziehen. Die drei Tassen hatten sich bezahlt gemacht, die Champagnerflaschen ebenfalls. Es war keine Verschwendung gewesen. Es waren Bausteine auf dem Weg zum Ziel. Zeit, endlich zu genießen. Mit einem warmen Lächeln sah die Person den Kellner an, den sie herbei geklingelt hatte. Sie strahlte, als sie noch eine Tasse vom selben Kaffee wie vorhin bestellte und dem Kellner auftrug, einen besonders seltenen Champagner zu servieren. Der deutete wieder eine Verbeugung an und war verwirrt. Ein völlig anderer Mensch schien nun hier am Tisch zu sitzen. Er ging hinaus.
»Monsieur«, rief es hinter ihm, als er die Türklinke schon in der Hand hatte. Er drehte sich um. Die Augen der Person leuchteten.
»Aber jetzt bitte mit dem Säbel köpfen.«
Teil I
Purcell Club
Der Purcell Club in der Pall Mall zeichnete sich durch seine Ausgefallenheit unter den Londoner Gentlemen’s Clubs aus. Seine Einzigartigkeit manifestierte sich in der Abkehr von konventionellen Kriterien für die Mitgliedschaft wie Herkunft, Vermögen oder gesellschaftlichen Beziehungen. Hier stand nicht die Kenntnis des Namensgebers und Barockkomponisten Henry Purcell oder die Liebe zu seiner Musik im Vordergrund. Vielmehr waren Offenheit, Originalität und ein respektvoller Umgang mit anderen die entscheidenden Faktoren für die Aufnahme.
Die Clubregel, sich unkompliziert an laufenden Gesprächen zu beteiligen und andere Mitglieder zu Beiträgen zu ermutigen, prägte eine Atmosphäre der freien Meinungsäußerung und Kreativität. Jeder Augenblick im Purcell Club war eine facettenreiche Reise durch individuelle Perspektiven und Ideen.
Trotz der scheinbaren Offenheit unterlag die Mitgliedschaft einem strengen Auswahlverfahren. Empfehlungen kamen von verschiedensten Quellen und Menschen, sei es bei geschäftlichen Treffen oder alltäglichen Begegnungen; sei es während einer Bahnfahrt oder im Supermarkt. Die Bereitschaft, sich den herausfordernden Prüfungen zu stellen, leitete einen höchst anspruchsvollen Aufnahmeprozess ein. Vom Singen am Piccadilly Circus, Halten einer Rede an der Speakers’ Corner, bei der niemand weglief bis hin zu zum Betreten des von Fans eines bestimmten Fußballklubs frequentierten Pubs im East End in einem Trikot der verhassten gegnerischen Mannschaft, laut geäußerter Kritik an der Auswahl der dort kredenzten Biere und anschließendem Sich-aus-dieser-Situation-wieder-Herausquatschen – die Herausforderungen waren vielfältig, originell und anspruchsvoll.
Die finale Entscheidung über die Mitgliedschaft erfolgte während des Blackballing, einer symbolträchtigen Zeremonie mit weißen und schwarzen Kugeln, durch eine Jury von zwölf Personen, die sich die Aufgaben ausgedacht und die Mitglieder bei der Ausführung begleitet hatten. Der alte Ledersack aus dem Nachlass von Henry Purcell wurde unter aller Augen geöffnet – und nur, wenn sich ausschließlich weiße Kugeln im Sack befanden, war die Bewerbung um die Mitgliedschaft erfolgreich.
Neue Mitglieder wurden unter den Klängen von Crown The Altar, Deck The Shrine gefeiert. Aber selbst diejenigen, die nicht erfolgreich waren und mit der Funeral Music for Queen Mary verabschiedet wurden, konnten stolz auf ihre Teilnahme an einer außergewöhnlichen Tradition sein.
Einer hatte es geschafft und eine andere eingeladen, mit der er gerade im Indian Queen Zimmer saß, das an der Schwelle zur Terrasse lag, auf der es heute ein wenig kalt und zugig war. Das Zimmer, das nach einer Oper von Purcell benannt war, hatte als dominierende Farbe ein verwaschenes Türkis. Die Möbel waren im Kolonialstil gehalten und an den Wänden hingen indische Motive von Gottheiten und Szenen aus der Zeit, als der Commonwealth noch Bedeutung hatte und der Einfluss der britischen Ostindien Company bedeutend war.
Der politischen Korrektheit halber war der 15. August 1947, der Tag der Unabhängigkeit Indiens vom britischen Empire, besonders inszeniert. Schwarz-weiße Fotos, Dokumente und Porträts von Politikern und Beteiligten machten klar, dass die Landkarten der Welt nun anders eingefärbt werden mussten.
Nahezu alle Tische im Indian Room waren belegt und der Geräuschpegel dementsprechend hoch. An den meisten saßen vier Personen, redeten und gestikuliert wild, nur an einem waren es zwei: Eine brünette Frau in einem eleganten braunen Kostüm mit beigefarbener Bluse und ein blonder Mann mit wirren Haaren in einem dunkelblauen Anzug mit Weste, von dem er gerade das Jackett ablegte, die Manschetten des weißen Hemdes aufknöpfte und die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufrollte. Er blickte hoch zum Kellner, als dieser an den Tisch kam.
»Wie immer, Sir?«, fragte Blake Bishop in der weißen Livree eines Obers aus der Ära der britischen Ostindien Company. Er trug einen dunkelroten Turban und versuchte, mehr oder weniger erfolgreich, seiner Aussprache eine indische Färbung zu geben.
»Blake«, sagte Mehlos, »wirklich bemerkenswert, wie Sie es verstehen, sich an das Thema unseres Zimmers anzupassen. Schon deswegen haben Sie das Zeug zum Premierminister.«
Blake Bishop war ein Clubmitglied wie alle anderen, hatte aber seinen Spaß daran, an manchen Tagen in die Rolle des indischen Lakaien zu schlüpfen, die er gerade mit Hingabe ausfüllte. In diesen Momenten konnte ihn nichts davon abbringen, nicht der Banker zu sein, der eigentlich war und seinen starken Akzent aus Yorkshire zu sprechen, der in der City stets Anlass zu Parodien war.
»Sorry, Sir!«, sagte er mit treuherzigem Augenaufschlag, »nicht Blake, nicht Bishop. Mein Name Dinesh. Ist Herr der Sonne in Ihrer Sprache, Sir.«
Mehlos nickte verständnisvoll. Er hatte für einen Moment vergessen, wie ernst Blake seine Rolle nahm.
»Verzeihung, Dinesh, natürlich. Dann soll es so wie immer sein. Wir werden uns Traditionen oder Wünschen eines Angestellten der Ostindien Company selbstverständlich nicht widersetzen. Es sei denn, Joanna Santow ist anderer Meinung und möchte etwas anderes. Diese Impulse wären dann natürlich stärker für mich.«
Mehlos sah Santow an. »Zweimal High Tea ist Ihnen doch sicher recht, Santow, dazu Earl Grey, jede Menge Scones, Clotted Cream und ein paar Gurkensandwichs. Es gibt wirklich keine besseren als hier. Aber das wissen Sie ja.«
Ich bin einverstanden. Der High Tea im Purcell Club ist wirklich etwas Besonderes, Joanna Santow bewegte nur ihre Hände.
Sie war gehörlos und verständigte sich mit Gebärden und Lippenlesen. Wie Mehlos’ Tante Mouse. Deswegen verstanden sich beide, denn auch Mehlos beherrschte die Gebärdensprache.
Außer das mit jede Menge Scones. Die sind dann wohl nur für Sie. Passen Sie nur auf, dass nicht irgendwann einmal das Bäuchlein so spannt, wie bei den Teletubbies.
»Fantastisch, Dinesh, dann sind wir im Geschäft«, sagte Mehlos und lächelte Blake Bishop an. Der verbeugte sich und ging an den anderen Tischen vorbei zur Küche, nicht ohne kurz von Clubmitgliedern in Gespräche verwickelt und gefragt zu werden, ob man denn auch in Indien nur wenige hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt nach Norden einen so interessanten Akzent sprechen würde, wie in Yorkshire. Aber alle bissen sich an Dinesh und seinen nur rudimentären englischen Sprachkenntnissen heute die Zähne aus.
Ich bekomme immer gute Laune, wenn ich hier bin, zeigte Santowund lächelte Mehlos an, wie haben Sie es eigentlich geschafft, hier Mitglied zu werden? Sie sind doch eher zurückhaltend …
»Oh, bei mir war das eigentlich der Klassiker, ich bin angesprochen worden. Von einer Dame. Meine Mutter hatte mich eigentlich vor einer solchen Situation immer gewarnt. Es war vielleicht vor 10, 12 Jahren in der Tube. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich mein Ticket verloren. Ich vermute, es ist mir aus der Tasche gefallen, als ich einem der Busker ein paar Münzen gegeben habe, die ich, wie Sie wissen, lose in der Tasche trage. Ausgerechnet an diesem Tag wurde ich kontrolliert. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Es war in der Piccadilly Line zwischen Covent Garden und Holborn. Zwei Kontrolleure. Und jeder von denen sah so aus, als käme er gerade von sieben Jahren Einzelhaft.«
Nein!, Santow spielte Entsetzen und hielt sich die Fäuste vor den geöffneten Mund.
»Leider doch. Wie Sie wissen, gibt es nur drei Menschentypen, bei denen das Wort Kompromiss nicht im Vokabular vorkommt: russische Auftragskiller, albanische Organhändler und ebendiese Kontrolleure in der Tube. Vielleicht noch Londoner Politessen, wenn Sie falsch geparkt haben. Aber ich war, wie gesagt, mit der Tube unterwegs.«
Ich habe eine Vorstellung. Wie ging es weiter?
»Na ja, ich konnte auf die freundliche Anfrage hin kein Ticket vorweisen. Na ja, freundlich ist vielleicht ein wenig übertrieben. Es war ein wenig später am Tag und die Armen waren bestimmt schon übermüdet.«
Weiter!
»Meine Ausrede – das oben mit dem Busker und dem Kleingeld – konnte ich mir sparen. Diese Menschen hatten offensichtlich schon alles gehört. Vielleicht bekommen Sie auch Prämien für jeden, den sie erwischen und sind dementsprechend stumpf. Es folgte die Bitte um Ausweis und das ganze Programm. Oder Zahlen direkt vor Ort. Aber Geld habe ich ja so gut wie gar nicht bei mir. Und meine Kreditkarte wollte ich ihnen nicht geben.«
Santow runzelte ihre Stirn und sah Mehlos an.
Unsinn, Mehlos – Sie haben das Ganze als Sport gesehen und wollten so elegant wie möglich davonkommen oder einfach sehen, wie Sie mit dieser Situation fertig werden. Ohne Geld.
»Vielleicht haben Sie recht«, Mehlos nickte ertappt.
Wie haben Sie sich da rausgequatscht?
»Oh, da hatte ich wirklich Mühe. Mitleid zog nicht. Drohen genauso wenig. Ist denen doch egal, ob ich den Chef von London Transport, den Premierminister oder Robbie Williams persönlich kenne.«
Tun Sie das denn?
»Ja. Aber ich sage jetzt nicht, woher. Auch Spielen auf Zeit und Warten auf die nächste Station, an der sich die Türen öffnen und ich verschwinden konnte, waren keine Option.«
Sondern?
»Die gute alte Manipulation. Genauer gesagt, eine Kombination aus Autorität, persönlicher Nähe und Erfüllen von dem, was die beiden sich am sehnlichsten wünschten.«
Und das war?
»Na ja, der eine trug ein Armband mit Glückssteinen. Sie wissen, diese Sternzeichen-Steine oder Emotionssteine oder irgendwie sowas. Können Sie in Esoterik-Shops für viel Geld kaufen. Sowas macht aber kein Mann, der aussieht wie ein Wrestler, dessen Verein gerade verloren hat. Das hatte ihm seine Frau oder Freundin geschenkt. Er hat es angenommen und trägt es, damit er Ruhe hat. Der andere hatte am Hals, in der Nähe des Ohrs, den Namen einer Frau eintätowiert. Dort, wo die Küsse landen, stand Chloé. Top-Name für Mädchen aus den Neunzigern. Hat vom Alter auch gepasst, beide Kontrolleure waren in ihren Dreißigern. Tattoo war auch relativ frisch, könnte dafür gesprochen haben, dass es eine noch junge Beziehung war. Auf jeden Fall eine innige.«
Kommt in etwa hin.
»Wir haben also zwei kräftige und finster dreinschauende Kontrolleure, die beide eine Schwäche haben: ihre Mädels. Mein Ziel war, ohne Peinlichkeiten und ohne Strafticket aus der Situation herauszukommen. London Transport ist schon reich genug und bietet einen lausigen Service. Also habe ich den beiden eine Karte von Fionas Restaurant The Quinge gegeben, von der ich wusste, dass ich sie bei mir hatte, und sie zu viert auf meine Kosten dorthin eingeladen. Das würde sowohl für die Vier als auch für Fiona und die anderen Gäste eine interessante Erfahrung werden, dachte ich mir. Aber gleichzeitig habe ich auch etwas Gutes getan. Als Business Buzzword, was übrigens selbst eins ist, fällt mir gerade auf, können Sie hier von win-win sprechen.«
Und die haben die Karte akzeptiert, die Sie auch irgendwo gefunden haben konnten?
»Ich war wohl glaubwürdig und überzeugend, denn nur ein paar Minuten später hat mich eine ältere Dame angesprochen, die nebendran saß und alles mit angehört hatte, und mich auf den Purcell Club aufmerksam gemacht. Ob ich nicht Mitglied werden wollte. Eine Prüfung hätte ich ja schon bestanden. Ich hab mich nur zu gerne darauf eingelassen. Und hier bin ich. Und Sie auch, Santow.«
Verstehe …
»Wenn man sich zwischen zwei eher negativen Dingen entscheiden muss – die Anzeige, Peinlichkeit und die Strafzahlung auf der einen Seite und eine ziemlich teure Restaurant-Rechnung auf der anderen Seite – sollte man nicht das wählen, was möglichst wenig Gesamtschaden anrichtet, sondern das, was mehr Spaß verspricht.«
Nein, Mehlos, meistens ist es genau umgekehrt …, zeigte Santow mit ernstem Gesicht.
Inzwischen war Dinesh–Blake an ihren Tisch herangetreten und baute die dreistöckige Etagere mit kleinen, zu Dreiecken geschnittenen Sandwiches, belegt mit Lachs oder Gurken, verschiedenen Pies mit Schokolade, einem Korb mit Scones, der dazugehörigen Schale mit Clotted Cream und schönem, altem Silberbesteck mit Clubgravur. Es folgten noch zwei Gläser mit Champagner, die er mehr oder weniger geschickt aus einer Flasche befüllte, die er von einem Beiwagen nahm, sich dann etwas linkisch verbeugte und dem nächsten Tisch seine Aufmerksamkeit schenkte, dessen Gäste schon mit offen zur Schau gestellter und gespielter Ungeduld auf ihn warteten, einen leeren Stuhl heranzogen und Blake baten, sich doch zu setzen und an ihrem Gespräch teilzunehmen.
»Genießen Sie es, Santow«, sagte Mehlos, erhob sein Glas und Santow tat es ihm gleich. »Wir haben hier einen Zweiertisch, was in diesem Club sehr selten ist, also lassen Sie uns die Gunst der Stunde nutzen, bei dieser wundervollen Teatime, private Dinge austauschen.«
Santow stieß mit Mehlos an. Dann zeigte sie:
Ich vermute, es ist unser altes Thema. Oder mein altes Thema.
Santow meinte das Geheimnis ihrer Herkunft. Sie konnte sich nur noch an eine Explosion erinnern, als sie drei Jahre alt war. Dann wachte sie in einem Hotelzimmer in Brighton auf. Alleine, nur mit ihrem Namen, geschrieben auf einem Zettel, der neben ihr im Bett lag. Sie wurde von den beiden Besitzerinnen des Hotels erzogen, die miteinander verheiratet waren, ohne ein lesbisches Paar zu sein. Ihre mothers. Im Gästebuch war an diesem Tag ein Admiral von Morwi eingetragen, zu dem Mehlos herausfand, dass es ein Anagramm von Wladimir Romanov war. Außerdem hatte er ihr dargelegt, dass nach seinen Recherchen, die Santow nicht unbedingt guthieß, da sie von ihnen völlig überrascht wurde, Admiral von Morwi eine Frau war. Hatte Mehlos nun etwas Neues herausgefunden?
Haben Sie etwas Neues herausgefunden?
»O nein, ganz sicher nicht. Ich verspreche es Ihnen! Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal. Alles, was wir oder ich in dieser Hinsicht unternehmen, besprechen wir vorher miteinander. Vielleicht auch das, was Sie vorhaben, ich würde mich geehrt fühlen.«
Ich habe nichts vor, zeigte Santow.
»Das ist gut, vielleicht kommen wir hier und jetzt auf eine Idee. Fangen Sie doch bitte schon mit der Etagere an, dann kann ich mir endlich etwas von diesem Schokoladenkuchen schnappen. Darf ich Ihnen vom Tee eingießen?«
Santow hielt Mehlos ihre Tasse hin.
Was schlagen Sie vor, Mehlos?
»Nun, vielleicht ist es die beste Idee, wenn wir uns ein wenig mit den Romanovs beschäftigen. Natürlich etwas historisch, aber auch mit allen möglichen Nachkommen in Bezug auf die betreffende Zeit in Brighton. Vielleicht kommen wir auch in die Verlegenheit, eine Reise machen zu müssen. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, Santow, als mit Ihnen einmal zu verreisen. Wir können natürlich auch das Internet zum Recherchieren, Google, Instagram oder Voyxx, oder was immer ihr jungen Leute da nutzt.«
Voyxx war ein relativ neues Social-Media-Netzwerk, das sich gerade weltweit sehr erfolgreich etablierte und in die Lücke sprang, die sich nach Twitter und mit X auftat. Außerdem konnte man hier sehr gut Fragen stellen, die andere beantworteten.
»Aber ich glaube, Francis hat über das Außenministerium und unser ganzes Familienunternehmen Zugang zu allen möglichen Kreisen der Gesellschaft. Das ist sicherlich vielversprechender und zudem persönlicher. Hier sind noch viele analog.«
Francis war Mehlos Bruder, der ihr Family-Office leitete.
Alles gut mit Francis?, fragte Santow.
»Die letzte Geschichte mit dem Nichts hat Wunder gewirkt. Wir sind wieder Family. Vielen Dank, dass Sie fragen, Santow«, sagte Mehlos.
Das freut mich sehr!
Zwei Gläser erklangen. Mehlos sah aus den Augenwinkeln, jemanden auf sie zusteuern.
»Hallo und guten Nachmittag, Thomas!« Mehlos stand auf.
An ihren Tisch war ein Mann getreten, etwa 30, mit heller Hose und einem dazu passenden Jackett im Safari-Look. Die kurzen, dunklen Haare, waren exakt gescheitelt und gaben mit dem gestutzten Schnauzbart seinem Auftreten etwas Militärisches aus der Ostindien-Zeit des Empires. Insofern passt er hervorragend in das Ambiente.
Mehlos stellte ihn Santow vor.
»Santow, das ist Thomas Grady. Für seine Feinde, Sir Thomas Grady. Wir waren zusammen in Eton, später dann in Oxford. Thomas hat seine Berufung darin gefunden, Menschen mit Messern aufzuschneiden, dann irgendetwas mit ihnen zu machen, und sie schließlich wieder zuzunähen. Fragen Sie mich bitte nichts Genaueres, Santow, ich könnte es Ihnen ohnehin nicht beantworten. Jetzt ist er bei Ärzte ohne Grenzen und auf der ganzen Welt unterwegs, wenn er seine Einsätze nicht von Genf aus koordiniert. Für sein Engagement hat ihm die Queen noch im letzten Jahr ihrer Regentschaft die Ritterwürde verliehen. Man könnte wirklich sagen, aus ihm ist etwas geworden, wenn er nicht so obskure Freunde wie mich hätte. Thomas, schön, dass du mal wieder hier in London bist. Das ist Joanna Santow, meine Partnerin aus der Hyde Park Agency. Ich habe ja schon von ihr erzählt.«
Thomas bedachte Santow mit einem angedeuteten Handkuss.
»Freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, Joanna Santow«, sagte Grady und ließ damit offen, wie er sie anreden sollte.
Freut mich ebenfalls, Thomas Grady!, sagte Santow und Mehlos übersetzte. Möchten Sie nicht Platz nehmen? Er war überrascht, wie schnell Santow die Club-Philosophie verstanden und angewandt hatte.
Thomas sah sich im Indian Room nach einem Stuhl um. Sein Blick blieb dabei an einer Vierergruppe am Nebentisch hängen, an dem eine Frau in grauer Hose, schwarzem Rollkragenpullover mit blonden Haaren und Pferdeschwanz saß, die er entweder dem Architekten- oder Fotografen–Milieu zugeordnet hätte, und die anderen Gäste wild gestikulierend offensichtlich blendend unterhielt. Dann sah er einen leeren Stuhl, holte ihn und setzte sich zu Mehlos und Santow.
Ein bisschen hat mir Mehlos von seiner Zeit in Eton und Oxford erzählt, zeigte Santow, an Ihren Namen kann ich mich erinnern, und auch der Name Alfie fiel häufig. Und Geoffrey Purdey natürlich, den ich schon kennengelernt habe.
»Klar, Geoff«, sagte Mehlos, »das ist ja auch mein Familien-Anwalt. Unser, also jetzt Francis und meiner.«
»Alfie ist The Honorable Alfred William Merlin, zukünftiger Lord Alverstone, wenn er den Titel von seinem Vater erbt. Der ist übrigens auch hier im Purcell Mitglied. Alfie haben wir nie so recht davon begeistern können. Er ist sehr introvertiert. Aber das muss man in seinem Fach wohl auch sein«, sagte Grady.
Was ist denn sein Fach?
»Oh«, sagte Mehlos, »er ist der Gründer von Voyxx. Allerdings unter einem anderen Namen, der mehr amerikanisch klingt. Jason Loft. Ich glaube, er ist der Einzige, der einen Künstlernamen für einen Job in der Wirtschaft erfunden hat. Und er hat so seine Ruhe vor dem Ruhm. Alfie war noch nie für die Öffentlichkeit geeignet. Hat schon zu unserer Studienzeit an seinem Social Network herumgebastelt, wie Zuckerberg an Facebook. Das war auch der Grund, warum er zu vielen Veranstaltungen nicht gekommen ist. Letztendlich aber richtig investierte Zeit, wie wir alle wissen.«
»Your Voyxx Is Your Power«, zitierte Grady den bekanntesten der Slogans, die alle mit der phonetischen Ähnlichkeit von Voyxx und »Voice« spielten.
Euer Freund Alfie ist Jason Loft!?, zeigte Santow, DER Jason Loft, der keine Interviews gibt und von dem keiner weiß, wie er aussieht? Oder ob es ihn überhaupt gibt?
Mehlos und Grady nickten.
Oh!
Santow zog beide Augenbrauen hoch und schien beeindruckt.
Er ist eine britische oder amerikanische Legende, wie man es nimmt.
»Und wirklich äußerst introvertiert, das können wir beide Ihnen versichern, Santow«, sagte Mehlos, »was sich aber im Nachhinein als glückliche Marketingkampagne gezeigt hat. Das Geheimnisvolle verkauft sich gut. Und er hat ja seine Pressesprecherin, die ihm öffentliche Auftritte abnimmt«, Mehlos zeigte mit dem Kopf ein paar Tische weiter, an dem die blonde Frau mit Pferdeschwanz und schwarzem Rollkragenpullover immer noch herumfuchtelte und die anderen zum Lachen brachte.
»Madison O’Bryan«, sagte Thomas Grady, »Amerikanerin, wie es sich für ein großes und erfolgreiches Social Network gehört. Meines Wissens aus New York. Wegen ihrer Initialen sagen alle meistens Mo zu ihr.«
»Dort haben sie sogar schon eine Avenue nach ihr benannt«, sagte Mehlos.
Ich hätte 1.000 Fragen an sie, zeigte die digitalbegeisterte Santow.
»Nur zu«, Santow«, sagte Mehlos. »Wir sind im Purcell Club. Sprechen Sie sie einfach an. Können wir gerne zusammen machen.«
Santow merkte sich das und trank eine Tasse Tee, während Mehlos schnell zu den Schokoladen-Pies griff. Santow sah es und plusterte ihre Backen auf. Dick! Mehlos legte es schnell wieder zurück auf die Etagere und schob sie in Richtung Grady.
»Kennst du sie, Tom?«, sagte Mehlos.
»Ich habe etwa vor einem dreiviertel Jahr oder so Alfie zu Hause in Oxford besucht, da war sie auch da. Wir haben das Dinner zusammen mit Alfies Dad und Deirdre, Alfies Schwester, eingenommen«, sagte er erklärend zu Santow, »einer sehr originellen und witzigen Person. Zudem schlau. Die richtige Besetzung für diesen Posten. Mo, meine ich.«
»Ja. Sehr gut«, sagte Mehlos und schien erleichtert, als er sah, dass Santow ihn beobachtete. Er fügte hinzu: »Ich bin froh, dass Alfie eine so perfekte Unterstützung hat. Er ist, wie gesagt, nicht der Kommunikativste. Aber ein guter Freund.«
»Der Beste«, sagte Thomas Grady.
Drei Musketiere. Einer für alle, alle für einen. Die zusammen groß geworden sind und aus denen aller was Tolles geworden ist. Außer aus diesem hier, zeigte Santow mit einem Blick auf Mehlos. Der schüttelte den Kopf.
»Santow, niemand hat erwartet, dass Sie sich so schnell den Club-Gepflogenheiten hier anpassen …«.
* * *
Die tiefstehende Sonne schien von der Terrasse aus in den Indian Room hinein und erzeugte vor allem in manchen der älteren Clubmitgliedern das Gefühl, in der guten, alten, Kolonialzeit, irgendwo zwischen Madras und Lahore, auf einer Darjeeling-Farm zu sitzen.
Ein paar Tische von Mehlos, Santow und Grady entfernt saß eine Gruppe aus älteren und jüngeren Frauen und Männern, die gebannt dem mit starkem amerikanischen Akzent untermalten Gefuchtel von Madison O›Brien lauschten. Die zumeist aus Briten bestehenden Clubmitglieder fanden es sehr spannend und vor allem unterhaltsam, auf die Sprachunterschiede zwischen beiden Nationen einzugehen.
»Das Erste, was wir Amerikaner bei einer Pressekonferenz oder so zum Publikum sagen, ist natürlich: Guten Tag allerseits! Ich hoffe, ihr hattet einen tollen Tag«, sagte Madison. »Dann müsst ihr sagen: Hey! Ja, es war echt super. Wie war dein Tag?«
Ein Londoner antwortete ihr:
»Guten Nachmittag. Er war absolut brillant, danke. Nur ein bisschen nass, typisch britisches Wetter eben.«
»Ah, das typische nass und brillant. Verstehe. In Amerika sagen wir awesome, und der Regen ist eher eine Überraschung«, sagte Madison.
Hamish, ein Pizzadienst-Lieferant mit schottischen Wurzeln, warf ein:
»Stimmt, awesome ist euer Allzweck-Adjektiv. Wie war deine Anreise hierher? Auch awesome?«
»Oh, sie war in Ordnung, außer dass ich mich in der Tube verlaufen und bei einer Station verfahren habe. Bei uns wäre es in der Subway gewesen.«
»Ja, genau«, sagte Hamish. »Aber verlaufen in der U-Bahn? Das ist in London doch normal, oder?«
»Richtig, aber bei uns in den Staaten verlaufen sich nicht mal die Ratten, denn die haben Smartphones«, sagte Madison.
Alle lachen.
»Das erinnert mich an etwas«, fuhr Madison fuchtelnd fort. ich habe neulich versucht, jemandem Chips zu erklären. Für mich sind das Snacks, aber hier denken alle gleich an Pommes frites mit ganz fiesem Essig. Puh!«
»O ja, Pommes frites sind hier Chips, nicht Fries wie bei euch. Aber was sind für dich Chips?«, fragte eine Dame aus Hull.
»Nun, das sind für uns knusprige Kartoffelscheiben, liebevoll gewürzt und in einer Tüte. Aber für euch Briten sind das Crisps.
»Okay, jetzt bin ich verwirrt. Aber ich liebe Crisps, ähm, Chips«, sagte ein Jüngerer aus dem East End in reinstem Cockney.
»Verständlich. Übrigens, wie nennt ihr diese Getränke hier?«, fragte Madison und zeigte auf den Tisch mit Limonade. »Bei uns ist es Soda. Heißt es hier Pop?«
»Nein«, sagte die Dame aus Hull, »wir nennen es FizzyDrink. Weil Bubbles drin sind. Aber ich mag Soda irgendwie mehr.«
Alle lachten erneut.
Dann fragte Hamish:
»Und du hast Jason Loft wirklich schon einmal gesehen?«
»Gibt es den tatsächlich?«, wollte die Dame aus Hull wissen.
Madison nickte.
»Sure. Er möchte nur bei der Kommunikation von Voyxx keine große Rolle spielen. Ihm ist es wichtig, dass unser Netzwerk im Vordergrund steht, nicht eine einzige Person. Klar, er hat das Unternehmen gegründet, aufgebaut, und international etabliert, aber so ist es auch viel einfacher, irgendwann einmal das Unternehmen in fähige Hände zu übergeben. Bei Apple haben sie alle auf Steve Jobs geschaut. Der Aktienkurs ging runter, als er verstarb. Nicht, dass Jason mit seinem Tod rechnet, aber irgendwann wird er dem Unternehmen sicherlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Und dann ist es wichtig, dass man sich nicht auf seine Person fokussiert, sondern auf die Leistungen unseres Netzwerkes.«
Die Zuhörer nickten.
»Wie ist der denn so?«, fragte der Junge mit dem Cockney Akzent.
Madison überlegte einen Moment. Dann griff sie zu ihrem Soda. Oder war es ein Fizzy Drink?
»Wir haben es uns zur Auflage gemacht, dass wir keine Informationen zu seiner Person herausgeben. In der Öffentlichkeit nicht, in Pressemitteilungen nicht. Und ich musste unterschreiben, dass ich das auch nicht im privaten Kreis tue. So sorry. Hoffe, ihr versteht. Aber ich kann euch eins versichern …«, Madison machte eine Pause und sah jedem in der Runde intensiv in die Augen,
»… er ist völlig normal.«
* * *
In der Zwischenzeit hatte sich Dinesh wieder in Blake Bishop zurückverwandelt, saß in einem dunkelblauen Anzug an einem Tisch und unterhielt sich mit anderen Clubmitgliedern.
Seinen Job hatte inzwischen Charu übernommen, die fest im Club angestellt war und tatsächlich aus Indien kam. Gerade räumte sie die Etagere ab, von der sich Mehlos schnell noch zwei der Schokoladen-Pies gesichert hatte, und brachte frischen Earl Grey, für den sich auch Thomas Grady entschieden hatte. Charu hatte viel tun, der Indian Room war bis auf den letzten Stuhl besetzt. Draußen war es mittlerweile dunkel und ein paar der Mitglieder hatten sich Gartenstühle von der Terrasse in den Durchgang hineingezogen, saßen dort und unterhielten sich angeregt, wie es im Club üblich war. Gelegentlich brandete Lachen auf, das manchmal minutenlang anhielt, zwischendrin hörte man das metallische Kling!, wenn ein Löffel auf eine Untertasse gelegt wurde. Im Zimmer selbst verbreiteten Stehlampen mit elfenbeinfarbenen Schirmen ein warmes Licht im Raum.
Plötzlich ging dieses Licht aus. Es blieb ein paar Sekunden dunkel und alle Gespräche verstummten. Dann flammte es wieder auf und aus den Tiefen des Hauses erschien Clubmanager John Garreth. Wie immer im Maßanzug von Huntsman. Eine kantige, dunkle Silhouette im hellen Türrahmen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
Garreth wartete einen Moment und sah sich im Indian Room um, in dem an einigen Tischen wieder Unterhaltungen entstanden. Er hob die Hände. Jetzt verstummten alle und manche hielten sogar unbewusst die Luft an. John Garreth faltete die Hände zu einem Dreieck und hielt die Finger an den Mund. Dann schloss er für einen Moment die Augen und als er sie wieder öffnete, war die Gesellschaft für ihn zu einem Standbild geworden. Niemand bewegte sich. Dann sagte er leise:
»Wir haben einen Todesfall. Im Kaminzimmer ist soeben unser Freund Lord Veland Birch Alfred Alverstone entschlafen.«
King Arthur Room
Der erste Blick, der sich von John Garreth löste, war der, den Mehlos Santow zuwarf. Sie blickte sofort aus den Augenwinkeln zurück. Hören wir erst mal zu, lag unausgesprochen darin.
Auch an den anderen Tischen sah man sich gegenseitig an, bevor alle wieder zum Clubmanager blickten, um mehr zu erfahren. Rein intuitiv nutzte Mehlos den Moment, um jede und jeden anzusehen, ob diese Nachricht beim jeweiligen Mimikinhaber etwa keine Überraschung auslösen würde.
»Beobachten Sie die Gesichter«, sprach er tonlos nur mit den Lippen zu Santow, die es aber schon längst tat, »Garreth ist jetzt der uninteressanteste Mensch in diesem Raum.«
Alle Blicke, außer zwei, wendeten sich wieder John Garreth zu, als dieser fortfuhr.
»Es tut mir unendlich leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Veland nicht mehr lebt. Er war heute Mittag in guter Verfassung hier angekommen, so wie wir ihn alle kennen, und ist dann gleich zu seinem Lieblingsplatz im Kaminzimmer gegangen. Offensichtlich ist er dort für immer eingeschlafen. Sobald wir es bemerkt haben, haben wir 999 angerufen. Die Notärztin konnte aber nur noch seinen Tod feststellen. Die Polizei ist ebenfalls informiert und hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass Sie bis zu ihrer Genehmigung den Club bitte nicht verlassen sollen. Ich habe mit Chief Inspector Susan Holroyd und Inspector Gregory Treadles ausgemacht, dass wir Veland ein letztes Mal sehen und von ihm Abschied nehmen können, so wie wir ihn kannten. In seinem Lieblingssessel«, John Garreth wischte sich kurz mit dem Finger durch einen Augenwinkel. »Wir dürfen jetzt kurz hineingehen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass es wirklich nur für einen kurzen Moment gestattet ist. Ich werde unseren letzten Besuch bei ihm jetzt leiten.«
Garreth trat einen Schritt hinter die Tür und machte eine einladende Geste in Richtung Gang. Aber niemand stand auf. Alle schienen zu überlegen, was eine angemessene Reaktion in dieser Situation sein würde.
Dann stand Mehlos zuerst auf und nickte Santow und Thomas Grady an seinem Tisch zu. Grady und er zogen gleichzeitig ihr Telefon aus der Jacke. Mit einer Handbewegung ließ Grady Mehlos den Vortritt. Der wählte Alfies Nummer, aber erreichte nur die Mailbox und sprach eine kurze Nachricht aufs Band.
»Kommt, lasst uns die Ersten bei Veland sein, auch im Namen von Alfie …«
Santow sah ihn vielsagend an. Beide standen auf und folgten Mehlos, der zu John Garreth ging und sich im Raum umsah. Santow wusste, dass er das ganz sicher nicht aus Verlegenheit tat.
Mehlos blickte Garreth an, der ihm zunickte und dann in Richtung Kaminzimmer vorausging.
* * *
Das Kaminzimmer, oder auch der King Arthur Room, war mit Sicherheit der heimeligste und stillste im gesamten Purcell Club. Für gewöhnlich war das einzige Geräusch, das man erst bei genauem Hinhören vernehmen konnte, das Knistern und Knacken der brennenden Äste im Kamin und das gelegentliche dumpf klingende Hinunterfallen eines Scheites, wenn die unter ihm liegenden von der Glut verzehrt worden waren.
Das Zimmer hatte nur ein einziges Fenster, das von langen, schweren Vorhängen in einem sehr dunklen Rot verdeckt wurde. Leuchter mit gelben Stoffschirmen hingen an den holzgetäfelten Wänden und verbreiteten gedämpftes Licht im Raum. An der Tür der gegenüberliegenden Wand stand ein riesiger Kamin mit einem Sims aus dunkelgrünem Marmor. Dort standen eine alte Uhr aus Porzellan und Messing sowie ein Foto in Schwarzweiß, das die fünf Gründer des Purcell Clubs zeigte, zu denen auch Lord Alverstone gehört hatte. Auf dem Parkettboden lagen große Orientteppiche, teilweise abgewetzt, teilweise besser erhalten; darauf standen einzelne mit schwarzem Leder überzogene Chesterfield-Sessel mit hoher Lehne. Neben jedem befanden sich verschiedene runde Holztischchen aus Mahagoni, Kirsche oder Nussbaum. Alle waren mit Intarsien verziert, die Oberflächen verschrammt, wie es sich, nach vielen Jahrzehnten Dauerkontakts mit Flaschen edelsten Inhalts aus schottischen Destillerien in Moornähe und den korrespondierenden Gläsern, auch gehörte.
Dem Kamin am nächsten stand ein Sessel, der leicht gedreht war und auf den darin Sitzenden eine Dreiviertel-Ansicht bot. Wer ihn kannte, und das waren hier fast alle, wusste, dass es der Körper von Lord Alverstone war. Lord, netter alter Mann, Vater, einer der Gründer des Purcell Clubs, Verehrer von Single Malt und Zigarren. Ehemaliger englischer Meister im Cricket, Sammler von Antiquitäten, Inhaber eines der größten Privatvermögen Englands und großer Freund der Jagd, Hunden und der damit einhergehenden Fertigkeit im Umgang mit Schusswaffen aller Art. Ehemann einer walisischen Frau, die schon vor etlichen Jahren einem Krebsleiden erlegen war und der sich danach mit wechselnden Beziehungen zu seinen weiblichen Hausangestellten oder ihren Schwestern, darüber hinwegtröstete und die es aber trotz hohem, körperlichem Einsatz niemals geschafft hatten, in den Rang einer Lady Alverstone aufzusteigen.
Der Lord, den es jetzt nicht mehr gab, hatte die Augen geschlossen und die Hände in seinem Schoß gefaltet. So, als sei er tatsächlich eingeschlafen.
Er trug einen schweren grauen Dreiteiler mit Glencheck-Muster und eine braune Krawatte zum weißen Hemd. Neben ihm auf dem Tisch standen noch eine Flasche, wahrscheinlich mit Single Malt, eine Karaffe mit Wasser, dann neben zwei Gläser, eines davon mit Wasser gefüllt und ein Aschenbecher, in dem eine etwa zu einem Drittel gerauchte Zigarre lag. Ein halb angebrannter Fidibus aus Zedernholz und zwei Streichhölzer lagen ebenfalls darin. Neben dem gelben Aschenbecher, einem antiken Porzellanobjekt mit Cricket-Motiven, stand noch ein kleiner Sprayer, bei dem die weiße Kappe abgezogen war und daneben lag.
Gegenüber standen zwei weitere schwarze Chesterfield-Sessel. In dem einen erkannte Mehlos Chief Inspector Susan Holroyd, etwa Mitte 40 und blond, die er schon bei zwei Fällen kennengelernt hatte. In dem anderen saß ein etwas beleibter Mann, vielleicht Anfang 40, in einem Anzug, der selbst in den achtziger Jahren aufgrund des Überschnitts seiner Schultern Aufmerksamkeit erregt hätte. Der Mann hatte eine Glatze und es schien ihm sichtlich unangenehm zu sein, in einem Club wie diesem, nur einfach dazusitzen und nicht direkt zur direkten Lösung des Falles beitragen zu können. Mehlos erkannte dies an seinem unruhigen Zeigefinger, der permanent auf den Daumen tippte. Er war sich sicher, dass, wenn man den Finger ergreifen und festhalten würde, sofort ein anderer Teil des Körpers zu wackeln beginnen würde.
Das musste Inspector Gregory Treadles sein, den John Garreth angekündigt hatte. Der hatte sich gerade neben den Sessel von Lord Alverstone gestellt und sah an der Reihe der Clubmitglieder entlang, die ihrem Freund die letzte Ehre erweisen wollten und die mit Mehlos begann.
Er lächelte Susan Holroyd an, nickte und hatte für einen Moment den Eindruck, dass ihre Augen Richtung Decke rollten.
Das hier haben Sie sich doch alles ausgedacht, oder? schien Mehlos Blick zu sagen, denn bei ihm war der Eindruck einer Inszenierung entstanden, es war doch alles ganz anders.
Gehen Sie schon weiter, schien der Blick der Chief Inspector zu bedeuten, ich brauche hier keine Besserwisser.
Mehlos machte ein neutrales Gesicht und stellte sich neben den toten Lord. Das letzte Mal, dass er ihn gesehen hatte, war vor ein paar Tagen hier im Club gewesen. Da hatte er im Wesentlichen genauso ausgesehen. Sie hatten sich kurz über die Situation in Israel ausgetauscht, bevor sie zu den, von ihnen empfundenen, aktuellen Versäumnissen der britischen Regierung in Fragen zu so ziemlich allem, übergingen. Der Lord war nach Mehlos’ Meinung einer der besten Gesprächspartner, die er kannte. Er war witzig, hatte eine äußerst umfangreiche Bildung und wusste auf jede noch so absurde Bemerkung noch eine obendrauf zu setzen. Auch mit seinen fast 90 Jahren hatte er einen scharfen Verstand und konnte bei Themen mitreden, die man eigentlich den Interessen weitaus jüngerer Generationen zuordnete. Mehlos sah ihn sich genauer an. Die leichte Rötung seiner Wangen war Mehlos Meinung nach sicherlich darauf zurückzuführen, dass Alverstone Vorschläge zu einem gemeinsamen Glas, besonders wenn der Inhalt aus Schottland kam, selten eine Absage erteilte. Mehlos fiel auf, dass er keine Brille trug, was sehr ungewöhnlich war. Normalerweise hatte er eine feine Goldrandbrille, die er entweder aufsetzte, oder mit der er bei angeregten Gesprächen permanent herumfuchtelte. Dann entdeckte Mehlos hinter dem Einstecktuch einen kleinen goldenen Bügel. Jemand musste ihm die Brille abgenommen und in die Brusttasche gesteckt haben. Die Haltung des Lords war entspannt. Aber der Tod konnte auch so eingetreten sein. Der Traum-Abschied eines Mitgliedes eines englischen Gentleman Clubs war, einfach vor dem Kamin einzuschlafen.
Mehlos merkte, wie ihm die versteckten, aber unverhohlenen Blicke von Holroyd und Treadles von hinten ein Loch in das Jackett frästen und beschloss, dem nächsten Trauergast seinen Platz zu überlassen. Das war Santow, die den Lord zwar nicht kannte, aber sich unbedingt ein Bild von dessen letzten Minuten machen wollte.
Mehlos ging an Holroyd vorbei. Leider war kein Sessel in der Nähe, sonst hätte er sich neben sie gesetzt. Der nächste Chesterfield stand ein paar Meter entfernt und es wäre nicht angemessen gewesen, ihn herüberzuziehen.
»Ich hätte mir denken können, dass Sie hier sind«, sagte die Chief Inspector. »Muss ich mir Sorgen machen?«
Mehlos wollte »ganz sicher nicht« sagen, aber es gelang ihm nicht.
»Er war der Vater eines meiner besten Freunde. Alles, was jetzt passiert, ist für mich sehr persönlich. Sie werden mein Interesse verstehen. Können wir reden?«
Holroyd überlegte einen Moment. Sie dachte an den Fall vor zwei Jahren. Auf Lansdowne Manor. Er hatte ihn gelöst, und den Sieg ihr überlassen. Dann wurde er bei der Jagd nach dem Nichts falsch verdächtigt. Von ihr ebenfalls. Auch das hatte er richtiggestellt.
»Kommen Sie in einer halben Stunde wieder. Oder besser: gibt es hier irgendwo ein Zimmer, in dem wir ungestört sind?«, fragte sie leise.
Mehlos dachte ein paar Sekunden nach.
»Wir treffen uns in Dianas Room. Erster Stock. Santow und ich werden da sein.«
Susan Holroyd nickte und Gregory Treadles hörte auf, mit seinem Finger zu tippen.
Diana’s Room
»Was ist uns aufgefallen? Sie zuerst, Santow.«
Sie waren über das Treppenhaus mit Ölgemälden auf die Galerie des ersten Stocks gegangen. Über einen grünen, weichen Teppichboden hatte Mehlos Santow bis zum letzten Zimmer geführt. Dianas Room. Mehlos klopfte, lauschte kurz an der Tür, aber offensichtlich war niemand im Raum. Dann drückte er die alte Messingklinke, öffnete die Tür und ließ Santow den Vortritt. Wie immer. Zumindest, wenn keine Gefahr drohte.
»Und schon sind wir wieder hier«, sagte er und schaltete das Licht ein. Mehrere Leuchter flackerten langsam auf und warfen ein angenehmes Licht. Dianas Room war das Jagdzimmer des Clubs, der stolz auf seine Sammlung historischer Waffen war, die einst durch die Verwendung im Wald und auf der Heide den adligen Müßiggang unterbrachen.
Die Wände waren mit antiken Gewehren, Pistolen, Bajonetten und Waffen aller Art vollgehangen. Mehrere kleine Revolver hingen dort, manche auf ein Holzbrett montiert. Auch der sechs schussige Pepperbox war dabei, den Mehlos nach seinem letzten Außeneinsatz hurtig wieder an seinen Platz gehängt hatte.
Ich kann nicht viel berichten, Mehlos. Echte Überraschung und Unverständnis waren die für mich vorherrschende Reaktion auf die Nachricht von John Garreth. Ich habe in keinem Gesicht ablesen können, dass jemand etwas Erwartetes zu hören bekam. Alles andere wäre Spekulation. Nur: am überraschsten erschien mir Madison. Vielleicht ist sie aber auch eine von den Personen, der man jeden Gemütszustand sofort am Gesichtsausdruck ablesen kann.
»Ging mir genauso, Santow. Niemand, der mit Genugtuung erleichtert ausgeatmet und dann leise gemurmelt hat: na, das haben wir aber gut gemacht.«
Vielleicht ist er ja wirklich nur neben seinem Scotch am Kaminfeuer für immer eingeschlafen. Alt genug war er ja. Und die Magazine und Bücher mit den Klischees über die britischen Gentleman Clubs sind ja schließlich voll von solchen Geschichten. Ich glaube in einem hat es sogar mehrere Tage gedauert, bis festgestellt wurde, dass kein Exzentriker in seinem Stuhl saß, der sich einfach nicht unterhalten wollte, sondern eine Leiche.
»Ach, kommen Sie, Santow. Keine Fremdeinwirkung? Nicht dem unvermeidlichen Schicksal etwas nachgeholfen? Kein Mord? Wie langweilig!«
Mehlos!
»Auch, wenn ich Ihnen recht geben muss, dass er in der Tat ein gewisses Alter erreicht hatte. Meines Wissens war er kurz vor seinen 90. Geburtstag. Ich glaube, der sollte nächstes Jahr sein. Wäre bestimmt ein fantastisches Fest geworden. Was für ein Verlust.«
Wo hat er gewohnt?
»In Oxford. Die Familie stammt von dort und lebt dort schon seit Jahrhunderten. Auf Huntington Court.